Umarme dein Leben - Wilfried Nelles - E-Book

Umarme dein Leben E-Book

Wilfried Nelles

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Beschreibung

Die ureigene seelische Mitgift erkennen Seine Lebensaufgabe zu sich nehmen und ihr zustimmen Inhaltliche Neuausrichtung und methodische Erweiterung des Familienstellens "Umarme dein Leben" ist eine Botschaft an alle, die ihr Kindsein hinter sich lassen und ganz in ihr erwachsenes Dasein treten wollen, egal ob sie 30 oder 60 sind. Seelisch erwachsen werden heißt: Sag ja zu allem, was war. Sag ja zu deinen Eltern, sag ja zu dir selbst, sag ja zu dem Kind und dem/der Jugendlichen, die du einst warst, mit allem, was du damals erlebt hast. Schau mit Liebe auf dich und dein Leben, dann bist du plötzlich erwachsen - ganz von selbst. Mit dem Lebens-Integrations-Prozess stellt Wilfried Nelles ein Verfahren vor, das uns dabei hilft, zu sehen und zu fühlen, was der innere Sinn, die innere Vision unseres Lebens ist. Diese Vision, die wir über unseren Lebens kämpfen oft vergessen haben, tragen wir von Anbeginn an in uns. In dem hier vorgestellten Verfahren können wir damit wieder Kontakt aufnehmen und die Verletzungen unseres Lebens in den Hintergrund treten lassen.

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Ebook-Auflage 2016

Umschlaggestaltung: Silke Bunda Watermeier, www.watermeier.net

Copyright© 2012 Innenwelt Verlag GmbH, Köln

www.innenwelt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise,

nur mit Genehmigung des Verlages

eISBN 978-3-942502-70-2

WILFRIED NELLES

Der Lebens-Integrations-Prozess

UMARME

DEIN LEBEN

WIE WIR SEELISCH

ERWACHSEN WERDEN

INHALT

1. „ICH WILL ENDLICH ERWACHSEN WERDEN“

2. STUFEN DER REIFUNG

Im Mutterleib – Symbiotisches (unbewusstes) Einheitsbewusstsein

Die Kindheit – Gruppenbewusstsein

Die Jugend – Ich-Bewusstsein

Erwachsensein – Selbst-Bewusstsein

3. DER EINZELNE UND DAS ALLGEMEINE (KOLLEKTIVE) BEWUSSTSEIN

Die traditionelle Gesellschaft: Erwachsensein als Rollenspiel

Der „Tod Gottes“ und die Folgen

Die Wissenschaft

Erwachsensein heute

4. WAS HILFT?

Warum? – Über Ursache und Wirkung

„Ich kann nicht“ und „Ich will nicht“

„Wie werde ich meine Wut los?“ – Ein Fall aus der Praxis

Perspektiven

Trauma

Jungs Neurose

Therapeutische Grundhaltung und Vorgehensweise bei seelischen Traumata

Was kann man selbst tun?

Das Leben heilt

5. DER LEBENS-INTEGRATIONS-PROZESS

Sich selbst sehen

Aufstellungsarbeit

Eine kleine Übung

Die Innere Vision unseres Lebens

Wir sind nicht die Kinder unserer Eltern

Das Kind in der Familie

Der Jugendliche und der junge Mensch

Das eigene Sein berühren

Anhang

Die methodische Vorgehensweise bei der Aufstellungsarbeit

1. Kapitel

„ICH WILL ENDLICH ERWACHSEN WERDEN!“

Das Anliegen der Psychologie ist einzig, dass der Einzelne zu dem wird, was er ist, ganz gleich, was dies im jeweiligen Fall sein mag.

Wolfgang Giegerich1

Die Frau neben mir machte ein ernstes Gesicht, und ihre Stimme klang entschlossen wie bei jemand, der sich nach langem Ringen einen Ruck gegeben hat: „Ich will endlich erwachsen werden.“ Sie war hübsch, mittelgroß, schlank, blond, große blaue Augen, voller sinnlicher Mund, dezent geschminkt und immer perfekt gekleidet. Üblicherweise sah sie eher verträumt als entschlossen aus, und wenn sie einen anschaute, lächelte sie gerne und überaus einnehmend. Es brauchte nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, wie sie als Kind ihren Vater um den Finger gewickelt hat und dass es auch heute noch den meisten Männern sehr schwer fallen dürfte, ihr einen Wunsch nicht zu erfüllen.

