Das Leben ist zu kurz für Mimimi - Constanze Kleis - E-Book
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Das Leben ist zu kurz für Mimimi E-Book

Constanze Kleis

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Beschreibung

Lieber gut gefühlt als schlecht beraten. "Schluss mit der ewigen Selbstoptimierung!", sagt Constanze Kleis und damit NEIN zum allgegenwärtigen Coaching-Overkill, der uns zu blutigen Lebens-Laien degradiert.  Denn wir sollen nun praktisch nichts mehr allein können: Spazierengehen? Wird zum begleiteten Waldbaden. Aufräumen? Undenkbar ohne Marie Kondō!  Egal ob Partnerwahl, Abnehmen oder Berufscoaching: für alles brauchen wir Hilfe von außen. Die Zeit ist daher reif für einen Gegenentwurf zur Coaching-Kultur.  Die Autorin vertritt laut und unterhaltsam eine wichtige Botschaft in Zeiten der überhandnehmenden Übertherapierung der Gesellschaft: Vertraue auf dich selbst! Freue dich über über die Ecken und Kanten, sie sind es, die dich und das Leben erst spannend und rund machen!        

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Seitenzahl: 252

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Impressum

© eBook: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

© Printausgabe: GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, München, 2020

Alle Rechte vorbehalten. Weiterverbreitung und öffentliche Zugänglichmachung, auch auszugsweise, sowie die Verbreitung durch Film und Funk, Fernsehen und Internet, durch fotomechanische Wiedergabe, Tonträger und Datenverarbeitungssysteme jeder Art nur mit schriftlicher Zustimmung des Verlags.

Projektleitung: Simone Kohl

Lektorat: Alexandra Bauer (textwerk, München)

Covergestaltung: independent Medien-Design, Horst Moser, München

eBook-Herstellung: Christina Bodner

ISBN 978-3-8338-7618-9

1. Auflage 2020

Bildnachweis

Coverabbildung: Gräfe und Unzer Verlag/Gaby Gerster

Syndication: www.seasons.agency

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Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

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Unser Leben ist mittlerweile ein einziges undurchdringbares Labyrinth aus Wenn-dann-Konstruktionen: Wenn der Traumpartner vor der Tür steht, die Kinder wohlgeraten sind, wir erst mal ein Top-Figürchen haben, es endlich schaffen, jeden Morgen joggen zu gehen, die dringend nötige Beziehungsarbeit erledigt ist, im Bett regelmäßig Mega-Sexrekorde aufgestellt werden, das Dekolleté so viele Klopfmassagen hatte, dass es nicht mehr wagt, auch nur ein winziges Fältchen zu beherbergen, und wir Liebeskummer als großartige Herausforderung und nicht bloß als prima Gelegenheit für eine Runde Selbstmitleid betrachten – dann ist wirklich alles perfekt.

So glauben wir, uns für das einzig wahre Glück erst mal qualifizieren zu müssen, auch indem wir uns und unser Leben als rundum mangelhaft betrachten. Unter die Arme greift uns dabei die »Glücksindustrie«, die allüberall Optimierungsbedarf sieht. Constanze Kleis empfiehlt uns dagegen warmherzig-humorvoll den Ausstieg aus der Lebensverbesserungs-Tyrannei. Sie ermutigt uns zur eigenwilligen Liebe, zum Schlaf für Anfänger und Sex für Dilettanten, zum Traurigsein für Selbstbewusste, zur Macke für Souveräne ... dazu, herrlich unzulänglich und gerade deshalb gut genug zu sein.

