Das Leben ist eine Karawanserei - hat zwei Türen - aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus - Emine Sevgi Özdamar - E-Book

Das Leben ist eine Karawanserei - hat zwei Türen - aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus E-Book

Emine Sevgi Özdamar

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Beschreibung

Die Geschichte der Kindheit und Jugend eines türkischen Mädchens von seiner Geburt in Malatya, den zahlreichen Umzügen der ständig von Armut bedrohten Familie nach Istanbul, Bursa und Ankara. »Ein literarisches Ereignis« Süddeutsche Zeitung

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Emine Sevgi Özdamar

Das Leben ist eine Karawanserei · hat zwei Türen · aus einer kam ich rein · aus der anderen ging ich raus

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Emine Sevgi Özdamar

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

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Über Emine Sevgi Özdamar

Emine Sevgi Özdamar, geboren am 10. August 1946 in der Türkei.

 

Mit 12 Jahren erste Theaterrolle am Staatstheater Bursa im Bürger als Edelmann von Molière.

 

1965 bis 1967 Aufenthalt in Berlin, Arbeit in einer Fabrik.

 

1967 bis 1970 Schauspielschule in Istanbul.

Erste professionellen Rollen in der Türkei als Charlotte Corday im Marat-Sade von Peter Weiss und als Witwe Begbick in Mann ist Mann von Bert Brecht.

 

1976 an der Volksbühne Ost-Berlin.

Mitarbeit bei dem Brecht-Schüler und Regisseur Benno Besson und bei Matthias Langhoff.

 

1978 bis 1979 Paris und Avignon.

Mitarbeit an Benno Bessons Inszenierung Kaukasischer Kreidekreis von Bert Brecht. Aufgrund der vorangegangenen Theaterarbeit Doktorandin an der Pariser Universität Vincennes.

 

1979 bis 1984 Engagement als Schauspielerin beim Bochumer Schauspielhaus unter der Intendanz von Claus Peymann.

Im Auftrag des Schauspielhauses Bochum entstand ihr erstes Theaterstück Karagöz in Alemania, erschienen im Verlag der Autoren, Frankfurt. 1986 im Frankfurter Schauspielhaus unter eigener Regie aufgeführt.

Verschiedene Theaterrollen:

Lieber Georg von Thomas Brasch, Regie Karge/Langhoff; Mutter von Bert Brecht; Weihnachtstod, Buch und Regie Franz Xaver Kroetz, Kammerspiele München; Im Dickicht der Städte von Bert Brecht, Freie Volksbühne Berlin; Faust, Regie Einar Schleef, Frankfurter Schauspielhaus; Die Trojaner von Berlioz, Regie Berghaus, Frankfurter Oper; Drei Schwestern von Anton Tschechow, Théâtre de la Ville, Paris, Regie Matthias Langhoff, Die Troerinnen von Euripides, Théâtre Amandière, Paris, Regie Matthias Langhoff.

Verschiedene Filmrollen:

Darunter Freddy Türkenkönig, Regie Konrad Zabrautzky; Yasemin, Regie Hark Bohm; Airport, Rückflug nach Teheran, Regie Werner Masten; Eine Liebe in Istanbul, Regie Jürgen Haase; Happy Birthday, Türke, Regie Doris Dörrie; Die Reise in die Nacht, Regie Matti Geschonneck.

 

Seit 1982 freie Schriftstellerin.

Bibliographie

1982 erstes Theaterstück Karagöz in Alemania, erschienen im Verlag der Autoren, Frankfurt.

1991 zweites Theaterstück Keloglan in Alemania, die Versöhnung von Schwein und Lamm, Verlag der Autoren, Frankfurt.

2001 drittes Theaterstück Noahi, Verlag der Autoren, Frankfurt. Noahi bearbeitet die Arche-Noah-Geschichte im Rahmen des Projektes Mythen für Kinder und wird im Frankfurter Schauspielhaus uraufgeführt.

Erster Erzählband Mutterzunge, Rotbuch-Verlag, 1990.

Der Erzählband Mutterzunge gehört zu den Best Books of Fiction published 1994 in America (Publisher’s Weekly).

Erster Roman Das Leben ist eine Karawanserei hat zwei Türen aus einer kam ich rein aus der anderen ging ich raus, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1992. Der Roman erscheint außer in Deutschland auch in Frankreich, England, Griechenland, Katalonien, Finnland, den Niederlanden, Spanien, Polen, der Türkei, Norwegen und Kanada.

Ingeborg Bachmann Preis 1991

Walter Hasenclever-Preis 1993

Stipendium des Deutschen Literaturfonds 1992

New York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds 1995

International Book of the Year, London Times Literary Supplement, 1994

Zweiter Roman Die Brücke vom Goldenen Horn, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 1998 (auch als KiWi 554)

Arbeitsstipendium der Landeshauptstadt Düsseldorf

Adalbert von Chamisso-Preis 1999

Preis der LiteraTour Nord 1999

Im Frühjahr 2001 erschien ihr neuer Erzählband Der Hof im Spiegel

Künstlerinnenpreis des Landes NRW im Bereich Literatur / Prosa, 2001

Dritter Roman Seltsame Sterne starren zur Erde, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2003

Literaturpreis der Stadt Bergen-Enkheim, Stadtschreiberin 2003

Erhielt am 21. November 2004 den Kleist-Preis

Kunstpreis Berlin 2009 des Landes Berlin, von der Sektion Literatur der Akademie der Künste als Fontane-Preis verliehen

Verleihung der Carl-Zuckmayer-Medaille 2010

Alice-Salomon-Poetik-Preis 2012

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Über dieses Buch

Die Geschichte der Kindheit und Jugend eines türkischen Mädchens von seiner Geburt in Malatya, den zahlreichen Umzügen der ständig von Armut bedrohten Familie nach Istanbul, Bursa und Ankara.

 

»Ein literarisches Ereignis« Süddeutsche Zeitung

Inhaltsverzeichnis

Förderung

Das Leben ist eine Karawanserei

Dank

Die Arbeit der Autorin an dem vorliegenden Text wurde durch den Deutschen Literaturfonds e. V. gefördert

Erst habe ich die Soldaten gesehen, ich Stand da im Bauch meiner Mutter zwischen den Eisstangen, ich wollte mich festhalten und faßte an das Eis und rutschte und landete auf demselben Platz, klopfte an die Wand, keiner hörte.

Die Soldaten zogen ihre Mäntel aus, die bisher von 90000 toten und noch nicht toten Soldaten getragen waren. Die Mäntel stanken nach 90000 toten und noch nicht toten Soldaten und hingen schon am Haken. Ein Soldat sagte: »Mach für die schwangere Frau Platz!«

Die Frau, die neben meiner Mutter stand, hatte in einer Nacht weiße Haare gekriegt, weil sie hörte, daß ihr Bruder tot war. Sie hatte nur einen Bruder und einen Ehemann, den sie nicht liebte. Diese Frau nannte ich später im Leben ›Baumwolltante‹, und ab und zu mal, wenn ich ihr die Tür aufmachte, hörte ich von ihr: »Mädchen, du warst eine kleine Scheiße im Bauch deiner Mutter, als ich dich und deine Mutter den Soldaten im Zug übergab.«

Die Baumwolltante sagte zu den Soldaten: »Schützt diese Frau wie eure eigenen Augen. Ihr Mann ist auch Soldat, sie fährt zu ihrem Vaterhaus zurück für die Geburt. Wenn ihr diese unschuldige Frau bis zu ihrem Vater über euren Köpfen tragt, trägt Allah eure Mütter und Schwestern auch über seinem Kopf.«

Der Zug schrie, die Baumwolltante stieg aus und rief ins Zugfenster: »Fatmaaaa, keiner bleibt drin, alle kommen raus! Aber warte noch, bis du im Haus deines Vaters bist!« Der Zug fährt ab.

Damals war der Weg einfach, keiner wußte, wie die Berge heißen und wie die Flüsse heißen, man wußte, daß der Zug ›schwarzer Zug‹ heißt, und die Soldaten heißen alle Mehmet, und wenn sie in den Krieg geschickt werden, heißen sie Mehmetçik. Man holte sie mit dem ›schwarzen Zug‹ aus ihren Mutterschößen und schickte sie kopfrasiert auf die leeren Felder. Rauf, runter, Feuer. »Zwiebel«, schrie der Hauptmann, das heißt links, »Knoblauch«, schrie der Hauptmann, das heißt rechts, und »Abend« heißt, den Holzboden vom Hauptmann saubermachen.

Ich dachte im Bauch, mein Vater ist auch Soldat, sein Mantel stinkt wahrscheinlich wie die Mäntel hier. Ich werde später die Stinkvatertochter.

Der Berg stand draußen wie ein von einem großen Vogel gelegtes Ei und schaute auf den Bauch von Fatma, und der Fluß, der an dem schwarzen Zug vorbeilief, hatte sich entschlossen, die längste silberne Schlange zu sein, tagsüber zu fließen und die Lehrlingsjungs mit langen Baumwollunterhosen in sich baden zu lassen und nachtsüber in den Träumen der Mädchen zu fließen und mit ihnen zu sprechen.

