Die Welt, in der wir leben - Wilfried Nelles - E-Book

Die Welt, in der wir leben E-Book

Wilfried Nelles

0,0
19,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wilfried Nelles skizziert in diesem Buch die Entwicklung der menschlichen Seele und des Bewusstseins vom Embryo bis zum alten Menschen, von der Vertreibung aus dem Paradies bis zur modernen Zivilisation. Er beschreibt die tiefen Prägungen, die der Mensch in den verschiedenen Stufen seines Lebens erfährt, und die Entwicklung, die das Bewusstsein in eine immer weitere und höhere Dimension trägt, wenn man sich ohne Vorbehalte ins Leben fallen lässt. Er entlarvt die Lebenslügen der Moderne, ihren blinden Glauben an die Technik und die narzisstische Anbetung der eigenen Ideen, ihren Welt- und Selbstverbesserungswahn als jugendliche Flucht vor der Wirklichkeit des Lebens und zeigt einen Weg, in diese Wirklichkeit einzutreten. Dabei entsteht eine Landkarte des menschlichen Lebens, die in die praktische Ausgestaltung und lebendige Beschreibung einer neuen Psychologie mündet, die über den Sinnverlust der Moderne hinausführt, ohne in alte Glaubensmuster zurückzufallen. Sie ist zugleich erdverbunden wie spirituell, lebensnah und voller Liebe zum Menschlichen, ohne den Menschen zu vergöttern. Nelles stützt sich dabei nicht nur auf seine profunde Kenntnis der westlichen Geistes- und Sozialwissenschaften wie der fernöstlichen spirituellen Traditionen, sondern vor allem auf die eigene Beobachtung und Lebenserfahrung, die in klarer und lebendiger Sprache beschrieben und an vielen Beispielen illustriert werden. "Das ist unsere tiefste Sehnsucht: ganz zu leben und ganz der oder die zu sein, der oder die ich bin."

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 600

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Haftungsausschluss: Die im Buch veröffentlichten Ratschläge und Übungen wurden von Verfasser und Verlag mit größter Sorgfalt erarbeitet und geprüft. Eine Garantie und Haftung kann jedoch nicht übernommen werden. Die Durchführung der im Buch enthaltenen Übungen erfolgt in Selbstverantwortung.

Ebook-Ausgabe 2020

Umschlaggestaltung: Bunda S. Watermeier, www.watermeier.net

Covermotiv: Klaus Holitzka. www.holitzka.de

Lektorat: Anne Petersen

Copyright© 2020 deutsche Ausgabe, Innenwelt Verlag GmbH, Köln

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung des Verlages.

www.innenwelt-verlag.de

eISBN 978-3-947508-75-4

Wilfried Nelles

Die Welt, in der wir leben

Das Bewusstseinund der Weg der Seele

Für meine EnkeltochterAva

Dank

Dieses Buch hätte ich ohne die Menschen, die über drei Jahrzehnte hinweg meinen Rat und meine Unterstützung gesucht, mir ihre Nöte mitgeteilt, ihr Herz geöffnet und ihr Vertrauen geschenkt haben, nicht schreiben können. Ihnen gilt mein erster Dank.

Mein Sohn Malte hat mir in den fünf Jahren, die wir inzwischen zusammen arbeiten, viele Hinweise und Denkanstöße gegeben und in unseren Gesprächen über die Themen dieses Buches dazu beigetragen, dass meine Gedanken klarer wurden. Ganz besonders bedanke ich mich bei Dr. Karl Heinz Lenz und Anne Petersen, die die Rohfassung des Buches gelesen haben. Ihre fundierten Rückmeldungen haben mich veranlasst, nochmals genau zu schauen, was ich aus eigener Erfahrung sagen kann und was nicht, und dies entsprechend klar zu formulieren. Ich hoffe, das ist mir einigermaßen gelungen. Zuletzt bedanke ich mich ganz herzlich bei meiner Verlegerin Martina Werner, die mir in ihrem kleinen Verlag über viele Jahre den Raum – und mit der „edition neue psychologie“ sogar einen besonderen Platz – gegeben hat, meine Bücher zu publizieren, ohne zu fragen, was es ihr finanziell bringt

INHALT

Prolog

I.MENSCH, WELT UND BEWUSSTSEIN

Meine Welt und deine Welt

Bewusstsein

Mensch sein heißt bewusst sein – oder: Die Frage nach dem Sinn

Das Ende der großen Erzählungen

Die Sinnfrage und die Psychologie

Eine neue Erzählung? – Über dieses Buch

Die Stufen des menschlichen Lebens und des Bewusstseins

Vom Mutterleib zum Grab: Der Weg des Leibes

Von der Symbiose zur Einheit: Der Weg des Geistes

Die Lebens- und Bewusstseinsstufen im Überblick

II.DER WEG HINAUS INS LEBEN

Stufe 1: Die Mutter als Erde, die Erde als Mutter – Das symbiotische Einheitsbewusstseins

Die Welt des ungeborenen Kindes

Symbiose

Spüren – Wahrnehmung durch die Sinne und den Körper

Das vertauschte Kind

Das Kuckuckskind

Wie „fühlt“ ein ungeborenes Kind?

Unser Ursprung ist das Leben selbst

Die Eltern sind alternativlos

Die Mutter als Erde des Menschen

Geburt – Die erste Trennung

Die „Einheit“ mit der Natur – Das symbiotische Bewusstsein

Mythos und Wirklichkeit

Die Vertreibung aus dem Paradies

Geschichte (history) und Geschichten (stories)

Zusammenfassung

Stufe 2: Die Kindheit – Das Gruppenbewusstsein

Die Welt des Kindes

Der Weltenwechsel

Freiheit und Abhängigkeit

Vater und Mutter – Die biologischen Eltern und ihre Bedeutung

Exkurs 1: Familienaufstellung

Exkurs 2: Moderne Zeiten

Bindung

Trennung und Bindung

Kindliche Liebe

Mama, für dich tue ich alles

Vom Spüren zum Fühlen

Die Familie als geistig-emotionaler Mutterleib

Die Gruppe – Die Heimat des kindlichen Bewusstseins

Die Gruppe als Heimat

Religion

Zugehörigkeit

Gruppenbewusstsein und Egoismus

Stufe 3: Die Jugend – Das Ich-Bewusstsein und die Moderne

Was ist Jugend?

Der junge Mensch und seine Welt

Die Pubertät

Die Jugend als Suche

Jugend als Geburtsprozess

Hochmut und Einsamkeit

Denken statt fühlen

Idee statt Wirklichkeit

Jugend statt Initiation

Der moderne Mensch und das moderne Bewusstsein

Nowhere Man

Der Blick nach oben – ein Blick ins Leere

Die „Umstülpung des Seins“ – Vom Menschen zum Gottmenschen

Moderne Kunst

Von außen nach innen

Der „freie Wille“

Vom kindlichen Fühlen zur abstrakten Idee

Allgemein und abstrakt, Idee und Wirklichkeit

Exkurs: Bindet uns das Geschlecht oder können wir es wählen?

Gott war nur drei Tage tot, danach ist er wieder auferstanden

Der Tod kommt von innen

Die Sinnfrage

Die Einsamkeit und der Hochmut der Jugend und des modernen Bewusstseins – Eine persönliche Zusammenschau

Kann man die Moderne überwinden?

III.DER WEG HINEIN INS LEBEN

Stufe 4: Erwachsen sein – Das Selbst-Bewusstsein und die Initiation ins Selbst im Lebensintegrationsprozess

Also sprach Zarathustra

Der erwachsene Mensch

Der Wendepunkt im Leben

Die Ent-Äußerung des Körpers

Die Er-Innerung des Geistes

In die Wirklichkeit eintreten

Die geistige Geburt – Die zweite Geburt des Menschen

Grenzen

Das Mögliche und das Wirkliche

Sich auf das Leben einlassen

Ver-Antwortung

Allein sein und Zugehörigkeit

Die Geburt des Selbst als Fallen ins Offene

Geistige Lehrer als Geburtshelfer

Das unbewusste Wissen – Sich im Spiegel sehen

Der Lebensintegrationsprozess (LIP) – Eine Initiation in das geistige Erwachsensein

Die Entdeckung des LIP

„Du weißt ja schon alles“ – Meine Geschichte …

Der innere Auftrag

Der Weg

Einblicke in den Lebensintegrationsprozess

Der LIP als Spiegel der Seele

Trauma

Die Kindheit gehört zum Kind – der Umgang mit Trauma im LIP

„Retraumatisierung“

Die Vergangenheit ist das, was vorbei ist

Alle Wunden können heilen

Lebensintegration oder: Das Leben geschieht

Schuld und Verdienst

Der Lebensintegrationsprozess als modernes Initiationsritual

Das Ich und das Selbst

Es geht darum, alles zu leben

Die phänomenologische Haltung

Geistige Wahrnehmung

Phänomenologie im Alltag

Glauben und vertrauen

Liebe

Die erste Liebe

In Beziehung und allein sein – Erwachsene Liebe

Liebe in der Therapie

Die Verwechslung von Innen und Außen

Stufe 5: Der Eintritt ins Alter – Das Geistbewusstsein

Die Menopause – Der Eintritt ins Alter

Das Geistbewusstsein – Kreativität und Offenbarung

Stufe 6: Alter und Reife – Das Einheitsbewusstsein

Stufe 7: Der Tod – Das All-Bewusstsein

Epilog

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Über den Autor

PROLOG

Februar 1979

Ich liege im warmen Sand am Strand von Koh Samui, einer kleinen, unbekannten Insel im Süden von Thailand. Heute morgen sind wir, meine Frau und ich, hier angekommen. Es ist meine erste richtig weite Reise, wir waren ein paar Tage in Bangkok, wo ein Studienkollege, mit dem ich gelegentlich in der Bibliothek ein paar Worte gewechselt hatte, seit kurzem das Südostasien-Büro des Deutschen Entwicklungsdienstes leitet. Ein gemeinsamer Freund und jetziger Mitarbeiter in dem von mir geleiteten Forschungsprojekt an der Uni Bonn hatte ihn kürzlich besucht, mir von Thailand vorgeschwärmt und die geheimnisvolle Magie Ost-Asiens, das mich seit meiner Jugend anzog, wieder geweckt. Ich hatte ihm eine Salami und Schwarzbrot mitgebracht, er nahm uns dafür mit auf seine erste Dienstreise zu deutschen Entwicklungsprojekten in Südthailand. Koh Samui war die letzte Station, er ist wieder auf dem Rückweg, wir bleiben noch eine Woche hier.