Eine Kindfrau – attraktiv und unglücklich, die sich ihrer Waffen kaum bewusst war, die wie eine zweite Haut zu ihr gehörten und die sie zugleich (zumeist ganz unbewusst und automatisch) benutzte und hasste.

Letzteres, weil sie spürte, dass sie damit zwar Macht besaß, aber zugleich immer das Kind bleiben würde. Sie hatte es schon länger satt, dieses Kindfrauen-Dasein, und seit sie vor einem Jahr begonnen hatte, an Familienaufstellungen teilzunehmen und in Einzelberatungen ihre Probleme offengelegt hatte, war dieser Entschluss in ihr gereift: Es reicht, ich will nicht länger die süße Kleine sein. Ich will endlich erwachsen werden!

Ich musste spontan lachen und schüttelte den Kopf, und sie schaute mich verdutzt an. Was sollte denn das, redete ich nicht die ganze Zeit darüber, dass wir die Kindheit hinter uns lassen und endlich erwachsen sein sollten? Wieso dieses Lachen? Irgendetwas in dieser Art muss ihr durch den Kopf geschossen sein, vielleicht war sie aber auch einfach nur völlig perplex über meine Reaktion (die mich selbst ebenfalls ein bisschen erstaunte). „Das geht nicht“, sagte ich, jetzt wieder ernst, „völlig unmöglich!“ Ich schaute ihr offen in die Augen, sie schaute fragend zurück. Vielleicht wäre sie davongelaufen, wenn sie mich nicht schon etwas gekannt hätte. So aber wartete sie, ob ich nicht noch etwas Erklärendes sagen würde. „Stell dir einen Hasen vor, der zu dir kommt, dich ernst anschaut und dann mit ernster Stimme sagt: Ich möchte ein Hase werden!“ Eine Kursteilnehmerin aus der Runde begann laut zu lachen und konnte sich nicht mehr einkriegen, aber die Frau verstand nicht und schaute mich ratlos an, so dass ich nach einer kurzen Pause fortfuhr: „Du bist doch längst erwachsen. Erwachsen werden zu wollen ist für einen Erwachsenen nichts anderes als ein Hase, der ein Hase werden will.“ Die andere Teilnehmerin lachte inzwischen so heftig, dass sie fast von ihrem Stuhl fiel, aber sie lachte weniger über die Frau neben mir als über sich selbst, sie hatte in der Frage der Frau, meiner Antwort und ihrer Reaktion darauf etwas über sich selbst entdeckt. Ich blieb jedoch ernst, denn mir war sehr klar, dass die Klientin es wirklich ernst meinte und in Not war. Dennoch blieb ich bei meinem „Das geht nicht“.

Sie wurde immer ratloser. „Das verstehe ich schon. Aber was soll ich denn dann machen? Ich will nicht mehr dieses Kindchen sein! Wie komme ich denn sonst da raus? Ich habe da keine Lust mehr drauf!“

„Du musst erkennen, dass du bereits erwachsen bist. In dem Moment, wo dir das durch und durch klar ist, haben die Kindereien von selbst ein Ende. Erwachsen werden wollen kann nur jemand, der es nicht ist. Solange du es werden willst, bleibst du also Kind, und das ändert sich nie. Du streckst dich nach etwas, was du scheinbar nicht bist, und rennst ihm ewig hinterher, anstatt zu begreifen, dass du es längst schon bist.“

Sie entspannte sich, etwas klickte im Innern und auch sie musste etwas lachen, obwohl sie immer noch nicht wusste, wie es jetzt weitergehen sollte. Ich wusste es übrigens auch nicht, aber ich wusste, dass ich jetzt mit ihr arbeiten konnte. Jetzt war sie nämlich erwachsen, für diesen Moment wenigstens, während sie vorher bei aller Ernsthaftigkeit ein Kind war, das sich wünschte, erwachsen zu werden.