Es ist Nacht geworden, die silberne Schlange blieb hinter den Bergen, und meine Mutter Fatma machte die Augen zu. Draußen zu sehen war nur der Wind, der den Geruch der in der silbernen Schlange gewaschenen frischen Knaben und den Geruch der Baumwolltante, die wie zu lange in einer Holztruhe wartende, gefaltete weiße Wäsche roch, mit sich trug und über die dünnen Dächer von ein paar einsamen Häusern schmierte. Der schwarze Zug fährt, und mit ihm der Wind wie eine wohnungslose Schnecke, die ihre Weisheiten und Bilder als glitzernde Spuren hinterläßt, die aber nicht mit den Händen der Menschen zu sammeln sind. Der Zug hält. Meine Mutter machte die Augen auf, ihr gegenüber saßen vier Soldaten, alle hatten Zigaretten zwischen Daumen und Zeigefinger, rauchten, in ihre feuchten nassen Mäntel gehüllt, still und schauten auf die schwangere Frau. Es klopfte am Fenster. Der Wasserverkäufer. Der erste Soldat zog das Fenster herunter, kaufte Wasser, gab es meiner Mutter, meine Mutter trank es, ich sagte im Bauch: Ich habe so viel Wasser hier, ich ertrinke hier, ohne meinen Vater gesehen zu haben, gib mal was zu essen her. Nichts kam, ich biß in eine Schnur und sah, daß auch meine Mutter kräftig in ihre Lippe biß. Ein Soldat machte große Augen und fragte: »Was ist, Schwester? Ist was?« Meine Mutter sagte: »Nein, es ist kalt hier.« Ich sagte im Bauch: Hier ist es auch kalt und dunkel und naß. Und so viele Sachen, an die ich immer mit meinem Kopf anstoße. Die Soldaten hatten das Fenster zugemacht und einen Soldatenmantel auf den Bauch meiner Mutter gelegt. Ich fiel in Ohnmacht und bin erst an einem Augusttag wach geworden und habe sofort geweint. Ich wollte wieder ins Wasserzimmer rein und den Film mit den Soldaten weitersehen, der Film war zerrissen, wohin sind die Soldaten gegangen?

Das neue Zimmer war sehr hell und sehr hoch, da saßen viele Frauen, und eine Biene guckte ins Fenster rein, auf mich, auf meine Beine. Meine Mutter sagte: »Sie streckt ihre Beine wieder aus dem Wickel raus. Mein Vater mag keine Kinder, die neu geboren sind, weil sie Katzenkindern ähnlich sind, aber beim Vorbeigehen hat er zufällig in die Richtung dieses Kindes geguckt, und seine Augen blieben auf dem Kind kleben, und er hat gesagt: ›Aman, Fatma, was für ein schönes Kind ist denn das?‹« Nach diesen Sätzen sind die Frauen gegangen. Sie stiegen auf das flache Dach und legten Getreide auf die Baumwolltücher zum Trocknen. Alle fünf Frauen waren Ehefrauen meines Großvaters, nur die Mutter meiner Mutter war nicht dabei, denn sie mußte sehr jung sterben. Während die fünf Frauen das Getreide auf den Tüchern verteilten, sah ich ihre Hintern wie fünf Vollmonde nebeneinander geklebt rauf- und runtergehen. Während die Vögel da im Himmel in der Nähe dieses Getreides ohne Angst vor diesen Frauen warteten und in die Augen der Frauen guckten, sah meine Mutter einen dieser Vögel an und dachte, vielleicht ist dieser Vogel meine gestorbene Mutter, sie hat Hunger und hat keine Zunge, das zu sagen. Und so fängt Fatma an zu weinen. Ich weinte auch laut, da verschloß meine Mutter meinen Mund und öffnete weit ihre Augen, guckte in meine Augen, sagte: »Weine nicht, weine nicht. Aus einem Haus ohne Mann soll man keine Kinderschreie hören!« Da habe ich noch lauter geweint, und meine Mutter hat mir eins über den Mund gegeben. Die Biene, die mich durch das Fenster gesehen hatte und gerade auf meinem nach Muttermilch riechenden Mundwinkel landen wollte, stieß in diesem Moment mit der Hand meiner Mutter zusammen. Sie sticht. Die Biene starb, meine Mutter schrie aus dem Fenster: »Mutter, ich brenne!«, und alle fünf Frauen auf dem Dach sagten im Chor: »Jede Frau brennt, wenn ihr Mann seit vier Jahren Soldat ist.« Ich und meine Mutter weinten, die fünf Frauen lachten, und ich schrie so laut, so laut, daß die Berge ihre Plätze wechselten, und alle meine Fingernägel gingen von meinen Fingern los, und die Frauen sagten im Chor: »Fatma, dein Kind liegt in den Krallen einer unheilbaren Krankheit. Weine nicht, bring sie zum Friedhof, leg sie in ein frisch gegrabenes Grab und warte. Wenn sie weint, dann lebt sie, wenn sie nicht weint, dann stirbt sie. Weine nicht! Allah hat gegeben, Allah wird nehmen. Wenn sie stirbt, geht sie direkt ins Paradies. Weil sie so dünn ist und noch keine Sünden hat, kann sie leichter fliegen, weine nicht!«

Dann haben die Frauen mich und meine Mutter auf den Friedhof geschickt, mit dem Pferdewagen, dessen Fahrer man den verrückten Hüseyin nannte, weil er den ganzen Tag arbeitete und ohne Pause schimpfte: »Ich ficke die Welt, gehen wir, ich ficke den Friedhof, ich ficke den Tod.«

Die kleinen Steine mit ihren schiefen Körpern standen da. Auf einem eine Schrift:

Als ich ging aus dieser Welt

reden wir nicht von Karawanserei und Bäder besitzen

uns genügte das Teilen des Tageslichts

reden wir nicht von Glücklichsein

das Hoffen reichte uns

nichts haben wir gefunden

die Melancholie haben wir uns geschaffen

sie tröstete uns nicht

oder vielleicht

waren wir nicht von dieser Welt

Und auf dem anderen Stein stand:

Tot ist Allahs Befehl, wenn nicht diese Trennung wäre.

Auf dem anderen ein anderes Gedicht:

Es war kein Problem für ihn

to be or not to be,

eines Abends hat er geschlafen, ist nicht wach geworden,

was für ein Wind, er ist verschwunden,

sein Name ist mitgegangen.

Meine Mutter hat mich in eine frisch gegrabene Grube gelegt und über mir gestanden. Da sie eine dunkle Frau war, sechzehn Jahre alt, mit schwarzen Haaren, schwarzen Augen, sah sie aus wie ein dunkler Friedhofsbaum, der über ein Kind einen Schatten legt. Ich guckte auf ihre Augen und machte meine Augen zu, meine Mutter lief schnell weg, die Sonne kam über mich, ich machte langsam die Augen auf und lag da und überlegte, ob ich in der Grube still bleibe oder laut weine und meine Mutter zurückhole. In der Grube war es still, schön, die Erde war naß, weil ich gerade gepinkelt hatte. Ich machte die Augen zu, Himmel, weck mich nicht, ich schlafe. In diesem Moment klatschte jemand in die Hände, klack, klack und sagte: »Huuuuuuuh.« Ich machte die Augen auf, sah eine Frau, eine sehr, sehr fremde Frau, sie hatte keine dunklen Augen, sie hatte blaue Augen, gelbe Wimpern, gelbe Augenbrauen, Wangen wie zwei Apfel, denen die eine Hälfte fehlte, und ein paar Bartstücke auf ihrem Kinn. Neben ihr stand ein Junge, drei Jahre alt, er fragte sie: »Großmutter, ist sie meine Schwester?« Die Frau sagte: »Ja.« Gleichzeitig legte sie sich auf ihren Bauch, auf die Erde, streckte ihre Hand zu mir ins Grab, wollte mich aus dem Grab rausholen, ihre Hände reichten nicht, sie schaute rechts und links, rief: »Fatma, komm, nimm meine Enkelin raus!« 1, 2, 3, 4 … nichts rührte sich außer zwei Blättern, die aus den Bäumen ruhig herunterregneten, die Frau stieg in das Grab, rutschte und setzte sich auf ihre Knie, stützte sich auf ihre Hände wie eine Katze. Ihr Gesicht stand meinem gegenüber, gerade in diesem Moment sah ich ihre goldenen Ohrringe an ihren Ohren wackeln und zog der Frau ihren linken Ohrring kräftig herunter. Das Ohrloch verlängerte sich zu einem Riß, und der goldene Ohrring blieb an dem Ohrriß hängen, und Blut tropfte auf die Erde. Die Frau sagte: »Mutter!«, und mit der linken Hand, mit der sie ihren Körper stützte, faßte sie ihr Ohr und fiel mit ihrem Oberkörper über mich. Ich fing an zu weinen, die Frau sagte wieder: »Mutter!« Dann sagte sie: »Hast du gepinkelt?« Die Frau hielt mich mit ihrem linken Arm, mit dem rechten Arm zog sie sich ihre lange Unterhose aus, wickelte mich da rein, hob mich aus dem Grab und legte mich auf die Erde. Ich weinte laut, die Frau wartete im Grab, ohne Unterhose, daß jemand ihr die Hand gibt. Ich lutschte weinend an meinen nagellosen Fingern, da kam der Kutscher, der verrückte Hüseyin, gab ihr die Hand, sagte: »Hier nimm meine Hand, ich ficke meine Hand, ich ficke deine Enkelin, ich ficke das Grab.«

 

Dem Tod gestohlen in Anatolien von einer himmelaugigen Frau namens Ayşe, saß ich vor einem Photographen, mit meinem Vater, meiner Mutter, meinem zwei Jahre älteren Bruder auf den Knien dieser himmelaugigen Frau, meiner Großmutter, Mutter meines Vaters aus Kapadokia, am Meer in Ĭstanbul, ließ mich photographieren mit einer kleinen Tasche in der Hand, und die Fingernägel waren auch wieder da.