Hier begegnet mir mein Südseetraum. Palmen und tropische Bäume mit breiten Kronen, Sand und warmes Meer, ein paar Bambushütten am Strand, ein bisschen Zivilisation, gerade so viel, dass man mit einem der wenigen Pickups über Sandpisten vom Hafen hierher und wieder zurück fahren kann, eine kleine Theke mit Arbeitsplatte, Wasser, Gaskocher und einem „Kühlschrank“, der mit Eisblöcken gefüllt ist, die täglich per Fähre vom Festland kommen, ein paar Holztische und Stühle unter einem Palmdach als „Restaurant“, einfaches, aber gutes Essen und, ja, auch Bier, das mehr kostet als ein Abendessen, eine Toilette mit einem Wasserbottich und einer Kelle zum Spülen und eine Dusche im Freien hinter der Hütte, abends für kurze Zeit etwas Licht mit Strom von einem Generator. Ansonsten Stille.

Aus dem Meer erhebt sich riesengroß der Mond, es ist Vollmond. Die Kronen der Palmen bilden ein offenes Dach über mir, mein Körper verschmilzt mit der Erde. Nach dem Abendessen habe ich ein paar Züge von einem Joint geraucht – alle, die noch nicht einmal zehn Rucksacktouristen wie die Einheimischen, rauchen hier Gras. Ich bin zwar Nichtraucher und die zwei Mal, die ich zu Hause mit etwa zwanzig an einem Joint gezogen hatte, hatten mich nicht sonderlich beeindruckt, so dass ich kein Bedürfnis nach mehr hatte, aber hier schien es zur Stimmung zu passen und ich wollte nicht abseits stehen. Während mein Körper in der Erde versinkt, so dass ich mich ganz eins damit fühle, höre ich das leise, langsame und regelmäßige Schwappen des Meeres, das hier ganz ruhig ist und dessen leichtes Hinströmen über den Sand der Stille einen Rhythmus gibt: Schwapp – – – schwapp – – – schwapp. Ganz leicht, ganz langsam. Plötzlich sehe ich: Das ist es, das ist alles, das ist die Welt, das ist das Leben: Schwapp – – – schwapp – – – schwapp. Seit Abermillionen Jahren, Tag für Tag: Schwapp – – – schwapp – – – schwapp.

Für Momente bin ich eins damit, nur mein Geist, der dies wahrnimmt, ist noch da, aber auch er ganz still. Frieden, tiefster Frieden. Dann kommt langsam das Denken wieder: „… und unter dieser ewigen Bewegung, mitten in diesem ewig gleich gültigen Schwapp frisst ein Fisch den anderen, wird geboren, gekämpft und gestorben.“ Ich sehe, dass das dazu gehört, dass es kein Widerspruch ist, das Gefühl tiefen Friedens bleibt. Ich spüre wieder meinen Körper, weiß aber nicht, wo er aufhört und der Boden oder die Luft beginnt, und plötzlich bricht aus der Tiefe meines Bauches ein lautes Lachen heraus. Ich sehe mich in Deutschland in meinem Forschungsprojekt, sehe, wie wir uns streiten und spreizen in internen Diskussionen und auf Konferenzen, sehe, wie wichtig wir das alles nehmen, wie wir glauben, die Welt verändern oder wenigstens gestalten zu müssen, und kann nicht mehr vor Lachen: „Doktor Wilfried Nelles, Politikwissenschaftler“ brüllt es aus mir heraus. Meine Frau, die zwanzig Meter hinter mir vor unserer Hütte sitzt, kommt und fragt, was los sei. „Alles okay“, antworte ich, „ich habe nur die Wirklichkeit gesehen.“

Alles okay und doch nichts mehr wie vorher. Viele Jahrzehnte später werde ich Leonhard Cohens Lied Anthem kennenlernen und oft in meinen Kursen zitieren (und gelegentlich singen): „There is a crack in ev’rything/that’s how the light gets in“. An jenem Abend ist ein Riss durch mein Leben gegangen und ein kleines Licht hereingekommen, das nicht mehr erloschen ist. Der Riss scheint mir dadurch entstanden zu sein, dass ich mich sowohl äußerlich (an einem tropischen Strand) als auch innerlich (infolge des Marijuana) an einem ganz anderen Ort als gewöhnlich befand, so dass ich plötzlich, nachdem ich für kurze Zeit in diesen fremden Welten versunken war, meine gewohnte Welt und das Leben darin von außen sehen konnte. Drei Jahre später war das Forschungsprojekt und mit ihm auch mein tiefes Anliegen, die Welt zu verändern und zu verbessern, beendet, und ich ahnte, dass auch meine Arbeit in der Wissenschaft nicht mehr von Dauer sein würde. In den Jahren danach wurde der Riss immer größer und das Licht etwas heller. Die spirituelle Suche, die Hinwendung zur Innenseite des Lebens, begann, zuerst ganz persönlich, dann auch beruflich.

40 Jahre danach, Oktober 2019

Wieder sitze ich am Wasser in Thailand, diesmal auf einem hölzernen Bootssteg am River Kwai unweit der Grenze zu Myanmar. Nach drei Wochen mit einer Reihe von Kursen in China entspanne ich mich hier in einem sehr schönen 4-Sterne-Dschungelresort, dessen Bungalows zwischen den Bäumen verschwinden. Hier gibt es nichts außer dem Fluss und dem Dschungel, großen Höhlen mit Fledermäusen, einem Mon-Dorf (die Mon sind heute eine kleine ethnische Minderheit, aber neben den Khmer sind sie die ältesten Bewohner Thailands) und dem „Hellfire Pass“, wo die Engländer im Krieg gegen die Japaner gekämpft haben und der durch den Film „Die Brücke am Kwai“ mit Alec Guinness berühmt geworden ist. Täglich kommen und gehen Touristen aus aller Welt, werden mit Langbooten zum Hotel gebracht, bleiben 1-2 Nächte, machen eine Tour und verschwinden wieder. Abgesehen davon ist Stille.

Das Wasser fließt ruhig flussabwärts. Ich schaue auf sein Fließen und denke: Alles geht den Bach hinunter, seit Millionen Jahren. Alles verändert sich, und alles bleibt. Ein Tag wie der andere. Hermann Hesses „Siddharta“ kommt mir in den Sinn, wie er mit Vasudeva, dem alten Fährmann und Freund, am Fluss sitzt und plötzlich im Fließen des Flusses sein eigenes Leben und alle Gestaltungen des Lebens sieht, das Gebären, Lieben, Hassen, Sich anstrengen, Suchen und Sterben, und im leisen Klang des Fließens erkennt: „Alle Stimmen, alle Ziele, alles Sehnen, alle Leiden, alle Lust, alles Gute und Böse, alles zusammen war die Welt. Alles zusammen war der Fluss des Geschehens, war die Musik des Lebens.“ Ich sehe das stetige Fließen und denke: In der Natur ist alles gleich gültig, und auch alles gleichgültig gegenüber allem, was geschieht.

Am gegenüber liegenden Ufer, in der senkrechten, annähernd zweihundert Meter hohen Karstwand, die von großen Höhlen durchlöchert ist und wo auf kleinen Felsvorsprüngen hundert Meter hohe Bäume ihre Wurzeln in den löchrigen Fels bohren, beginnt eine Horde Affen durch die Baumkronen zu jagen. Das tun sie jeden Tag, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet, genauso wie um Punkt sechs Uhr, beim Einbruch der Dämmerung, die Grillen ihr ohrenbetäubendes Konzert beginnen, und eine Stunde später, wenn es ganz dunkel ist, damit aufhören – seit Millionen von Jahren, Tag für Tag. Alles und jeder ist in Bewegung, aber niemand „tut“ etwas, alles bewegt sich und wird bewegt nach den Gesetzen der Natur. Und zwischendrin rennt der Mensch umher und denkt, er und sein Leben (und sogar sein Denken) seien wichtig und er müsste alles be-greifen und dann im Griff haben.

I. MENSCH, WELT UND BEWUSSTSEIN

Meine Welt und deine Welt

Wir leben alle in einer anderen Welt, jeder in seiner eigenen, und keine dieser Welten ist die Wirklichkeit. Wir streiten uns deswegen über das, was richtig ist, was man tun muss oder auf gar keinen Fall tun darf oder was die „Wahrheit“ ist, weil jeder die Welt und das Leben anders sieht und meint, seine Sicht sei die richtige. Wenn vier Leute in einem Raum vor jeweils einer der vier Wände sitzen und den Raum sehen, sehen sie jeweils etwas anderes. Ihre Erfahrung des Raumes ist verschieden, die Wand, die der eine von vorne sieht, sehen die anderen von der Seite oder (die Wand hinter ihnen) gar nicht, und der ganze Raum fühlt sich anders an, je nachdem, in welcher Ecke man sitzt. Keine Sicht ist falsch, aber jede ist unvollständig.