In der Praxis ist die Sache natürlich nicht ganz so einfach, und ich verstand sehr wohl ihren Wunsch und ihre Verzweiflung. Es ist ja gerade die Erkenntnis, dass man sich als scheinbar Erwachsener oft wie ein Kind verhält und – besonders in wichtigen und emotional gefärbten Situationen – es nicht schafft, wirklich erwachsen zu handeln, die einen zu dem Wunsch bringt, die Kindheit und das entsprechende Verhalten hinter sich zu lassen. Man ist jetzt sozusagen halb erleuchtet – man weiß, was man falsch macht, aber nicht, wie man es richtig machen soll.

Vorher, als man noch ganz dumm war, war das alles kein Problem, da hat man gar nicht bemerkt, dass am eigenen Verhalten etwas schief war, und wenn es Probleme gab, waren immer die anderen schuld: die Eltern, der Ehemann, die stressigen Kinder, der Chef, die Kollegen, der Staat, die Gesellschaft oder wen sonst zwischen Himmel und Erde man noch für sein Leben, sein Glück oder Unglück verantwortlich machen kann.

„Ich kann nichts dafür“ oder auch „Ich kann nicht“ sind zwei dieser mächtigen Kindersätze, die einem den Weg zur Aneignung des eigenen Lebens verbauen. Solange man solche Sätze benutzt und an sie glaubt, steckt man noch tief in den Kinderschuhen.

Wir sind also erwachsen und sind es doch nicht. Wenn eine Frau oder ein Mann sich in eine(n) andere(n) verliebt, bricht für den Partner die Welt zusammen. Dabei sind es keineswegs nur die tatsächlichen Probleme, die daraus entstehen oder entstehen könnten, die uns erschrecken, sondern es ist in den meisten Fällen das Kind in uns, das sich fühlt, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Mann und Frau sind sich in den meisten Beziehungen nämlich gegenseitig auch Eltern (ich spreche hier natürlich von der emotionalen Ebene). Sie geben uns (oder wir versprechen, wünschen und erhoffen uns von ihnen) das, was uns einst die Eltern gaben: Sicherheit und Geborgenheit. Wenn das bedroht ist, fühlen wir uns wie ein Kind, dass sich seines Platzes in der Familie nicht mehr sicher ist und fürchtet, dass die Eltern es verlassen – und es allein in der Welt steht.

Und wir verhalten uns dann oft auch wie Kinder: Wir schreien und toben, werfen mit Gegenständen um uns, heulen und flennen, fordern und betteln und fühlen uns verlassen und verloren. Oder wir ziehen uns in eine innere, imaginäre Welt zurück (wie es Kinder oft tun, wenn sie in der äußeren Welt kein Verständnis finden) und sind für niemanden mehr wirklich erreichbar. Dass der Partner uns dann nicht ernst nimmt und sich vielleicht sogar darin bestätigt fühlt, dass es mit diesem Mann oder dieser Frau nicht mehr geht, macht die Sache nicht einfacher.

Ich will damit nicht sagen, dass es für einen auch emotional erwachsenen Menschen leicht wäre, wenn sein Partner sich jemand anderem zuwendet. Das ist selbstverständlich ein Problem, denn das Leben der beiden ist auf vielen Ebenen miteinander verbunden – man hat Vorstellungen für die Zukunft, die plötzlich nichtig sein könnten, hat sich aneinander gewöhnt und geglaubt, sich aufeinander verlassen zu können, hat vielleicht gemeinsame Kinder, materielle Investitionen und natürlich auch – und selbst dann, wenn der Honeymoon längst vorbei ist – eine mehr oder weniger tiefe emotionale Bindung. Wenn eine Ehe ernsthaft gefährdet ist oder zu Ende geht, dann stirbt etwas in beiden – nämlich das Paar. Und selbst wenn es, um im Bild zu bleiben, nur eine schwere Krankheit oder ein plötzlicher Unfall (der Paarbeziehung) ist, sieht man vielleicht den Tod am Horizont und ist entsprechend betroffen. Es ist aber ein großer Unterschied, ob man darauf kindlich oder erwachsen reagiert. Das Kind ist grundsätzlich hilflos, grundsätzlich abhängig und daher auch grundsätzlich Opfer, weil es noch nicht die nötigen inneren und äußeren Ressourcen hat, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Daher fühlt sich ein Kind ganz zu Recht völlig verloren und bodenlos, wenn es merkt, dass die Eltern es allein lassen (könnten). Der Erwachsene hingegen – das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen ihm und einem Kind (und auch einem Jugendlichen) – ist handlungsfähig und kann selbständig – im Rahmen der jeweils gegebenen Möglichkeiten – handeln. Wer also lamentiert, sich hilflos und als Opfer fühlt, ist innerlich im Kindbewusstsein. Für einen Erwachsenen ist ein solches Verhalten unangemessen.

