Das Leben hat keinen Rückwärtsgang - Wilfried Nelles - E-Book

Das Leben hat keinen Rückwärtsgang E-Book

Wilfried Nelles

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Beschreibung

. Wie kommen wir in Kontakt und in Einklang mit dem, was wir sind? . Wohin trägt uns das Leben? . Wie prägt das Bewusstsein unserer Zeit unsere Sicht der Welt? . Was bindet, formt und wandelt unser persönliches Bewusstsein? . Wie beeinflussen sich kollektive & persönliche Wachstumsprozesse? Diesen Fragen geht Wilfried Nelles im vorliegenden Buch nach. In klarer und anschaulicher Sprache zeichnet er eine Landkarte des Bewusstseins und seiner Entwicklung, die sowohl Orientierung bietet als auch persönlich berührt. Vor dem Hintergrund dieser Landkarte zeigt er, welche Rolle die Therapie im Allgemeinen und das Familienstellen im Besonderen, im Prozess der spirituellen Entfaltung des Bewusstseins spielen. Daraus entwickelt er Grundzüge einer spirituellen Aufstellungsarbeit. Ein Buch in dem Gesellschaft, Politik und Spiritualität, Philosophisches und Persönliches, Therapie und Lebensalltag mit leichter Hand und zugleich mit Tiefgang zusammengeführt werden.

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Ebook-Ausgabe 2016

Umschlaggestaltung: Silke Bunda Watermeier, www.watermeier.net

Coverfoto: www.sxc.hu

Copyright © 2009 Innenwelt Verlag GmbH, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

www.innenwelt-verlag.de

eISBN 978-3-942502-79-5

WILFRIED NELLES

DAS LEBEN

HAT KEINEN

RÜCKWÄRTSGANG

Die Evolution des Bewusstseins,spirituelles Wachstum und das Familienstellen

INHALT

Vorwort

Dank

Teil I

DIE EVOLUTION DES MENSCHLICHEN BEWUSSTSEINS

Wie sich das Bewusstsein ent-wickelt

· Alte und neue Götter

· Alles wächst – oder: Was ist spirituelles Wachstum?

· Erste Annäherung: Die Entwicklungsstufen des menschlichen Bewusstseins

· Das Modell: Die Bewusstseinsstufen im Überblick

· Hierarchie: Leiter oder Kreis – oder: Wieso ist eine Stufe höher als die andere?

Die Lebens- und Bewusstseinsstufen und ihre Entsprechungen zu menschlichen Lebensstufen

Stufe 1: Das Einheitsbewusstsein – Die Reifung im Mutterleib

Stufe 2: Das Gruppenbewusstsein – Die Kindheit

Stufe 3: Das Ich-Bewusstsein – Die Jugend

Stufe 4: Das Verbundenheits-Bewusstsein – Der junge Erwachsene

Stufe 5: Das Sendungsbewusstsein – Der reife Erwachsene

Stufe 6: Das Ganzheitsbewusstsein – Das Alter

Stufe 7: Das Allbewusstsein – Der Tod

Teil II

FAMILIENSTELLEN ALS SPIRITUELLE THERAPIE

Bewusstsein und Therapie

· Entstehung und Entwicklung der Psychotherapie – Im Dienste der Befreiung

· Systemische Therapie – Die Vernichtung des Lebendigen

· Die Aufstellungsarbeit – Der Lebensbewegung folgen

Die Aufstellungsmethode: Sprung ins Unbekannte

· Aufstellungen als Spiegel der Seele

· Das verborgene Wissen – oder: Die Gegenwärtigkeit von Vergangenheit und Zukunft

· Neue Erfahrungs- und Bewusstseinsräume

· Aufstellung und Meditation

· Das „Größere“: Führung und Geführt-Werden im Nicht-Wissen

· Ein neues Paradigma

· Spirituelle Aufstellungsarbeit

Inhalte und Erkenntnisse des Familienstellens

· Drei Geschichten

· Die Familienmatrix

· „Die Gans ist raus“– oder: In der Wirklichkeit gibt es keine Verstrickungen

Der Lösungsweg des Familienstellens

· Hellingers „Dreifaltigkeit“

· „Ja“ zum Nein – oder: Hellingers blinder Fleck

Beispiel 1: Sexueller Missbrauch (Vater-Tochter-Inzest)
Beispiel 2: Vater schlägt Mutter, Sohn schlägt Vater
Das Nein der Jugend – Drei persönliche Episoden

· Eine neue „Dreifaltigkeit“: Ja – Nein – Danke

Grundordnungen in menschlichen Beziehungen und ihr Wandel

· Von der Bindung zur Verbundenheit

· Vom Recht auf Zugehörigkeit zur Ganzheit

· Ausgleich und Austausch

· Die Rangfolge und die Lebensbewegung

Sehen, was ist – oder: Vom Leben lernen

Vorwort

ICH BIN JETZT 60 JAHRE ALT UND HABE, SO KOMMT ES MIR VOR, INmeinem erwachsenen Dasein mindestens drei Leben gelebt. Das erste war das eines Intellektuellen, eines Studenten, Assistenten, jungen Forschers und Dozenten an der Universität. Es dauerte bis zu meinem 33. Lebensjahr, dann begann das zweite: das Leben eines spirituellen Suchers als Schüler des indischen Meisters Osho. Es endete ungefähr mit 48. Dann merkte ich plötzlich, dass ich kein Schüler und kein Sucher mehr war, ich wollte einfach wieder normal und gewöhnlich sein. Das war, nachdem ich mit dem Familienstellen begonnen hatte und es zu meinem Beruf geworden war.

Der Sucher hat auf den Intellektuellen eine lange Zeit ziemlich herabgeschaut, er hielt sich für besser. Das hat ihm der Intellektuelle – oder das, wofür er stand, was er zu meinem Leben beigetragen hatte – übel genommen und ihm seine Unterstützung verwehrt. Konkret sah dies so aus, dass das, was ich zu sagen oder geschrieben hatte oder auf andere Weise mitteilen wollte, kaum jemanden interessierte. Jedenfalls nicht so sehr, dass es jemandem genug Geld wert gewesen wäre, dass ich davon hätte leben können. Zwischenzeitlich konnte ich einige Jahre überhaupt nicht mehr schreiben. Und mein Doktortitel schien vollkommen wertlos.

Das hätte dem Sucher natürlich egal sein können, schließlich ging es ihm um „höhere“ Dinge. War es aber nicht, denn irgendwie musste er ja auch leben. Das hat er zwar geschafft, aber es blieb das Gefühl, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte – nicht, weil ich es unbedingt anders haben wollte, sondern weil es sich tatsächlich nicht richtig anfühlte. Dessen ungeachtet strebte der Sucher nach dem Höchsten: der Erleuchtung. Bei einigen Gelegenheiten hatte er Momente grenzenloser Liebe zu allem und jedem erfahren, hatte das Leben in einem Grashalm und einer Blume sich bewegen und pulsieren gesehen, hatte buchstäblich in sie hinein und den Saft fließen gesehen, das innere Leuchten und Strahlen eines Regentropfens bestaunt und in vollkommener, zeit- und absichtsloser Stille gesessen. Das waren keine Drogenerfahrungen und nichts, was er irgendwie gemacht hätte, es war einfach plötzlich da gewesen, meist in oder nach einer Meditation. Er wusste, dass da mehr war, als er sich in seinem ersten, intellektuellen Leben je hätte vorstellen können. Aber es glitt ihm immer wieder aus den Fingern, die erleuchteten Momente blieben Momente, und statt mehr wurden sie, so schien es jedenfalls, weniger.