Jeder schaut aus einer anderen Perspektive, von einem anderen Standort aus, und jeder sieht nur das, was man von diesem Standort aus sehen kann. Das ist, das Wort ist sehr genau, seine „Ansicht“. In den meisten Fällen, vor allem dann, wenn es um Dinge geht, die uns wichtig sind, halten wir diese Ansicht aber für mehr als nur eine Ansicht, wir halten sie für das Richtige, wenn schon nicht für die Wirklichkeit oder die Wahrheit. Sofern man bescheiden ist und weiß oder zugibt, dass die jeweilige Sicht vom jeweiligen Standort und der von diesem bestimmten Perspektive abhängt, wird man die eigene Ansicht nicht über die Ansichten der anderen stellen, sondern deren Ansichten aufnehmen und der eigenen hinzufügen und so sein Bild der Welt wie auch von sich selbst erweitern.

Um zu sehen, was das für Ihr Bild der Welt und der Menschen um Sie herum bedeutet, können Sie folgenden kleinen Test machen: Wenn Sie Geschwister haben, dann lassen Sie jeden Ihre Eltern beschreiben – wie war (ist) Ihre Mutter, wie der Vater, welche Stärken, welche Schwächen hatten sie, wie war ihre Beziehung untereinander, wie haben sie die Kinder behandelt, usw. Sie werden feststellen, dass jedes Kind andere Eltern hat. Jedes hat auch eine andere Familie, obwohl es tatsächlich immer dieselbe Familie ist. Dennoch besteht in den meisten Fällen jeder darauf, dass sein Bild das richtige ist, dass seine Beurteilung der Eltern stimmt, und dass seine Kindheit tatsächlich so war, wie er dies empfindet.

Dasselbe können Sie mit Ihrem Lebenspartner oder Kollegen bei der Arbeit oder mit Freunden machen: Jeder sieht den anderen anders. Das gilt nicht nur für das allgemeine Bild, das man sich von ihm macht, sondern auch für die Beschreibung faktischer Ereignisse, also Dinge und Prozesse, die scheinbar objektiv sind. Sie alle haben zwei Seiten: die faktische Wirklichkeit und die, die im Blick des Betrachters erscheint.

Ich kenne meine Frau jetzt fast fünfzig Jahre, und fünfundvierzig leben wir zusammen; selbst wenn wir uns über Ereignisse unterhalten, die wir gemeinsam erlebt haben, weichen unsere Erinnerungen und unsere Geschichten oft erheblich voneinander ab, manchmal bis zum Gegenteil. Dies gilt erst recht für die Beschreibung und Beurteilung anderer Menschen. Wir schaffen es inzwischen meistens, darüber nicht in Streit zu geraten, sondern die Perspektive des anderen als dessen Sicht der Dinge zu nehmen und gelten zu lassen1. Das ist sehr wohltuend und bereichernd, es war aber viele Jahre lang erst dann möglich, wenn wir uns zuvor – manchmal sogar sehr heftig – gestritten hatten, vor allem, wenn eine dritte Person dabei war. Oft hat sich dann jeder in seine Welt zurückgezogen und sich unverstanden gefühlt. Nur die Liebe konnte es überbrücken, wobei das Nicht-Verstehen blieb. Die Welten sind und werden nie deckungsgleich. Vor allem für mich, der den tiefen Traum hatte, dass man sich doch über die Wahrheit einigen können müsste2, war es sehr schmerzhaft, das zu erkennen.

Das ist aber nicht nur zwischen verschiedenen Menschen so, sondern auch bei ein und demselben Menschen. Unsere Welt (unsere Sicht auf die Welt und uns selbst) ändert sich fortwährend, meistens allmählich und kaum wahrnehmbar, manchmal aber auch plötzlich und gewaltig. Ich hatte als Kind ein ganz anderes Bild meiner Eltern als mit zwanzig, und mit sechzig noch einmal ein ganz anderes. Auch ein ganz anderes Bild der Welt, sowohl der faktischen Welt als auch ganz andere Vorstellungen, was gut und wichtig und richtig ist. Und auch ein anderes Bild von mir selbst, wer ich bin, was ich kann, was ich will. Wenn man diese Bilder malen oder fotografieren oder als Film darstellen würde, bekäme man völlig verschiedene Welten zu sehen. Ich habe anderes geglaubt, anderes für richtig oder gut oder falsch oder böse oder schön oder hässlich oder wichtig oder unverzichtbar oder egal oder möglich oder unmöglich oder wahr gehalten. Mein Bild der Menschen um mich herum oder der Zeit und ihrer Ereignisse wandelt sich fortwährend, und zwar nicht nur, weil sich die Welt dauernd ändert, sondern auch, weil ich mich dauernd ändere. Dasselbe gilt für mein Selbstbild.

1. und alle folgenden Anmerkungen finden Sie ab Seite 342.

Keines dieser Bilder ist per se falsch, aber auch keines richtig in einem objektiven Sinne. Sie sind immer sowohl-als-auch. Ein Kind kann kein anderes Bild von der Welt haben als ein kindliches Bild, und daher ist sein Bild für das Kind richtig. Es ist aber auch beschränkt, und wenn man sein Leben lang daran festhält, bleibt man geistig ein Kind. Zum Beispiel ist es für ein Kind wichtig, dass jemand für es sorgt. Daher ist das Leben gut, wenn dies der Fall ist, und es ist schlecht oder gar furchtbar, wenn das nicht der Fall ist und es allein gelassen und auf sich gestellt ist. Für einen Erwachsenen ist es genau umgekehrt. Wenn er an dem kindlichen Bedürfnis festhält, dass jemand für ihn sorgen muss, ist er innerlich ein Kind. Das heißt, was für ein Kind richtig und gut ist, ist es für einen Erwachsenen und auch einen Jugendlichen keineswegs. Ein Jugendlicher sieht sich selbst und die Welt durch die Brille der Jugend; das, was die Jugend von ihm verlangt – etwa das Elternhaus zu verlassen (sich von dessen Vorgaben zu „befreien“) und sich einen eigenen Platz im Leben zu suchen –, bestimmt seine Perspektive und damit sein Bild der Welt und auch sein Gefühl und seine Urteile über richtig und falsch. Ein Erwachsener, der eine eigene Familie gründet und für seine Kinder sorgen muss, hat wieder einen anderen Standort und wird wieder eine andere Lebenssicht entwickeln. Mit jeder dieser Lebensstufen treten wir in eine andere Welt ein. Man kann sich, wie gesagt, darüber verständigen, indem man die jeweils andere Perspektive anerkennt und nicht für falsch erklärt. Im Falle der Lebensstufen Kindheit, Jugend und Erwachsensein geht es aber, anders als bei dem oben erwähnten Raumbeispiel, um ein Wachstum und eine Entwicklung. Jede neue Stufe umfasst mehr und ist höher und weiter als die vorherige. Wenn es sich um ein wirkliches Wachstum handelt, umfasst und beinhaltet die höhere (spätere) Stufe die vorangegangenen, also: die Jugend beinhaltet und umfasst die Kindheit, und das Erwachsensein beinhaltet und umfasst beide. Jede Lebensstufe geht aus der vorherigen hervor. Es ist eine Weiter- und eine Höherentwicklung – aber nur dann, wenn das Vorherige aufgenommen und nicht abgewehrt wird.

Die kindliche Sicht der Welt – die Welt der Märchen, der Zauberer, der Zugehörigkeit zu den Eltern und zur Familie (allgemein: zu etwas Größerem, das einen trägt und schützt und versorgt), etc. – ist für ein Kind vollkommen richtig und damit auch „wahr“. Sie darf Kindern deshalb auch – etwa durch das, was man heute „Aufklärung“ nennt oder durch die Zumutung von Eigenverantwortung oder der „freien Wahl und Entscheidung“ – nicht genommen werden. In der Jugend zerbricht diese Welt in tausend Scherben, und das muss so sein. Wenn man wirklich erwachsen sein will, muss man diese Scherben wieder einsammeln und schauen, welches neue Bild daraus entstehen will. Es wird ein vollkommen anderes sein als das, welches man sich in der Jugend erträumt hat.

Erwachsen wird man, wenn man die Kindheit und die Jugend in sich aufnimmt, und zwar genau so, wie sie waren – ohne Urteil, selbst ohne den Wunsch, daran etwas ändern zu wollen oder es anders gehabt haben zu wollen. Mit jedem großen Schritt in die Welt hinein: der Geburt, der Pubertät, dem Erwachsensein, den verschiedenen Stufen des Alters bis in den Tod, ändert sich unsere Welt nicht nur, sondern sie wird auch weiter und größer. Wenn wir dem im Bewusstsein folgen, weitet sich auch unser Geist und wird größer und umfassender. Das bedeutet auch: Ein Älterer kann einen Jüngeren verstehen, ein Jüngerer aber nicht einen Älteren, weil er dessen Erfahrungen noch nicht gemacht hat oder, um im Bild zu bleiben, dessen Welt noch nicht betreten hat. Daraus lassen sich wichtige Einsichten sowohl für die Beziehung der Generationen untereinander als auch und vor allem für das innere Wachstum eines jeden Menschen ableiten, die ich in diesem Buch darlegen werde.