Ich will damit aber nicht sagen, dass man erwachsen reagieren soll, etwa nach dem Motto „So etwas kommt halt vor“, „Ich toleriere das“, „Ich bin nicht eifersüchtig“ oder „Es macht mir nichts aus“. In den meisten Fällen bedeutet das nämlich nur, dass man die kindlichen Gefühle unterdrückt oder so abgespalten hat, dass man sie gar nicht mehr wahrnimmt. Dann überleben sie umso besser. Ein Gefühl von Schmerz, Enttäuschung oder Trauer wird immer aufkommen, wenn so etwas passiert, auch bei sehr gereiften Menschen. Und diese Reife erreicht manmeist nur, wenn man sich zuvor schon den kindlichen Ohnmachtsgefühlen gestellt hat. Wenn also der Schmerz und die ganze Palette der kindlichen Gefühle wie Wut, Angst, Verlorenheit, Hilflosigkeit etc. da sind, sollte man sie durchaus ans Licht kommen lassen, ihnen Raum geben und sie er-leben. Nur dann nämlich, wenn sie gesehen und genommen werden, wie sie sind, besteht die Möglichkeit, allmählich über sie hinaus zu wachsen. In vielen Fällen wird dann auch deutlich, wo sie herkommen, es kommt das Kind in den Blick, das diese Gefühle schon seit langem in sich trägt. Damit kann dann langsam etwas in uns heilen, und was zunächst wie eine Katastrophe aussah, kann sich so vielleicht in einen Heilungsprozess für unser inneres Kind verwandeln, der uns am Ende innerlich gefestigter, weniger abhängig und damit erwachsener sein lässt. Und dann könnte man – wenn man es wirklich verstanden hat, wird man dies auch – am Ende sogar dankbar sein für das, was einem anfangs als Katastrophe und schreiende Ungerechtigkeit erschien. Aber das kann man nicht vorwegnehmen, das muss man mit allen Schmerzen durchleben.

Wir brauchen aber nicht so weit zu schauen, um unsere Kindmuster zu sehen. Die hilflos zeternde, schreiende oder schlagende Mutter, wenn ihr Kind nicht gehorcht; Erwachsene von 30, 40, 50 oder mehr Jahren, die jedes mal wütend auf ihre Mutter werden oder traurig oder verzweifelt sind, wenn diese sich in ihr Leben einmischt; der Mann, der sich nicht traut, seiner Frau zu widersprechen und sich von ihr diktieren lässt, welches Hemd und welche Hose er anziehen darf – es ließen sich unzählige Beispiele für kindliche Gefühls- und Verhaltensmuster bei Erwachsenen finden, einige harmlos (wie die Begeisterung für die „eigene“ Fußballmannschaft oder das kurzfristige Leiden an deren Niederlage), andere lästig, aber nicht so wichtig, einige aber auch schmerzhaft oder gar zerstörerisch. So erwachsen wir uns auch in vielen Lebensbereichen, etwa im Beruf oder generell im öffentlichen Leben, fühlen und nach außen präsentieren mögen, so sehr prägen kindliche Gefühle und Verhaltensmuster unseren Alltag – vor allem da, wo Emotionen ins Spiel kommen. Das ist, wie gesagt, nicht immer und überall problematisch, wir wären sogar ganz arm, wenn wir uns nicht auch das Kindliche in uns bewahren und es pflegen und leben würden.