Als mir das Familienstellen begegnete, wusste ich sofort, dass ich hier etwas finden würde, was mir gefehlt hatte, und ich wusste sofort, dass ich damit arbeiten würde. Es dauerte nicht lange, bis der Sucher sich zur Ruhe begab. Ich hatte gefunden, was ich brauchte: meine Wurzeln. Und ich begann, mich um mein ganz gewöhnliches Leben nicht nur notdürftig zu kümmern, sondern es auch zu schätzen. Ich gestand mir meine Wünsche ein, zum Beispiel so schnöde Dinge wie ein richtig tolles Auto, und erlaubte mir, die Leistung anzuerkennen, die hinter meinem Doktortitel stand; ich versteckte ihn nicht mehr, sondern trug ihn mit Achtung vor dem Intellektuellen. Er zahlte es mir sofort zurück, ich erntete nicht nur die lang ersehnte Anerkennung und finanzielle Belohnung für meine Arbeit, sondern fühlte mich auch von meinem Titel mitgetragen.

Und die Erleuchtung? Ich habe sie vergessen. Wenn sie will, wird sie mich finden, und wenn es sein soll, werde ich bereit für sie sein. Bis dahin kümmere ich mich jedoch um das, was vor mir liegt. Seit zehn Jahren meditiere ich nicht mehr, und ich fühle mich dem Jetzt mehr verbunden als damals. Damit sage ich nichts gegen Meditation, sie hat mir bestimmt geholfen, eine gewisse Gelassenheit zu erlangen. Aber ich will nicht mehr irgendwo hin, sondern lasse die Dinge und mich selbst sein, wie sie sind und wie ich bin. Man sagt ja, auch die Erleuchtung läge unmittelbar vor einem, sie sei nicht weit weg, sondern ganz nah. Wenn es so ist, werde ich sie wohl finden, auch ohne nach ihr zu suchen. Gerade habe ich ein paar Zeilen von Eckhard Tolle gelesen, schöne, wahre Worte. Tolle ist ja ganz „in“, aber mich interessiert er nicht wirklich. Es gibt da ein Gefühl in mir, das mir sagt: Das ist alles wahr, und das weiß ich alles schon. Worauf es ankommt ist aber nicht, irgendwohin zu gelangen und ein besseres Bewusstsein zu bekommen, sondern mit und in dem zu leben, wo ich gerade bin. Wenn das mein Ego ist, dann ist es eben so und dann soll es wohl auch so sein. Und wenn es etwas anderes ist, dann ist es auch in Ordnung.

Damit komme ich zu diesem Buch. Ich schreibe es, weil es sich bei mir gemeldet hat und ich mich dazu aufgefordert fühlte. Die Bewusstseinsstufen, die es beschreibt, stellen eine Weiter- oder Höherentwicklung bis hin zur Erleuchtung dar. Sie scheint mir das letztendliche Ziel der Evolution zu sein, die für mich insgesamt eine Evolution des Bewusstseins ist, in der dieses sich Schritt für Schritt selbst erfährt und erkennt. Es geht mir aber nicht darum, wie man dieses Ziel möglichst schnell oder effektiv erreicht. Es ist auch kein Ziel, das man sich setzen könnte, es ist ein innerer Zweck, ein inneres Ziel, ein Telos. Für mich nehme ich wahr, dass ich dann entspannt bin, wenn ich im Einklang bin mit der Bewegung, wie sie gerade ist. In diesem Sinne beschreibe ich die Stufen des Bewusstseins als etwas, was zu seiner Zeit immer richtig ist, so wie ich heute den Intellektuellen, der ich einst war, ganz in mein Herz geschlossen habe und ihn für meine damalige Lebenszeit als richtig ansehe. Ohne ihn hätte ich dieses Buch nie schreiben können; wäre ich bei ihm stehen geblieben, aber auch nicht. Das gilt ebenso für den Sucher, auch wenn ich jetzt nicht mehr – oder vielleicht auch nur anders – suche. Ohne ihn wäre ich an der Wahrheit ewig vorbeigelaufen. Nicht, dass ich sie jetzt gefunden, dass ich sie jetzt hätte, aber ich habe dank seiner einen Sinn dafür entwickelt, sie wahrzunehmen. Hätte ich aber nicht aufgehört, nach ihr (der Wahrheit, der Erleuchtung oder wie immer man es nennen mag) zu suchen, wäre ich immer noch zu beschäftigt, sie in den Dingen des Alltags zu bemerken.

Das Buch handelt aber nicht nur von der persönlichen spirituellen Suche. Sie erscheint mir nur als Widerspiegelung einer Bewegung, die das Bewusstsein insgesamt treibt. Eigentlich gibt es Bewusstsein nur als etwas Ganzes, die Aufteilung in persönliches, gesellschaftliches oder kollektives Bewusstsein (und weitere Ebenen) ist zwar hilfreich, aber letztlich doch künstlich. Wir bewegen uns mit unserem persönlichen Bewusstsein nicht nur immer in einem überpersönlichen Bewusstseinsfeld, sondern unser Bewusstsein ist im Grunde nichts anderes als ein – natürlich sehr partieller – Ausdruck des Bewusstseins schlechthin. Und unsere eigene Bewusstseinsbewegung ist nur verständlich im Kontext dieser Gesamtbewegung.

Ich stelle hier aber kein theoretisches Buch vor, mich interessiert das Bewusstsein nur in praktischer Hinsicht. Denn es ist unser Bewusstsein, das entscheidet, wie wir uns fühlen, wie wir unser Leben sehen und ob wir glücklich oder unglücklich sind. Und da scheint es mir, dass wir umso mehr leiden, je weiter unser Sein und unser Bewusstsein auseinanderklaffen. Hier kommt die Therapie ins Spiel als ein Mittel, Sein und Bewusstsein miteinander zu verbinden. Dem, was war, zustimmen, in Einklang kommen mit dem, was ist, und entstehen lassen, was gerade entstehen will – das sind für mich die Prozesse, um die es bei der Therapie geht. Ein guter Therapeut ist einer, der in der Lage ist, seinem Klienten dabei behilflich zu sein, diesen Einklang zu finden. Dabei, so meine Hoffnung, kann die Landkarte des Bewusstseins, die ich hier skizziere, vielleicht einige Dienste erweisen. Nicht, indem sie einem sagt, was richtig ist, sondern indem sie vielleicht die innere Einsicht für das fördert, was gerade angesagt und angemessen ist. Und indem sie die Wertschätzung für jede der beschriebenen Stufen fördert.

Dazu scheint mir die Aufstellungsarbeit besonders geeignet, sofern sie mit einer Bewusstheit über die Entwicklung des Bewusstseins einhergeht. Bei den Aufstellungen zeigt sich die Wirklichkeit auf eine bisher nicht gekannte Weise, sie bringen uns unmittelbar in Kontakt mit uns selbst und den Menschen und Ereignissen, die am stärksten auf unser Leben einwirken, und zeigen uns die Wahrheit unserer Seele. Insbesondere helfen sie bei der Würdigung dessen, woher wir kommen, und bei der Sichtbarmachung einer Perspektive, wohin wir gehen. Und da die Aufstellungen mit Körper, Seele und Geist unmittelbar erlebt werden können, unterstützen sie diese Prozesse auf eine erfahrbare und ganzheitliche Weise. Allerdings hat die Aufstellungsarbeit bisher selbst keine klare Perspektive dafür, wo sie (beziehungsweise wo welche Variante von ihr) im Prozess der spirituellen Entwicklung hingehört. In diesem Punkt möchte ich mit meinem Buch ebenfalls zur Klärung beitragen.

