Das lateinische Gesicht Europas - Friedemann Richert - E-Book

Das lateinische Gesicht Europas E-Book

Friedemann Richert

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Beschreibung

Bis heute erklingt in Europa der hohe Ton des guten Lebens. Begründet ist er im lateinischen Erbe Europas, das der Idee des freien und würdigen, des staatlich geschützten und rechtssicheren Lebens der Person verpflichtet ist. Lateinisches Erbe heißt im Einzelnen: lateinische Kirche mit ihrer Zeiteinteilung, mit ihren Bildungseinrichtungen von Schule und Universität; dann lateinische Schrift als einheitsstiftendes Band für die allermeisten Sprachen Europas und schließlich lateinisches Recht als Grundlage für ein gesittetes Zusammenleben der Völker. Allerdings verblasst dieses Erbe seit geraumer Zeit immer mehr: Faschismus und Kommunismus haben es im letzten Jahrhundert auszulöschen gesucht, rechte und linke Identitätspolitik polarisieren heute unsere Gesellschaft und Kirchen gleichermaßen. Staatsverachtung und Rechtsmissachtung korrelieren mit Menschenverachtung, machtpolitischer Moralismus ersetzt zunehmend den öffentlichen Gebrauch der abwägenden Vernunft. Und wieder wird der utopische Versuch zur Gewinnung des "reinen, neuen Menschen" auf die öffentliche Tagesordnung gesetzt. Will Europa sein lateinisches Gesicht bewahren, muss es Ideologien widerstehen und in neuer Weise Nation und Staatsvolk im integrativen Sinn, Bildung und Recht, Freiheit und Personenwürde ins Wort und Recht setzen. Der beste Ansatz dazu ist nach wie vor das christliche, weil realistische Menschenbild.

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GEORGIANA.

Neue theologische Perspektiven Bd. 4

Herausgegeben von Thomas A. Seidel undSebastian Kleinschmidt im Auftrag der EvangelischenBruderschaft St. Georgs-Orden (StGO)

Die Reihe verdankt sich einem Sommer-Gespräch zwischen dem (2018 verstorbenen) Ordensgründer Ulrich Schacht, dem (damaligen Spiritual und jetzigen) Leiter der Bruderschaft Thomas A. Seidel und der Programmchefin der Evangelischen Verlagsanstalt Annette Weidhas. Die 2015 erstmals publizierten Neuen theologischen Perspektiven nehmen das lebendige Selbstgespräch einer wesentlich von Martin Luther und Dietrich Bonhoeffer inspirierten geistlichen Gemeinschaft auf, ergänzen es um verwandte Motive und entwickeln auf diese Weise eine buchförmige Einladung zum Nachdenken über „das, was die Welt im Innersten zusammenhält“ (Goethe).

Grundlage und Absicht dieser facettenreichen, populär-wissenschaftlichen Perspektivwechsel spiegeln sich leitmotivisch in dem prophetischen Wort Bonhoeffers (Brief vom 14. Januar 1935): „Die Restauration der Kirche kommt gewiss aus einer Art neuen Mönchtums, das mit dem alten nur die Kompromisslosigkeit eines Lebens nach der Bergpredigt in der Nachfolge Christi gemeinsam hat. Ich glaube, es ist an der Zeit, hierfür die Menschen zu sammeln.“ Auf der Grundlage einer leidenschaftlichen Christusnachfolge, die Bezug nimmt auf monastische Traditionen der Christenheit, verfolgen Herausgeber, Autorinnen und Autoren die Absicht, auch im 21. Jahrhundert reformatorische Wege zur Erneuerung unserer Kirche zu suchen. GEORGIANA möchte Menschen einladen, Teil jener von Bonhoeffer angeregten Sammlungsbewegung zu sein.

Friedemann Richert

DaslateinischeGesichtEuropas

Gedanken zur Seeleeines Kontinents

Mit einem Geleitwort vonKlaus-Peter Willsch

Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2020 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Gestaltung: FRUEHBEETGRAFIK, Thomas Puschmann · Leipzig

Coverbilder: © akg-images / Erich Lessing, Akropolis, Rekonstruktion:Lithographie mit Tonplatte von Carl Votteler; Rom, Petersdom:Gem. v. Codazzi, Athen