Auch ein erwachsenes Leben kann und darf leicht und spielerisch sein, auch ein Erwachsener darf und muss sich manchmal „gehenlassen“. Die kindlichen Muster, um die es mir hier geht, sind aber weder leicht noch spielerisch, sie sind uns im wahrsten Sinne des Wortes eingefleischt und machen uns das Leben eher schwer als leicht. Wenn wir das Erwachsensein richtig verstehen, ist es nämlich viel leichter als ein von kindlichen Gefühlen und Ansprüchen dominiertes Leben.

So sehr uns das Hilflos-Kindliche in uns manchmal stört, so sehr profitieren wir aber auch davon, wenigstens scheinbar. Es bietet nämlich auch eine ganze Reihe Vorteile, wenn sich diese bei genauerem Hinsehen auch als Belastungen erweisen mögen. Es ist wichtig, diese „Vorteile“ zu sehen und sich einzugestehen, denn wir halten nicht zuletzt deshalb am Kindlichen fest, weil wir sie nicht verlieren wollen. Die Frau, die als Kind Vaters Liebling war und sich deshalb (heimlich) größer und wichtiger vorkam als die Mutter, würde ihre Bedeutung, ihre Wichtigkeit verlieren, wenn sie als Erwachsene die Starrolle abstreift und nur eine normale Frau wäre. Ebenso Mamas Liebling: Wer wäre er noch, wenn er nicht mehr im Mittelpunkt stünde? Die Helferin, die sich für alle aufopfert und sich darüber beklagt, wie schwer sie es hat, wie sehr sie von allen ausgenutzt wird oder wie undankbar die Welt ist – wer wäre sie ohne ihre Klagen, wer wäre sie, wenn sie sich nur noch um sich selbst kümmern würde, anstatt für alles und jeden eine Verantwortung zu übernehmen, die nur eine scheinbare ist, weil sie sie gar nicht tragen kann?

Den größten Vorteil habe ich schon kurz erwähnt: Man ist, genau wie ein Kind, für nichts verantwortlich. Man kann ja nichts dafür, wenn man sich hilflos und handlungsunfähig fühlt, wenn der Chef plötzlich laut wird, oder wenn man sich wie ein kleiner Junge fühlt und wie dieser schuldbewusst und kleinlaut wird oder auch – je nachdem, wie das Kind in einem geartet ist – trotzig wird oder wütend aufbraust, wenn die Ehefrau einen moralisch zurechtweist. Klar, wenn das ein immer wiederkehrendes Muster ist, das einen vielleicht schon mehrmals den Job gekostet oder einen beruflichen Aufstieg verhindert hat oder schon mehr als einmal zum Abbruch von Beziehungen geführt hat (einmal reicht den meisten nicht, um zu erkennen, dass nicht nur die anderen schuld sind), dann beginnt man vielleicht, sich selbst in Frage zu stellen und sich über das eigene Verhalten zu ärgern. Man merkt vielleicht sogar, dass der Chef in dem Moment wie der Vater ist oder die Ehefrau wie die Mutter und ärgert sich im Nachhinein, dass man wieder einmal darauf hereingefallen ist und dem hilflos ausgeliefert war wie als Kind dem Vater oder der Mutter. Aber auch dann, in diesem Ärger über sich selbst, fühlt man sich noch als Opfer und hilflos. Denn was soll man machen, es kommt halt über einen! Ich würde ja gerne richtig erwachsen sein, aber es geht nicht! Das ist, in den meisten Fällen, nicht nur eine billige Ausrede, sondern es fühlt sich tatsächlich so an. Aber es fühlt sich nur so an, es ist nicht so. Das gilt es zu verstehen oder, besser gesagt, zu sehen. Im Sehen, im Angesicht der eigenen Kindlichkeit, im ganzen und vollständigen Sehen, löst sich diese auf. Sie löst sich auf, weil man in diesem Sehen erkennt, dass sie eine Illusion ist, dass man eben kein Kind mehr ist, dass die Kindheit vorbei ist. Dazu aber muss man sie zuerst ganz sehen, man muss sich selbst in seiner Kindlichkeit sehen und diesen Anblick aushalten.