Wilfried Nelles, Marmagen, im Mai 2009

Dank

Ich bedanke mich an dieser Stelle erstmalig bei all meinen Lehrern, guten wie weniger guten, freundlichen wie weniger freundlichen. Ich habe sie alle gebraucht, und sie haben mir alle auf ihre Weise geholfen. Danke.

Besonders wichtig waren für mich zwei Menschen, die sich zwar nicht als Lehrer verstanden, von denen ich aber vielleicht deshalb mit am meisten gelernt habe: Osho, als dessen spiritueller Schüler ich mich fünfzehn Jahre lang verstanden habe, und Bert Hellinger, der mir zehn Jahre eine lebendige Quelle der Inspiration und ein freundschaftlicher Wegbegleiter war. Ich habe mich von beiden getrennt, weil ich weiter zu gehen hatte, bleibe ihnen aber in Dankbarkeit und Liebe verbunden.

Erwähnen möchte ich auch meinen langjährigen Freund Deva Basir (Roland Werner), mit dem ich vor zwanzig Jahren vieles diskutiert und von dem ich vieles gelernt habe, was jetzt in mein Wachstumsmodell eingegangen ist.

Heinrich Breuer und Joachim Vogel haben die erste Fassung des Manuskripts gelesen und mich vor einigen Fehlern bewahrt und mir wichtige Hinweise gegeben, und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Heinrich Breuer bei mehreren Kongressen und in unserem gemeinsamen Institut Eurasys hat mich in vielfacher Weise gestärkt und ermutigt.

Meine Verlegerin Jivana Werner, Weggefährtin und Freundin seit über zwanzig Jahren (mein Gott, jetzt merke ich, wie alt ich bin!), hat fest an dieses Buch geglaubt, mir alle Zeit gelassen, die ich brauchte, und mir damit großen Rückhalt gegeben. Danke, Jivana.

Und last but not least hat meine Frau wieder einmal die Aufs und Abs meiner Buchschwangerschaft begleitet, mir als „Sparringspartnerin“ gedient, geduldig zugehört und mir mit ihren Kommentaren wichtige Hinweise gegeben. Auch an dich, Birgid, ein großes Dankeschön.

Teil 1

DIE EVOLUTION DESMENSCHLICHEN BEWUSSTSEINS

 

WIE SICH DAS BEWUSSTSEIN ENT-WICKELT

Alte und neue Götter

Die Welt dreht sich immer schneller, und mancher wird vom Schwindel erfasst. Geld, Geld, Geld scheint das einzige, was noch zählt. Ob es sich um die Vergütung von Managern, um die Ablösesummen und Gehälter von Fußballern oder um Renditen für Aktien und andere Geldanlagen handelt: Es geht nur um mehr und noch mehr. Und selbst damit ist es nicht genug: Tag für Tag werden krumme Geschäfte und Betrügereien der Wohlhabenden aufgedeckt. Vor einigen Jahren blickte mir auf der Frankfurter Buchmesse von Werbeplakaten für den Großen Brockhaus Marcel Reich-Ranicki entgegen, begleitet von dem Spruch: „Wer viel weiß, will noch mehr wissen.“ Dieses Motto eignet sich, über das Wissen hinaus, zur generellen Charakterisierung unserer Zeit: Wer viel hat, will noch mehr haben. Erich Fromms „Haben oder Sein“ mag den Bücherschrank zieren und für manche Sonntagsrede hervorgeholt werden – praktisch ist die Sache längst entschieden: Haben ist angesagt. Den biedermännischen Mahnungen und Verurteilungen glaubt niemand mehr. Wer heute auf die anderen zeigt und die „Gier“ der Finanzjongleure anprangert, kann morgen selbst am Pranger stehen. Wenn der Lotto-Jackpot im zweistelligen Millionenbereich liegt, verdoppelt sich die Zahl der Lottospieler. Herr und Frau Jedermann sind genauso gierig wie die von der Wallstreet.

Wir müssen wieder Werte vermitteln, lautet die verbreitete Devise. Alte Tugenden sollen her, die Kinder sollen wieder wertbezogen erzogen werden. Was das bringt, zeigt beispielhaft die Geschichte der amerikanischen Vizepräsidentschaftskandidatin Sarah Palin. Während sie einen Feldzug für die Wiederherstellung konservativer Werte im Allgemeinen und für die Enthaltsamkeit vor der Ehe im Besonderen durchführt, hat ihre minderjährige Tochter Sex mit einem jungen Mann, dessen Mutter wegen Drogendelikten verhaftet wurde. Das ist zwar nicht Palins Schuld, aber es sollte jedem zu denken geben, der meint, man könnte das Rad zurückdrehen. Wenn man annimmt, dass Sarah Palin versucht hat, ihre Tochter im Sinne ihres politischen Programms zu erziehen, dann zeigt ihr Beispiel: Das geht nicht einmal in der eigenen Familie. Frau Palin selbst zeigt ihre Tugendhaftigkeit und ihren Sinn für Werte, indem sie sich mit teuersten Designerkleidern versorgt, die aus Parteispenden bezahlt werden, und ihr Amt benutzt, um persönliche Rache zu üben. Darüber kann man, je nach Weltanschauung, entsetzt sein oder sich schadenfroh amüsieren, aber beides verdeckt nur einen grundlegenden Tatbestand: Die alten Ordnungen gelten nicht mehr, die sogenannten Werte geben keine praktische Orientierung mehr, und vor allem: einen Weg zurück gibt es nicht. Denn dies ist nicht nur die Geschichte einer amerikanischen Hausfrau, die an die Spitze der Weltmacht wollte, sondern es ist – mehr oder weniger – genauso wie die Jagd nach dem Lotto-Jackpot unser aller Geschichte.

Die „alten Werte“ haben ausgedient. Sie wurzeln in einem Be– wusstsein, das heute nur noch in Restbeständen vorhanden ist. Von diesen Restbeständen zehren wir noch, während wir sie gleichzeitig zerstören. Vielleicht ist „zerstören“ aber auch der falsche Ausdruck. Sie erodieren, verschwinden von selbst, sterben einfach. Es ist der Lauf der Dinge, der Weg der Welt. Ein Weg, der nicht umgedreht, noch nicht einmal aufgehalten werden kann. Vor einigen Jahren, kurz nach der Jahrtausendwende, habe ich in Budapest vom Burghügel aus auf die andere Seite der Donau mit ihren wunderbaren alten Gebäuden aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert geschaut. Einige wurden gerade renoviert, andere strahlten bereits wieder im alten Glanz. Es war, als sei eine Stadt, die im Koma gelegen hat, wieder zum Leben erwacht. Plötzlich hatte ich eine Eingebung: Die Kommunisten haben versucht, die Welt anzuhalten. Sie widersetzten sich dem eigengesetzlichen Lauf der Dinge und wollten der Welt ihren eigenen Plan aufzwingen. Sie wollten ihre „Werte“ durchsetzen. Ich konnte richtig sehen, wie die Welt dabei fast erstickt wäre.