ISBN 978-3-374-06604-9

eISBN (PDF) 978-3-374-06605-6

eISBN (EPUB) 978-3-374-06606-3

www.eva-leipzig.de

Zum Geleit

Noch vor zwanzig, fünfundzwanzig Jahren hätte es dieses Buch so nicht gegeben und auch nicht gebraucht. Für einen im christlichen Glauben aufgewachsenen Mitteleuropäer waren bis zur Jahrtausendwende die Koordinaten der Welt- und Glaubensdeutung klar. Danach aber änderte sich alles ganz schnell. Heimat im geistlich-geistigen Sinn ging verloren. Wieso und warum beschreibt der Künzelsauer Dekan Friedemann Richert unprätentiös und treffend. Je länger man liest, um so mehr hat man das Gefühl, nach Hause zu kommen. Das ist kein Wunder, denn Richert geht es um Heimat als Ort der Selbstvergewisserung, die er in Anlehnung an Herder als den „Lebensraum (beschreibt), in dem ich mich nicht erklären muss, sondern in dem sich die mir vertrauten angestammten Sitten und Sinnesarten durch Lebensgewohnheit von selbst ergeben“. Wenn aber Heimat Zukunft haben soll, muss man ihre Herkunft kennen. Darum nimmt Richert seine Leser mit auf einen Spaziergang durch gute 2000 Jahre christlich geprägter Geschichte Europas. Der Weg führt vorbei an schon stark verwitterten Ruinen, deren Kontur kaum noch erkennbar ist, wie an frisch geschleiften Festungen, deren Brandruinen noch rauchen. Richert versteht es, dem Leser nicht seine Sicht der Dinge zu oktroyieren, sondern ihm die Gelegenheit zu geben, anhand eigener Erinnerungen überlieferte Erfahrungen zu rekonstruieren. Sein Blick richtet sich auf die Gegner der abendländisch-christlichen Ausrichtung unserer Gesellschaft. So widerspricht er – sachlich-freundlich, wie es seine Art ist – einer radikalisierten Umwertung der gewohnten Werte im Namen von Minderheiten, die diese gar nicht wirklich schützt, sondern aus machtpolitischen Gründen nur gebraucht, aber nebenbei die große Mehrheit der Bevölkerung vollständig aus den Augen zu verlieren droht. Genüsslich zeigt er die Widersprüche zwischen Genderisten und Feministen auf, wobei er stets mit sorgfältigem Fußnoteneinsatz seine Quellen belegt.

Der Dekonstruktion des gelassenen, selbstverständlichen und unverkopften Miteinanders der Geschlechter folgt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit der Angriff auf die Familie als Grundinstitution der menschlichen Person. Infolge dessen wird die Familie ausgehöhlt, indem man vorgibt, den „ungelernten“ Eltern durch staatlich diplomierte oder examinierte Erzieher helfen zu wollen. Nebenbei wird so nicht nur den Frauen, die dies ersehnt haben, der gewünschte Raum für berufliche Entfaltung und Selbstverwirklichung geschenkt, sondern zugleich den Müttern, die sich gewollt und gerne zumindest in den ersten Jahren vollständig auf die Betreuung ihrer Kinder konzentrieren wollen, ein gesellschaftliche Unwerturteil attestiert, welches lautet, dass sie überholten Lebensmodellen folgten und dringend der „Befreiung“ bedürfen. Dass dieses süße Gift des bemutternden Staates Wirkung entfaltet, konnte man spätestens an den ersten Berichten über „schlimmste Auswirkungen“ der im Frühjahr 2020 erfolgten Maßnahmen zur sozialen Distanzierung im Rahmen der Verlangsamung der Ausbreitung des Corona-Virus ablesen. „Was mache ich nur mit den Kindern?“. Innerhalb weniger Jahre haben es viele Eltern offenbar verlernt, mit dem in Grundgesetzartikel 6, Abs. 2 statuierten Naturrechtsprinzip umzugehen: „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht.“

Der weitgehend chronologische Spaziergang im dritten Teil des Buches führt von der die gesamte europäische Kultur prägenden Einführung des Sonntags als gesetzlichen Feiertags durch Kaiser Konstantin den Großen in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts bis in die Neuzeit. Erst durch die dekretierte Heiligung des Sonntags wurde der Alltag regelmäßig unterbrochen und der Sieben-Tage-Rhythmus eingeführt, der bis heute – bei uns grundgesetzlich geschützt – das Leben unterteilt in Zeit für Arbeit und Zeit für Muße und Kultus. In einem Bogen bis zur Neuzeit würdigt er die Beiträge der Kirchenlehrer Augustinus und Thomas von Aquin, der mit seiner summa theologica zu Recht als oberster Vertreter der mittelalterlichen Scholastik gilt. Dabei gelingt mühelos der notwendige Rückgriff auf die bedeutendsten Philosophen der griechischen Antike: Aristoteles und sein Lehrer Platon. Diese Trias bezeichnet Richert als Grundfeste unseres Kontinents: „Europa ist ohne die antike Philosophie, die klassische Ethik und die lateinische Kirche nicht denkbar.“ Der „Erzieher des Abendlands“ Boethius wird gewürdigt für seine Einführung des abstractums in die Sprache der Philosophie, vor allem aber für seine Klarstellung, dass der Mensch „nicht eine beliebig zu behandelnde sprechende Sache, sondern eine mit Rechten und Pflichten ausgestattete Person ist.