Das ist keineswegs so leicht, wie es scheinen mag. Dafür gibt es (mindestens) zwei Gründe: Erstens den, dass mit diesem Sehen sofort die eigene Verantwortlichkeit auftaucht und bewusst wird; man kann nicht mehr länger unschuldig, klein und hilflos bleiben. Man ist zwar vielleicht nicht schuld an der Situation, in der man steckt, aber man kann selbst etwas tun, man kann seine Lage selbst verändern. Zweitens fühlt man mit diesem Kind, das man ja selbst einst war und das noch immer in einem steckt. Man fühlt nicht nur mit, sondern ist oft sogar völlig mit ihm identifiziert – man ist (so fühlt es sich jedenfalls an) dieses Kind. Um es anzuschauen und zu sehen, muss man aus dieser Identifikation heraustreten, man muss sich selbst als Erwachsenen wahrnehmen und das Kind vor sich sehen. Und dann muss man es aushalten, den Schmerz oder die Hilflosigkeit oder die Verwirrung, die Verlorenheit oder die Traurigkeit dieses Kindes, das man selbst war, zu sehen, ohne sich sofort wieder damit zu identifizieren. Das gelingt den meisten nicht von heute auf morgen und auch nicht ohne Hilfe von außen.

Der Lebens-Integrations-Prozess (LIP), den ich am Ende dieses Buches beschreibe, ist eine solche Hilfe. Bevor ich darauf näher eingehe, möchte ich das hier angerissene Thema jedoch zunächst einmal vertiefen. Denn der LIP ist nur eine Methode, um eine tiefere Wirklichkeit sichtbar zu machen. Auch wenn es, wie ich glaube, eine sehr gute Methode ist, so gilt auch für ihn das, was für alle Methoden gilt: Wenn wir sie und das, was sie ans Licht bringen, nicht tief verstehen, werden sie schnell oberflächlich.

2. Kapitel

STUFEN DER REIFUNG

Um sich darüber klar zu werden, was Erwachsensein psychologisch bedeutet und wie man dorthin gelangt, ist es hilfreich, sich die Unterschiede zwischen dem kindlichen, dem jugendlichen und dem erwachsenen Bewusstsein zu vergegenwärtigen. Dazu möchte ich zunächst die wichtigsten Stufen unseres Lebens und die inneren und äußeren Lebensumstände, die für die jeweilige Stufe gelten, näher betrachten und beschreiben.

Diese Lebensumstände sind nämlich sehr verschieden, je nachdem auf welcher Stufe wir uns befinden. Deshalb haben wir auf jeder Lebensstufe ein anderes Lebensgefühl, ein anderes Bewusstsein von uns selbst, unserer unmittelbaren Umgebung und der Welt insgesamt. Dieses unterschiedliche Bewusstsein hilft uns dabei, uns in der jeweiligen Lebenssituation orientieren und angemessen verhalten zu können. Ich unterscheide insgesamt sieben Lebensstufen, denen jeweils ein anderes Bewusstsein entspricht2.

Die Stufen 5 – 7 sind für das Thema des Erwachsenseins zunächst nicht wichtig, sie folgen ja erst nachher. Ganz unwichtig sind sie aber nicht, denn um das Erwachsensein zu verstehen, muss man geistig darüber hinausgewachsen sein – ebenso wie man die Kindheit als Kind zwar leben, aber nicht verstehen kann. In diesem Buch möchte ich mich aber darauf konzentrieren, wie sich das erwachsene Bewusstsein von den früheren Bewusstseinsstufen unterscheidet.