Die verschiedenen Weltbilder oder Ansichten der Welt betreffen nicht nur Einzelne, sondern auch Kulturen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Einmal sind die Kulturen – und mit ihnen die Menschen, die ihnen angehören – in mannigfacher Weise verschieden. Die Chinesen zum Beispiel denken grundsätzlich in Bildern, weil ihre Schrift eine Bilderschrift ist; das abstrakte Denken ist ihnen fremd und nicht so leicht zugänglich wie Europäern. Aus demselben Grund ist das Kopieren für sie nichts Schlechtes, denn sie lernen ihre Schrift nicht durch das Zusammensetzen von 26 Buchstaben, die in sich nichts bedeuten, sondern nur durch das Kopieren und Verstehen von mehreren tausend Zeichen, die jeweils ein ganzheitliches Bild darstellen. Aufgrund der tiefen Bedeutung von Yin und Yang, die als komplementäre Polaritäten und nicht als Gegensätze verstanden werden, denken sie (ebenso wie Japaner und Koreaner) auch nicht ideologisch und nicht, wie wir Westler, in sich ausschließenden Gegensätzen, in schwarz und weiß beziehungsweise entweder-oder. In China und Japan ist alles sowohl als auch. Das bestimmt auch ganz stark ihr Bild von Fortschritt und ihren Umgang mit der Vergangenheit. In ähnlicher Weise bildet jede Kultur eine eigene Welt, die die jeweilige Sicht der Menschen auf das Leben bestimmt, so dass man sagen kann, wir leben in verschiedenen Welten. Auch beim besten Willen macht dies die Verständigung sehr schwierig, und sie ist nur in dem Maße möglich, in dem man die jeweilige Weltsicht als der eigenen gleich gültig akzeptiert.

Ich erwähne das nur der Vollständigkeit halber, es ist nicht mein Thema. Mir geht es eher um die zweite Ebene der Unterschiedlichkeit der Kulturen, nämlich die des unterschiedlichen Entwicklungsniveaus. Denn ähnlich wie Kindheit, Jugend und Erwachsensein beim einzelnen Menschen entwickelt sich auch das Bewusstsein der Menschheit insgesamt in Stufen, die aufeinander folgen und die höher und umfassender sind als die vorherige. Ein Europäer hat nicht nur deshalb eine andere Weltsicht als ein Araber, weil er einen christlichen Hintergrund hat und jener einen muslimischen, sondern auch, weil Europa (und auch das Christentum) eine Entwicklung durchgemacht hat, die den muslimischen Ländern (und anderen auch) noch bevorsteht. Das gilt für die gesamte Globalisierungsthematik: Hier stoßen Moderne und Tradition aufeinander und müssen in eine neue Balance gebracht werden. Allerdings erleben wir dabei dasselbe, was ich bereits für die individuelle Ebene angedeutet habe: Der Westen glaubt, seine Perspektive auf die Welt, insbesondere sein Weg der Modernisierung und seine Interpretation der Moderne, sei die einzig richtige. Damit wird er scheitern. Das ist, jenseits aller ökonomischen und politischen Differenzen (etwa Demokratie und Menschenrechte) und Machtspiele, der große Konflikt mit China (das selbstbewusst und stark genug ist, sich die westliche Perspektive nicht aufzwingen zu lassen), während es bei den Konflikten im vorderen Orient eher um den Kampf zwischen Moderne und Tradition/Religion geht. Auch die Migranten werden einsehen müssen, dass sie nicht in einer Welt Zuflucht finden können, die sie innerlich ablehnen.

Bewusstsein

Für die jeweilige Perspektive, aus der wir die Welt sehen und die damit unser Bild der Welt, unsere Empfindungen, Meinungen und Bewertungen und zuletzt auch unser Handeln bestimmt, benutze ich den Begriff des Bewusstseins. Unter „Bewusstsein“ verstehe ich die Art und Weise, wie wir die Welt und uns selbst sehen und wahrnehmen, die Perspektive, aus der wir auf das Leben schauen und es daher erleben. „Bewusstsein“ bezeichnet zugleich unseren inneren Ort in der Welt als auch die Art und Weise, wie die Welt in uns präsent ist. Welt und Bewusstsein sind in diesem Sinne keine verschiedenen Dinge3.

Dieses Bewusstsein ist zeit- und kulturbedingt, im Allgemeinen wie beim einzelnen Menschen. Als Kind sehen wir die Welt ganz anders als in der Jugend, und für erwachsene Menschen sieht sie wieder anders aus. Und weil sie anders aussieht, ist sie auch anders; die kindliche Wirklichkeit ist eine ganz andere als die eines Erwachsenen – und beide Wirklichkeiten sind wahr. Für die Menschen des Mittelalters sah sie ganz anders aus als für uns Heutige, daher waren deren Probleme und auch die Lösungen dafür ganz andere; für eine arabische Frau sieht sie vollkommen anders aus als für eine westeuropäische, und für einen Eingeborenen im Regenwald Südamerikas sieht sie anders aus als für einen Weißen. Nochmals: Es ist nicht so, dass unsere Wirklichkeit, unsere Sicht der Welt wahrer wäre als die eines unzivilisierten Indios im Amazonasgebiet oder unserer Vorfahren im Mittelalter. Wir mögen zwar mehr wissen und sehen die Welt anders, tatsächlich leben wir aber nur in einem anderen Mythos, in dem andere Wahrheiten gelten als damals.

Ich beziehe das einmal auf die menschliche Seele und ihre Krankheiten. Psychische Probleme oder Krankheiten gab es vor der Moderne nicht. Es konnte sie nicht geben, weil es das Konzept der Psyche noch nicht gab. Das heißt nicht, dass es die Symptome nicht gab, aber sie wurden ganz anders gedeutet und demgemäß auch anders behandelt. Ein Ureinwohner in der afrikanische Savanne oder im Regenwald kannte (und kennt noch heute) keine psychischen Probleme, er wurde aber vielleicht von Dämonen heimgesucht. Das, was heute „Schizophrenie“ heißt, war damals eine Besetzung durch einen bösen Geist oder eine Verirrung der Seele, die sich aus dem Seelenraum der Gruppe gelöst hatte und haltlos umherirrte. Bei Völkern, die noch nicht vom Christentum erobert waren, kämpften die Schamanen mit Dämonen und versuchten, diesen die Seele des Kranken wieder zu entreißen und sie wieder in die Gemeinschaft zu holen. Wenn das gelang, war er geheilt. Dann kamen die Christen mit dem Kreuz, mit dem sie den Teufel bannten. Wenn im Mittelalter jemand Symptome hatte, die wir heute als Psychose bezeichnen, dann war er vom Teufel besessen, daher war die Teufelsaustreibung die angemessene Therapie.

Wir bezeichnen das heute als Aberglauben und denken, unsere Sicht wäre die richtige. Das halte ich für überheblich und falsch. Diese Behandlungen waren genauso erfolgreich oder auch erfolglos wie die heutigen Behandlungen von Schizophrenen, abgesehen davon, dass man heute die Symptome mit Chemie betäubt und damit die gesamte Persönlichkeit nachhaltig verändert und/oder die Kranken einsperrt. Von wirklicher Heilung kann keine Rede sein – von Ausnahmefällen abgesehen. Die hat es aber auch früher schon gegeben. Das heißt aber nicht, dass man wieder zu den alten Methoden zurück sollte oder auch nur könnte. Moderne Menschen kann man nicht in die Gruppenseele integrieren, weil sie diese längst und für immer verlassen haben. Wenn sie sich von Schamanen behandeln lassen oder alte schamanische Rituale abhalten, bei denen mit Trommeln und Gesängen (oder Drogen wie Ayahuasca) die Geister der Ahnen oder der Natur gerufen werden, dann wird das sie nicht zu sich selbst führen. Was für Eingeborene eine Heimkehr ist, ist für Westler eine Reise in eine andere Welt, von der man vielleicht verändert zurückkommt. Es kann einem sicher neue und tiefgreifende Erfahrungen bringen, aber seine Welt ist das nicht und wird es auch nicht. Ähnliches gilt für die Reise zum Guru nach Indien und auch für diejenige Praxis des Familienstellens, die glaubt, mit der Versöhnung mit den Ahnen und der Rückkehr in die Familienseele (Gruppenseele) so gut wie sämtliche psychischen Leiden heilen zu können.

Tatsächlich ist das jeweilige Bewusstsein die Ursache für alles, was uns als psychisches Problem oder psychosomatisches Leiden beschäftigt. Je nach Bewusstheitsstufe und/oder Kultur ist das, was für den einen ein Problem ist, für den anderen überhaupt keins, weil es als völlig normal gilt. Das gilt auch für Traumata. Ein „Primitiver“, der sich den Skalp oder irgendein Körperteil eines von ihm getöteten Feindes als Amulett oder Trophäe umhängt, ist stolz darauf, und seine Seele nimmt dabei keinen Schaden – ein moderner Westler könnte das nicht mehr tun, ohne seelisch zu verelenden; und in einer Kultur, in der die Blutrache gilt, ist man eher traumatisiert, wenn man einen Mord an seinem Bruder nicht mit einem Mord vergilt, als wenn man den Mörder tötet. Was für einen modernen Europäer ein Trauma ist, ist für einen Afrikaner oder Afghanen noch lange keins. Wenn wir zum Beispiel alle Flüchtlinge als mehr oder weniger traumatisiert ansehen, so ist das eine ganz und gar europäische Sicht, die wenig mit der psychischen Wirklichkeit der Betroffenen zu tun hat. Allgemein gesprochen sind Dinge, die für den einen ein Anlass größter Sorge oder schweren Kummers sind, für jemanden mit einem anderen Bewusstsein kein Problem.