Dann habe ich das Meer gesehen. Draußen stand das Meer, das unbarmherzige, das schöne, mein Vater stand da und sagte zu den Wellen: »Das Meer ist wie eine Frau. Wann sie hochkommt, wann sie sich zurückzieht, weiß ein Mann nie.« Meine Mutter nahm ihre Tasche von ihrem rechten Arm auf ihren linken Arm, die kleinen Schiffe schauten rechts und links, fuhren schnell von einem Ufer zum anderen, bevor die großen Schiffe kamen. Ein großes Schiff war sehr nervös, es schrie und hörte nicht auf. Nachdem man es im Hafen anbinden konnte, spuckte es aus seinem Mund die Bauern raus zum Hafen: Männer, die wie Bergziegen aussahen. Sie trugen ihre aufgerollten Betten auf ihren Köpfen und schauten die Leute an, die am Hafen standen. Nach ihnen kamen die Kühe, die Esel, die Hühner, ein Truthahn und die Läuse und die Wanzen. Meine Großmutter klatschte in ihre Hände, sagte: »Willkommen!« Und der Truthahn stieg auf ihren Kopf und pickte an ihrem Kopf, ihr Kopftuch löste sich und flog ins Meer. Die Läuse verteilten sich langsam in der ganzen Stadt, es kam die Polizei, und die Polizisten gossen Benzin auf den Boden, machten ein großes Feuer. Manche Läuse brannten, pattapattapat, die Bauern versuchten sie zu sammeln, die Tiere und die Bauern mit ihren Betten und ihren brennenden Füßen warfen sich ins Meer, das Schiff löste sich schnell vom Hafen. An seinem weißen Körper spielten die Schatten des Feuers, in dem die Läuse brannten, das Schiff ging in den Nebel, das Feuer ging aus, der Mond kam, und am Hafen stand ein Schild: Läusehafen.

In der Nacht stand ich vor dem Fenster im Nachthemd, mein linker Zeigefinger zwischen meinen Zähnen, aus den entfernten Minaretten sangen die Männerstimmen das Nachtgebet, es mischte sich mit dem Bellen der Hunde, die in Gruppen von einer Gasse zur anderen zum Kampf mit den anderen Hunden zogen. Meine Großmutter sagte: »Komm, schlaf, wenn du nicht schläfst, wird die Nacht auch nicht schlafen und weckt ihre Geister.« Sie schnarchte dann leise, aus dem anderen Zimmer kam vom Grammophon eine Männerstimme. Sie sang: »Warum habe ich ausgerechnet diese unbarmherzige Frau geliebt, sie hat mir den Geschmack dieses Lebens vergiftet.« Mein Vater hörte dieses Lied mit vielen »Ach, ach, ach«, seine Ach-Stimmen wärmten mich im Bett, zwischen uns eine geschlossene Tür. Unter einer Bettdecke mit der nassen Stimme des Meeres, die wie ein Hausgeist immer im Zimmer rumlief, machte ich ein Auge zu, das andere ließ ich etwas auf, um unseren Hausgeist zu betrügen. Ich wollte ihn sehen, beim Warten wurde mein Körper zu Stein, als Stein schlief ich ein, irgendwann konnte ich nicht atmen, ich sah eine Frau, sie saß auf meinem Mund, auf meiner Brust lag ein Berg, den ich nicht mit den Händen wegschieben konnte. Die Frau, die auf meinem Mund saß, hatte Flügel. Sie flog im Zimmer hin und her und setzte sich ans Fenster, sie sprach zu mir: »Ich gehe jetzt, ich laß das Fenster auf, damit du glaubst, daß ich hier gewesen bin«, und dann flog sie weg. Sie hatte ein sehr schönes Gesicht. »Großmutter, der Geist war da, eine Frau.« Großmutter sagte: »Sie heißt ALKARSI.« Ich sah, daß das Fenster offen war, aus der Richtung vom Läusehafen brachte der Wind unklare Stimmen, oder vielleicht weinten die Tiere. Ich legte mich wieder in das kalte Bett, als Stein schlief ich ein. Am nächsten Morgen wollte ich raus aus dem Zimmer, die Tür ging nicht auf. Ich klopfte an die Tür, sagte: »Mutter, die Tür kann ich nicht aufmachen.« Die Mutterstimme sagte: »Die Tür muß nicht aufgehen, du und deine Großmutter, ihr bleibt acht Tage in dem Zimmer, ihr habt Läuse von Bauern mit nach Hause geschleppt, kocht eure Wäsche, eure Bettlaken, wascht eure Haare und Körper mit Essig, dann kommt ihr aus dem Zimmer raus.« Ich und meine Großmutter kratzten uns eine Weile selbst, dann kratzte ich ihren Rücken, sie kratzte mir meinen Rücken. Großmutter sagte: »Laß uns gehen.« Wir knoteten unsere Bettlaken zusammen, kletterten aus dem Fenster und gingen zum Friedhof, wir verbrannten unsere Bettlaken dort. Großmutter sagte: »Das Feuer, das du hier siehst, ist siebenmal mit kaltem Wasser gewaschenes Feuer, wie das Feuer in der Hölle, das Höllenfeuer ist siebenmal mehr Feuer als das Feuer hier.« Wir liefen zwischen den Grabsteinen, es kamen plötzlich sehr fremde Buchstaben aus dem Mund meiner Großmutter heraus, stellten sich nebeneinander, so:

 

»Bismillâhirrahmanirrahim

Elhamdü lillâhirabbil âlemin. Errahmanirrahim, Mâlüki yevmiddin. Iyyakenà ’büdü ve iyyake nestè’in. Ihdinessıratel müstekıym; Siratellezine en’amte aleyhim gayril mâgdubi aleyhim veleddâllin. Amin

Bismillâhirrahmanirrahim

Kül hüvallahü ehad. Allahüssamed. Lem yelid velem yüled. Velem yekûn lehu küfüven ehad. Amin«

 

Als die Buchstaben aus dem Mund meiner Großmutter im Himmel des Friedhofs eine schöne Stimme und ein schönes Bild wurden, pustete meine Großmutter sie mit ihrem Atem nach links und rechts. »Die Toten brauchen es.« Ich sah die Buchstaben, manche sahen aus wie ein Vogel, manche wie ein Herz, an dem ein Pfeil steckt, manche wie eine Karawane, manche wie schlafende Tiere, manche wie ein Fluß, manche wie im Wind auseinanderfliegende Bäume, manche wie laufende Schlangen, manche wie unter Regen und Wind frierende Bäume. »Großmutter, wo ist der Tod?« Meine Großmutter sagte: »Der Tod ist zwischen Augenbrauen und Augen, ist das weit weg?« Dann lief sie von einem Tod zum anderen, pustete weitere Buchstaben aus, Bilder, die jetzt unter der Sonne wie Bilder aus Licht aussahen, dabei hielt sie ihre Hände vor ihrer Brust offen, als ob sie gerade zwei kleine Wassermelonen tragen würde. Ich hielt meine Hände so wie sie und trug darin die Schatten der Friedhofsbäume und vorbeifliegenden Vögel von einem Toten zum anderen. Dann kam der kleine Wind, nahm im Vorbeigehen unsere Schweißperlen mit, wir setzten uns auf die Totenerde, die Sonne auf unseren Beinen. Großmutter nahm eine Pflanze, zerdrückte sie zwischen ihren Fingern und roch daran, dann legte sie ihre Hand wieder auf die Erde, wir schauten auf die Erde, dann kamen die Stimmen der Jungen, die in der Nähe auf der Straße spielten, die Stimmen gingen hoch in den Himmel, dann landeten sie wie die Sterne auf unseren Füßen auf dem Friedhof. Ich sah auch ihren Ball hoch in den Himmel gehen und dann wieder herunterkommen, lautlos. Langsam mischten sich unsere Schatten mit Totenschatten, Ameisen kamen, setzten sich auf meine Spielwunden, dann kamen die Friedhofskatzen mit ihren überfahrenen Beinen, zerkratzten Mündern, blinden Augen, blutenden Nasen, abgeschnittenen Schwänzen, mit ihren fleischlosen Körpern legten sie sich auf diese toten und lebendigen Schatten, saßen da mit ihren Mündern ohne Zunge.