STUFE

LEBENSPHASE

BEWUSSTSEIN

1

Ungeborenes Kind

Symbiotisches Einheitsbewusstsein

2

Kindheit

Gruppenbewusstsein

3

Jugend

Ich-Bewusstsein

4

Erwachsener

Selbst-Bewusstsein

5

„Reifer“ Erwachsener (ab ca. 50)

Geist-Bewusstsein

6

Alter Mensch (ab ca. 65)

Wissendes Einheitsbewusstsein

7

Tod

Nicht- oder All-Bewusstsein

Im Mutterleib – Symbiotisches (unbewusstes) Einheitsbewusstsein

Unser Leben beginnt in der Einheit oder, genauer gesagt, der Symbiose (auf deutsch: dem Mitleben) mit der Mutter. Wir sind nicht nur mit ihr verbunden, wir sind ganz in sie eingelassen, fast wie ein Organ ihres Leibes. Aber nur fast – wir sind kein Organ, wir sind, wenn auch ganz eingebunden, etwas Eigenes, Fremdes, das in ihr wächst, um sie am Ende zu verlassen. Bis dahin wird der Fötus jedoch über ihren Blutkreislauf und ihren Stoffwechsel mit allem versorgt, was er braucht.

Die Geschichte aus dem Schlaraffenland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen und man absolut nichts zu tun braucht, ist in Wahrheit eine Geschichte aus dem Mutterleib. Wir entwickeln uns in dem Maße, in dem uns der mütterliche Organismus nährt. Und wir darben in dem Maße, in dem er uns nicht nährt. Alles Gute, das die Mutter zu sich nimmt, kommt auch dem Fötus zugute, ebenso aber auch alles Schlechte. Die Zigaretten, die die Mutter raucht, der Alkohol oder die Drogen, die sie zu sich nimmt, die Krankheiten, die sie vielleicht befallen und die Medikamente, die sie dagegen nimmt, erreichen auch das Kind, wenn auch in abgeschwächter Form. Die Natur hat mit dem Fruchtwasser und der Placenta einen Filter eingebaut, der vieles von dem Kind abhält oder abfedert, was die Mutter tut oder erleidet oder ihren Organismus belastet. Dennoch führt zum Beispiel starker Alkoholkonsum der Mutter zu erheblichen Schäden beim Kind. Das Gleiche gilt für die Sorgen, den Stress, die Gedanken, die Gefühle, die die Mutter hat – das Kind spürt sie und nimmt sie, wenn auch gedämpft, in sich auf. Das bedeutet keineswegs, dass werdende Mütter alles Belastende im Leben von sich fernhalten müssten, um dem Kind nicht zu schaden. Abgesehen davon, dass dies gar nicht geht, wäre es noch nicht einmal gut für das Kind, denn das Leben besteht nun einmal nicht nur aus Honig. Und wir werden schon im Mutterleib darauf vorbereitet und müssen dies auch werden, um im späteren Leben bestehen zu können.

Generell gilt jedoch: Wenn die Mutter gesund und gelassen ist, geht es auch dem Kind gut, weil es in Sicherheit ist; wenn sie krank ist, einen Unfall hat oder anderweitig körperlich oder seelisch gefährdet ist, ist auch das Kind gefährdet. Und wenn sie ernsthaft eine Abtreibung erwägt oder gar eine solche erfolglos versucht (was früher, als Abtreibungen noch illegal und nicht von spezialisierten Ärzten vorgenommen wurden, wohl häufiger vorkam, jedenfalls begegnet es mir gelegentlich in meiner Praxis) hinterlässt das beim Kind seine Spuren. Sein Leben hängt, im Guten wie im Schlechten, an dem der Mutter. Der Fötus selbst kann – dies ist für unser Bewusstsein ein entscheidendes Element – nichts für sein eigenes Überleben tun. Alles hängt an der Mutter.

Das bedeutet für unser vorgeburtliches Bewusstsein, dass es unmittelbar mit der Mutter verbunden ist. Wir werden später sehen, dass dies nicht alles ist, dass sich das Bewusstsein nicht nur als Anpassung an seine Umgebung entwickelt (entsprechend der materialistischen Doktrin „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“). Ein wichtiger Aspekt des Bewusstseins ist dies aber allemal, denn wir müssen lernen, die jeweilige Umgebung und Lebenssituation so einzuschätzen, dass wir überleben und uns orientieren können. Das gilt bereits für das ungeborene Kind. Es kann zwar nichts tun, aber genau dies: Nichts tun, kann es tun.

Ich habe viele Aufstellungen3