Für einen evangelischen Pfarrer nicht überraschend und geistesgeschichtlich präzise eingeordnet, wird natürlich auch Martin Luthers Beitrag zur christlichen Prägung Europas gewürdigt. Der Reformator hat die zentrale Rolle des Gewissens betont, als die der menschlichen Person innewohnende Instanz, die vermeldet, wenn sich das Handeln des Menschen von dem bei vernünftigem Betrachten des Seienden mit Intellekt und Ratio ergründbaren Gesollten abwendet. Es ertüchtigt zum Mut vor Herrscherthronen und lässt Luther vor Kaiser Karl V. in Worms sagen: „Und da mein Gewissen in den Worten Gottes gefangen ist, kann und will ich nichts widerrufen, weil es gefährlich und unmöglich ist, etwas gegen das Gewissen zu tun. Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Amen.“ Die Sprachgewalt Luthers und seine Verdienste um die Erschließung von Gottes Wort für breite Schichten mit seiner Bibelübersetzung haben zugleich „den Zusammenhang von Gewissen und der Würde des Menschen in unsere deutsche Sprachkultur eingeführt“. Der Übergang zur Neuzeit mit einer grundlegenden Neubewertung und einer Bedeutungsänderung der menschlichen Arbeit durch Entwicklung einer arbeitsteiligen Gesellschaft infolge Industrialisierung und technischen Fortschrittes rundet den historischen Spaziergang ab.

Sehr lesenswert ist Richerts Einordnung des Dekalogs in die Entwicklung der europäischen Rechtsgeschichte. Die Zehn Gebote haben den Grundstein dafür gelegt, indem sie im Wesentlichen darauf verweisen, was im menschlichen Miteinander zu unterlassen ist, um ein gottgefälliges Leben zu führen. Das Gegenüber der Verhaltensregel setzt stets den „Einzelne(n) als Person voraus (…) und nicht die Stammes- oder Volksgemeinschaft“. Als Kernbestand des christlichen Abendlandes gilt, dass dies kein bloß positives, vom Menschen gesetztes Recht ist, sondern Naturrecht, das „von Ewigkeit zu Ewigkeit gilt, was in der Ewigkeitsklausel in Artikel 79 Abs. 3 des Grundgesetzes in Bezug auf Artikel 1 GG seinen Niederschlag gefunden hat. Auch die Ausführungen und Einordnungen zu Glaubensbekenntnis und Vaterunser geben dem Leser Gelegenheit, sich der Durchdringung unseres alltäglichen Lebens mit christlicher Glaubenslehre, Tradition und Symbolik (wieder) bewusst zu werden.

Richert beschreibt in seinem Buch auch die Natur des Menschen, der Ursprung, Träger und Ziel aller Vergemeinschaftung ist und damit Richtschnur für die politische Gestaltung des Gemeinwesens bleibt: Dass der Mensch als Person Grundrechtsträger und mit einer unveräußerlichen Würde ausgestattet ist, folgt unmittelbar aus seiner Gottesebenbildlichkeit und dem göttlichen Schöpfungsauftrag. Das trägt Richert mit einer sympathischen Selbstverständlichkeit vor, die man so manchem der im politischen Raum wirkenden Funktionäre unserer Kirchen gerne empfehlen möchte. Sein für einen evangelischen Geistlichen ungewöhnlich deutliches „Roma locuta, causa finita“ ist mir wesentlich näher als das atheistische „Glaubensbekenntnis“ des Existentialisten Jean Paul Sartre, der 1946 schrieb, dass es mangels Gott keine menschliche Natur gebe („il n’y a pas de nature humaine, puisqu’il n’y a pas de Dieu pour la concevoir“). Die Folgen der Leugnung Gottes und seiner Ordnung der Welt sind in den zurückliegenden Jahrhunderten immer wieder mit grausamen Exzessen politischer oder religiöser Machtausübung deutlich zutage getreten: Wenn Macht nicht rückgebunden ist an einen transzendental ausgerichteten, der menschlichen Natur verpflichteten verbindlichen Ordnungsrahmen, gibt es keine wirksame Begrenzung der weltlichen Macht.

Die Bitte um dieses Geleitwort hat mich in die Lage gebracht, die Osterfeiertage 2020 zur Lektüre dieses bewegenden Buches und der intellektuellen Auseinandersetzung mit seinem Inhalt zu nutzen. Beides hat mir Freude bereitet, nicht nur wegen des seuchenbekämpfungsbedingten Mangels an Alternativen. Zudem aber hat Friedemann Richert mir durch sein Buch Mut gemacht, in meiner Kirche zu bleiben, der ich – nach einem erneut unerfreulichen Briefwechsel mit Funktionären der Amtskirche zum Thema Rettungsschiff für Flüchtlinge – gerade im Begriff war, endgültig den Rücken zu kehren. Ich bin jedoch froh, das nicht getan zu haben. Es hätte mich schon befremdet, meinen Glauben auch an die „Gemeinschaft der Gläubigen“ zu bekennen, ohne ihr noch anzugehören. Und meinem Gott will ich zurufen: „Herr, in Deinen Händen fühle ich mich wunderbar geborgen und ich versuche bereit zu sein, wenn es Dir gefällt, mich zu Dir zu rufen. Aber eilig hab ich es nicht …“