Dann kam der Friedhofsnarr Musa mit einem Lenkrad in der Hand und sagte zu einem Totenstein: »Als du über mich laufen konntest, warst du froh, jetzt bist du unter mir traurig, du hast schöne Sachen gegessen vorher, jetzt unter mir essen die Würmer dich. Die Menschen schlafen im Leben, wenn sie tot sind, werden sie wach. Die Erde sagt dem Toten bittere Wörter. Wenn die Erde still ist, kommt ein Engel, sagt zu dem Toten: ›Schreibe dein Leben‹, der Tote wird ihm sagen: ›Hier habe ich weder Tinte noch Papier.‹ Der Engel wird ihm sagen: ›Dein Totentuch ist dein Papier, deine Spucke ist deine Tinte.‹ Und der Engel wird ein Stück von dem Totentuch schneiden und es dem Toten geben. Auch wenn der Tote nicht lesen und schreiben konnte, als er lebte, wird er sofort anfangen, seine Sünden und seine guten Taten zu schreiben, und der Engel wird das Geschriebene an seinen Hals hängen. Dann werden zwei ungeheuer schreckliche Engel kommen, sie werden aussehen wie die Menschen, mit ihren Zähnen werden sie die Erde aufmachen, ihre Wörter sind wie Donner, ihre Augen wie der Blitz, sie haben Peitschen aus Eisen, sie werden durch die Nase des Toten in seinen Körper reinkommen und werden ihm sehr schnell Fragen stellen. Wenn er antworten kann, werden sie ihn in Ruhe lassen, er kann aufstehen und vor den Türen, die sich ihm zeigen, weinen. Hinter den Türen werden sie ihm neue Fragen stellen. Wenn er gut antworten kann, wird er bis zum siebten Himmel gehen, um mit Allah zu sprechen. Vorher aber wird er hundert Jahre im Feuer, dann hundert Jahre im Licht, dann hundert Jahre im Wasser, dann hundert Jahre im Schnee, dann hundert Jahre in der Kälte laufen.«

»Allah soll dir Gutes geben«, sagte meine Großmutter zu Musa. Musa zitterte und zitterte so lange, bis wir auch anfingen zu zittern. Alle unsere Wanzen kamen aus unseren Körpern und Haaren heraus und gingen zu Musas Füßen. Da kamen Musas Wanzen auch heraus, alle Wanzen fingen an, um ihn herumzulaufen. Die Ameisen mischten sich mit den Wanzen und drehten Runden. Den Vögeln, die über uns flogen, fielen die Federn aus den Körpern, die Vogelfedern und die dunklen Blätter von den Friedhofsbäumen drehten sich um Musas Füße.

»Gib mir eine Zigarette.« Meine Großmutter gab ihm eine, sagte: »Rauch, Musa, rauch, das nimmt dir dein Herzbrennen, das setzt dein Herz wieder auf seinen Platz.« Musa nahm die Zigarette, er paffte hintereinander an der Zigarette, und bei jedem Paffen wechselte er die Zigarette von einem Finger zum anderen. Die Großmutter sagte: »Warum rauchst du mit fünf Fingern?« Musa sagte: »Weil ich keine sechs Finger habe.« »Paß auf das Kind auf! Ich gehe hinter den Baum«, sagte meine Großmutter. Ich hörte ihr Pinkelgeräusch. Mit meinem Ohr war ich bei der Großmutter, mit meinen Augen sah ich ein Stück Fleisch in Musas Hand, das er aus seiner Hose genommen hatte. Er fragte mich: »Ist das schön?« Ich blieb einfach da, und die weiße Farbe von dem Stück Fleisch kam in meine Nähe, wurde größer. Musa hatte ein Lächeln auf seinem Mund, das Geräusch vom Pinkeln der Großmutter hörte ich nicht, aber ich sah wieder den Ball von den Jungen, die in der Nähe auf der Straße spielten, Richtung Himmel hochgehen und lautlos wieder herunterkommen. Da kam die Stimme meiner Mutter, sie rief nach mir. Ich sagte zu Musa: »Schön.« Meine Großmutter sah Musas Fleisch in seiner Hand und sagte zu ihm: »Musa, dein Fleisch soll in deinen Mund fallen, hast du keine Angst vor Allah. Wenn eine Schlange das sieht, wird sie sich schämen und in ein Loch zurückziehen. Was lehrst du das Kind so früh?«

Ich drehte mich um zu der Stimme meiner Mutter. Meine Mutter Fatma sagte: »Die Amerikaner kommen! Wir gehen Amerikaner schauen.« Meine Mutter nahm mich an die Hand, die Großmutter kam hinter uns her, und der Narr Musa lief vor uns. Wie auf dem Wind getragen sind wir von dem Friedhof auf die Straße gegangen. Viele Leute klatschten in die Hände. Die, die keine Hände hatten, dirigierten die Leute, die die Hände hatten, mit ihren Zungen. Die jungen Männer in staubigen roten Kleidern mit ihren runden Musikinstrumenten drehten sich zu den Mädchen um, zu denen auch der Hauptmann hinschaute. Manche Mädchen, zu denen der Hauptmann nicht hinschaute, schauten die Mädchen an, zu denen der Hauptmann hinschaute. »Amerikaner kommen.« Schwarze, große Autos, vor ihren Fenstern Vorhänge, zogen vorbei. Ein uniformtragender Gendarm neben mir umarmte einen Mann in Zivil, der gerade vor seinem Laden stand, und drückte seinen Körper auf den Unterkörper des Ladenbesitzers. Aus einem schwarzen Auto winkte ein weißer Frauenhandschuh und eine Offiziersmütze aus Gold zu den Leuten. Es waren keine Amerikaner, es waren der persische Schah Reza Pahlavi und seine Frau. Hinter ihnen kam eine amerikanische Familie zu Fuß, sie hatten große Hintern, sie sagten: »Bevor wir in euer Land kamen, haben wir zwei Monate vorher unsere Autos verlassen und das Laufen geübt, because wir wußten, daß man eure Kultur nur zu Fuß besichtigen kann, good bye, good bye.«

»Was ist ein Amerikaner, Mutter?« fragte mein Bruder Ali meine Mutter. Meine Mutter sagte: »Ein Amerikaner ist ein Mensch, der nicht zu essen braucht, es gibt Tabletten als Essen, Amerikaner schlucken eine Tablette, das ist für sie Mittagessen, abends schlucken sie wieder so eine kleine Tablette, das ist das Abendessen.«

»Ketzererfindung«, sagte meine Großmutter, »bald wird es Steine aus dem Himmel auf unsere Köpfe regnen.« Zu Hause sagte mein Vater nach dem Essen zu meiner Mutter: »Hast du Schmerzen? Kinder, wir gehen zum Zahnarzt.« Sie gingen, und meine Großmutter sagte: »Sie sind ins Kino gegangen. Sie gucken sich die nackten Menschen an, sie werden in der Hölle brennen, aber du kannst sie retten.« »Warum ich, Großmutter?« »Hast du denn Sünden? Du hast keine. Dein Sündenheft ist leer. Du hast zwei Engel, auf deiner rechten Seite steht der Engel, der deine guten Taten in ein Heft schreibt, der auf deiner linken Seite stehende Engel schreibt deine Sünden. Der Tag, an dem die Menschen ihre Mütter und Väter nicht mehr erkennen, ist der Jüngste Tag. Die Berge fangen an, wie die Wolken zu fliegen, die Meere werden zu den anderen Meeren laufen, die Sonne wird schwarz, die Hälfte der Welt wird sich über die andere Hälfte klappen, die Sterne werden nebeneinanderstehen, der Himmel wird zu einer sich drehenden Mühle, das Leben wird aus den Mündern der Lebendigen wie ein Vogel fliegen. Wenn alles tot ist, wird Allah den Himmel in seine rechte Hand und die Erde in seine linke Hand nehmen und ihnen sagen: ›Du Schuft Welt, wo sind die, die geglaubt haben, daß die Welt ihnen gehört, und wo sind die, die denen geglaubt haben, die Welt gehöre ihnen? Wo sind sie?‹ Alle Toten der Welt werden aufstehen, Vater, Mutter, Kinder, Weinende werden sich auf einem Platz sammeln. Jeder Tote wird dreißig Jahre alt sein. Dann werden unsere Engel mit den Heften kommen. Wenn man an der Reihe ist, werden die Engel aus den Heften die Sünden und die guten Taten lesen. Auf einer Waage werden sie deine Sünden und die guten Taten wiegen. Wenn deine Sünden schwerer sind als deine guten Taten, wird man dich zu einer Brücke bringen. Eine Brücke, dünn wie ein Haar, scharf wie ein Messer, du wirst barfuß laufen. Wenn du diese Brücke bis zum Ende laufen kannst, wirst du ins Paradies gehen. Dort wirst du dich unter einem Baum hinlegen, in den Himmel schauen. Wenn du an eine Wachtel denkst, wird eine gebratene Wachtel in deinen Mund fallen. Wenn dir die Brücke deine Füße abschneidet, wirst du von der Brücke runter direkt in die Hölle fallen. Der Teufel wird lachen und wird die Brennenden zählen.«

»Wie kann ich meinen Vater und meine Mutter retten?« »Im Kino vergessen sie Vater und Mutter, sie gehen hinter den Schatten her, sie glauben an diese Schatten, die den richtigen Menschen ihre Gesichter wegnehmen. Wenn sie an diese Schatten glauben, wie können sie den nächsten Tag an die richtigen Menschen glauben, vor denen Respekt haben? An dem Jüngsten Tag, wenn dein Vater und deine Mutter barfuß über diese Brücke laufen, und die Brücke schneidet ihnen die Füße, Blut tropft in die Hölle, kannst du als sündenloser Engel mit zwei Flügeln fliegen, deine Mutter und deinen Vater rasch auf deinen Rücken nehmen, ins Paradies tragen. Dann kannst du wieder zurück zur Brücke, und dann nimmst du mich auf deinen Rücken, aber ich denke, meine acht gestorbenen Kinder werden auch da sein.«