Auch in unserem persönlichen Leben sind wir tot, bevor wir sterben, wenn wir dem Leben unseren Plan aufzuzwingen versuchen. Das Leben hat seine ganz eigene Bewegung, und es will, dass wir vorwärts gehen. Manche sehnen sich nach der Kindheit zurück, aber sie kommt nie mehr wieder. Viele meinen, ihnen sei früher etwas vorenthalten worden und sie müssten noch etwas bekommen, beispielsweise von ihren Eltern. Beklagen sich über zu wenig Aufmerksamkeit, Liebe, Fürsorge, Schutz, Geborgenheit. Aber da gibt es nichts mehr, Nachbesserungen sieht unsere Existenz nicht vor. Einzig die Erkenntnis, dass alles richtig ist, wie es ist und war, dass wir alles haben, was wir brauchen, kann uns wirklich helfen. Andere suchen sich das, was ihnen fehlt, bei anderen Menschen, vor allem bei ihren Partnern. Aber die denken nicht daran, Mamis oder Papis Defizite zu übernehmen. Selbst wenn sie es versuchen, geben sie früher oder später erschöpft auf. Und wir können nicht nur nicht zurück, sondern auch die Gegenwart zerrinnt uns zwischen den Fingern, wenn wir sie festhalten wollen. Das Leben geht unaufhaltsam vorwärts, von der Wiege bis zur Bahre. Nur unser Bewusstsein hält mit dieser Lebensbewegung nicht Schritt, wir wollen sie anhalten, zurückdrehen, manchmal vielleicht auch vorwärts springen. All dies ist vergeblich und führt zugleich zu einer modernen Volkskrankheit: Stress. In meiner Kindheit war das Wort noch unbekannt, zumindest auf dem Land, wo ich herkomme. Stress ist nichts anderes als das Leiden an einer Diskrepanz zwischen dem, was ich will oder empfinde oder glaube, tun (oder sein) zu müssen, und dem, was tatsächlich ist. Mit anderen Worten: eine Diskrepanz zwischen Sein und Bewusstsein. Die einzig wirksame Stresstherapie besteht daher darin, das Bewusstsein mit dem Sein zu versöhnen.

Das ist allerdings nicht ganz einfach, weil das moderne Bewusstsein sich gerade dadurch auszeichnet, dass es sich gegen das Sein stellt. Es ist eine einzige Rebellion gegen das Sein, gegen das Sosein der Dinge. Nachdem die Menschheit sich eine kleine Ewigkeit lang mehr oder weniger ins Sein gefügt oder allenfalls versucht hat, das Ganze mit Opfer, Gebet und Magie etwas zu beeinflussen, steckt der moderne Mensch seine gesamte Energie in die Beherrschung des Seins, versucht, es sich untertan zu machen. Das Einverstandensein mit den Dingen und Verhältnissen oder gar die Hingabe an das, was ist, gilt als Fatalismus. Gleichzeitig ergibt man sich fatalistisch dem sogenannten Lebenskampf, zu dem es scheinbar keine Alternative gibt. Die meisten von uns empfinden die heutige Zeit als das Ende einer langen Entwicklung, nach der nichts Neues, qualitativ anderes mehr kommen kann, anstatt als Stufe in einem Prozess, der weit über uns hinausreicht. Das geschichtliche Denken ist nur rückwärts gewandt, nach vorne, in die Zukunft, scheint es keine Entwicklung mehr zu geben. Dies ist die tiefste, zugleich jedoch versteckteste Form des Endzeitdenkens, und sie herrscht mitten im Kern der modernen Gesellschaft. Es ist der Glaube unseres aufgeklärten Zeitalters, dass wir Heutigen das Ende der Menschheitsentwicklung seien; dass das menschliche Bewusstsein, der menschliche Geist, seine höchste Form erreicht habe, die zwar noch endlos zu verfeinern und zu verbessern, aber nicht in einehöhere Form zu transzendieren sei beziehungsweise sich aus der ihr selbst innewohnenden Dynamik, die uns bis hierher geführt hat, zu höheren Stufen weiterentwickeln könnte; dass die Wissenschaft der Gipfel sei, hinter dem es keinen Anstieg mehr gibt, sondern nur noch Abstürze in dunkelste Tiefen; dass das aufgeklärte Denken, die so genannte Vernunft, die höchstmögliche Stufe menschlicher Entwicklung sei, dass, mit einem Satz, „das Ende der Geschichte“ – so der Titel eines viel beachteten Buchs eines hoch geachteten Wissenschaftlers1– erreicht sei. Zwar redet man gerade in der Moderne ununterbrochen von Fortschritt und investiert sein ganzes Leben da hinein, aber es ist kein Fortschritt zu etwas Höherem, sondern nur die endlose (und alternativlose) Verbesserung des Bestehenden. Fortschritt wird rein technisch verstanden, als immer weitergehende Beherrschung der Natur. Das Bewusstsein selbst hat seinen Gipfel längst erreicht, auch wenn der Mensch sich nach wie vor barbarisch verhält. Dieser Gipfel ist aber in Wahrheit eine endlose Ebene, auf der man immer weiter fortschreitet, ohne sich noch ein wirkliches Höher, das heißt ein höheres (oder tieferes) Bewusstsein auf einer qualitativ anderen Ebene vorstellen zu können. Das ist Endzeit in Reinkultur.

Demgegenüber vertrete ich hier die These, dass wir uns gerade erst in der Mitte der Entwicklung des Bewusstseins befinden. Vielleicht ist diese Mitte ein besonders kritischer Ort (ähnlich wie die individuelle Lebensmitte mit ihrer „midlife crisis“), weil hier – mit der Verwirklichung von Vernunft und Individualität – tatsächlich der gesamte bisherige Prozess kulminiert und sich die Entwicklung in gewisser Weise umkehrt: nämlich hin zu einer neuen Form von Ganzheitlichkeit. Aber die Vorstellung, das menschliche Bewusstsein hätte in uns, abgesehen von der Verbesserung unserer technischen Mittel, seinen Höhepunkt erreicht, scheint mir nicht nur ziemlich vermessen, sondern auch Ausdruck eines ganz ungeschichtlichen, egozentrischen und nicht gerade logischen Denkens. Natürlich kann sich die Aufklärung mit ihren eigenen Mitteln, also mithilfe der Vernunft, nicht über sich selbst hinausbewegen – ebenso, wie die Religion sich mithilfe des Glaubens nicht über sich selbst aufklären konnte, sondern es des Zweifels und der Vernunft bedurfte, um die Beschränktheit des Glaubens zu sehen. Aber wieso sollte es nicht auch ein Jenseits der Vernunft, ein transrationales Bewusstsein geben, das sich qualitativ vom rationalen Bewusstsein abhebt und dieses überschreitet?2