Mensch sein heißt bewusst sein – oder: Die Frage nach dem Sinn

Unser Bewusstsein ist das, was uns von einem Tier unterscheidet, das, was das Menschsein ausmacht. Deshalb verehren wir auch Menschen, die ein ganz hohes oder weites Bewusstsein erlangt haben, etwas Jesus oder Buddha oder Laotse und viele andere, die keine Religion gestiftet haben. Viele von ihnen waren ganz einfache Menschen ohne hohe Bildung, aber ihr Bewusstsein war mit allem eins. Viele, die ganze heutige spirituelle Szene, möchten auch dorthin oder zumindest ein möglichst hohes Bewusstsein erlangen, aber die wenigsten darunter sehen, dass unser Bewusstsein auch unser größtes Problem ist und dass ein „höheres Bewusstsein“ (und Bewusstheit überhaupt) zunächst einmal auch mehr Schmerz bedeutet, denn mit steigender Bewusstheit sterben alle Vorstellungen, die wir über das Leben haben, und mit der Entstehung des menschlichen Bewusstseins ist die Einheit mit der Natur (der Garten Eden) in uns gestorben und der Mensch als Wesen, das der Natur gegenüber steht (und nicht mehr in ihr ist), geboren worden. Adam und Eva mussten es schmerzlich erfahren: Weil ihnen die Einheit des Paradieses zu langweilig wurde und sie auf die Einflüsterung der Schlange hörten, vom Baum der Erkenntnis zu kosten, wurden sie sich ihrer selbst bewusst, sahen, dass sie nackt waren, und waren aus der Einheit herausgefallen. Es bedurfte dazu nicht Gottes Strafe, die Erkenntnis selbst, das Bewusstwerden ihrer selbst brachte dies automatisch mit sich. Im Moment der Selbst-Bewusstwerdung ist der Mensch aus dem Paradies (der Einheit mit der Natur) herausgefallen. Fortan muss er sein Leben der Natur – in deren Einheit er vorher aufgehoben war, die aber von nun an sein Gegenüber ist – abringen. Seitdem fragt sich der Mensch, wer er ist und welchen Sinn sein Leben hat.

Menschen sind Wesen, die um sich selbst wissen, die wissen, dass sie leben und dass sie sterben. Kein Tier weiß das. Deshalb haben Tiere keine Religion oder Philosophie, sie fragen nicht nach dem Sinn ihrer Existenz. Sie existieren einfach. Menschen haben Bewusstsein, sie sind sich ihrer selbst, ihrer Umgebung, ihrer Herkunft, ihrer Geschichte, ihres Handelns, ihres Lebens, ihres Sterbens und in diesem Sinne der Zukunft bewusst. Wenn sie einen anderen Menschen oder ein Tier töten, dann wissen sie, dass sie töten. Tiere töten ohne zu wissen, dass sie töten, es ist einfach Teil ihrer Existenz. Ein Raubtier ist ein Raubtier, aber es weiß nicht, was ein Raubtier ist und kommt auch nicht auf die Idee, dass daran etwas falsch sein könnte. Der Mensch ist auch ein Raubtier, aber für uns ist das ein Problem, zumindest dann, wenn es uns bewusst wird. Ein Tier lebt einfach in und mit seiner Natur, Menschen haben und brauchen Kultur. Das bedeutet allerdings nicht, dass wir unserer Natur enthoben seien. Sie ist nach wie vor in uns, auch wenn wir geistig nicht mehr in ihr beheimatet sind. Wir sind nach wie vor biologische Wesen, keine Kultur und keine Technik kann dies ändern. Sollte sich das ändern, sollte es gelingen, das Biologische im Menschen zu überwinden, wären diese Wesen keine Menschen mehr.

Dass wir Wesen mit Bewusstsein sind, dass wir uns unserer Existenz, unserer Handlungen und der Tatsache unseres Sterbens bewusst sind, ist nicht nur ein großer Vorteil und ein evolutionärer Sprung gegenüber Tieren, sondern zugleich unser größtes Problem. Ein Tier hat weder Schuldgefühle noch Ziele, die es glaubt verwirklichen zu müssen. Ein Tier fragt nicht nach dem Sinn seines Handelns und der Bedeutung seines Lebens, wir müssen dies. Der Mensch braucht einen Referenzrahmen, etwas, in dem sein Leben, sein Handeln und vor allem sein Tod einen Sinn machen, etwas, in das wir eingebunden sind. Ein Tier ist eingebunden in seine Natur, wir sind aus der Natur ausgebrochen. Die Natur ist sozusagen das Paradies, der selige Urzustand. Mit dem Biss in den Apfel der Erkenntnis, mit dem Erkennen, dass „ich bin“, ist dieser Urzustand, das rein natürliche Leben, zu Ende. Damit taucht ganz automatisch die Frage auf: Wer oder was bin ich? Warum bin ich? Wozu? Wozu leben, wozu sterben? Wozu dies tun, wozu jenes? All dies ist nicht mehr fraglos wie bei einem reinen Naturwesen. Aus diesen Fragen ist das entstanden, was wir im weitesten Sinne Kultur nennen.

Das Ende der großen Erzählungen

An deren Anfang steht die Religion, zunächst in der Form des Mythos. Der Mythos ist eine Erzählung, eine Erzählung über den Ursprung, über die Herkunft des Menschen, über seine Ahnen und über den Sinn seines Daseins. Diese Erzählung ersetzt die Natur, er ersetzt das fraglose Existieren und gibt der menschlichen Existenz damit wieder einen Ort. Er lebt zwar immer noch in engster Symbiose mit der Natur, aber er ist nicht mehr (nur) Natur. Nach dem Verlust der Heimat in der Natur hat er eine neue Heimat, nämlich den Mythos. Die Natur, die Erde ist zwar noch seine „Mutter“, aber er lebt nicht mehr in der Mutter, sondern hat sie schon als Gegenüber.

Es spielt zunächst keine Rolle, ob der Mythos in einem faktischen Sinne wahr ist. Dies wird erst dann zum Problem, wenn der Mensch Erfahrungen macht, die dem Mythos widersprechen. Wenn viele oder bedeutsame Einzelne diese Erfahrung machen, wird er durch einen anderen, weiter gefassten Mythos ersetzt. Der nächste große Schritt, die nächste Stufe ist dann der Schritt vom Mythos zur Religion. Sie gibt uns eine neue Heimat, in der Erfahrungen aufgehoben sind, die der Mythos nicht mehr fassen konnte. Aber mit der Zeit – genauer gesagt: mit den Entdeckungen, die den Naturwissenschaften vorausgingen und vollends dann mit deren Erkenntnissen – ist auch der Rahmen der Religion zu eng geworden. Auch sie gibt dem Menschen keine Heimat mehr.

In den Anfängen der Aufklärung hat man dann geglaubt und gehofft, in der Vernunft und der Wissenschaft eine neue Heimat zu finden, also einen noch weiteren Rahmen, der dem menschlichen Dasein wieder einen Sinn, eine Einbindung in etwas Größeres gibt. Diese Hoffnung ist mit dem Eintritt in die Moderne (um 1900) bereits verloren gegangen, denn die Wissenschaft und die Vernunft, die die Religion abgelöst haben, können keinen Sinn erzeugen, können uns nicht sagen, wie wir leben sollen und auch nichts über die Wahrheit sagen. Es gibt keine zwei Philosophen, die einer Meinung sind und die Welt gleich sehen. Wenn man unterstellt, dass sie alle hervorragend denken können und den Gebrauch der Vernunft beherrschen, bedeutet das, dass man mit Denken der Wahrheit nicht näherkommt, sonst müssten die großen Philosophen alle übereinstimmen4.

In den mit der Vernunft und der Wissenschaft begründeten und mit kalter Rationalität geplanten und durchgeführten Massenmorden der Nationalsozialisten und den Todeslagern und kaltblütigen Gräueltaten der Kommunisten im Namen des „Fortschritts“ und der „Befreiung der Menschheit vom Joch der Sklaverei“ ist die Hoffnung auf die Erlösung durch die Vernunft dann endgültig vernichtet worden. Wir haben sie aber noch nicht beerdigt, wir wollen den Tod der Vernunft noch nicht wahrhaben. Wir klammern uns daran, weil dahinter die absolute Wüste der Sinnlosigkeit lauert. In dieser Wüste kann der Mensch nicht leben. Alle ideologischen Kämpfe heute sind nichts als verzweifelte Versuche, dieser Wüste zu entrinnen und eine neue Heimat zu finden – anders gesagt: eine neue Erzählung, die für moderne Menschen Sinn macht, die in der Lage ist, ihre Erfahrungen zu integrieren und ihrem Leben damit eine Mitte und eine Richtung zu geben. Das gilt auch für die spirituelle Suche. Letztlich ist sie eine Suche nach Heimat.