»Warum sind deine Kinder gestorben, Großmutter?« »Was weiß ich, das Mädchen saß da so und winkte mir. Ich hatte eine rote Scheibe Wassermelone in der Hand, dachte, sie will wahrscheinlich die Melone. Ich bin zu ihr gegangen, da hat sie mit ihrer Hand gewunken, der Melone Wind gemacht, dann hat sie die Augen zugemacht, ich dachte, sie schläft, nein, sie war tot. Ich habe Allah gesagt, Allah, laß meinen Sohn leben, egal, wenn er auch verrückt wird, laß meinen Sohn mir. Allah wird mich gehört haben, er hat mir deinen Vater im Leben gelassen, aber er ist verrückt. Wenn er nicht verrückt wäre, was suchte er dann in dieser Großstadt? Ich habe meinen letzten Mann verlassen, die Tiere verlassen. Ich habe mir gesagt, einen Mann kannst du immer finden, einen Sohn kannst du nicht mehr finden. So habe ich mich hinter deinem verrückten Vater auf den Weg gemacht. Ich bin jede Nacht in meinem Dorf, nur im Traum, ich sehe meinen Vater, Mutter, wir hatten vor unserem Haus viele, viele Walnußbäume, tagsüber haben wir gearbeitet, wenn die Dunkelheit kam, haben wir uns unter diese Walnußbäume gelegt, neben mir mein Vater, meine Mutter, gegenüber unseren Füßen lagen mein Neffe, sein Vater, seine Mutter. Wenn die anderen schliefen, fanden sich von mir und von meinem Neffen die Fußzehen zusammen. Wenn wir auch in den Schlaf fielen, haben unsere Fußzehen weiter miteinander gespielt, er ist auch jung gestorben.«

»Wird er auch mit uns ins Paradies kommen, Großmutter?«

»Er wird da sein, meine anderen drei Männer werden auch da sein.«

»Mit welchem Mann wirst du ins Paradies gehen, Großmutter?«

»Was weiß ich. Der erste war so ein netter Mann, er ging in den Krieg, kam zurück, hatte eine offene Wunde. Die Würmer gehen hin und her auf seinen Wunden. Er nahm sich die Nacht als Freundin, schlief mit ihr. Als er starb, konnte man ihn aus den Händen der Nacht nicht herausnehmen. Er ist mit der Nacht begraben. Jedes Stück Nacht, das mit den Toten geht, nimmt uns von unserem Schlaf etwas weg. Der zweite, Hüseyin, er war der Vater deines Vaters, hatte so eine schöne Stimme, er ist in die Großstadt gegangen, hat auf den Baustellen gearbeitet, sie schliefen auch in diesen offenen Häusern. Er kam sieben Jahre nicht, dann kam er mit ein paar Metern Stoff zurück. Er sagte: ›Ayşe, ich lege mich etwas hin.‹ Seine Nieren sollen in der Kälte verfault sein. Er nahm, bevor er sich hinlegte, aus der Erde ein paar Ameisen, legte sie auf seine linke Hand, die Ameisen gingen in seiner Hand hin und her, so als ob Hüseyins Hand ihre Erde sei. Er ist da im Schlaf weggegangen in die andere Welt. Der dritte, der Şükrü, der ist auch in die Großstadt arbeiten gegangen, dort haben die Huren ihm gezeigt, wie viele Türen die Welt hat. Er kam zurück ins Dorf, dann kam die Nacht, dann hat er mich im Bett über sich genommen, das hatte er von den Huren gelernt. Da sind meine Beine von der Erde hochgeflogen, ein Feuer aus meinen Füßen ist wie ein Pfeil durch meinen Körper durch und aus meinem Kopf gegangen. Mein Leben ist mit seinem ganzen Herzen in das Feuer gesprungen. Das Fleisch der Männer hat vor meinem Fleisch gezuckt.«

Mein Bruder Ali fragte: »Großmutter, warum hängen deine Brüste unter deinem Bauch?«

»Ali«, sagte meine Großmutter, »wenn ein Wolf alt wird, wird er zum Spielzeug der kleinen Hunde. Kratz meinen Rücken etwas. Ihr scherzt so mit meinem lebendigen Fleisch, wer weiß, was ihr mit meinem toten Fleisch tut, wenn ich die Augen zugemacht habe. Kratz meinen Rücken etwas.«

Im Bett kratzten wir ihren Rücken, zogen ihr ihre Brüste noch mehr herunter. Die Großmutter nahm unsere Hände und legte sie über ihren Bauch, dann wackelte ihr Bauch unter unseren Händen, so hörten wir zusammen ein Wassergeräusch in ihrem Bauch. »Das sind meine Geister. Sie sammeln sich in meinem Bauch.«

»Warum hat mein Bauch keine Geister, Großmutter?«

»Wartet, bis die Welt sich noch paar Mal dreht, auch in eurem Bauch werden sich die Geister sammeln, Allah soll euch Gemütlichkeit geben.«

»Allah soll dir auch Gemütlichkeit geben, Großmutter.«

Draußen bellten die Hunde, die wieder zu anderen Hunden zu Straßenkämpfen eilten. Ich hing mich an eine Hundestimme, lief mit ihr mit über die gestorbenen Straßen, hinter mir die Wasserstimmen aus dem Bauch meiner Großmutter, und in einer Gasse aus Schweiß schlief ich ein. Am Morgen kam die Sonne, die Sonne guckte in meine Augen, ich guckte in ihre Augen. Dann mußte ich pinkeln. Ich wollte vom Bett herunter. Ich sah meine Füße im Himmel des Zimmers. Unsere Betten waren im Zimmer hochgeflogen, ich sah im Zimmer unter unseren fliegenden Betten drei Männer, acht Kinder, Kühe, Hühner, einen jungen Mann, in seinen Händen Walnußbaumblätter, Ameisenschlangen, zwei wie Menschen aussehende Engel mit Heften in ihren Händen, Wassermelonenschale, die Grabsteine, einen nackten Vogel, die Geister aus dem Bauch. Ich klatschte in die Hände und sagte: »Willkommen.« Meine Großmutter sagte im Schlaf: »Ha!« In dem Moment stiegen die drei Männer, die acht Kinder, die Tiere, die Grabsteine, die nackten Vögel, die Geister hintereinander hoch und gingen durch den offenen Mund meiner Großmutter wieder in sie hinein, und so kamen unsere Betten wieder herunter auf den Boden.

Ich ging die Treppe herunter, das Haus war krumm und aus Holz. Seine Treppen waren zum Teil verfault, aus den Löchern wuchsen Pilze, die Spinnen machten überall ihre Betten, wir töteten sie nicht. Mein Vater nahm eine Spinne oft in seine Hand, ließ sie über seine Hand laufen und sagte uns, sie sei unser gestorbener Bruder. Mich beschäftigte nur, was ich gemacht hatte und wo ich gewesen war, als dieser unser Bruder lebte und starb.

Ich ging an meinem Spinnenbruder vorbei, die Tür, aus der Oliven- und Teegeruch kam, war halb offen. Am Tisch saß mein Vater. Neben seinem Teeglas stand ein Spiegel, er nahm mit der Gabel vom Schafskäse ein Stück und brachte das in den Mund, dabei schaute er in den Spiegel. Dann nahm er das Teeglas und trank Tee, wieder in den Spiegel schauend. Meine Mutter hatte ihre langen Haare nicht mehr. Wo hatte sie ihre vielen Haare gelassen, jetzt sah sie so aus, als ob sie viele dicke Makkaronis auf dem Kopf trug, und eine Locke hing über ihrer Stirn und deckte eins ihrer Augen zu. Ihre Lippen rot, drei Reihen Perlen am Hals. Sie hatte ein glänzendes schwarzes Kleid, dessen Schultern zu breit waren. Mein Vater lief im Zimmer hin und her, auf dem Kopf einen Hut, er trug eine Sonnenbrille, und beim Gehen schaute er in den Spiegel, den er jetzt in der Hand hielt. Der Spiegel spiegelte meinen Vater und spiegelte sich selbst an den Wänden des Zimmers. Meine Mutter legte eine Schallplatte auf das Grammophon, aus dem eine sehr komische fremde Stimme ins Zimmer kam. Meine Mutter hielt ihre Hand über diese Platte, und es sah so aus, als ob sie ihre Hände über dieser Stimme wärmen würde. Dann nahm sie ein Glas Wasser und kippte ein halbes Glas Wasser auf den Kragen meines Vaters. Er faßte meine Mutter an ihren Makkaronilocken, küßte sie auf ihren Mund, ich trat ins Zimmer, mein Vater drehte sich mit seinem rot gefärbten Mund um und sagte: »Was lachst du, meine schöne Tochter, ich bin es, ich bin dein Vater.« Er holte aus seiner Jackentasche eine Photographie, unterschrieb sie und gab sie mir. Mein Vater sagte mir, er hieße Erol Flayn, dann ging er ans Fenster und sagte: »Chevrolet ist da.« Er ging aus dem Haus. Ich schaute aus dem Fenster raus, da sah ich Chevrolet. Sein Fahrer wartete, dann kam ein anderer Mann mit einem Hut, und meine Mutter sagte: »Ein Mann wie Humprey Pockart.« Der Humprey Pockart und mein Vater Erol Flayn haben sich begrüßt und sich im gleichen Moment Feuer gegeben. Ein Junge, der da auf der Straße war, zog aus seiner Tasche eine gelbe Wasserpistole und richtete sie auf die Männer. Mein Vater fuhr mit dem Chevrolet, und der Fahrer saß als Gast neben ihm, der Chevrolet pustete schwarze Wolken auf die Straße und verschwand. »Und das hier ist Frank Sinatra«, sagte meine Mutter, legte die Platte von neuem auf, tanzte mit mir und sang die Melodie von Sinatra mit den Sätzen: »Heute werde ich mit dir und deinem Bruder für euch Kleider kaufen gehen, die Baumwolltante kommt mit, tralala.«