Alles auf Anfang

»Jeder hat seine Probleme.«

Elton John

Meine Mutter erzählte oft, wie unwirsch ich als Kleinkind werden konnte, wenn man mir etwas abnehmen wollte. Auch die Dinge, für die ich eigentlich noch längst nicht alt genug war. Zum Beispiel die kostbare Zuckerdose von Oma zum Schrank tragen. »Ich kann auch allein …!«, erklärte ich und fand das – wie vermutlich so ziemlich alle aus dieser Altersgruppe – ein höchst begehrenswertes Fernziel. Falls sich das Erwachsenwerden überhaupt lohnen würde, dann doch unbedingt dafür. Allerdings habe ich mich da offenbar schwer getäuscht. Denn in den letzten Jahren gleicht die Aussicht, etwas selbst zu entscheiden, offenbar zunehmend einer Einladung in den mentalen Panikraum. Mittlerweile gibt es kaum noch einen Lebensbereich, in dem wir uns nicht lieber von Profis unter die Arme greifen lassen. Dauernd werden damit unsere Daseinskompetenzen auf den Status »Anfänger« gestellt. Wir überlassen es Coaches, Beratern und anderen Menschen, die es angeblich besser wissen wollen als wir, unser Leben zu lenken. Sie zeigen uns, was Glück ist und wie man es erreicht, wie man sich verliebt, trennt, wie man Kinder erzieht, Karriere und auch eine Pause davon macht, wie unzufrieden und unerfüllt wir in unseren Jobs sind, wie man spazieren geht, sich selbst findet und was man von dem zu halten hat, was man dabei entdeckt. Noch nie war unsere Gesellschaft so durchgecoacht und -psychologisiert wie heute. Mit der Folge, dass heutzutage nichts mehr nur ein Sandkorn im Alltagsgetriebe ist, das man am Tresen von Uschis Pilsstube mit seinen Kumpels oder beim Wein mit seiner Freundin entfernt und somit sein Leben selbst wieder auf »Rundlauf« stellt. Nein, im Gegenteil, alles ist gleich Lebenskrise, Sinnkrise, Beziehungskrise, Motivationskrise, Überforderungskrise, Paarkrise, Jobkrise, Elternkrise und Midlife-Crisis – also mindestens eine Katastrophe. Etwas, das wir keinesfalls in Eigenregie verbessern, lösen oder ändern können. Angefangen bei der Politik, die gemessen an den milliardenschweren Beraterhonoraren praktisch gar nichts mehr »allein« kann, bis hin zur Organisation der Sockenschublade, die wir nicht etwa nach einem eigenen oder gar keinem System ordnen, sondern unter Aufsicht und Anleitung der globalen Aufräumexpertin Marie Kondo. Partnersuche ohne das Gefühlsordnungs- sowie Ortungssystem von Tinder und Co? Unmöglich heutzutage! Eine Beziehung führen? Ohne die Psychotipps und Gebrauchsanweisungen der Paarcoaches offenbar so riskant, als wolle man mit einem Faltboot den Ozean überqueren.

Wir verlernen dabei nicht nur, unsere Probleme selbst zu lösen, sondern auch einzuschätzen, ob es überhaupt Handlungsbedarf gibt. Ob wir glücklich oder unglücklich sind, ob wir verliebt sind, zurückgeliebt werden – und ob wir damit zufrieden sein können. Ob wir nicht eigentlich ganz in Ordnung sind, so wie wir sind. Oder ob wir wie der kleine Häwelmann im gleichnamigen Märchen von Theodor Storm nicht »mehr, mehr, mehr« sein müssten, und das selbstverständlich mithilfe – ja klar – der professionellen Vorsager, die uns jetzt allüberall unser Leben soufflieren. Sie versprechen uns Sicherheit, Kontrolle, Glück sowie Mitbestimmung bei den Schicksalsmächten. Aber eigentlich sind sie nur die Eintrittskarten in das große Jammertal: die Homebase des Mimimi. Die vielen Lösungsangebote erhöhen ja vor allem die Anzahl der Probleme und machen uns somit nur noch unruhiger, als wir es sowieso schon waren, bevor wir anfingen, uns beraten zu lassen. Wo es immer nur ein »Richtig« zu geben scheint, ist stets auch ein »Falsch« als größtmögliche Bedrohung inbegriffen. Nicht, dass wir hier und da nicht ein wenig Entwicklungshilfe nötig hätten. Und es kann nie verkehrt sein, ein besserer Mensch werden zu wollen. Aber es macht die Menschen erfahrungsgemäß ja nicht glücklicher, wenn man ihnen suggeriert, sie befänden sich immer bloß auf dem Weg, gelangten aber nie ans Ziel. Wo jeder seines Glückes Schmied sein soll, ist nämlich jeder seines Versagens Verursacher. Theoretisch. Praktisch hat die Entlastungsindustrie hier ebenfalls eine verlockende Lösung, indem sie selbst noch das kleinste Problem zur psychologischen Großbaustelle erklärt: Herzschmerz, Melancholie, Trauer, Unsicherheit, Schüchternheit beispielsweise. Was gestern noch normal war, gilt heute schon als krankhaft, dringend behandlungsbedürftig – und liegt damit ganz einfach jenseits unserer Verantwortung.