Die Sinnfrage und die Psychologie

In dieser Orientierungslosigkeit wenden sch die Menschen heute – abgesehen davon, dass sie alle möglichen Mythen wieder ausgraben oder neu erfinden und Zuflucht bei fremdartigen Religionen oder, ganz modern, quasi natürlichen „Identitäten“ suchen – vor allem an die Psychologie und Psychotherapie. Sie suchen dort zwar nicht unbedingt die große Erzählung, aber doch zumindest eine kurz- oder mittelfristige Orientierung, kleine Erzählungen sozusagen, die den vielfältigen Problemen des Alltags bis hin zu Krankheiten einen sinnstiftenden Rahmen geben, zumindest für eine gewisse Weile. Sie stellen, mal explizit, mal mehr implizit, Fragen wie die folgenden:

Warum leide ich, woher kommen meine Probleme, wie kann ich sie überwinden? Wie kann ich besser, glücklicher, erfolgreicher werden, mein Leben besser in den Griff bekommen, eine bessere Beziehung haben? Mit meiner Familie, meinen Eltern wie meinen Kindern besser klarkommen? Wie meinen Stress reduzieren oder mich vor Krankheiten schützen? Kann ich das überhaupt? Was bedeutet meine Krankheit, meine Behinderung, mein Unfall? Was will mir der Tod meines Mannes oder meiner Frau oder meines Kindes sagen?

Zwar ist das oft rein technisch gemeint (der Therapeut soll das Problem wegmachen), aber dahinter schwingen, wenn man genau hinhört, die großen Fragen mit. Manchen sind sie bewusst, manchen nicht oder nur halb, aber sie sind immer mit dabei: Wer oder was bin ich? Wozu existiere ich? Was hat das alles für einen Sinn? In zigtausenden von Workshops und Beratungszimmern suchen Millionen Menschen nach Antworten – noch in meiner Kindheit und Jugend in den 1950er und 60er Jahren wäre dies undenkbar gewesen. Obwohl die Generation meiner Eltern und deren Familien zwei schreckliche Kriege zu verarbeiten hatte, kam kaum jemand auf die Idee, die Wochenenden in psychologischen Seminaren zu verbringen, und zum Psychotherapeuten ging auch so gut wie niemand, der nicht ernsthaft psychisch krank war, also an einer Schizophrenie oder schweren Depression litt und vom Arzt mehr oder weniger in eine „Anstalt“ gezwungen wurde. Heute sind nicht nur die Praxen der ärztlichen und psychologischen Kassentherapeuten hoffnungslos überfüllt, sondern Menschen aus allen Schichten, vom Manager oder der Ärztin bis zum Handwerker und zur Bauersfrau, vom Millionär bis zum Harz IV-Empfänger, suchen Rat, Hilfe und Lebenssinn in Workshops aller Couleur, und nicht wenige darunter lassen sich selbst zum psychologischen Lebensberater ausbilden, weil die Nachfrage danach rasant steigt. Wenn ich sage, die großen Fragen schwingen dahinter mit, dann heißt das auch, dass sich die Psychologie diesen Fragen stellen muss, wenn sie das, was die Zeit an sie heranträgt, beantworten will. Tut sie dies nicht, wird sie ihrer Ver-Antwortung nicht gerecht, denn sie antwortet dem Leben nicht. Viele der Menschen, die zu uns kommen, suchen nämlich im Grunde nach einer neuen großen Erzählung, einer Erzählung, die ihnen eine Richtung für ihr Leben weist, indem sie dem, was ihnen widerfährt, einen sinnhaften Rahmen gibt.

Die Theologie kann diese Antwort nicht mehr geben, die Philosophie auch nicht, denn die Vernunft ist genauso tot wie Gott. Was bleibt, ist die Psychologie. Allerdings keine „wissenschaftliche“ Psychologie, keine, die dem Vorbild der Naturwissenschaft nacheifert, denn Wissenschaft kann keine Sinnfragen beantworten.

Eine neue Erzählung? Über dieses Buch

Wie kann aber eine solche neue Erzählung aussehen in einer Zeit, in der nicht nur Gott tot ist, sondern auch die Vernunft? Wie kann sie aussehen, ohne zur Ideologie zu verkommen? Wie kann eine Psychologie und Therapie aussehen, die den Menschen eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn gibt? Kann sie das überhaupt? Worauf kann sie gründen in einer Welt, in der es, wie Nietzsche sagt, „kein oben und kein unten“ mehr gibt, keinen archimedischen Punkt, von dem aus sich eine Ordnung oder wenigstens eine Richtung ableiten ließe? Im Außen, also oben (im Transzendenten) oder unten (im Physisch-Materiellen oder in der Geschichte, wo Marx und Engels ihn zu finden geglaubt haben), lässt sich dieser Punkt nicht mehr finden. Wenn es noch einen Ort geben kann, der uns eine gewisse Orientierung gibt, kann er nur innen sein. In uns selbst, in jedem einzelnen selbst.

Alles, was wir tun können, scheint mir zu sein, den Menschen einen Weg zu zeigen, wie sie sich selbst und ihre eigenen Antworten finden können und ihnen den Übergang zu sich selbst zu ermöglichen – wobei niemand im Vorhinein sagen oder wissen kann, was dieses „Selbst“ ist. Dieser Weg ergibt sich aus dem Leben selbst und zeigt sich, wenn man sich dem Leben und seinen Stationen zuwendet und sie sorgfältig beobachtet.

Ich möchte Sie mit diesem Buch zu einer Reise durch das menschliche Leben und das den einzelnen Lebensabschnitten entsprechende Bewusstsein einladen und zeigen, wie sich unser Bewusstsein Stufe für Stufe entwickelt, verändert und weitet. Dabei entsteht so etwas wie eine Landkarte, die nicht nur unseren biologischen Lebensweg nachzeichnet, sondern auch beschreibt, wie unser Bewusstsein sich mit den Stationen dieses Weges verändert oder – dies gilt vor allem für die zweite Lebenshälfte – verändern kann, wenn wir uns ganz auf dieses Leben einlassen. Der Weg führt, ganz kurz gesagt, zunächst (bis zum Ende der Jugend) ins Leben und in die Welt hinaus und dann (mit dem Eintreten ins Erwachsensein) wieder ins Leben – in unsere jeweilige Lebenswirklichkeit, in das, was sich in uns verwirklichen will – hinein. Wenn wir dem folgen, landen wir bei uns selbst.

Wenn etwas sich ent-wickelt, dann bedeutet das, dass es bereits existiert – nur noch eingewickelt, noch nicht ausgewickelt. Wenn ein Mensch sich entwickelt, bedeutet dies entsprechend, dass er als genau dieser Mensch bereits existiert – er muss nur noch ausgewickelt werden oder eben: sich ent-wickeln. Dies kann aber keine Bewegung zu etwas anderem oder jemand anderem sein, zu irgendeinem Ziel, das man sich selbst setzt oder sich vorsetzen lässt, sondern nur eine Bewegung zu sich selbst, zu dem, was man – in eingewickelter Form – bereits von Anfang an ist. Mir scheint, dass dies der dem Leben innewohnende, aus ihm selbst herauskommende Sinn ist: sich zu ent-falten und zu ent-wickeln zu dem, was man im Innersten bereits ist, also zu sich selbst, ähnlich wie eine Blume ihre Erfüllung (ihren inneren Sinn) darin findet, dass sie aus dem Samen, in dem sie anfangs eingeschlossen ist, herauswächst, sich ent-faltet und als die Blume erblüht, die sie immer schon war. Dasselbe gilt für das Bewusstsein: auch das Bewusstsein strebt aus sich heraus danach, sich zu dem zu ent-falten, was es bereits ist, zu seinem innersten Wesen, zu sich selbst.

Wir werden, so gut dies geht, in die Anfänge unseres Bewusstseins zurückgehen, und zwar beim einzelnen Menschen wie auch in die Anfänge der Menschheitsgeschichte, und uns von dort – beim Einzelmenschen bis zum Ende des Lebens, beim allgemeinen, kollektiven Bewusstsein bis heute –, vorwärtsbewegen. Damit folgen wir der Bewegung des Lebens selbst, denn die geht immer und ausschließlich vorwärts5.

Dem Leben folgen heißt auch, dass ich die Entwicklung eines Menschenlebens von der Empfängnis bis zum Tod, die Räume, die wir dabei durchschreiten, die Bedingungen und Grenzen, die uns das Leben jeweils auferlegt, die Erfahrungen, die wir dabei machen, und die neuen Räume und Möglichkeiten, die sich mit jeder Lebensstufe auftun, im einzelnen beschreibe und als Grundlage dafür nehme, wie sich das Bewusstsein in diesem Prozess entwickelt und verändert. Diese Beschreibung bildet auch den Rahmen für die Frage, aus welcher Perspektive und mit welchen Methoden psychologische Beratung und Therapie in den jeweiligen Lebensstufen schauen und arbeiten sollten, um die Menschen auf dem Weg zu sich selbst zu unterstützen.

Dass meine Erzählung eine psychologische Geschichte ist, bedeutet nicht, dass ich mich nur mit der Psyche des einzelnen Menschen befasse. Das wäre eine viel zu enge Sicht. Wir sind immer Teil der menschlichen Seele oder des allgemeinen Bewusstseins, selbst wenn wir als Einsiedler leben. Und wir fühlen und handeln auch immer aus unserem jeweiligen Bewusstsein heraus, auch als Psychologen und Therapeuten. Deshalb scheint es mir unabdingbar, dass wir uns dieses Bewusstseins, des Standortes, von dem aus wir schauen und unsere so genannten „Lösungen“ nehmen, bewusst werden. Das gilt gleichermaßen für die persönliche Ebene wie die des allgemeinen Bewusstseins, in das wir eingebettet sind. Also betrachte ich immer beide Seiten: das Innenleben des Einzelnen und dessen Entwicklung und das Innenleben der Menschheit und deren Entwicklung. Beides greift immer ineinander, und beides gemeinsam macht das aus, was ich mit „Seele“ bezeichne: die Innenseite des Lebens.