Dann standen wir vor einem Schaufenster. Die Baumwolltante hatte eine warme Hand, auf der die Ameisen an einem sehr heißen Sommertag sicher gerne gespielt hätten. Meine Hand in der Hand der Baumwolltante, blickte ich in das Gesicht meiner Mutter, die ihre in weißen Handschuhen steckenden Finger an das Fenster drückte, um der Baumwolltante ein Kleid zu zeigen. Neben dem Gesicht meiner Mutter im Schaufenster stand das Gesicht eines Mannes. Er fragte im Schaufenster meine Mutter: »Gefällt es dir, soll ich es dir kaufen?« Die Baumwolltante ließ meine Hand los und klopfte mit ihrer Hand an das Schaufenster auf den Schatten dieses Mannes und sagte zu ihm: »Diese Frau ist die Frau eines Mannes, und er ist viel schöner als du.« Dann räusperte sie sich laut. Der Mann verschwand, unsere Schatten verließen das Schaufenster auch, vor uns die staubige Straße. Autos schimpften miteinander, die Pferde schimpften auf die Autos, die Straßenbahn schimpfte auf die Esel, Esel schimpften auf die Autos. Die Straße verstaubte die Grabsteine der heiligen Männer, zu denen die Frauen mit ihren buckligen Händen Kerzen brachten. Die am Rande der Straße stehenden Grabsteine guckten auf diese zu laut gewordene Straße, die ihnen das Totsein geraubt hatte.

Plötzlich schrie meine Mutter: »Chevrolet!«, und lief hinter einem Auto her. Und knick, der Absatz ihres rechten Schuhs ging kaputt. Sie hinkte mit ihrem kaputtgegangenen Absatz und sagte zur Baumwolltante: »Bring die Kinder nach Hause, ich geh zum Büro meines Mannes.« Wir fuhren mit dem Bus nach Hause, der sehr wackelte, und alle Mägen der Menschen flogen raus. Dann wieder rein, wenn der Bus anhielt, dann wieder raus. So stiegen wir aus, unseren Magen in unseren Händen, Baumwolltante sagte: »Wir haben noch, Allah sei Dank, alle unsere Organe.« Zu Hause saß mein Vater mit frisch gewaschenen Füßen in einer dunklen Ecke auf seinen Knien auf der Erde und hatte ein dickes Buch offen in der Hand. Er wackelte mit seinem Körper über dem Buch vor und zurück, das Buch Koran hing normalerweise über dem Bett meiner Eltern, wie ein Bild an der Wand. Baumwolltante sagte: »Den Koran kann er nicht lesen, das ist in arabischer Schrift.« Ich sah im Koran wieder die Bilderwörter, die meine Großmutter auf dem Friedhof zu den Toten gesagt hatte. Ein Buchstabe stand auf dem Blatt, wie die sehr schönen Augen einer Frau. Mein Vater blätterte das Blatt schnell um, weil es ihm bedrohlich wurde, und er wollte am liebsten so klein sein wie die Punkte, die über den Buchstaben standen. Da kam meine Mutter rein, einen Schuh in der Hand. »Ich habe dich gesehen, Mustafa, du saßt in der Mitte hinten im Chevrolet zwischen den Zwillingsschwestern, den Schauspielerinnen, deine Arme über ihren Schultern.« Mein Vater sagte: »Ich küsse den heiligen Koran, ich bin unschuldig. Der Fahrer kannte die Zwillingsschwestern. Sie kamen in mein Büro, tranken zwei gezuckerte Kaffee und haben mich gefragt, ob wir sie schnell zu einer Filmfirma fahren könnten, glaube mir. Schau, ich küsse den Koran, wenn ich lüge, soll Allah mir meinen Mund schief machen.« Am Abend versuchte meine Großmutter den schief gewordenen Mund meines Vaters wieder zurück auf seinen Platz zu bringen. Neben einer offenen Flamme saß mein Vater, schaute in die Flammen, Großmutter Ayşe drehte sich um das Feuer und um ihren Sohn Mustafa, warf Salz ins Feuer und spuckte auf das Gesicht meines Vaters Mustafa. Und dann spuckte sie in das Feuer. Da kam jemand und sagte: »Der Fahrer ist mit dem Chevrolet und den beiden Zwillingsschwestern nach Beirut abgehauen.« Mustafa sagte: »Ha!«, und der schiefe Mund kam an seinen Platz zurück, er spuckte in das Feuer, das Feuer ging aus, ein verbrannter Salz- und Spuckgeruch blieb im Zimmer. Ich erinnerte mich an den verbrannten Geruch viele Jahre später in einem Freiluftkino. Auf der Leinwand lief ein Film, er hieß: Das arme Mädchen, und in der Hauptrolle des armen Mädchens spielte eine von diesen Zwillingsschwestern, und der Film endete am Friedhof, wo sie starb, es schneite auch. Ich und mein Bruder Ali fingen an, laut zu weinen. Der Platzanweiser winkte mit seiner Lampe, damit wir aufhörten zu weinen, weil wir die älteren Zuschauer, die leise weinten, störten. Ich und Ali, wir schauten uns gegenseitig an und weinten noch lauter, Gesicht zu Gesicht, und wir wurden aus dem Freiluftkino rausgeschmissen.

Als der Chevrolet abgehauen war, ging Ali am nächsten Tag in die Schule. Er mußte auch beim Friedhof vorbeilaufen. Manchmal ging ich mit Ali bis zu seiner Schule. Beim Friedhof fingen wir an, lauter zu reden, aber mit großen Pausen zwischen unseren Sätzen. Ich kehrte allein wieder zurück. Die langen schlanken Friedhofsbäume hatten Augen, schauten auf mich. Ich zog meine Strickjacke aus, hielt sie in der Hand, da beugten sich die Bäume herunter und faßten meine nackten Arme, ich stand da und zog meinen Rock hoch, und die Bäume von den Toten streichelten meine Beine, hoch bis zu meinem Bauchnabel. Ein Straßenverkäufer schrie: »Wäscheklammernnnn!«, und die Bäume zogen sich zurück. Ich fing an zu rennen, ein Stück Glas von der Straße schnitt mir in den Fuß, das Blut lief vor mir durch die Gassen. Ein Mädchen kam und sagte: »Laß mich dein Blut lutschen.« Sie lutschte an meinem Fuß und schnitt sich selbst in den Finger und sagte: »Lutsch du jetzt!« So wurden wir Blutsfreundinnen. Lebenslang wollten wir uns gegen die anderen verteidigen. Wir haben von der Straße Streichholzschachteln und von gegessener Schokolade weggeworfenes Silberpapier gesammelt und ins Zimmer gebracht. Hinter der Tür nebenan sang meine Mutter mit dem Grammophon. Ich und meine Blutsfreundin zogen unsere Unterhosen runter und lagen auf dem Boden zwischen den am Tag gesammelten Schachteln und dem Silberpapier. Eine setzte sich auf die Stirn der anderen. Meine Großmutter fragte hinter der Tür meine Mutter: »Was machen die im Zimmer?« Meine Mutter sagte: »Sie spielen.«

Ich stand auf, manches Silberpapier hing an meinem Kleid, und ging aus dem Haus in den Garten. Da stand mein Bruder Ali, er hatte in der Hand eine fast leere Nagellackflasche. »Ali, wenn du mir die Fingernägel färbst, werde ich dir was erzählen.« Ali färbte meine Nägel rot. Ich und Ali schauten lange auf das Rot, dann guckten wir uns in unsere Augen. Rote Augen. Dann guckten wir lange in die Sonne, dann guckten wir in unsere Augen – goldene Augen, dann guckten wir auf die Bäume, dann guckten wir uns in die Augen – grüne Augen, dann guckten wir auf die Erde. Ali sagte: »Fang an!« Ich sagte nichts. Ali brachte einen Stein, sagte: »Gib mir die rote Farbe zurück.« Ich rieb meine roten Nägel an diesem Stein. Dann kam der Abend, der Abend starb. Ich und Ali nahmen, was wir aus der schwarzen Nacht klauen konnten, mit ins Haus hinein. »Mutter, wo ist Großmutter?« Fatma rollte zwischen ihren Händen Bouletten, Birch, birch. Sie sagte: »Sie spaziert am Hafen mit den Geistern Hand in Hand.« Auf dem Boden saßen die zwei armenischen Schwestern, die nie geheiratet hatten, Schneiderinnen, Freundinnen meiner Mutter. In einer ihrer Hände eine sehr große Schere, schwarz. Sie machte Kirtkirtkirt, lief über einen grauen dicken Stoff. »C’est un deux-pièces«, sagten sie im Chor. »Mutter, was heißt deux-pièces?« »Deux Pièce ist deux-pièces«, sagte meine Mutter. Die Fadenstücke hingen aus den Haaren dieser Geschwister ohne Männer herab. Ihre dünnen Zigaretten in ihren Mundwinkeln, ihre wie immer im Wasser stehenden Stimmen, ihr Lachen klebte sich an die Wände und Decken und mischte sich mit der Nässe des nahestehenden Meeresgeruchs. Ich schaute mit einem Auge, das aus Liebe zu diesen Frauen größer und schwärzer geworden war, auf diese Frauen, mit dem anderen Auge aus dem Fenster ins Dunkle. Ich wußte, mein Vater wird kommen. An seiner rechten Seite sein buckliger Freund, der bucklige Rıfat, unter dem linken Unterarm eine Rakı-Flasche, die sie Löwenmilch nannten. Alle werden essen, Rakıtrinken, und die Frauen werden singen. Mein Vater wird seine Augen zuschließen und seinen Mund auf und zu machen und still mit diesen Frauenstimmen mitgehen. An solchen Abenden aß ich nicht, ich hatte zu tun. Ich saß gegenüber der Wanduhr, die meine Großmutter, seit Ali in die Schule ging, lesen gelernt hatte. Sie konnte nur die Stundenzahlen sagen, für die Minuten sagte sie: »Es ist sieben, aber davor sind noch zwei Finger Zeit.« Jetzt saß ich vor dieser Uhr und wollte die Zeit anhalten und versuchte, mit meinen Blicken die schnellaufenden Beine der Uhr festzuhalten. Ab und zu schaute ich in die Hände und Gesichter der armenischen Schwestern, in die tiefgeschlossenen Augen des buckligen Rıfat, auf den wirbelnden Clark-Gable-Schnurrbart meines Vaters, wenn er sein Rakı-Glas an den Mund brachte, auf die schöne Nase und den Mund meiner Mutter. Dann schaute ich wieder zur Wanduhr. Die Qualen, daß ich die Zeit nicht anhalten könnte, brachten mich schnell in Ohnmacht, und ich schlief schon am Tisch ein. Ob sie von meiner großen Liebe wußten? Oder war ich vielleicht für sie nur das Mädchen, das am Tisch schläft? Meine Großmutter nahm mich auf ihren Rücken, um mich zum Bett zu bringen. Diese Frauenstimmen werden weitersingen, und die Männer werden mit ihren »Ach, ach, of« diesen Frauen zeigen, was mit ihnen los ist.

In der Nacht gestorben an der Liebe, besuchte ich am nächsten Tag mit meiner Großmutter die sterbende Frau, die hinter einer reichen Haustür im Korridor auf einem Bett lag. Da wohnte sie, eine Armenierin, die so dünn und klein war und im Bett wie eine auf den Rücken gedrehte Schildkröte lag. Großmutter saß, als ob sie einen halben Körper hätte, auf dem Bett, und die rechte Hand der Schildkröte lag in ihrer Hand. Großmutter sagte zu der Schildkröte, daß sie, wenn sie stirbt, ins Paradies gehen würde, sie hätte keine Sünden, weil sie in dieser verlogenen Welt nicht einmal ein richtiges Bett unter ihrem Körper gehabt hätte. Die Schildkröte sagte: »Iiiiii…« und faßte meine Hand mit ihrer linken Hand sehr fest. Da saßen wir, die Schildkröte, meine Großmutter und ich Hand in Hand. Draußen die Haustür geht auf und zu. Die hohen Absätze von Gehenden, Kommenden schlugen gegen den Steinfußboden, die Sonne fing an, auf den Treppen zu sterben. Die Schildkröte deutete mit ihren Augen unter das Kopfkissen, meine Großmutter suchte unter dem Kissen, was die Schildkröte wollte. Es war eine Dattel. Die Schildkröte dirigierte mit den Augen die Hand meiner Großmutter, die die Dattel in ihrer Hand hielt, bis zu meiner Hand. Ich bekam die Dattel, die alte Frau starb, eine Fliege machte vızzzzzz vızzzzzz vızzzzzz, die alte Frau ging ins Paradies, meine Großmutter stand auf, sagte: »Sie ist gerettet, wir gehen uns die Schiffe anschauen, schauen, wie viele heute ankommen, wie viele weggehen.«

Am Hafen pusteten die Schiffe die heute, die von der Arbeit nach Hause eilten, als Staubwolken aus. Die Schiffe nahmen die anderen wartenden heute auf. Ein Bauch, der seinen rausgepusteten Samen als gewachsene Kinder immer wieder hereinnahm, und im Bauch kriegten sie sofort Tee in kleinen Gläsern. Von der Sonne verschwitzt, guckten die Gesichter in diesem kälteren Raum im Halbdunkel auf die anderen Gesichter und ruhten sich aus.

Eine schlägt eine Zeitung auf, und die anderen lesen mit. Aus den Zeitungen tropfte immer viel Blut, mal aus dem Beil einer Frau, die im Schlaf ihren Mann in 33 Stücke geteilt hatte, mal aus dem Brotmesser eines Onkels, der seinen Neffen als Gast in seiner Wohnung wohnen gelassen hatte und der mit der Frau des Onkels an dem Tag alleine gewesen war. Und mal aus der Pistole eines sehr dünnen Mannes, der in einer dunklen Ecke einer Striptease-Bar saß und der die rosa gefärbte Watte an ihren Brustwarzen tragende Stripperin mit sich in die andere Welt nahm. Mal beim Rangieren eines Lastwagens, dessen Fahrer seine eigene Tochter, die hinter ihm hergehen wollte, nicht sah und diese mit den Hinterrädern an die Wand drückte. Das Blut aus den aufgeschlagenen Zeitungen machte das ganze Schiff voll, das Schiff schüttelte es aus den Türen ins Meer, und die Zeitungen schlugen die inneren Seiten auf. Die Photoromane über das Osmanische Reich – Schwarzweiß-Zeichnungen. Eine Mutter, eine Sultanin, bringt ihren eigenen Sohn mit Hilfe eines Negersklaven um. Der Sklave schneidet dem Kind den Kopf ab, die Sultanin liegt in Tüllkleidern auf den Kissen, der Kopf fällt, das Messer fällt auf die Teppiche der Sultanin, der Sklave liegt neben der Sultanin, und die Sultanin spricht dabei, wen sie demnächst töten werden, und darunter steht: Die Fortsetzung folgt morgen.

Einer der Leser ging aufs Klo, an der Decke der nach links und rechts wackelnden Schiffstoilette rollte der blutige Kopf eines Sultanssohns, und ein Tüllkleid lag im Gestank und in Urinflecken. Und die Samen der Leser schütteten sich auf sie. Der Kopf und das Tüllkleid verschwanden unter den Lesersamen durch das Loch ins Meer, das gerade die Blutstropfen zu Blau verdaute. Der Schiffskapitän ganz oben am Steuer sah das alles, er schüttelte seinen Kopf nach links und rechts und sagte: »Dieses Volk ist nicht begabt, Menschen zu werden.«

Aus einem ankommenden Schiff kam mein Vater Mustafa heraus. Er hatte in seiner Hand einen Blechkasten. Mustafa sagte: »Wasserfarben für dich und Ali, du gehst morgen in die Schule.«

Am Abend gingen Fatma und Mustafa ins Kino zu den Amerikanern, die mit einer Tablette satt werden können. Großmutter Ayşe ging mit einer Kerze zu der toten armenischen Frau. Ali und ich stellten unseren drei Jahre jüngeren Bruder auf den Tisch. Der kleine Bruder mußte nur zur Decke schauen. Wir färbten seinen kleinen Pipi mit den Wasserfarben. Unser kleiner Bruder lachte mit geschlossenem Mund, der wegen der zurückgehaltenen Lachwellen zitterte. »Guck auf die Decke, da fliegt ein Vogel.« Ali malte weiter auf ihm, mal die türkische Fahne, mal die amerikanische Fahne, mal die Farben einer Fußballmannschaftsfahne. Dann schickten wir den kleinen Bruder ins Bett, machten das Licht aus und nahmen durch das Fenster den Mond rein ins Zimmer, wir warfen uns auf den Boden und lachten, den Boden schlagend, lange, dann wollten wir weinen. Ich und Ali hatten zwei Schallplatten. Wir schmissen den Mond raus, machten die Vorhänge zu, legten erst Alis Lied auf das Grammophon. Eine Männerstimme sang das Lied: »Überall ist Dunkel, mein kummervolles Herz.« Mein Bruder Ali weinte laut, dann legten wir meine Platte auf. Eine Frauenstimme sang: »Falle in eine Liebe wie ich, und sieh, was Treueeee heißt.« Dann weinte ich. Gelacht und geweint, gingen wir zur Großmutter ans Bett, die mit ihren drei übereinandergezogenen Unterhemden dalag. Sie mußte uns dreimal dasselbe Märchen erzählen. In der Sahara läßt ein Mann namens Yezid die Enkelkinder von unserem Propheten Mohammed, den Hasan und Hüseyin, tagelang ohne Wasser. Sie starben mit den Wörtern »Wasser, Wasser« unter der Sahara-Sonne.

Dann schickte meine Großmutter mich ein Glas Wasser holen, weil ihre Gurgel getrocknet war. Ich ging die faule Holztreppe runter. Als ich Wasser sah, dachte ich, wie dieses farblose fließende Ding, wenn es nicht da war, den Hasan und Hüseyin umbringen konnte. Die Treppen wackelten unter meinen Füßen, das Wasser im Glas fing an zu zittern, als ob es sehr traurig darüber wäre, was es dem Hasan und Hüseyin angetan hatte.

Ich ging in die Schule. Die Lehrerin fragte alle nach ihren Namen und danach, wo sie geboren waren. Ich sagte: »Ich bin in Anatolien in Malatya geboren.« Die Lehrerin sagte: »Dann bist du Kurdin, du hast einen Schwanz an deinem Arsch.« Dann lachte sie, alle anderen lachten auch und nannten mich: »Kurdin mit Schwanz.« Ab dann saß ich ganz hinten und erzählte während des Unterrichts dem Mädchen neben mir das Märchen, das meine Großmutter mir eine Nacht vorher erzählt hatte. Die Lehrerin lud mich zur schwarzen Tafel ein, weil ich zuviel redete. Ich mußte jeden Tag mit zwei Jungen vor der Tafel auf einem Fuß stehen, dann machte die Lehrerin einen Schreibwettbewerb zwischen uns drei Kindern, ich gewann jedesmal, und ich konnte mich wieder hinsetzen und erzählte das Märchen dem Mädchen weiter.

Einmal mußte ich pinkeln. Ich hob meinen Zeigefinger hoch, die Lehrerin schaute mich mit einem Auge an und sagte: »Wieder du, schweig, sonst wird dein Kinn vom Sprechen herunterfallen.« Ich schwieg eine Weile, damit das Wasser in mir drin blieb, dann kam mein Pinkel und lief unten zwischen den Füßen der lernenden Kinder, dann kam die Scheiße. Dann ging es mir gut, dann kam Mittag, ich ging mit der Scheiße aus der Schule am Friedhof vorbei zu meiner Großmutter. Sie sagte: »Scheißen ist ein Geschenk Allahs.« Als Ayşe mich wusch, kam ein zwei Meter langer Mann, hinkend, mit einem Plastiksäbel in der Hand. Er schrie: »Allah, Allah«, und lief hinter mir her über die Holztreppen und durch die Zimmer. Er schnappte mich und schnitt mir mit dem Plastiksäbel meinen Kopf ab. Da kam meine Mutter und sagte: »Das ist dein Großvater, mein Vater aus Anatolien. Du fährst jetzt in Ferien, mit ihm nach Anatolien, zu der Stadt, wo du deine Augen zur Welt geöffnet hast.«

 

Der schwarze Zug kam bis zu unseren Füßen. Ich und mein Großvater Ahmet stiegen ein. Nach Anatolien.

Im Zug habe ich wieder die Soldaten gesehen. Als der Abend kam, haben die Soldaten mich in einen Soldatenmantel gehüllt und auf das Gepäcknetz gelegt und mit einem Soldatengürtel festgeschnallt. Ich schaute durch das Netz wie ein Vogel. Drei Tage, drei Nächte. Großvater und die Soldaten rauchten den Tabak, der wie sehr lange Mädchenhaare aussah. Soldaten sagten im Chor: »Großvater, erzähle!« Großvater sprach, und sein unrasierter Bart wuchs auf seinem Gesicht, und der Bart fing an, einen Teppich zu weben. Die Soldaten machten Feuer, um die Bilder des Teppichs zu sehen.

Am Anfang des Teppichs schneite es auf den Bergen. Auf denen lief mein Großvater als ein sehr junger Mann mit einem sehr jungen Mädchen und mit vielen Tieren. Ein Pferd fällt und stirbt im Schnee, und die Geier fliegen schreiend, der junge Großvater zog seinen Pfeil und rief den Geiern zu: »Geht, grüßt euren russischen Zar, den Pfeil wird er eines Tages zwischen seinen Augen finden. Ach, ich muß das Fand verlassen, Bluthunde, die Erde hat Ohren, die wird für mich Rache am Zar nehmen.« Auf dem Teppich lagen die sterbenden Tiere und zeichneten den Weg von Ahmet und der jungen Frau vom Kaukasus bis nach Anatolien. Gold fließt aus der Hand des Großvaters und verwandelt sich zu Feldern in dieser Stadt Malatya. Voll mit Aprikosenbäumen. Dann verlor ich meinen Großvater im Teppich zwischen dem hochgewachsenen Getreide und Mais mit seinen fünf Frauen und Kindern. Dann sah ich ihn im Teppich wieder, er fing an zu hinken, in den Flammen, die Handgranaten fielen, dann flatterte auf dem Teppich eine deutsche Fahne neben einer türkischen Fahne. Auf dem Teppich baute der Bismarck die Bagdadbahn bis zu den Ölfeldern durch die Türkei, und beim Durchbauen sah Bismarck die Stadt Pergamon und fragte höflich den Sultan, der aus Angst vor einem Widerstand des Volkes immer mit schlecht sitzenden Anzügen herumlief, weil sein Schneider nur aus der Entfernung Maß nehmen durfte. Bismarck fragte den Sultan höflich, ob er aus der Stadt Pergamon ein paar Steine als Andenken mit nach Deutschland nehmen dürfte. Der Sultan sagte: »In meinem Reich gibt es so viele Steine, der Ketzer soll auch was davon haben.« Bismarck schleppte alle Steine aus der Stadt Pergamon nach Berlin, dann kam Bismarck wieder zum Teppich und brachte deutsche Eimer, mit denen er das Öl von Bagdad mit nach Hause schleppen wollte. Die Engländer und Franzosen und Italiener hörten es und kamen mit ihren eigenen Eimern in die Türkei. Deutsche, Engländer, Franzosen, Italiener kehrten ihre Eimer um, setzten die Eimer als Helme auf ihre Köpfe, zogen ihre Handgranaten und Waffen aus ihren Hosentaschen, und in der Türkei fand der Öleimerkrieg statt. Der Großvater mußte für die deutschen Eimer in den Krieg, auf dem Teppich zwischen Flammen und brennenden Tieren und Menschen lief Großvater, schreiend. Aus seiner Hüfte fließendes Blut färbte im Teppich ein Dreieck rot, dann wurden große Flammen zu kleinen Flammen, die Deutschen mußten raus. Ihre Eimer rollten sich mit ihnen bis nach Deutschland zurück, die französischen, englischen, italienischen Eimer teilten sich das Fand, der Sultan saß nackt in seinem Palast mit drei Eimern, einen Tag wusch er sein Gesicht im französischen, am nächsten Tag wusch er sein Gesicht im englischen, dann im italienischen Eimer, und sein Schneider durfte auch nicht mehr aus der Entfernung Maß nehmen. Jeden Tag, wenn er sich über den Eimer bückte, zeigten sich im Eimer alle Sultans, die von ihren eigenen Brüdern, Müttern, Vätern erdrosselt, erhängt, zerstückelt worden waren, und sie färbten die Eimer rosa. Dann kamen die Bauern in die Eimer, die Bauern, die von den Steuerbeamten des Sultans zum Hungern verurteilt worden waren, mit ihren Tierkadavern. Sultan machte die Augen fest zu, wusch sich, lief in seinem Zimmer auf Knien, legte sich nicht ins Bett, sondern unters Bett und legte zwei große Diamanten über seine Augen und hörte, daß sich draußen die Pferde mit ihren Reitern sammelten. Am Kopf der Reiter auf dem Teppich ein sehr schöner Offizier, Haare blond, Wimpern blau. Die Soldaten im schwarzen Zug, die auf den Teppich schauten, standen plötzlich auf und begrüßten diesen Offizier. Der blauäugige Mann sagte vom Teppich: »Soldaten, wie geht es euch?« Die Soldaten im Zug sagten im Chor: »Gut, mein Atatürk!« und blieben in Position stehen, rechte Hand vor ihrer Stirn. Schauten auf den Teppich, den der Bart meines Großvaters weiterwebte. Der blauäugige Offizier lief mit vielen Männern, darunter mein Großvater und Frauen, alle trugen auf ihren Schultern Aste aus Bäumen, auf dem Teppich lief ein Wald, und andere Wälder kamen entgegen. Aus den Bergen kamen die Banditen mit bis in die Sonne steigenden lockigen Haaren, olivenschwarzen Augen, mit ihren am ganzen Körper zitternden Pferden zu diesem blauäugigen Mann. Er nahm einen Ast und zeichnete auf der nassen Erde einen Kriegsplan gegen die Eimer und gegen den nackten Sultan, der mit zwei Diamanten auf seinen Augen unter seinem Bett lag. Die Pferde horchten mit ihrem ganzen Körper. Der Wald ist ein stummer Zuhörer, und jeder Baum tätowierte auf seinen Leib diesen Plan.