Zeige deine Wunde, so lautet der Titel einer Installation von Joseph Beuys. Wir haben ihn wörtlich genommen. Wie die It-Bag gehört die Psychomacke mittlerweile zu den Must-haves. Wollte man seine Probleme früher tunlichst verstecken, sind sie diagnostisch hochgetunt längst wichtiger Selbstvermarktungsbaustein: Die Borderlinestörung von Lindsay Lohan, die Depressionen von Britney Spears, das ADHS von Adam Levine (Sänger von Maroon 5), die Zwangsstörung von Bestsellerautor John Green oder Schauspielerin Brittany Snow, die gleich mit einem Triple – Depressionen, Dysmorphophobie, Essstörungen – in die Outingarena trat. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Sicher bedeutet die Anerkenntnis psychischer Erkrankungen einen enormen Quantensprung in der Medizin und für die Betroffenen. Einerseits. Andererseits hat der Psychomarkt seine Produktpalette in einem Umfang erweitert, wie man es sonst nur von chinesischen Weihnachtsdekorationsartikel-Herstellern kennt. Nichts mehr braucht einfach so hingenommen zu werden, alles gehört professionell bearbeitet. Mit der Folge, dass die so dringend benötigten Therapieplätze für psychisch schwer Angeschlagene immer häufiger auf Monate im Voraus von Menschen wie etwa meiner Bekannten belegt sind. Die nun seit mehr als 15 Jahren mit ihrer Therapeutin die Unmöglichkeit bespricht, einen Mann zu finden, der aussieht wie Brad Pitt, wohlhabend, klug, wahnsinnig erfolgreich, humorvoll UND mit ausreichend Freizeit ausgestattet ist, um mit ihr Kochkurse, Opern zu besuchen und Ayurvedakuren zu absolvieren. Ein Unglück, das sie – wie sie meint – einem »emotional abwesenden Vater« verdankt. Man könnte auch sagen: »Reiß dich einfach mal zusammen!«, »Problem erkannt, Problem gebannt!« oder »Schau dir wenigstens mal Klaus-Dieter aus der Buchhaltung an, bevor du enttäuscht bist, dass Brad Pitt schon andere Pläne hatte, als dich zu heiraten«. Das hätte den charmanten Vorteil, dass man das große Grämen allein beenden könnte. Aber es ist offenbar längst zu verlockend geworden, sich mit einem Seufzer der Erleichterung an die breite Brust der »Das-Ich-als-Opfer-Industrie« zu werfen, wie der britische Soziologe Frank Furedi das Phänomen nennt. Es ist wie in der Sparkassenwerbung, in der einer mit »Mein Haus, mein Auto, mein Boot!« protzt. Wie steht man denn da, wenn man nichts weiter zu bieten hat als »Schlecht geschlafen!« oder »Gerade langweilt mich meine Arbeit!«. Und andere längst mit den ganz großen Spielkarten trumpfen – also mit Burn-out, Panikattacken oder ADHS? Was müsste man dagegen alles tun, falls man anfangen würde, sich selbst ans Steuer seines Lebens zu setzen? Man wird schon wahnsinnig müde, sobald man bloß darüber nachdenkt.

Wo alles Unglück neurotisch ist, gibt es außerdem keine Systemfehler mehr, nur noch persönliches Versagen. Nicht mehr die Entlassung ist der Eins-a-Auslöser für die Niedergeschlagenheit, sondern irgendein Defekt, der dafür sorgt, dass man der trostlosen Wirtschaftslage nach und mit Corona nicht mit wahnsinnigem Optimismus und überbordendem Tatendrang begegnet. Nachdem wir andauernd angehalten werden, unser Innenleben mit der Psychotaschenlampe auszuleuchten, kommen wir gar nicht mehr dazu, die äußeren Umstände kritisch zu betrachten. Wir verlernen außerdem, selbst zu entscheiden, ob wir die kleinen und großen Abgründe in unserem Leben nicht vielleicht doch ganz gut selbst managen können. Ob es sich überhaupt um einen Abgrund handelt. Und wenn, ob es nicht auch genügen würde, bloß ein Brett darüberzulegen, damit keiner reinfällt. Kurz: Wir haben die Deutungshoheit über unseren Gefühlshaushalt komplett in Hände gegeben, die davon leben, dass der niemals final aufgeräumt sein darf. Mit sehr betrüblichen Konsequenzen: Wir trauen uns nichts mehr zu. Wir können nicht mal mehr allein entscheiden, ob wir glücklich sind oder nicht. Geschweige denn ganz allein jemanden finden, den wir lieben – oder ohne Anleitung unsere Sockenschublade aufräumen. Wir haben für alles jemand, der das für uns erledigt und uns vor allem sagt, ob das so auch optimal ist. Wir wurden emotional entmachtet und das hat uns zu unerträglichen Jammerlappen gemacht. Wo alles nur dauernd besser werden soll, ist ja nichts einfach mal gut. Immer geht es nur darum, was uns noch fehlt: der optimale Schlaf, die ideale Performance beim Daten, die perfekten Kinder und das so kostbare Gute-Mutti-Gefühl. Nie dürfen wir einfach leidlich zufrieden mit uns sein. »Wieso kann ich nicht einfach so scheiße bleiben, wie ich bin?!«, fragte kürzlich verärgert ein Bekannter angesichts des ganzen Optimierungswahns. Genauso gut hätte er sich dazu bekennen können, sich in ein Tretboot verliebt zu haben. Alle waren sichtlich befremdet über einen derart bemerkenswert unterentwickelten Drang, noch mehr aus dem großen Lebenskuchen herausholen zu wollen. Aber auch beeindruckt von dem, was heutzutage offenbar als das letzte große Wagnis gilt: es allein zu können. Die Verantwortung für sein Leben selbst zu übernehmen, ganz eigenmächtig zu entscheiden, wann es gut ist und was man braucht, um zufrieden zu sein. Das ist schwer. Zugegeben. Denn in dem Maß, indem man uns die totale Kontrolle verspricht, verlernen wir ja auszuhalten, dass es die nicht gibt. Wir verlieren zunehmend unsere Frustrationstoleranz – mit Konsequenzen, wie man sie etwa bei den Anti-Corona-Demonstrationen erleben konnte, als panische Angstbeißer zum Heulen auf die Straße gingen. Weil sie nicht mal mehr das kleinste jener Ohnmachtsgefühle aushalten können, die dem Dasein nun mal serienmäßig mitgeliefert werden …