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns dem Bewusstsein selbst zuwenden. Wenn wir dies tun, sehen wir, dass nicht nur die äußere Natur vorwärts drängt, auch nicht nur unser äußeres Leben, sondern auch das Bewusstsein, also das innere Leben. Und zwar sowohl das Bewusstsein jedes Einzelnen als auch das Bewusstsein der Menschheit als Ganzes. Im ersten Drittel unseres persönlichen Lebens kann man dies gut beobachten: Ein größeres Kind hat ein anderes Bewusstsein als ein Säugling, ein Jugendlicher ein anderes als ein Kind, ein Erwachsener ein anderes als ein Jugendlicher. Dann hört es bei den meisten auf, weiter geht das Wachstum des Bewusstseins nicht mehr. Jedenfalls nicht in qualitativer Hinsicht. Der Unterschied zwischen einem kindlichen und einem erwachsenen Bewusstsein ist nämlich ein qualitativer. Der Erwachsene weiß nicht nur mehr, sondern er sieht die Welt grundsätzlich anders, er lebt quasi in einer anderen Welt als ein Kind (sofern sein Bewusstsein nicht, was nicht gerade selten geschieht, auf der kindlichen Stufe stehen geblieben ist). So ist es auch mit dem Bewusstsein insgesamt, also dem kollektiven Menschheitsbewusstsein. Auch dieses entwickelt sich und wächst, und zwar so, dass wir die Welt auf verschiedenen Bewusstseinsstufen völlig unterschiedlich erfahren und verstehen. Jede Stufe hat ihre eigene Weltsicht, ihre eigenen Wahrheiten, ihre eigenen Vorzüge, ihre eigenen Lernschritte und ihre eigenen Probleme. Dass, zum Beispiel, wir Heutigen meist meinen, keine Zeit zu haben, ist für einen Menschen einer vormodernen Bewusstseinsstufe völlig unverständlich. Wenn es dort etwas in Hülle und Fülle gab (und immer noch gibt), dann Zeit. Aber die Natur oder der Hunger waren, anders als heute, eine ständige Bedrohung. Und die Götter und Geister waren real. Ich war einmal auf einem Seminar eines Amazonas-Schamanen, es war eine Ayahuasca-Zeremonie. Ayahuasca ist nach unseren Maßstäben eine stark halluzinogene Droge, bei den Indianern gilt sie als heilige Pflanze, die unter Anleitung von Eingeweihten für Heilzeremonien und die Kommunikation mit den Göttern benutzt wird. Der Schamane redete nie von einer Pflanze oder gar Droge und deren Wirkungen, sondern nur vom Ayahuasca-Geist, den man einnähme und mit dem man nach der Einnahme des Trankes in Kontakt käme. Und der Geist war gleichzeitig ein Gott. Ein Teilnehmer fragte ihn, ob er das mit dem Geist metaphorisch oder wörtlich meine. Der Schamane, ein junger Mann, der recht gut englisch sprach und sich ganz modern verhielt, schaute den Fragesteller verständnislos an. Er verstehe die Frage nicht, sagte er. Ob er glaube, dass es tatsächlich solch einen Ayahuasca-Geist gäbe, erläuterte der Teilnehmer. Ja natürlich gibt es den, antwortete der Indio, das habe mit Glauben überhaupt nichts zu tun, das sei einfach so. Jeder im Regenwald wüsste das.

Heute haben wir andere Geister, die für uns real sind. Sie heißen Dax, Dow-Jones und Nikkei, und Walhalla nennt sich jetzt neumodisch Wallstreet. Wie die alten Götter regieren sie unser Leben nach Lust und Laune. Selbst wenn wir nicht an sie glauben und ihnen nicht opfern, mischen sie sich ein, indem sie uns Erdbeben an den Börsen und ähnliche Naturkatastrophen schicken, die indirekt auch die treffen, die nicht dort wohnen. Dem Buschmann im afrikanischen Regenwald oder dem Orang Asli in Kalimantan können sie noch egal sein, für sein Leben sind seine alten Götter noch wichtiger. Aber für die meisten anderen regieren neue Herren den Götterhimmel. Jede Zeit, jedes Bewusstsein bringt seine eigenen Leistungen hervor und schafft sich seine eigenen Probleme. Irgendwann gehen diese so tief oder reichen so weit, dass sie innerhalb des bestehenden Bewusstseins nicht mehr lösbar sind. Nicht nur neue Instrumente sind nötig (für die Regulierung der Finanzmärkte mögen sie noch ausreichen), sondern ein neues Bewusstsein, eine qualitativ andere, weitere, höhere und tiefere Wahrnehmung der Welt und der eigenen Existenz. Denn die tieferen Probleme der modernen Gesellschaft heißen nicht Dax und Dow, auch nicht Krebs und Aids, noch nicht einmal Krieg und Hunger. Selbst wenn dies alles wie von Zauberhand gelöst wäre, stünden wir am Abgrund, vielleicht sogar mehr als heute. Vielleicht müssen wir einen Großteil dieser Probleme tatsächlich noch lösen, ehe wir in der Lage sind, die ganze Abgründigkeit des modernen Bewusstseins3zu sehen. Solange die genannten Probleme noch da sind, sind wir wenigstens beschäftigt und bemerken die innere Leere nur gelegentlich. Wären sie plötzlich verschwunden, gäbe es wahrscheinlich eine Selbstmordschwemme, die all die Opfer von Krieg und Krankheit vergessen ließe – es sei denn, wir erreichten eine andere Bewusstseinsstufe, in der wir uns wieder innerlich erfüllt fühlen könnten.

Alles wächst – oder: Was ist spirituelles Wachstum?

Wachstum ist unsere innerste Natur. Es gibt auf dieser Welt nichts, was nicht wächst. Alles wächst, und alles wächst von allein. Oder, um es mit Osho zu sagen: Sitting silently, doing nothing – the grass grows on it’s own (still sitzend, nichts tuend – das Gras wächst von alleine).