Klaus-Peter Willsch,

Mitglied des Deutschen Bundestages

Inhalt

Auf ein Wort

Danksagung

IDAS SPIEL MIT EUROPAS SEELE

1. Zur Kultur Europas

2. Der deutsche Sonderweg

3. Moralische Machtergreifung

IINARRENBÜHNE WELT

1. Zur Rangordnung des Normalen

2. Genderismus gegen Feminismus

3. Die neue Familie

4. Die gewollte Heimatlosigkeit

5. Zukunft braucht Herkunft

6. Zurück zum lateinischen Gesicht Europas

IIIUNSERE HERKUNFT – DIE LATEINISCHE KIRCHE

1. Ein kleiner kulturgeschichtlicher Spaziergang

2. Der Sonntag

Exkurs: Leiden und Christentum

3. Der verkannte Advent

4. Augustinus und die Zeit

5. Boethius, Erzieher des Abendlandes

6. Thomas von Aquin, Lehrer der lateinischen Kirche

7. Martin Luther, das Gewissen und die Arbeit

8. Die Arbeit in der Neuzeit

9. Kirche als Heimat

10. Ehe, Familie und Nation

11. Utopie

IVSCHRIFT UND HEIMAT

1. Schrift als Form der Heimat

2. Latein und Europa

VDIE HEIMAT DES RECHTS

1. Die Zehn Gebote

2. Der Vertrag

3. Der ewige Landfrieden – ein kultureller Meilenstein

4. Die Kirche als Rechtsstifter

VIDAS LATEINISCHE GESICHT EUROPAS

1. Europa ohne Gesicht

2. Die Idee des abendländischen Reichs

3. Der Geist der Bildung im abendländischen Reich

ANHANG

Literaturverzeichnis

Kleine Geschichte der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden

Auf ein Wort

In diesem Buch geht es um Europas Seele. Sie ist durch das geschichtliche Zusammenspiel von lateinischer Kirche, lateinischer Schrift und lateinischem Recht geprägt. Diese spätantike Prägung hat Europa ein unverwechselbares lateinisches Gesicht gegeben, das jedem freundlich anstrahlt, der die Vielfalt der europäischen Nationen und Lebensformen achtet. Indes ist diese altbewährte europäische Kultur ins Wanken geraten: Zu sehr haben geschichtsvergessene Denkbilder wie Genderismus und Universalismus ihre erodierenden Spuren am lateinischen Gesicht Europas hinterlassen. Davon wird in den Kapiteln I. Das Spiel mit Europas Seele und II. Narrenbühne Welt die Rede sein.

Kapitel III. Unsere Herkunft – die lateinische Kirche zeigt die christlich geprägte Latinität Europas auf. Diese bezeugen unzählige Kirchen, Dome, Kathedralen und Klöster, die Einführung des Sonntags, das lineare Zeitverständnis, die schulischen und universitären Bildungseinrichtungen, die Übersetzungen der Bibel, die Entstehung der Wissenschaft als Wahrheitszugang neben dem Glauben, die Entdeckung des mündigen Bürgers als Person, das ethisch geformte Gewissen, und schließlich die Fundierung von Ehe, Familie und Nation als Ort der Identität. Zudem ist es eine rein christlich-europäische Kulturleistung, für das gute Leben den Topos der Sozialkritik und mit ihr das Genre der Utopie hervorgebracht und benannt zu haben.

In Kapitel IV. Schrift und Heimat wird ein Blick auf die Verwendung der lateinischen Schrift geworfen. Ihre europaweite Anwendung ermöglichte die nachrömische Entwicklung romanischer und germanischer Sprachen als Grundlage einer pluralen europäischen Kultur. Deswegen stiftet die lateinische Schrift Heimat für und in Europa. Insofern ist das Beherrschen der jeweiligen Landessprache in Schrift und Wort eine Grundvoraussetzung für Migration und Integration.

Kapitel V. Die Heimat des Rechts bedenkt das juristische Fundament Europas. Über die lateinische Kirche wurden die Zehn Gebote zum sittlichen Grundbestand Europas – einer der Gründe dafür, dass mit Blick auf Europa auch vom christlich-jüdischen Kulturkreis gesprochen wird. So rückte die ethisch verantwortliche Person in den Mittelpunkt des juristischen Betrachtens. Dieses Rechtsdenken vollendete sich in den Begriffen der Menschenwürde und der Menschenrechte. Über ein päpstliches Dekret von 1234 hat sich zudem die zentrale Rechtsfigur für Verträge in Europa etabliert: pacta sunt servanda, Verträge sind einzuhalten und können nicht nach Gutdünken oder um billiger Vorteilsnahme willen gekündigt werden.

Den wichtigsten Meilenstein in der europäischen Rechtsgeschichte hat wohl Kaiser Maximilian I. im Jahre 1495 gelegt: Mit seinem ewigen Landfrieden begründete er eine allumfassende Rechtssicherheit, die dem einseitigen Rechtsverständnis des Tribalismus mit seinem Fehderecht ein Ende setzte. Konflikte mussten fortan allein über den im Landfrieden vorgegebenen Rechtsweg gelöst werden. Damit wurde das Gewaltmonopol des Staates in Europa eingeführt. Das dürfte wohl der bedeutendste Unterschied zur gesamten islamischen und tribalistischen Kultur weltweit sein. Ein weiteres Kernelement europäischer Rechtskultur ist die Gleichheit aller Personen vor Recht und Gesetz. Diese wurde über das römisch-kanonische Recht in Europa eingeführt. Es verfügte für das Gerichtswesen die Dreigestalt von Richter, Anwalt und Verteidiger, um eine verlässliche und gerechte Rechtsprechung zu ermöglichen.