Wie die Lebensverbesserer erst für die größte allgemeine Verunsicherung sorgen, die sie behaupten, uns ersparen zu können, erfahren Sie in den folgenden Kapiteln. Es geht um Liebe, Freizeit, Altern, Elternschaft, Glücksgefühle, um Krisen und Krankheiten – Corona inbegriffen. Um das Große und Ganze also. Ja, das ist ziemlich ehrgeizig, aber irgendwie auch wieder nicht. Denn am Ende ist es dann doch ganz einfach. Da genügt es nämlich, einfach herrlich unzulänglich, großartig verkorkst, biografisch versehrt, ganz schön beratungsresistent und gerade deshalb ziemlich gut genug zu sein – und sich bloß nichts anderes mehr einreden zu lassen!

Die größte Karotte des ganzen Universums

»Ich bin besonders glücklich, wenn das Glück unvollkommen ist. Vollkommenheit hat keinen Charakter.«1

Peter Ustinov

EIN HAMMERLEBEN

Vor einer Weile besuchte ich mit meinem über 80-jährigen Vater in Frankfurt die Ausstellung The Happy Show. Sie war interaktiv, also mit vielen Mitmach- und Gestaltungsmöglichkeiten, die der international renommierte Designer Stefan Sagmeister im Museum Angewandte Kunst installiert hatte. Unter den Exponaten waren zehn hohe Zylinder, gefüllt mit gelben Kaugummis. Die dazugehörige Frage lautete: »Wie glücklich sind Sie? Auf einer Skala von 1–10.« Man sollte sie sich selbst beantworten, indem man an dem betreffenden Zylinder einen Kaugummi zog. Also von eins – »gar nicht« – bis zehn, was in etwa für »bin kurz vorm Überschnappen« stand. Erst überlegte ich, ob ich nicht die Neun nehmen sollte. Ich meine: Ich habe einen spannenden Beruf, einen überwiegend netten Mann, viele Freunde und eine Familie, die ich liebe und die mich liebt. Außerdem bin ich gesund und lebe in einem reichen und sicheren Land. Nach allem, was man über das Glück und seine Urheber liest, dürften eigentlich keine Wünsche offengeblieben sein. Aber so fühlte es sich nicht an. Ich dachte an all das, was noch besser sein könnte: Wenn man den Lotto-Jackpot knacken würde, Ryan Gosling zufällig vorbeikommt und fragt: »Wo warst du nur all die Jahre?« Oder der Chef endlich sagt: »Sie sind die Beste!« und einem anerkennend auf die Schulter klopft. Wenn ich fünf Kilo abnehmen würde und der Weltfrieden realisiert wäre. Dem wollte ich mich nicht mit vorschneller Selbstzufriedenheit verschließen. Also entschied ich mich für die Acht. Offenbar eine mehrheitsfähige Entscheidung. Der Zylinder meiner Wahl war bereits ziemlich leer und damit augenscheinlich Sieger im Beliebtheitswettbewerb, denn wie ich hatten die meisten Besucher ihr Glück als durchaus noch deutlich ausbaufähig empfunden. Die Acht musste sogar, das las ich später, während des Ausstellungszeitraums insgesamt dreimal nachgefüllt werden. Das hatte keiner seiner »Mitzylinder« auch nur annähernd geschafft. Mein Vater entschied sich für Zylinder fünf, also für die Drei minus im Fach Lebensqualität. Ich war sofort alarmiert. Zeigte sich da nicht schon eine Depression? Ging es meinem Vater tatsächlich so schlecht, ohne dass wir, seine Kinder, es bemerkt hätten? Ich meine: Gut, ich hatte selbst – und zwar aus taktischen Gründen – ein wenig tiefgestapelt. Aber so tief?! Das war schon fast beleidigend. Schließlich bemühten sich meine Geschwister und ich seit dem Tod unserer Mutter sehr darum, den väterlichen Glückspegel möglichst weit nach oben zu bringen.

»Fühlst du dich so schlecht?«, fragte ich ihn. Und er antwortete: »Nein, gar nicht. Aber ›Glück‹ ist doch wirklich ein viel zu großes Wort. Damit kann ich nichts anfangen. Das ist mir zu anstrengend. Ich bin lieber zufrieden. Mir geht es doch gut!« Fast schien er sich doch für Zylinder Nummer zehn qualifiziert zu haben – so glücklich wirkte er, nicht überglücklich sein zu müssen. Da wollte einer gar kein Glücksstreber sein, das Wohlbefinden nicht vom Spitzenwert ableiten, sondern eigene Kriterien aufstellen. Einen Schlussstrich unter das setzen, was die Amerikaner »rat race«, also Rattenrennen nennen: den nie endenden Kampf um den größten Happen. Mein Vater fand, dass die Sache mit dem großen Glück einen ganz schön fertigmachen könne, weil sie viel zu viel Erwartungsdruck aufbaue. Am Ende, meinte er, würde man alles haben und sich trotzdem nicht glücklich fühlen. Wenn doch immer noch mehr versprochen würde. Wie enttäuschend das wäre. Dem wollte er sich nicht aussetzen und sich nicht dauernd fragen, ob da nicht noch mehr drin wäre in der großen Wundertüte Leben. Er habe ja alles, was ihm wichtig sei: den Rückblick auf eine kleine Karriere als selbstständiger Bäcker, ein Reihenmittelhaus, was Ordentliches zu essen, zwei Tageszeitungen am Morgen, oft seine Kinder und manchmal seine Enkelkinder um sich sowie gelegentlich einen Opernbesuch und ein Orgelkonzert. Man hätte meinem Vater auch eine alte Socke vor die Nase halten können, das hätte ihn ebenso wenig interessiert wie das, was Stefan Sagmeister, der 1962 in Bregenz geborene Glücksprofi, als die vermutlich größte Karotte der Evolution bezeichnet: die Aussicht auf ein Hammerleben.

MACH! ES! DIR! SELBST!

Gut, man könnte auch sagen: Würde es nur Menschen wie meinen Vater geben, hätten wir zwar eine sehr zuverlässige und flächendeckende Versorgung mit leckerem Buttermandelkuchen, fantastischer Käsesahne, umwerfendem Bauernbrot sowie mit Literatur und klugen Tageszeitungen, weil er diese Lektüre als für sich sehr erfüllend empfindet. Wir hätten vermutlich keine Kriege, weder Aktienmärkte noch Lotto-Annahmestellen, weil mein Vater Konflikte hasst und außerdem davon überzeugt ist, dass ein paar Millionen nur den Charakter verderben. Aber ob wir auch Internet hätten? Computer? Kreuzfahrtschiffe? Flugzeuge? Nagelstudios? Louis-Vuitton-Taschen? Schließlich ist die Sehnsucht nach dem Mehr der größte Entwicklungsmotor überhaupt. Es fühlt sich einfach zu gut an, sobald unser körpereigenes Drogenlabor zur Höchstform aufläuft, vermehrt Glücksbotenstoffe wie Endorphine, Dopamin und Serotonin produziert. Wenn etwas gelingt, wir uns etwas oder jemanden erobert haben. »… man in den Besitz oder Genuss von etwas kommt, was man sich gewünscht hat«, so der Duden zum Thema Glück. Deshalb will man immer noch ein Extraschäufelchen vom Wohlbefinden. Ein noch besseres, bequemeres, sichereres, entspannteres sowie schöneres Dasein, das unter diesen idealen Voraussetzungen natürlich möglichst lange währen soll – und zwar bei bester Gesundheit. So kam die Menschheit von den Bäumen und aus den Höhlen zum Rad, zur Mikrowelle, zum elektrischen Nagellacktrockner, der Schwarzwälder Kirsch, dem Sitzrasenmäher, dem Penizillin, dem Sofa, zur Konservendose, dem Buchdruck, zum Krieg und dem Quadruple Bypass Burger, einem Lebensmittel mit 9.982 Kalorien, sowie zum Defibrillator, den man deswegen bald brauchen wird.

Weil das Streben nach Glück als Fortschrittsantreiber so gut funktioniert, hat sich auch in uns die feste Vorstellung implantiert, wir könnten immer noch ein bisschen froher sein, als wir es womöglich schon sind. Das ist die Karotte, die uns ständig vor der Nase hängt – gerade so in Sicht-, aber selten in Reichweite. Sie sorgt im Prinzip überhaupt erst dafür, dass wir morgens nicht einfach im Bett liegen bleiben. Wir tun etwas für unser Glück und dieses Tun macht etwas für uns. Es hält uns wach, emotional, geistig und auch körperlich in Bewegung. Theoretisch eine feine Sache. Praktisch haben wir es bereits recht früh in unserer Geschichte stets auch anderen überlassen, uns auszumalen, was für uns erstrebenswert sein soll. Den Kirchen, der Politik, den Reiseveranstaltern, Beautykonzernen, Wellness- und Fitnessunternehmen, den Seelengurus sowie Putz- und Waschmittelherstellern, die behaupten, es würde einer Hausfrau das Herz dauerhaft erweitern, wenn alles porentief rein ist. Im Grunde setzt jeder, der etwas verkaufen will, bei uns den Glückshebel an. Stellt in Aussicht, dass es noch mehr geben könnte, als wir ohnehin schon haben. Dass wir uns immer noch ein wenig besser fühlen könnten und abends auf dem Sofa sitzen und denken: Ja, ganz hübsch, mein Leben. Aber könnte es nicht noch mehr sein?!

Eine Skepsis, die permanent mehr Nahrung erhält. Denn auch die Glücksindustrie schickt fortlaufend neue Quadruple Bypass Burger in unsere Lebensarena. Also spricht die größte Karotte des Universums zu uns: »Klar kannst du mich haben. Liegt ja ganz bei dir! Streng dich halt ein bisschen an. Werde dünner, erfolgreicher, entschiedener, klüger, achtsamer. Lerne die Krähe seitwärts und wie man die ungefähr 85 unterschiedlichen Beautyanwendungen, die Frauenmagazine als das Schönheitspflege-Minimum propagieren, im Alltag unterbringt – ohne deinen Job dafür aufzugeben. Die Muffins für die Kindergartensommersause sollen selbstverständlich nicht gekauft, sondern müssen selbst gebacken sein – du willst dich doch als gute Mutter erweisen und kannst so garantierte Glücksmomente erleben. Versprochen! Schau nicht so angestrengt, das gibt Abzug in der Kategorie ›begehrenswert‹ und das würde dich sicher ziemlich unglücklich machen, wäre also unglaublich kontraproduktiv.« Zum Glück stärken uns die Anbieter eines besseren Daseins bei diesem ambitionierten Projekt, auf allen Lebenshochzeiten gleichzeitig »bella figura« zu machen, den Rücken. Sie behaupten unverdrosssen »Yes you can!« und »Anything goes«.

Das hören wir gern, weil wir es mit Zutrauen in unsere Fähigkeiten verwechseln, Superwoman zu sein. Also eine von den Frauen, die alles mit links stemmen und dabei noch so erholt aussehen, als hätten sie die letzten vier Monate nichts weiter getan, als am Strand spazieren zu gehen. Eigentlich aber ist es bloß das Einfallstor zur totalen Überforderung, zu Stress, Frust und Selbstzweifeln. Und das geht so lange, bis uns das Leben wie ein einziges undurchdringbares Labyrinth aus Wenn-dann-Konstruktionen erscheint: Wenn wir erst mal genug Geld haben, das Haus groß genug ist, die Kinder wohlgeraten – also strebsam darum bemüht, ihre Eltern in Sachen Fortkommen noch zu überflügeln –, ich erst mal meine Traumfigur habe, es endlich schaffe, jeden Morgen joggen zu gehen, genug gecremt habe, mehr Geld verdiene, die Falten auf der Stirn weggebotoxt sind, Klaus aus der Buchhaltung mich endlich anspricht, die Kinder erst mal merken, dass man alles für sie aufgegeben hat und sie in Dankbarkeit ergriffen sind, wenn man gelernt hat, »Nein« zu sagen. Kurz: Für das Glück glauben wir, uns erst mal qualifizieren zu müssen, indem wir unser Leben rundum optimieren. Die Karotte macht übrigens derweil ein Sabbatical. Schließlich weiß sie, dass man sie auf diese Weise garantiert niemals auch nur anknabbern wird.

MÖRDERSTRESS

Noch nie gab es so viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln und selbst zu verwirklichen. Unsere persönliche Freiheit ist theoretisch unermesslich, unerschöpflich, aber praktisch bedeutet das: Wir haben einen Mörderstress. Denn mit den Optionen wachsen auch die Risiken, sich zu überfordern – bis das Leben einem wie eine einzige Druckmaschine erscheint. Wo man nichts mehr einfach hinzunehmen braucht, steht auch immer die Forderung im Raum, etwas zu ändern: schlanker zu werden, fitter, erfolgreicher, kreativer, gesünder. Alles lässt sich jederzeit verbessern oder wenigstens zur »Herausforderung« aufhübschen, an der wir über uns hinauswachsen sollen. Selbst die Naturgesetze setzt das Streben nach der größten Karotte außer Kraft. Zum Beispiel, dass der Tag nur 24 Stunden hat und wir selbst bei optimistischer Haushaltung eben einfach nur über ein bestimmtes Maß an Energie verfügen. Eine Einsicht, die meiner Nachbarin Elena, 45, völlig abgeht. Sie hat sich eigentlich gleich zwei Lebensträume erfüllt: Sie ist Mutter von zwei Kindern und wurde gerade Partnerin in einer renommierten Kanzlei. Trotzdem hadert sie mit sich, denn wenn sie arbeitet, hat sie das Gefühl, ihre Kinder zu vernachlässigen, und wenn sie am Wochenende strikt nur für Emma und Nick da ist, befürchtet sie, beruflich doch nicht genug engagiert zu sein. Sie hasst sich selbst, sagt sie. Auch dafür, dass sie abends regelmäßig erschöpft auf dem Sofa einschläft, anstatt noch zum Yoga zu gehen oder den leidenschaftlichen Sex mit ihrem Mann zu haben, der als das Existenzminimum einer glücklichen Beziehung gilt – oder wenigstens eine der derzeit so angesagten Netflixserien zu schauen, über die die Kollegen in der Kanzlei so viel reden.

Meine Kollegin Miriam wiederum hat zwar keine Kinder, aber auch ein ehrgeiziges Projekt: Viermal in der Woche steht die 52-Jährige auf dem Laufband, macht Sit-ups und stemmt Gewichte. Nur, um danach im Spiegel noch immer die Frau zu sehen, die sie hinter sich lassen will – zugegebenermaßen attraktiv, jedoch nicht mehr ganz jung, zwar durchtrainiert, trotzdem aber stämmig. Eine, bei der, so führt sie mit einem bitteren Lachen aus, »man nur einbrechen würde, um die Vorhänge zuzuziehen«.

Auch Klara erfährt zwar gerade, dass es höhere Mächte gibt als das Wollen, dennoch ist das für sie kein Grund, vom Sollen abzulassen. Die 31-Jährige bekommt in drei Monaten ihr erstes Kind. Sie hatte alles akribisch geplant – selbst die »natürliche« Geburt. »Die Mutter-Kind-Bindung ist ja gleich ganz anders. Das hat Strahlkraft auf das ganze Leben.« Jetzt muss es aus medizinischen Gründen doch ein Kaiserschnitt sein. Klara leidet jetzt schon unter dem »Makel«, ihrem Kind keine optimalen Startbedingungen ins Leben bieten zu können. Als wäre das ihre Schuld, aber auch: als gäbe es nur diese eine und letzte Chance, das Plansoll »gute Mutter« zu erfüllen.

Schon verrückt, was wir uns antun, um bloß alles ganz richtig zu machen und so auf die Sonnenseiten des Lebens zu kommen. Als müssten wir uns vor einer unsichtbaren Jury beweisen, die sich immer neue Aufgaben ausdenkt, damit wir niemals fertig werden. Vermutlich sitzt die einmal im Jahr zusammen und eines der Mitglieder meint dann: »Also, seit die Frauen auch Karriere machen, könnten wir sie ja eigentlich vom Muttihaken lassen.« Daraufhin antwortet ein anderes bestimmt: »Bist du verrückt geworden?! Am Ende nutzen sie die viele Freizeit, um die Weltherrschaft zu übernehmen. Das will doch keiner. Ich habe hier deshalb mal eine Liste mit ein paar Aufgaben vorbereitet, die die Frauen erst mal beschäftigt halten. Am besten, ihr bestellt euch etwas zu essen. Das kann nämlich länger dauern.« Dann präsentiert es das 16-teilige Lidschattenset, den Thermomix, die Schamlippenoptimierung und das einstündige Augenbrauentutorial auf Youtube. Klar, dass die Liste immer weiter fortgeschrieben wird. Die Idee ist ja, dass wir niemals ankommen sollen. Hatte es etwa Anita Ekberg zu ihrer Zeit noch mit deutlichen Dellen an den Oberschenkeln geschafft, als DIE Sexikone ihrer Zeit zu gelten, arbeiten sich heute fast 100 Prozent der Frauen an der Cellulite ab und geben dabei jährlich fast 100 Millionen Euro für Produkte aus, die versprechen, ein Problem zu lösen, das keines ist. Orangenhaut ist schließlich der natürliche Zustand weiblichen Bindegewebes. Nicht zu vergessen all die anderen »Herausforderungen« in so einem Frauenleben: die Intimrasur, das Achtsamkeitsseminar, die Yogastunde, die Bürstenmassage, das Flossen der Zähne, das Contouringwebinar und all die Beziehungsratgeber, die man gelesen haben MUSS, um beim Glücksoscar Perfekte Partnerschaft in die engere Wahl zu kommen. Klar sollte man auch Karriere machen, aber nicht so verbissen – selbstverständlich sollte man dabei unbedingt noch als Klassefrau kenntlich bleiben.

Derweil sollte uns unser Verstand eigentlich sagen: Solange die Tage bloß 24 Stunden dauern, ist das alles so unmöglich, wie übers Wasser zu gehen. Bleibt die Frage: Wieso glauben wir, dass das Glück immer erst noch kommt? Dass wir es uns erarbeiten müssen, indem wir uns immer weiter optimieren? Und: Weshalb sind es oft gerade Frauen, die in diesem Turbohamsterrad landen? Ganz einfach: weil wir Frauen sind. Bedeutet: Wir beziehen unseren Selbstwert ja nicht nur aus unseren Jobs. Wir wollen immer auch ein erfülltes Privatleben, super aussehen, großartige Kinder haben, den Stolz unserer Eltern und die Oberarme von Madonna, wir wollen heiß begehrte Trophäen sein – beim Sex und auf dem Arbeitsmarkt, gleichzeitig das perfekte Dinner abliefern, ökologisch verantwortungsvoll leben sowie die besten Abschlüsse machen. Wer aber alles vollkommen richtig machen will, wird nie fertig und vor allem niemals glücklich. »Hai-Syndrom« nennt sich das. Weil Haie keine Schwimmblase haben, müssen sie ständig in Bewegung bleiben, um nicht zu sinken. Es ist, als sollten wir durch 18 brennende Reifen gleichzeitig springen. Das sind 18 Gelegenheiten zu scheitern.

Aber weshalb tue ich das eigentlich genau? Wo sind denn überhaupt die Beweise dafür, dass man nur mit dem BMI einer Magerquarkpackung wirklich glücklich sein kann? Oder dass man als Mutter versagt hat – bloß weil man gern das Haus verlässt, um einer geregelten Arbeit nachzugehen? Oder dass Männer von Kirschblütenapplikationen auf den Fingernägeln regelrecht in Ekstase versetzt werden beziehungsweise Wimpernextensions für mindestens 70 Euro endlich jedwede Selbstzweifel beseitigen?

UNGLÜCK IM GLÜCK

Auf Pinterest kursiert der Spruch: »Sixpack? Hatte ich schon! Steht mir nicht.« Der ist sehr lustig und auch ziemlich klug. Denn wenn man erst mal dort war, wo alle dauernd hinsollen, stellt man schnell fest: So geil ist das gar nicht. Es stehen leider keine Männer draußen Schlange, obwohl man in neue Brüste investiert hat. Und auch die Freude über den Karrieresprung hält nicht sonderlich lange an. Total achtsam ist das Leben nicht unbedingt entschleunigter, sondern bloß voller, weil man ja den Termin für das einschlägige Seminar ebenfalls noch irgendwo unterbringen muss. Und ja: Kinder zu bekommen ist toll. Aber selbst mit ihnen erreicht laut einer Studie von Christoph Becker von der Universität Heidelberg und Kollegen das Wohlbefinden erst dann Spitzenwerte, wenn sie ausgezogen sind. Kinder, die noch zu Hause wohnen, wirken sich im Schnitt dagegen negativ auf die Zufriedenheit aus. Sogar Lottogewinne im hoch siebenstelligen Bereich hinterlassen nicht etwa Menschen, die wie dauerbekifft die nächsten 30 Lebensjahre nur noch glücksberauscht verbringen, sondern auch zerrüttete Familien, Enttäuschungen über Freunde, die einen ständig anpumpen wollen, und natürlich Angst. Denn wer viel hat, der hat zwangsläufig viel zu verlieren.

Legendär sind trostlose Schicksale wie das von Lothar Kuzydlowski. Am 20. August 1994 räumte er (damals 48-jährig) den Jackpot im Samstagslotto ab, gewann 3,9 Millionen Mark (circa 2 Millionen Euro) und war auf einen Schlag all seine finanziellen Sorgen los. Der arbeitslose Teppichleger tat, wovon alle träumen: kaufte sich teure Autos, baute für sich, seine Frau und seine kleine Tochter ein Häuschen im Grünen. Er jettete um die Welt, sonnte sich unter den Palmen von Mauritius, hatte zahllose Affären und letztlich eine Scheidung. Er verfiel dem Alkohol, trank flaschenweise Wodka. Fünf Jahre nach dem großen Gewinn starb Lotto-Lothar – Leberzirrhose. Was von seinem Vermögen übrig blieb, vererbte er einer Bardame. Viel war es nicht mehr. Gut, nicht jeder Sechser im Lotto endet als Tragödie. Und klar heult es sich beispielsweise besser in einem Rolls-Royce als in der Metro – wie die französische Jahrhundertschauspielerin Jeanne Moreau einmal meinte. Aber auch Studien belegen, dass der große Lottomillionär-Wow-Effekt kaum länger währt als eine Bundesligasaison. Es gibt zig Beispiele, die zeigen: Hat man endlich alle Voraussetzungen für ein Megaleben geschaffen, fühlt man trotzdem nicht im Entferntesten das, was man sich davon versprochen hat beziehungsweise was einem davon versprochen wurde.

Selbst Leute, deren Bildungsgrad es eigentlich zulassen müsste, ein eher schlichtes Wenn-dann etwas kritischer zu sehen, sind nicht davor gefeit, den Potemkinschen Dörfern der Optimierungsindustrie aufzusitzen. Maria Callas etwa, eine der bedeutendsten Sopranstimmen überhaupt, war mit 30 Jahren total unglücklich, weil sie 91 Kilo wog. Sie unterzog sich einer beinharten Diät und verlor in nur einem Jahr 36 Kilo. 1957 wählte die Vogue sie zur elegantesten Frau der Welt, die bald einem der reichsten Männer des Planeten – Aristoteles Onassis – den Kopf verdrehte. Der verließ sie schließlich für Jacqueline Kennedy, wie die »Bibel der Oper« nicht von ihm, sondern aus der Zeitung erfuhr. Vermutlich auch durch ihre extreme Gewichtsabnahme hatte ihre Stimme nach ihrem 40. Lebensjahr dann noch an Kraft und Glanz verloren. 1966 bezog sie ein Appartement in der Avenue Georges Mandel im 16. Pariser Arrondissement und verbrachte dort ihre letzten Jahre in einer Traumwelt. In einem Brief, der im Opernmuseum in Verona ausgestellt wurde, schrieb sie kurz vor ihrem Tod im September 1977 mit nur 53 Jahren: »Kein Kind, keine Familie, kein einziger Freund.« Die Umstände ihres Todes wurden medizinisch nicht eindeutig geklärt. In einigen Nachrufen ist allerdings von »selbstmörderischen Diäten« die Rede. Wie bei fast allem im Leben – vor allem aber bei jedem Glücksversprechen – lohnt es sich, vorher mal auf das Preisschild zu schauen, auf die Investitions- und Folgekosten.

TRETMÜHLEN