Alles wächst – das erinnert an den berühmten Ausspruch eines ansonsten nicht ganz so berühmten Weisen des Altertums: an den Griechen Heraklit. Sein „Panta Rhei“ – „Alles fließt“ drückt in zwei simplen Worten das gesamte Geschehen der Welt aus. Wenn man sich in diesen Satz hineinversenkt, wird man in eine tiefe Meditation gezogen. Die scheinbar feststehenden Dinge um uns herum geraten ebenso ins Schwimmen wie das, was wir in unserem Geist für Tatsachen halten. Nichts ist fest, nichts dauert, alles ist in Bewegung, alles ändert sich fortwährend. Zweieinhalbtausend Jahre vor Quantentheorie und Teilchenbeschleunigern hat es der alte Seher schon gewusst: Die Berge wachsen oder schrumpfen, und selbst in einem Eisenklumpen rasen die Teilchen hin und her und verändern ihn, für unsere Wahrnehmung unsichtbar, in jedem Moment. Auch unser Ich, das, was wir zu sein glauben – alles fließt. An einer anderen Stelle macht Heraklit das auf andere Weise deutlich: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen.“ Das ist nicht nur so, weil „derselbe“ Fluss beim zweiten Mal ein anderer ist – das Wasser von zuvor ist längst dahin geflossen –, sondern auch, weil derjenige, der in den Fluss steigt, inzwischen ein anderer ist. Er mag es nicht bemerkt haben, aber auch derjenige, der er beim ersten Mal war, ist gewissermaßen längst dahingeflossen. Wenn man sich auf diese Meditation, diese Worte und das Bild, dass sie malen, wirklich einlässt, wird einem sein Leben und seine feste Welt sehr schnell zwischen den Fingern zerrinnen. Und Sätze wie den, dass „ich mein Leben nicht mehr im Griff habe“ oder „wieder in den Griff bekommen möchte“ – ein Satz, den ich in meinen Kursen oft zu hören bekomme –, dürften einem sehr bald absurd vorkommen.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten beschäftige ich mich als Therapeut mit den Problemen von Menschen. Diejenigen, die meine Kurse besuchen, kommen aus allen sozialen Schichten, allen Altersstufen und inzwischen auch aus fast allen Kontinenten; ihre Probleme und deren Hintergründe umfassen nahezu jeden Aspekt des menschlichen Lebens, vom Streit mit dem Ehemann über den Verlust des Arbeitsplatzes zum sexuellen Missbrauch, vom plötzlichen Tod eines Kindes, von einer tödlichen Krankheit, einem Mord in der Familie bis zur Auslöschung fast der gesamten Familie im Holocaust oder bei der chinesischen Kulturrevolution. Manche, und nicht die wenigsten, kommen auch einfach nur, weil sie etwas für ihr „inneres Wachstum“ tun oder, profaner ausgedrückt, sich selbst näherkommen wollen. Was es auch immer sein mag: Es ist immer ein Problem des Bewusstseins, nie eines des Seins an sich. Das Sein an sich ist einfach, und wer sich dem ganz stellt, ist ebenfalls. Es ist immer das Bewusstsein, das zwischen das Sein und die Person tritt, was das Problem erzeugt. Zum Beispiel, indem es in uns das Gefühl hervorruft, dass dieses Sein falsch sei und daher nicht sein dürfte und abgelehnt, verändert oder überwunden werden sollte. In diesem Moment entsteht das Problem. Dass das Problem im Bewusstsein entsteht und nur dort existiert, gilt für Armut und Reichtum ebenso wie für Krankheit und Gesundheit, ja sogar für Leben und Tod. Mit Geld lebt es sich sicher sehr viel angenehmer als ohne, und gesund zu sein ist sehr viel besser als krank zu sein, aber es ist ein großer Unterschied, ob ich entspannt damit umgehe oder von Geld oder Gesundheit oder dergleichen besessen bin. Die Tatsachen, die Gegebenheiten des Lebens sind das eine, wie ich damit umgehe, ist das andere; das Leben im Sinne unserer natürlichen Bedürfnisse und Wünsche zu verbessern, ist das eine, diese zum Maßstab unseres Glücks oder unserer Lebenshaltung zu machen, das andere. Es gibt Menschen, die jedes Zipperlein als eine Katastrophe oder Bedrohung empfinden, während andere mit schweren Krankheiten ein glückliches Leben führen. Die heute bei uns verbreitete Vorstellung, dass Gesundheit das Wichtigste sei, würde bei vielen Menschen anderer Kulturen oder Zeitalter sicherlich Verwunderung hervorrufen. Ja, es ist schön, wenn man gesund ist, aber das Wichtigste? Das ist für ein Nomadenvolk vielleicht, dass das Vieh gesund ist und genug zu fressen und zu saufen hat, oder dass es genügend Nachkommen gibt. Dass man die eigene Gesundheit über die des Viehs stellen könnte, können sich die Angehörigen eines solchen Stammes wahrscheinlich nicht einmal im Traum vorstellen. Denn vom Vieh hängt schließlich das Wohlergehen und der Fortbestand der ganzen Sippe oder des ganzen Stammes ab – was bedeutet dagegen schon die persönliche Gesundheit? Noch nicht einmal das eigene Leben ist so wichtig. Wenn ich sterbe, können meine Kinder weiterleben. Wenn das Vieh stirbt, ist alles aus. Für andere geht es vielleicht darum, dass die Götter wohlgesinnt sind oder dass man – gesund oder nicht – in Einklang mit Gott lebt.

Man könnte also sagen, unser Bewusstsein selbst – genauer gesagt: die Inhalte unseres Bewusstseins, unsere Art und Weise, auf die Wirklichkeit zu schauen – ist das Problem. Dies ist in der Tat das, was die großen Weisen, die Erleuchteten, ihren Schülern seit einigen tausend Jahren einzuhämmern versuchen: Entledige dich aller Formen und Inhalte deines Bewusstseins, indem du einfach nur bewusst bist. Das Bewusstsein, das sie lehren, ist eines ohne jeden Inhalt, vollkommen leer. Reines, waches Sein, eine Begegnung mit der Wirklichkeit, die nicht durch einen einzigen Gedanken, nicht durch den Hauch einer Erinnerung an frühere Erfahrungen getrübt oder gefiltert wird. Das – inhaltlich verstandene – Bewusstsein wird hier durch reine Bewusstheit ersetzt. Peter Sloterdijk hat dies am Ende seines ersten großen Werkes, der„Kritik der zynischen Vernunft“, in ein emphatisches Bild gekleidet: „Es geht um Erfahrungen, für die ich kein anderes Wort finden kann als das vom gelungenen Leben. In unseren besten Augenblicken, wenn vor lauter Gelingen auch das energischste Tun im Lassen aufgeht und die Rhythmik des Lebendigen spontan uns trägt, kann sich der Mut plötzlich melden wie eine euphorische Klarheit oder ein wunderbar in sich gelassener Ernst. Er weckt in uns die Gegenwart. Kühl und hell betritt jeder Augenblick deinen Raum; du bist von seiner Helle, seiner Kühle, seinem Jubel nicht verschieden. Schlechte Erfahrungen weichen zurück vor den neuen Gegebenheiten. Keine Geschichte macht dich alt. Die Lieblosigkeiten von gestern zwingen zu nichts. Im Lichte solcher Geistesgegenwart ist der Bann der Wiederholungen gebrochen. Jede bewußte Sekunde tilgt das hoffnungslose Gewesene und wird zur ersten einer Anderen Geschichte.“4

Es liegt also nahe, sich dem Bewusstsein selbst zuzuwenden, wenn man seine Probleme wirklich lösen will. Das ist genau das, was die meisten „spirituellen Therapien“ oder „spirituellen Gemeinschaften“ tun: Sie arbeiten am spirituellen Wachstum mit dem Ziel, zu höheren Bewusstseinsstufen zu gelangen, in denen man die Inhalte seines eigenen Bewusstseins durchschauen, sich von ihnen lösen oder gar ganz befreien kann. Nun ist aber die Idee, das Bewusstsein müsse besser sein – oder klarer oder wacher oder höher oder weiter –, ebenfalls eine Vorstellung, die zu einer Spannung führt zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll. Wenn wir uns also das Wachstum unseres Bewusstseins oder gar die vollständige Leere zum Ziel setzen, erzeugen wir wieder ein Problem. Genau betrachtet sogar zwei: Das erste ist die Spannung zum eigenen Sein, das als ungenügend angesehen wird und ein ständiges An-sich-Arbeiten erfordert.

Deshalb braucht man, um dies durchzuhalten, eine Gruppe von Gleichgesinnten und nach Möglichkeit auch noch einen Guru, die einem bestätigen, dass man auf dem richtigen Weg ist, dass man Fortschritte macht – die aber selbstverständlich nie genügen – und am Ende belohnt wird, wenn man intensiv weiter an sich arbeitet. Hier drängt sich die Parallelität zum christlichen Erlösungsgedanken auf. Der Unterschied ist nur, dass die christliche Erlösung nach dem Tod winkt, wenn man ein tugendhaftes Leben geführt hat, während die neuzeitlich-spirituelle Erlösung, die Erleuchtung oder Befreiung, noch in diesem Leben erreicht werden kann, wenn man hart an sich arbeitet. Gemeinsam ist beiden, dass sie eine Erlösung von diesem Leben (diesem Jammertal) anstreben, anstatt sich ins Leben zu verströmen. Zum anderen kann es zu massiven psychischen Problemen kommen, wenn man sich durch entsprechende Übungen tatsächlich zu höheren Bewusstseinsstufen hocharbeitet, ohne dass diese das reale Fundament eines tatsächlichen seelischenWachstums haben.6Denn wirkliches Wachstum kann nichtgemacht werden. Es geschieht von innen heraus.

Es gibt tatsächlich eine Höherentwicklung des Bewusstseins, aber dies ist ein natürlicher Prozess. Dieser geschieht umso nachhaltiger, je mehr wir mit unserem jeweiligen Bewusstsein in Einklang sind. Dann wachsen wir mit diesem Bewusstsein, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, schneller wachsen zu müssen. An seinem Wachstum zu arbeiten, um es zu beschleunigen, ist etwa so, als wenn man aus einem Kind möglichst schnell einen Erwachsenen machen möchte. Man lehrt es jeden Tag, wie ein Erwachsener zu denken, zu reden und zu handeln und lässt es nicht mit anderen Kindern spielen oder nur mit einer Gruppe, die insgesamt schneller wachsen soll, und füttert vielleicht auch noch seinen Körper mit Hormonen. Was kann dabei herauskommen? Im besten Fall ein armer Kerl, der nie eine richtige Kindheit hatte und deshalb immer nach ihr suchen wird, im schlechtesten ein Monster. Es ist kein Zufall, dass viele spirituelle Sucher außerhalb ihrer Gruppe große Probleme haben, im Leben zurechtzukommen. Das hat nichts mit der schlechten Welt zu tun, sondern damit, dass sie sich von der Wirklichkeit entfernt haben. Die Wirklichkeit, also das, was wir sind und was uns begegnet, das Sosein des Lebens, ist die eigentliche Quelle unseres Wachstums. Es ist auch die Quelle oder der Humus unseres Bewusstseins. Aus dieser Quelle nährt es sich.

Alles wächst, auch das Bewusstsein. Womit wir wieder bei Heraklit wären. Vielleicht ist ja auch das Bewusstsein ein großer Strom. Wie jeder Fluss kommt es aus dem Ganzen, tritt irgendwo an die Oberfläche und wird zu einem besonderen Fluss, der sich nach und nach mit vielen anderen Flüssen vereinigt, und endet schließlich wieder im großen Ganzen, im Meer, um sich schlussendlich auch dort gänzlich aufzulösen. Und wie bei Heraklits Fluss kann man auch hier nicht zweimal in denselben Strom steigen – das Bewusstsein fließt ständig weiter, es kennt weder Stillstand noch fließt es rückwärts und ist in jedem Moment neu. Da er aus dem Ganzen kommt, trägt jeder Fluss auch die Erinnerung an dieses Ganze in sich, und er mag ahnen, dass sein Weg am Ende wieder dort mündet, im großen Ozean. Aber so sehr es ihn dorthin ziehen mag, so sehr ihm der Ozean die Richtung weist, so unsinnig wäre es, daran zu arbeiten, möglichst schnell und sofort dorthin zu gelangen. Es würde bedeuten, sein Flusssein zu verleugnen und all die großartigen Landschaften zu verpassen, die er auf dem Weg zum Meer zu durchfließen – und durch sein Fließen mitzugestalten – hat. Das Meer, die Auflösung im Ganzen, wird kommen, und sie kommt von selbst, sie ist die natürliche Bestimmung des Flusses.

Und ebenso wie alles von selbst fließt, wächst auch alles von selbst. Wachstum ist die Natur des Lebens. Wir können allenfalls ein bisschen düngen, wässern, kreuzen – und auch da kann man schnell des Guten zu viel tun, so dass wir am Ende zwar schönes, aber saftund kraftloses Gemüse haben. Vielleicht ist sogar alles, was wächst, ist die Welt, wie sie ist, und der Mensch, wie er ist, ein Aspekt des Bewusstseins und seiner Entfaltung. Dieses Wachstum ist nicht das Resultat eines Tuns, weder auf der kosmischen Ebene noch auf der individuellen. Es ist ein Geschehen, das seinem eigenen Rhythmus, seinem eigenen Tempo folgt. Spirituelle Entwicklung oder Wachstum ist nichts anderes als die Ent-Wicklung des Bewusst-Seins selbst, das Zu-sich-selbst-Kommen des Bewusstseins, also nicht eine Bewegung, die von uns ausgeht und unseren Wünschen oder unserem Willen folgt, sondern eine des Bewusstseins selbst. Das Bewusstsein ist das Subjekt, es ent-wickelt sich selbst, und wir sind ein Teil dieser Entwicklung. Was uns also fehlt (wenn uns etwas fehlt), ist nicht mehr, schnelleres oder höheres Wachstum; was uns fehlt, ist nicht ein besseres Bewusstsein; was uns fehlt, ist der Einklang mit dem, was ist, mit der Wirklichkeit, die uns umgibt und die in uns wirkt. Das beinhaltet auch den Einklang mit unserem Bewusstsein, wie es ist. Deshalb liegt der Fokus dieses Buches darin, das jeweilige Bewusstsein bewusst zu machen.

Erste Annäherung: Die Entwicklungsstufen des menschlichen Bewusstseins

Zur Einstimmung mein Lieblingsgedicht von Hermann Hesse, das uns durch das ganze Buch begleiten wird:

Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe

Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,

um sich in Tapferkeit und ohne Trauern

in andre, neue Bindungen zu geben.

Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,

der uns beschützt und der uns hilft zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,

an keinem wie an einer Heimat hängen,

der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,

er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.

Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise

Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,

nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise

mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

Uns neuen Räumen jung entgegen senden,

des Lebens Ruf an uns wird niemals enden ...

wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Man kann sich die Bewusstseinsstufen wie Stufen einer Leiter vorstellen, aber auch wie Kreise, die sich immer weiter ausdehnen. Wichtig ist, dass man jede Stufe nehmen oder jeden Kreis ganz durchleben muss, um zur beziehungsweise zum nächsten zu gelangen. Bleiben wir zunächst beim Bild der Leiter. Ich benutze dabei zwei Analogien, um die einzelnen Wachstumsstufen zu veranschaulichen und begreifbar zu machen und um zu zeigen, dass sie nicht einfach aus der Luft gegriffen sind, sondern natürliche Entsprechungen auf vielen Ebenen des Lebens haben. In der folgenden Übersicht ist es die Analogie zum östlichen System der feinstofflichen Energiezentren (auch Chakra genannt), die mit bestimmten menschlichen Organen und Körperregionen verbunden sind und nach Auffassung der ayurvedischen oder chinesischen Medizin die Organfunktionen steuern. Später, bei der ausführlichen Besprechung der Stufen, werde ich der jeweiligen Bewusstseinsstufe immer eine kurze Darstellung der entsprechenden (biologischen) Lebensstufe voranstellen. Hier zunächst eine geraffte Übersicht.

1.Die erste Stufe des Bewusstseins ist ganz auf das Überleben ausgerichtet: essen, trinken, Fortpflanzung. Triebgesteuert, bio-logisch, das heißt dem Gesetz (Logos) des Lebens (Bios) folgend. Die einfachste, ursprünglichste Art zu leben. Unsere Grund bedürfnisse. Ohne zu essen und zu trinken stirbt der einzelne Mensch, ohne Sex die Gattung. Daher brauchen wir sie nicht nur auf der ersten Stufe, sondern immer, so hoch wir auch steigen. Die Natur war so clever, sie als Trieb in uns einzupflanzen, dessen Befriedigung wir als lustvoll erleben. Auf der Ebene des menschlichen Körpers entspricht dem das erste (unterste) Chakra oder Energiezentrum am tiefsten Punkt unseres Rumpfes, dem Damm, auch Wurzelchakra genannt. Wenn wir uns stehend auf diesen Bereich ausrichten, können wir unsere Verbindung zur Erde spüren. Man kann sehr klar wahrnehmen, wie stabil, sicher oder unsicher, wackelig diese Verbindung ist, ob man gut „geerdet“ ist oder nicht. Wessen Bewusstsein der Stufe 1 entspricht, dessen geistiger Horizont und dessen Bedürfnisse drehen sich nur ums Überleben, sprich: essen, trinken und Paarung.

2.Die Stufe 2 entspricht dem Nabelchakra, das die Japaner Hara nennen. Es liegt zwei Fingerbreit unter dem Nabel. Unter den Samurai galt es als höchste Kunst, sich einen Dolch (Kiri) so genau ins Hara zu stechen, dass man auf der Stelle tot war (Hara-kiri). Interessanterweise sitzt dort kein körperliches Organ, dessen Verletzung den unmittelbaren Tod zur Folge haben könnte. Es ist vielmehr das spirituelle Lebenszentrum, durch das wir nach den Vorstellungen der asiatischen Energielehren direkt mit dem Kosmos und der von dort kommenden Lebensenergie verbunden sind. Körperlich ist das Hara der Mittelpunkt zwischen oben und unten. Dort findet man – nicht nur metaphorisch, sondern auch ganz profan, zum Beispiel bei der Ausübung fast aller Sportarten – seine Mitte, sein Gleichgewicht. So wie das körperliche Ruhen im Hara dem Körper ein sicheres Gleichgewicht verleiht, steht die Stufe 2 als Bewusstseinsstufe für das Thema Stabilität, Sicherheit und Gleichgewicht im Leben. Hier geht es darum, einen sicheren Ort zu haben, materiell, seelisch und geistig. Ein Zuhause, einen Platz, einen Glauben, eine Ordnung.

3.Auf der Stufe 3 gerät diese Ordnung ins Wanken. Körperlich befinden wir uns im Solarplexus, zu deutsch Sonnengeflecht. Auch dies ist – wie übrigens alle Chakrazentren – ein sehr empfindlicher Punkt: Ein Schlag auf den Solarplexus, er muss nicht einmal sehr hart sein, und dir bleibt die Luft weg oder du wirst sogar ohnmächtig. Ohn-macht ist die Abwesenheit von Macht, und um die genau geht es auf Stufe 3. Aber nicht Macht im politischen Sinne, Macht über andere, sondern Macht über sich selbst. Hier sitzt unser persönlicher Wille, das Ich-Gefühl, das Streben nach Autonomie. Das dritte Chakra hat in der spirituellen Szene den schwarzen Peter, es ist der böse Bube, der nach Macht strebt und den man daher abfällig „Powerchakra“ nennt. Während es jede Menge Kurse zur Öffnung und Stärkung von Wurzelchakra, Hara, Herzchakra und den darüberliegenden Zentren gibt, arbeitet man mit dem „Powerchakra“ nur, um es möglichst schnell zu überwinden. Hier sitzt schließlich das Ego, und es ist genau dieses Ego, das angeblich der Erleuchtung oder auch nur dem weiteren Wachstum im Wege steht. Das ist nicht nur ungerecht, sondern auch lächerlich, weil sich fast alle sogenannten spirituellen Sucher in ihrem tatsächlichen Bewusstseinstand auf eben diesem dritten Chakra bewegen. Gerade das Streben nach Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung – und in den allermeisten Fällen auch das nach Erleuchtung – ist eine Bewegung der 3. Stufe. Hier geht es nämlich darum, aus der Gruppe herauszutreten, „Ich“ zu sagen und seinen eigenen Weg zu suchen. Zugleich ist es auch das emotionale Zentrum, in dem wir Gefühle als etwas Persönliches empfinden. Da Gefühle jedoch potenziell überwältigend sind, ist das Bewusst sein der 3. Stufe ständig damit beschäftigt, zugleich zu fühlen (weil ich mich erst im Gefühl wirklich als „Ich“ erfahre) und die Gefühle zu kontrollieren. Weil das alles ziemlich verwirrend und stressig ist, möchten viele aus diesem Gefühlschaos raus, was aber nicht so einfach ist. Doch davon später mehr.

4.Die Stufe 4 wartet nämlich, das Herz. Obwohl sie das natürliche Ziel der Sehnsucht aller Dreier ist, herrscht vor diesem Schritt die größte Angst. Das wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, was das Herz von uns verlangt: Vertrauen und Hingabe, Selbstaufgabe. Also das genaue Gegenteil von dem, was wir auf Stufe 3 unter vielen Mühen gelernt haben, nämlich Ich-Stärke, Macht und Kontrolle. Aber der Weg zur Liebe führt nur über die Hingabe und das Aufgeben der Kontrolle. Die Liebe des Herzens ist nämlich keine besitzende Liebe, sondern eine bedingungslose Liebe. Sie erfüllt sich nicht im Haben, sondern im Sein. Daher ist sie auch nicht heiß, sondern warm oder sogar kühl und ruhig wie ein tiefer See. Sie ist auch mehr mit der See-le verbunden (das Wort Seele kommt von See) als mit dem Begehren. Das Herzchakra ist das mittlere der sieben Chakren, die Verbindung von oben und unten. So wie wir im Hara zu unserer körperlichen Mitte finden, finden wir im Herzen zu unserer spirituellen Mitte. Dazu braucht es den Schritt von der Kontrolle zum Vertrauen. Wer hier zu Hause ist, lebt in dem Gefühl, dass für sein Leben gesorgt ist, obwohl niemand Spezielles ihn versorgt und er zu niemandem gehört. Das Jesuswort von den Vögeln, die nicht säen und nicht ernten und sich doch des Lebens freuen, verweist auf diese Ebene. In gewisser Weise leistet es aber auch der Sicht aus Stufe 3 Vorschub, von wo aus jemand, der so lebt oder leben möchte, als Spinner oder als Träumer angesehen wird. Ein paar davon kann man ja verkraften, aber viele dürfen es nicht werden. DieVielen dürfen allenfalls Feuerzeuge anzünden und mit John Lennon singen „You may say I’m a dreamer/but I am not the only one/one day we’ll join us/and the world will live as one“ – aber am nächsten Tag gilt es, im Büro zu funktionieren. Wenn man die Stufe 4 aber einmal betreten hat oder gar dort heimisch geworden ist, zeigt sich, dass dies nur ein scheinbarer Widerspruch ist. Man lebt wie ein Vogel und bestellt sein Feld, allerdings im Gegensatz zur Stufe 3 ganz ohne Stress.

5.