Im Kapitel VI. Das lateinische Gesicht Europas wird die zunehmende Vergessenheit der lateinisch geprägten Seele Europas thematisiert. Hierfür steht der Wertebegriff: Er soll die Europäische Union geistig, kulturell und politisch zusammenhalten, ist aber dem lateinischen Gesicht Europas nicht dienlich: Denn nach dem gegenwärtigen Mainstream gründen die europäischen Werte in säkularen Wertungen. Anstelle dessen müssen aber Wertungen in sittlichen Werten, also in Tugenden, begründet werden, andernfalls führt dies in eine Gesinnungsideologie, die sich in Europa und vor allem in Deutschland am Begriff der Alternativlosigkeit gesellschaftspolitisch manifestiert hat. Das war die Geburtsstunde der Gattungspolitik mit ihren „weltrettenden“ Betroffenheitsgesten. Bis ins mediale, politische und kirchliche Etablissement hat sich diese gesinnungsethische Gattungspolitik breitgemacht. Am deutlichsten wird die damit verbundene geistige und kulturelle Gesichtslosigkeit Europas bei der Migrationsfrage, hier vor allem im Umgang mit islamischen Migranten. Darauf hat der französische Autor Michel Houellebecq mit seinem Roman Unterwerfung eindrücklich hingewiesen.

Demgegenüber stehen die fünf politischen Kardinalaufgaben republikanischer Politik, die nur ein demokratisch legitimierter Nationalstaat garantieren kann: staatlich gewährte Sicherheit nach innen und außen, staatlich gewährte Rechtssicherheit und Freiheit sowie Eigentumsschutz und Religionsfreiheit.

Die Bewahrung der Nationalstaaten spricht jedoch gerade nicht gegen die Idee eines geeinten Europas, die letztlich schon dem Heiligen Römischen Reich zugrunde lag. Denn der Nationalstaat hat sich in Europa als vertrautes Gehäuse des Zusammenlebens bewährt, wie etwa die Corona-Krise im Jahre 2020 gezeigt hat. Wir brauchen einen europäischen Bund von Nationalstaaten, der vom kulturellen Dreigestirn: lateinischer Kirche, Humanismus und Aufklärung getragen wird, sodass Religion und Staat, Recht und Gesellschaft, Glaube und Wissenschaft, Freiheit und Würde der Person und das Allgemeinwohl immer neu austariert werden. Das freilich zieht die politische, juristische und kulturelle Konsequenz nach sich, dass Zuwanderung nach Europa die zustimmende Akzeptanz der kulturell-politischen Grundlagen und des historischen Gewordenseins Europas durch die Zuwanderer bedeutet. Und das ohne kulturellen Nachlass. Anders ist weder ein gedeihliches Zusammenleben noch die angemessene Interessenvertretung Europas im Konzert der Weltmächte möglich.

Künzelsau, Pfingsten 2020

Friedemann Richert

Danksagung

Bücher schreiben sich nicht von selbst. Hierzu bedarf es des klärenden Gesprächs, der kritischen Fragen und ermutigender Worte, also Freunde. All dies wurde mir in den zurückliegenden Zeiten gewährt, und zwar von nachfolgend genannten Personen: Allen voran gilt mein Dank meinem alten Griechischlehrer, Herrn Dr. Günter Vogel, dessen Mitdenken und Korrekturlesen in bewährter Weise zum Gelingen dieses Buches beigetragen hat. Aber auch meinem rotarischen Freund, Herrn Werner Gassert, und Herrn Dr. Jan-Peter Zugelder, Leitender Komtur des Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem, gilt mein herzlicher Dank für ihre gedankliche Begleitung beim Schreiben dieses Buches. Und schließlich will ich Herrn Klaus-Peter Willsch, Mitglied des Bundestags, für sein treffliches Geleitwort danken.

Meiner Frau Barbara aber will ich von Herzen für ihr nicht nur geistiges Geleit beim Entstehen dieses Buches meinen Dank sagen.

Es ist mir eine Ehre, dass mein Buch in der Reihe GEORGIANA von der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig verlegt wird. Dafür danke ich meiner Lektorin, Frau Dr. Annette Weidhas, die mit ihrer freundlichen Art mein Buch wohlwollend-kritisch begleitet hat. Mein Dank gilt auch Herrn Dr. Thomas A. Seidel, dem Theologen, Historiker und Großkomtur der Evangelischen Bruderschaft St. Georgs-Orden. Ohne seine Empfehlung wäre das Buch nicht in der Reihe GEORGIANA veröffentlicht worden.

Dem Andenken an meinen Vater,Theodor Georg Richert (1927–1979)

Kapitel I

Das Spiel mit Europas Seele

1. Zur Kultur Europas

Spielen ist schön und schwer zugleich. Denn man muss es erlernen, das schöne Spiel. Und nicht nur das: Soll ein Spiel schön bleiben, muss es geübt werden. Deswegen ist das Spiel an sich eine ernste Angelegenheit, wie etwa jedes bedeutsame Fußballspiel verdeutlicht.

Was aber für das Fußballspiel gilt, gilt umso mehr für das Zusammenleben der Menschen. Das bedarf guter Regeln und lebensdienlicher Normen, damit es – über die Zeiten hinweg – einer Gestalt des Guten verpflichtet bleibt. Nur so ist ein gutes und schönes Leben denkbar. Wegweisend hat sich diese Gestalt des Guten im Westfälischen Frieden vom 24. Oktober 1648 in Europa niedergeschlagen.1

Mit diesem Friedenschluss, ausgehandelt in den Städten von Osnabrück und Münster vom 15. Mai bis 24. Oktober 1648, fand der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) in Europa sein Ende. Als gedanklicher Meilenstein hierbei kann das moderne Prinzip der Gleichberechtigung der Staaten in Europa festgehalten werden: Die Staaten sind innerhalb ihres Territoriums souverän und unabhängig, ihnen obliegt es darum, der Gestalt des Guten verpflichtet zu bleiben.

Ein schönes und gutes Leben zeitigt sich in den Regeln einer menschlichen Kultur. Kultur ist unser menschliches Vermögen, die eigene Natürlichkeit zum Guten hin zu wenden. Denn Menschen sind und bleiben gefährlich. Jede gute Kultur weiß darum und versteht es, eben diese menschliche Gefährlichkeit zu zähmen und einzuhegen. Die Güte einer Kultur zeigt sich darum in ihrer Wahrhaftigkeit und in ihrem Umgang mit Konflikten. Wahrhaftig ist eine Kultur dann, wenn sie mit allen ihren Lebensformen der Würde aller Menschen in gleicher Weise verpflichtet ist. Und konfliktfähig ist eine Kultur dann, wenn sie das menschliche Böse nach Recht und Gesetz so ahndet, dass hierbei Gutsein als gut gewürdigt und Bösesein als böse bestraft wird.

Darum ist die wahrhaftige Form einer Kultur das Maß des Guten, welches der Einheit von Gutsein und Glücklichsein verpflichtet ist. Ein schönes Leben ist darum immer auch ein kulturelles Leben. In diesem spiegelt sich die Seele Europas wider.

Eine gute Kultur ermöglicht darum eine Vielfalt von Lebensweisen, lässt sie doch den anderen als den anderen leben. Leben und leben lassen ist darum ihr wahrhaftiges Signum. Wird indes eine Kultur dieser Stimmigkeit des Lebens nicht gerecht, will sie etwa gesinnungs- und glaubenskonforme Bürger heranziehen, dann ist diese Kultur nicht gut. Das 20. Jahrhundert mit seinen totalitären Systemen von Nationalsozialismus und Kommunismus ist ein beredtes Beispiel hierfür. Aber keines dieser Reiche hat überlebt, missachteten sie doch sowohl die Haltung der Wahrhaftigkeit und die Menschenwürde als auch den gelingenden Umgang mit Konflikten.

Zudem sind und bleiben wir Menschen Kulturwesen und suchen unsere natürliche Gefährlichkeit durch Kultur einzuhegen. Solches lehren Platon und Aristoteles, das Christentum und die Aufklärung: Platon, weil er es als einer der ersten verstanden hat, das Gute als Maß für das menschliche Zusammenleben namhaft zu machen. Aristoteles, weil er die Ethik als Verantwortungsbegriff in das abendländische Denken eingeführt hat. Das Christentum, weil es den Menschen als Mitarbeiter Gottes zur Vervollkommnung der Natur beauftragt hat. Die Natur vervollkommnen heißt, das Naturgemäße vom Naturwüchsigen unterscheiden zu können: Gesundheit etwa ist naturgemäß, während Krankheit naturwüchsig ist. Dementsprechend ist es für das Christentum selbstverständlich, die Gesundheit zu fördern und der Krankheit zu wehren. Nicht umsonst entstammen die Begriffe Krankenschwester, Hospital und Lazarett unserem christlichem Kulturkreis. Die Aufklärung bestimmt unsere Kultur, weil sie den mündigen Bürger in Verantwortung für Gott und die Welt gestellt hat. Dieser Dreiklang von Antike, Christentum und Aufklärung hat Europa zu einem lebenswerten Kontinent gemacht. Dieser Dreiklang hat Europa sein lateinisches Gesicht gegeben.

Unsere europäische Kultur ist darum zu derjenigen Lebensform geworden, die der guten Gestalt menschlichen Lebens eine adäquate Ausdrucksform zu verleihen vermag. Begründet ist diese Lebensform im lateinischen Erbe Europas, das in seinem Kerngedanken der Idee des freien und würdigen, des staatlich geschützten und rechtssicheren Lebens der Person verpflichtet ist. Lateinisches Erbe heißt im Einzelnen: lateinische Kirche, lateinische Schrift, lateinisches Recht. Das mag den kirchlich entwöhnten Bürger überraschen, aber sein Leben basiert in Europa nun einmal auf diesem lateinischen Erbe.

Durch diese Grundlegung ist Europa zu einem Lebensraum geworden, der mit seinen vielfältigen Kultur- und Lebensformen für Recht und Gerechtigkeit, für Sicherheit und Freiheit, für Fürsorge und Wohlstand der Bürger steht. Das aber macht Europa für viele als Lebensort weltweit attraktiv. Denn die Seele Europas lädt zu einem guten Leben ein. Und die Politik der Europäischen Union sieht sich diesem guten Leben verpflichtet. So verwundert es nicht, dass sich weltweit eine Vielzahl von Menschen von dieser Einladung angesprochen fühlt, sofern in ihren Heimatländern keine vergleichbare Kultur von Freiheit und Gleichheit, von Rechtssicherheit und Gerechtigkeit, von Wohlstand und Fürsorge vorhanden ist. Dieser weltpolitischen Herausforderung gilt es gerecht zu werden, gerade auch weil Europa als Kontinent und kultureller Lebensraum schon quantitativ nicht in der Lage ist, die weltweit vielen Millionen potentiell Fluchtwilliger aufzunehmen.

Die europäische Kultur lebt davon, dass sie einem mündigen Bürger das Wort redet, der sich dem lateinischen Geist als Form und dem lateinischen Gesicht als Gestalt Europas verpflichtet weiß. Für das Zusammenleben in Europa bedeutet das, den anderen als den anderen leben zu lassen. Europäisches Leben heißt darum: Leben und leben lassen. Das aber ist eine ernste Aufgabe, die nur im kundigen Spiel der europäischen Denktradition gelöst und bewältigt werden kann.

2. Der deutsche Sonderweg

Die Präambel des Grundgesetzes aus dem Jahr 1949 lautet: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.“2

Um dieser historischen Verantwortung gerecht zu werden, ist es ein Wesenszug der westdeutschen Politik gewesen, die eigene Nation im geeinten Europa aufgehoben zu wissen. Zwar verstand sich die Bundesrepublik Deutschland als Vaterland des einen deutschen Volkes, mit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten am 3. Oktober 1990 indes wurde politisch das geeinte Deutschland als Nation mehr und mehr in die Europäische Union integriert. Das führte zu einer Europäisierung der politischen Gestalt Deutschlands, mit der Folge, dass deutsches Regierungshandeln sich nicht mehr nur an nationalen Interessen ausrichtet.3 Infolgedessen wurde der nicht nur in Europa positiv besetzte Begriff der Nation in der politischen, medialen und auch kirchlichen Öffentlichkeit Deutschlands allmählich zugunsten Europas negativ bewertet. So wird in den alten Bundesländern die Verwendung des Begriffs der deutschen Nation mehr und mehr gleichgesetzt mit deutschem Nationalismus, der nicht mit der Europäischen Union vereinbar ist.

In Ostdeutschland hingegen trifft man auf eine andere Ideengeschichte: Unter der DDR-Regierung wurde das deutsche Volk in die sozialistische Bruderschaft aufgenommen, der Sozialismus, mit dem Ziel einer kommunistischen Weltgesellschaft unter Führung der Sowjetunion, diente als einigendes Band. Nicht das deutsche Volk zählte mehr, sondern die sozialistische Internationale, das sozialistische Weltgefüge galt als Orientierungspunkt für Heimat.

Mit der Wiedervereinigung trafen nun zwei entgegengesetzte politische Ideen aufeinander: In den alten Bundesländern wurde der Gedanke der europäischen Einigung in den Vordergrund gestellt, das deutsche Volk soll seine künftige Identität im vereinten Europa finden. Europa lautet hier die Lösung. In den neuen Bundesländern hingegen wandte man sich vom international gedeuteten Politikrahmen ab und erkannte im geeinten Deutschland die bergende kulturelle Heimat. Somit ist in den alten Bundesländern der Begriff des deutschen Volkes eher negativ besetzt, während er in den neuen Bundesländern ein einheitsstiftendes, positives Band darstellt. Nicht umsonst lautete eine der zentralen Parolen während der Friedlichen Revolution in Ostdeutschland: Wir sind ein Volk.

In allen anderen europäischen Nationen hingegen herrscht eine andere Sichtweise vor: In ihnen ist sowohl der Volksbegriff als auch der Nationenbegriff nach wie vor mehrheitlich positiv besetzt, das gilt beispielswiese für Großbritannien und Irland, für Italien und Frankreich, für Dänemark und die Niederlande, für Ungarn und Polen, für Spanien und Tschechien. Denn in Europa, mit Ausnahme Deutschlands, steht der Begriff der Nation für eine geschichtlich gewachsene, positive Identität, der keine moralischen Verwerfungen innewohnen. Im Gegenteil: Es waren ja gerade stolze Nationalstaaten, die dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus ein Ende bereitet haben. Die Siegermächte des 2. Weltkriegs waren allesamt stolz aufgestellte Nationalstaaten und sind es bis heute.

Ganz anders verhält es sich in der medialen und politischen Öffentlichkeit Deutschlands: Hier wird der deutsche Nationenbegriff mit dem Ungeist der nationalsozialistisch propagierten Bluts- und Bodengemeinschaft der Deutschen gleichgesetzt. Im Begriff der deutschen Nation schwinge also das rechtsradikale, menschenverachtende faschistische und nationalsozialistische Gedankengut immer mit. Der deutschen Schuld wegen könne und solle es keine deutsche Nation mehr geben, sondern Deutschland solle in Europa aufgehen. So zumindest der verbreitete politische, mediale und auch kirchliche Tenor, der in Teilen auch nicht vor der universalistischen Utopie eines Weltstaates zurückschreckt.

Damit gibt es in der Europäischen Union völlig unterschiedliche Vorstellungen davon, wie ein gelingender Verbund der europäischen Nationen aussehen kann.

3. Moralische Machtergreifung

Diese Gemengelage führte in Deutschland zu einer besonderen moralisch aufgeladenen Situation, die vor allem von einflussreichen Kreisen der politischen Linken bestimmt wird und nicht erst seit der Flüchtlingskrise im Jahre 2015 und der damit einhergehenden Willkommenskultur das mediale, politische und kirchliche Geschehen dominiert. Die Folge ist eine sich stillschweigend vollziehende Umdeutung von gesellschaftspolitischen Begriffen, die das lateinische Erbe Europas aufgibt.

Soziale Gerechtigkeit, einst Leitthema einer klassenbezogenen Politik, wird in Identitätsgerechtigkeit von „Opfergruppen“ umgedeutet. Zu diesen Gruppen gehören praktisch alle Minderheiten in der Mehrheitsgesellschaft wie Homosexuelle, dazu die gesamte LSBTTIQ-Gemeinschaft4, aber auch muslimische Zuwanderer einschließlich kopftuchtragender muslimischer Frauen. Diese können gar als Speerspitze der Emanzipationsträger gegenüber westlichen Lebensformen gepriesen werden: Haben doch im Algerienkrieg (1954–1962) nachgerade kopftuchtragende Muslimas gegenüber der französischen Kolonialmacht ihre kulturelle Identität behaupten können und auf diese Weise dem westlich-hegemonialen Feminismus die Stirn geboten.

Natürlich sind Rehabilitierung und Sicherung der Rechtsgleichheit früher ausgegrenzter Gruppen ein wichtiges Anliegen, das unterstützt werden muss. Problematisch wird es jedoch, wenn eine erreichte gesellschaftliche Diskriminierungsfreiheit nicht mehr ausreicht, sondern anstelle dessen eine politisch gewollte Benachteiligung, also eine „positive Diskriminierung“ von Vertretern der Mehrheitsgesellschaft bzw. vermeintlichen Tätergruppen gefordert wird. Damit soll das gruppenbezogene Unrecht von einst, sozusagen im Gegenzug, wiedergutgemacht werden. Die Soziologin Sandra Kostner spricht in diesem Zusammenhang von einer „identitätslinken Läuterungsagenda“5, wir von moralischer Machtergreifung.

Vor allem unter dem Stichwort Gleichheit werden lang tradierte begriffliche Selbstverständlichkeiten systematisch umgedeutet. Lebten Begriffe wie Geschlecht, Ehe und Familie bisher von ihrem kulturell gewachsenen Sinn und bezeichneten das „Normale“ gesellschaftlichen Lebens, so wird nun die Umwertung dieser Werte samt der mit ihnen verbundenen Machtverhältnisse gefordert – also beispielsweise Regenbogenfamilie statt bürgerlicher Familie. Solche politisch gewollten Umwertungsversuche haben noch nie den sozialen Frieden gefördert.

In Bezug auf Flüchtlinge und Migranten findet das gleiche Verfahren statt: Auch sie werden zu Opfergruppen erklärt, weshalb sie der Schonung bedürfen und es die moralische Pflicht der angestammten Bevölkerung ist, ihnen in jeder erdenklichen Weise zu helfen. Geradezu schädlich für die Betroffenen ist es aber, wenn aus politisch korrekten, also letztlich aus machtpolitischen Gründen jeder, der seine jeweilige „Opfergruppe“ verlässt, als Verräter angesehen wird. Gerade liberale Muslime leiden oft darunter.

Tatsächlich ist es das offen erklärte Ziel dieses identitätslinken Politikmusters, „alte“ europäische Denk- und Kulturformen zu überwinden, und einer Utopie das Wort zu reden, die von der Erbsünde Europas geläutert ist. Europa wird dabei auf Kolonialismus und Imperialismus, Sklaverei und Rassismus, Unterdrückung der Frauen und Sexismus reduziert. Als zentrale Gestalt hierfür steht der „alte, weiße Mann“. Darum bietet gerade die Migration nach Europa die Möglichkeit einer historischen Wiedergutmachung des geschichtlichen Unrechts. Im deutschen Fall kommt noch moralisch erschwerend der Holocaust im Dritten Reich hinzu.

Gerade auch der deutschen Schuld wegen stehen wir in moralischer Verantwortung gegenüber den nach Deutschland strebenden Migranten, vor allem gegenüber den muslimischen – sind diese doch schon an sich durch ihre Kultur und Religion im lateinischen Europa benachteiligt und diskriminiert. Denn der Islam, vor allem der Islam arabischer Couleur, und das christlich geprägte lateinische Europa schließen sich in Fragen des Rechts, des Staatsverständnisses sowie der Gleichheit von Mann und Frau gegenseitig aus, wie schon vor Jahren der amerikanische Politologe Samuel Huntington mit seinem Buch Kampf der Kulturen