Ich orientiere mich dabei nicht an theoretischen Annahmen oder philosophischen Positionen über das Bewusstsein, sondern an den beobachtbaren Prozessen des Lebens selbst. Mich an den beobachtbaren Prozessen orientieren heißt: Ich beschreibe und teile meine Wahrnehmung, und zwar so, dass jeder dem folgen kann. Ich tue dies in Form einer Erzählung – ich erzähle eine Geschichte. Eine Geschichte, die zwar auf dem heutigen Wissensstand, soweit er mir zugänglich und bekannt ist, basiert, aber keinen Anspruch auf Objektivität erhebt. Denn Objektivität ist nicht mehr möglich. Alle Geschichten, alle Theorien, alle Erzählungen sind subjektiv. Ihre allgemeine Gültigkeit beruht darauf, dass man sie mit den eigenen Erfahrungen vergleichen und dabei sehen kann, ob sie diese ebenfalls umfassen, oder darauf, dass man sich auf die Erfahrungen und Beobachtungen, die in der Geschichte erzählt werden, oder auf die Vorschläge, die ich zur Überprüfung mache, einlässt und sie als wahr empfindet.

Im vorliegenden Buch sind das die Beobachtungen, die ich

.erstens bei mir selbst gemacht habe, wozu all meine Lebenserfahrungen gehören; deshalb berichte ich dort, wo es mir angebracht erscheint, auch über diese persönlichen Erfahrungen, damit meine Schlussfolgerungen nachvollziehbar sind und der Leser angeregt wird, sich an seine eigenen Erfahrungen zu erinnern;

.zweitens die Beobachtungen, die ich bei vielen tausend Klienten und hunderten Schülern gemacht habe, also in meiner Arbeit mit allen Arten von psychischen Problemen, psychosomatischen Krankheiten, mit der Bewältigung von Schicksalsschlägen und gewöhnlichen Alltagsproblemen und einer Vielzahl von seelischen Themen;

.drittens das, was ich bei und mit den Menschen um mich herum, in der Familie und bei Freunden, insbesondere bei meinen eigenen und anderen Kindern, gesehen und erfahren habe, und

.viertens alles, was ich gelesen und studiert habe – etwa Karl Marx und die Kritische Theorie (hier vor allem Herbert Marcuse und Jürgen Habermas); das große Werk von Ken Wilber und das ebenso große und für mich noch tiefere von Wolfgang Giegerich (der mir auch C. G. Jung nahe gebracht hat) über Bewusstsein und Psychologie; die Arbeit von und mit Bert Hellinger, in die ich zehn Jahre lang vollkommen eingetaucht bin; vor allem aber Osho, dem ich mit Mitte dreißig begegnet bin und in dessen Geist ich mich seitdem zu Hause fühle, und ergänzend dazu die aus demselben Geist kommenden und inhaltlich identischen, aber ganz anders formulierten Lehren von Sri Nisardagatta und Ramesh S. Balsekar, um die wichtigsten und prägendsten zu nennen. Aus der Literatur schließlich waren für mich zwei Bücher von Hermann Hesse am bedeutsamsten – nicht, weil sie besser als alle anderen wären, sondern weil ich in ihren Protagonisten mir selbst begegnet bin: Narziss und Goldmund sowie Siddhartha.

Sehr wichtig war für mich auch, dass ich seit 2004 jedes Jahr zwei Mal für mehrere Wochen in China bin und dort Kurse mit inzwischen mehreren tausend Menschen geleitet habe. Nirgendwo haben mir die Menschen so offen ihr Herz ausgeschüttet wie in China. Ich verstehe China zwar noch immer nicht, aber ich habe nicht nur einen ganz anderen Einblick in die chinesische Kultur, die Gesellschaft und vor allem einen anderen Blick auf die Menschen bekommen, als es die Berichte in den deutschen Medien vermitteln6; vor allem hat mir die Arbeit dort es ermöglicht, auf unsere eigene Kultur von außen und mit einem inneren Abstand zu schauen, der mir sonst nicht möglich gewesen wäre, und dabei Dinge zu sehen, die ich sonst nicht wahrgenommen hätte – zum Beispiel unsere ideologische Verbissenheit, die Chinesen vollkommen abgeht, unser Schwarz-Weiß- und Entweder- oder-Denken, die Überheblichkeit, die wir Lehrern und Älteren gegenüber an den Tag legen, oder unser lieb- und respektloser Umgang mit alten Menschen. Das alles (und viel mehr) konnte ich erst sehen, als ich aus der Ferne auf unsere Kultur schaute. Das gilt auch für meine zwanzigjährige Arbeit in Mittel-Ost-Europa, namentlich in Tschechien, der Slowakei und Ungarn. Hier ist der kulturelle Abstand zwar viel geringer, aber auch in diesen Ländern habe ich einen anderen Blick auf die Menschen dort und ihre Denk- und Lebensweise wie auch auf meine eigene Welt bekommen.

DIE STUFEN DES MENSCHLICHEN LEBENS UND DES BEWUSSTSEINS

Ich beginne meine Reise mit einer Art Landkarte, die sich mir vor gut zwölf Jahren (2007) bei einer langen Autofahrt plötzlich wie aus dem Nichts gezeigt hat. Für mich hatte sie zunächst die Bedeutung, dass sich viele Erfahrungen aus meiner Arbeit wie aus meinem persönlichen Leben plötzlich ordneten und einen Platz fanden und ich darin eine in sich schlüssige Bewegung des Lebens sehen konnte. Als ich das dann formuliert habe, erweiterte sich das Bild immer mehr, und ich sah ein Modell entstehen, das die Bewegung des menschlichen Lebens und insbesondere des Bewusstseins in ganz allgemeiner Form abbildet, vom einzelnen menschlichen Leben über soziale und kulturelle Prozesse bis hin zur Entwicklung und Veränderung ökonomischer und politischer Institutionen.

Ich habe dieses Modell der „Lebens- und Bewusstseinsstufen“ dann in dem Buch „Das Leben hat keinen Rückwärtsgang“ (Nelles 2009) in einem ersten Entwurf vorgestellt. Es beschreibt die biologisch-lebensgeschichtliche und, analog dazu, die geistige (spirituelle) Entwicklung des Einzelnen wie des menschlichen Bewusstseins insgesamt. Es ist eine innere Landkarte, die es uns ermöglicht, einen Überblick über unser Leben zu bekommen, zu sehen, wo wir gerade stehen und auch unser Bewusstsein quasi von außen zu sehen. Daraus ist dann drei Jahre später (2011) der „Lebensintegrationsprozess“ (LIP) als praktisches therapeutisches Verfahren entstanden (Nelles 2012 und Nelles/Geßner 2014). Dieser neue methodische Ansatz kombiniert die Theorie der Lebensund Bewusstseinsstufen mit der von Bert Hellinger entwickelten Aufstellungsmethode7 und ermöglicht es, seinen (früheren und heutigen) Standort im Leben zu sehen und auch sein inneres Wesen – das, was einem von Beginn an mitgegeben wurde und sich in einem entfalten will – deutlicher wahrzunehmen. Es ist so etwas wie ein Spiegel der Seele, in dem man die Innenseite seines Lebens sehen kann.

Im Folgenden gebe ich zunächst einen gerafften Überblick über die Lebens- und Bewusstseinsstufen, um dann Stufe für Stufe zu untersuchen, wie sich unser Leben und unser Bewusstsein in ständiger Wechselwirkung miteinander entwickeln oder bekämpfen und was Psychologie und Therapie dazu beitragen können, sich dieser Bewegung gewahr zu werden und dabei innerlich zu wachsen. Daraus ergibt sich ein klareres Verständnis der kindlichen und der jugendlichen Welt und der Bewusstseinsinhalte, die wir aus diesen Welten mit ins erwachsene Leben nehmen und die uns dort zumindest zum Teil weiterhin bestimmen und oft auch leiden lassen. Wir sind zwar einerseits erwachsen, fühlen und verhalten uns aber oft wie Kinder oder Jugendliche, was früher oder später zu Problemen, nicht selten auch zu massiven Störungen und Krankheiten führt, wobei diese Störungen und Krankheiten von mir als Versuch der Seele gedeutet werden, die Betroffenen daraufhinzuweisen, dass es an der Zeit ist, das Kindliche hinter sich zu lassen. Aus meiner Sicht sind sie der „Riss“ in der jeweiligen Biografie, durch den, wie Cohen singt, „das Licht nach drinnen“ kommen kann.

Mein Schwerpunkt liegt dabei einmal darauf, das moderne Bewusstsein, also die Welt, in der wir in Europa (überwiegend) leben, von außen zu betrachten und dadurch die Mythen, in denen sich unser zeitgenössisches Bewusstsein aufhält, zu erkennen, und zweitens auf der Frage, wie eine Welt aussieht, die die Kindheit wie die Jugend in sich aufgenommen hat und darüber hinausgewachsen ist. Ich nenne diese Welt „Das erwachsene Bewusstsein“ oder das „Selbst-Bewusstsein“. Erst wenn man diese Welt in seiner inneren, geistigen Haltung betreten hat, ist man ganz im Leben – in seinem eigenen Leben – angekommen. Vorher lebt man mehr oder weniger das Leben seiner Herkunftsfamilie oder den jugendlichen Gegenentwurf dazu, der aber nichts Eigenes ist, sondern nur die Verneinung des Alten. Der Schritt dorthin ist unsere zweite Geburt – die erste ist die Geburt als körperlich eigenständiger Mensch, die zweite die Geburt als auch geistig eigenständiger Mensch.

Bei der Besprechung dieser vierten Stufe, des erwachsenen „Selbst-Bewusstseins“, gehe ich auch ausführlich auf den Lebensintegrationsprozess ein, der das Herz meiner praktischen Arbeit ist. Ich habe ihn soeben ein „praktisches therapeutisches Verfahren“ genannt, aber das trifft es nur teilweise. Neben der therapeutischen hat der LIP noch zwei weitere Dimensionen, nämlich eine initiatorische und eine spirituelle. Er unterstützt den einzelnen dabei, sein Erwachsensein zu erkennen und einen stabilen Kontakt zu seinem inneren Selbst zu entwickeln und ist in diesem Sinne so etwas wie eine Initiation ins eigene Selbst. Dabei betrachten wir das gesamte Leben immer als das Wirken einer spirituellen Kraft, die man Bewusstsein, Geist oder Seele oder vielleicht auch Liebe nennen kann, die sich aber letztlich unserem Begreifen entzieht. Wir sind, wie alles Leben, ein Ausdruck dieser Kraft, sie hat in uns eine einmalige und vorübergehende Gestalt angenommen. Da sie größer ist als wir, bleibt sie uns unbegreiflich; zugleich ist dieses Größere das, in dem wir letztlich geborgen sind.

Auch dies kann man im Lebensintegrationsprozess ganzheitlich (mental, emotional und körperlich) wahrnehmen und in sich aufnehmen. Das ist die spirituelle Dimension.

Vom Mutterleib zum Grab: Der Weg des Leibes

Und weil es Höhe braucht,

braucht es Stufen und Widerspruch

der Stufen und Steigenden.

Steigen will das Leben und steigend sich überwinden.

Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra

Schauen wir zuerst auf den normalen Ablauf eines menschlichen Lebens. Er umfasst sieben Stufen:

1. Die Zeit im Mutterleib, der Embryo oder das ungeborene Kind.

2. Die Kindheit

3. Die Jugend

4. Der erwachsene Mensch

5. Der ältere Mensch (bei Frauen ab der Menopause, bei Männern entsprechend)

6. Der alte Mensch (modern: Rentner)

7. Der Tod.

Diese Lebensstufen sind klar unterschieden. Es sind „Stufen“, weil wir jedes Mal auf eine höhere und weitere Ebene steigen, eine Ebene, die mehr umfasst als das Vorherige und uns weiter schauen lässt. Jeder Übergang führt uns in eine andere, weitere und offenere Dimension des Lebens. In der Zeit dazwischen entwickeln wir uns zwar auch (das Leben ist fortwährende Bewegung und Entwicklung, es steht zu keinem Moment still), aber diese Entwicklung ist horizontal, auf derselben Ebene, während der Übergang in eine neue Stufe vertikal ist. Die horizontale Entwicklung bereitet uns nach und nach auf die nächste Stufe vor, indem wir körperlich wie geistig die Fähigkeiten entwickeln, die wir brauchen, um in die nächste Stufe eintreten zu können. Es beginnt dann etwas vollkommen Neues, bis dahin Unbekanntes. Ich beginne mit der biologischen Entwicklung.

1. Mit der Zeugung und Empfängnis beginnt das menschliche Leben, dessen erste Phase sich in der symbiotischen Einheit mit dem mütterlichen Organismus vollzieht, in den wir eingeschlossen und dem wir ausgeliefert sind.

Im Mutterleib entwickeln sich unsere körperlichen Organe, bis sie soweit fertig sind, dass sie allein funktionieren können. Sobald dies der Fall ist, müssen wir den Mutterleib verlassen.

2. Mit der Geburt treten wir in eine vorher vollkommen unbekannte, gänzlich neue Welt ein. An die Stelle des Mutterleibes tritt die Familie, die uns umfängt und umfasst, der wir fest angehören und die für unser Überleben sorgt.

In der Kindheit entwickeln wir die geistigen (mentalen) Fähigkeiten, die wir brauchen, um uns später allein in der Welt orientieren zu können. Zugleich reift körperlich unsere Sexualität heran, mit deren Ausreifung die Kindheit endet.

3. Mit der Pubertät endet die Kindheit, von einem Tag zum anderen. In dem Moment, wo bei einem Mädchen die Monatsblutung einsetzt, ist es kein Kind mehr. Beim Jungen ist es ähnlich, wenn auch der Einschnitt körperlich nicht so massiv empfunden wird. Das ist übrigens auch bei den späteren Übergängen und Stufen so, Frauen sind ihrer biologischen Natur anders ausgesetzt als Männer. In der Jugend entwickelt sich unser Körper zur vollen Männlichkeit oder Weiblichkeit und unser Geist bereitet sich darauf vor, die volle Verantwortung für unser eigenes Leben zu übernehmen. Dabei treibt uns die Sexualität aus der Familie hinaus und dem Anderen, Fremden zu, damit sich unsere Gene mit anderen mischen können und das Leben sich reproduzieren kann. Jetzt müssen wir die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir auf eigenen Füßen stehen, uns selbst versorgen und ohne die Eltern leben können. In alten Zeiten und Kulturen war dies nur eine kurze Übergangsphase, die durch Initiationsriten begleitet und abgeschlossen wurde. Warum dies heute, in der modernen Gesellschaft, anders ist und die Jugend quasi nie endet, sondern zum Lebensstil geworden ist, erkläre ich später.

Hier ist der Gipfel unserer körperlichen Entwicklung erreicht. Im Folgenden entwickelt sich der Körper allmählich zurück, und an die Stelle der körperlichen tritt die (weniger sichtbare und subtilere) geistige Entwicklung, sofern man bereit ist, dieser Bewegung auch innerlich zu folgen und sich nicht an der Jugend festklammert.

4. Im Erwachsensein folgen wir dem in uns angelegten und nun ausgereiften Sexualtrieb und zeugen oder empfangen dabei natürlicherweise Kinder. Damit tragen wir bei zum Überleben der Gattung Mensch. Dazu müssen wir die alte Familie verlassen und uns in eine neue hineinbegeben8. Dabei übernehmen wir nicht nur Verantwortung für uns selbst, sondern auch für unsere Kinder (Familie). Somit wandelt sich das Leben vom Nehmen (das bis in die Jugend hinein vorherrscht) zum Geben. Da wir Menschen und somit keine reinen Naturwesen mehr sind, kann man sich dieser Bewegung der Natur auch entziehen und kinderlos bleiben. Für manche ist dies auch ein Schicksal, da sie unfruchtbar sind. Das Bedürfnis zu geben bleibt aber. Ohne zu geben verkümmert man innerlich.

5. Mit der Menopause endet die Fruchtbarkeit der Frau (und, wenn eine Frau ihre Kinder in jungen Jahren geboren hat, auch die Notwendigkeit, für die eigenen Kinder zu sorgen). Bei Männern ist dies anders, sie bleiben prinzipiell zeugungsfähig bis zum Tod und durchlaufen (biologisch und auch psychisch) nicht die gleichen inneren Veränderungen wie eine Frau. Sie müssen sich aber nicht mehr, wie junge Männer, durch Leistung beweisen und verlieren ihre körperliche Dominanz gegenüber anderen Männern. Jetzt beginnt das Alter. Damit entsteht der Raum, sich wieder auf sich selbst zu besinnen und in eine geistige Dimension des Lebens einzutreten. In alten Kulturen ist das die Zeit der „weisen Alten“.

6. Mit dem Eintritt ins Rentenalter (das eine moderne Form dieser Lebensstufe ist, früher hatte sie andere Formen) endet die Zeit, in der wir produktiv zum Überleben der Gemeinschaft beitragen. Wir sind jetzt alt und werden versorgt, sei es von den Kindern oder irgendeiner gesellschaftlichen Institution. Sofern wir noch einen Beitrag leisten, kann dies nur ein geistiger sein.

7. Dann kommt der Tod, mit dem das Leben in einem menschlichen Körper endet. Das ist alles, was wir über den Tod sicher wissen. Was dieses Ende genau bedeutet, wissen wir nicht.

Soweit unsere Entwicklung, wie sie in einem natürlichen Lebensablauf vorgezeichnet ist. Sie enthält drei Elemente, auf die ich später detailliert eingehen werde, die ich aber hier bereits kurz erwähnen möchte, weil sie für das Folgende sehr wichtig sind:

Erstens:

Diese Entwicklung ist vollkommen unabhängig von unserem Wollen. Wir können uns ihr grundsätzlich nicht entziehen, wir sind ihr unterworfen. In ihr vollzieht sich unser Leben, und zwar ganz von selbst. Es ist kein Machen, sondern ein Geschehen, wir sind nicht die Urheber, sondern das Resultat dieses Geschehens. Daher sind wir auch nicht die Subjekte unseres Lebens. Das Subjekt ist das Leben selbst.

Zweitens:

Der Eintritt in eine neue Stufe setzt den Abschied von der bis dahin gelebten Stufe voraus. Das heißt: Das Leben besteht aus Trennungen. Um ins Neue einzutreten, müssen wir uns vom Alten, vom Vorherigen, trennen. Oder, genauer gesagt (da wir dies nicht „machen“): Wir werden davon getrennt. Das Leben macht das ganz von allein.

Drittens: