Das Leichenpuzzle von Anhalt - Bernd Kaufholz - E-Book

Das Leichenpuzzle von Anhalt E-Book

Bernd Kaufholz

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Beschreibung

Pitaval aus den finsteren menschlichen Niederungen Nach acht Büchern mit authentischen Kriminalfällen, die sich größtenteils im ehemaligen Bezirk Magdeburg zugetragen haben, meldet sich der Autor nun mit neun Fällen zurück, in denen die Kriminalpolizei des Bezirkes Halle ermittelte. Kaufholz kommt damit dem Wunsch seiner treuen Leserschaft nach einer Fortsetzung nach. Die aktuelle Sammlung wendet sich sowohl an die Freunde wahrer Kriminalfälle als auch an Leser, die sich für die Ermittlungsarbeit der DDR-Polizei im historischen Kontext interessieren. Das Buch beginnt mit einem Polizistenmord in Bad Bibra, ein Jahr vor Gründung der DDR, und spannt sich bis zu einem Kunstraub in Dessau im Februar 1990, der sowohl die DDR-Justiz als auch später den Bundesgerichtshof beschäftigte. Politischen Sprengstoff barg ein Mord in Bernburg im Jahr 1988. 14 Jahre nach der Tat wollte Ministerpräsident Reinhard Höppner den zu lebenslanger Haft Verurteilten begnadigen und löste damit einen Proteststurm aus. Der Titelfall aus dem Jahr 1962 befasst sich mit einem Verbrechen, dass in der DDR recht selten war – ein Mord mit anschließender Zerstückelung der Leiche

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INHALT

Vorwort

Der Tod des Oberwachtmeisters

Der Sack unterm Kohlehaufen

Wie im »West-Schmöker«

Das Leichenpuzzle von Anhalt

Bei Klopfen Mord

Schnaps, Tabletten … Mord

Drei Schwestern

Tödliche Hilfe

Die Kunstraub-Verschwörung

Glossar und Abkürzungen

VORWORT

»Back to the roots« – unter diesem Arbeitstitel habe ich mich 2017 auf die Spurensuche nach Kriminalfällen begeben, die in der DDR im Bezirk Halle für Aufsehen gesorgt haben.

»Zurück zu den Wurzeln« deshalb, weil ich mit meinen letzten zwei Büchern »fremdgegangen« bin. Nach den authentischen Kriminalfällen zwischen 1999 und 2010, die sich zum größten Teil mit wahren Fällen im Bezirk Magdeburg beschäftigt haben, war es die Familienanwältin und Privatdetektivin Tanja Papenburg, die sich auf Mördersuche begeben hat.

Ganz aus der fiktiven Luft gegriffen war die Handlung dieser beiden Bände jedoch auch nicht. Denn die Geschichten hangelten sich mehr oder weniger an zwei Nachwende-Fällen in Sachsen-Anhalt entlang, die bis heute ungeklärt sind.

Doch vor gut einem Jahr bekam ich die Gelegenheit, erneut nach DDR-Fällen graben zu können. Diesmal lag mein Fokus auf dem Süden Sachsen-Anhalts.

Das »Leichenpuzzle von Anhalt« schaut auf einen Zeitraum zwischen 1948 (damals noch sowjetisch besetzte Zone) und 1990 zurück. Die neun Fälle beleuchten Taten, die es nach sozialistischer Staatsdoktrin so gar nicht gegeben haben durfte. Bis auf wenige Straftaten, die für dermaßen große Unruhe unter der Bevölkerung gesorgt haben, dass sie nur schwer zu deckeln waren, erfuhr die Bevölkerung kaum etwas von diesen Geschehnissen.

Mit den Fällen werden nicht nur die Straftaten geschildert, die Motive der Täter beschrieben sowie Zeugen und Opfer charakterisiert, sie sind auch ein Stück Zeitgeschichte und werfen ein Licht auf die Arbeit der damaligen Ermittler.

Die Chronologie beginnt mit einem Mord in Bad Bibra im südlichsten Zipfel Sachsen-Anhalts. Dort wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ein Polizist erschossen. Wie die Jagd nach dem Schützen damals ablief, die sich über mehrere Jahrzehnte hinzog, beschreibt dieser Teil des Buches.

Der Titelfall ist ein ungewöhnlicher, schildert er doch, wie ein Mordopfer zerstückelt wurde, um es so besser verschwinden lassen zu können. Eine weder damals noch heute alltägliche Tat. Ein ähnliches »Nachtatverhalten« kenne ich nur aus einem Fall aus dem Jahr 1980. Als ein 17-Jähriger gemeinsam mit seiner doppelt so alten Geliebten in Wolmirstedt deren Ehemann ermordete, und dem »Kettensäger-Fall« von 2005, bei dem ein Magdeburger seine Freundin zerstückelt hatte.

Eine politische Dimension hat ein Rentnermord aus dem Jahr 1988. Vierzehn Jahre nach der Verurteilung des Täters aus Bernburg widmete sich Ministerpräsident Reinhard Höppner der Sache und wirbelte damit ziemlich viel Staub auf.

Abschließend ist es mir noch ein Bedürfnis, mich bei der Staatsanwaltschaft Halle für ihre Unterstützung bei dem Buchprojekt bedanken. Ohne die Leitende Oberstaatsanwältin Heike Geyer und Staatsanwalt Hendrik Weber wäre das nun vorliegende Buch nicht gedruckt worden.

Bernd Kaufholz

Oktober 2018

Mit Sternchen (*) versehene Namen in den Kriminalfällen wurden vom Autor geändert.

DER TOD DES OBERWACHTMEISTERS

Am 18. Februar 1948 kontrollieren Schutzpolizisten des Ortspolizeiamtes Bad Bibra in den Abend- und Nachtstunden die Straßen der Kleinstadt. In jüngster Zeit hatte es im Ort mehrere Einbrüche gegeben. Außerdem sehen sie auf Befehl ihrer vorgesetzten Dienststelle in Naumburg in den Lokalen der Umgebung nach dem Rechten.

Nach 21.30 Uhr lassen sich Polizeioberwachtmeister Kurt Jöck und Bruno Ragnitz auch in Steinbach, einem Örtchen wenige Kilometer südlich von Bad Bibra, von einigen Männern und Frauen, die sich im »Gasthaus Rühe« vergnügen, die Papiere zeigen. Der Hinweis, dass sich bei den beliebten Tanzveranstaltungen auch die eine oder andere zwielichtige Gestalt herumtreibt, war von Hermann Kleinsimon, dem Bürgermeister Bad Bibras, gekommen. Und das Ortsoberhaupt der Stadt nahe der Landesgrenze zum Thüringischen hat es sich auch nicht nehmen lassen, selbst an der Kontrolle teilzunehmen.

Doch in der Nacht zum 19. Februar ist alles in Ordnung. Kleinsimon und die beiden Schutzpolizisten fahren mit dem Dienstwagen des Bürgermeisters kurz nach Mitternacht zum staatlich anerkannten Erholungsort zurück. Am Steuer sitzt Arthur Paul*. Der 47 Jahre alte Montageleiter wird immer dann von der Stadtverwaltung angefordert, wenn ein Kraftfahrer benötigt wird. Routiniert lenkt er den Wagen durch den heftigen Schneesturm, der in der Zwischenzeit eingesetzt hat, und hält mit dem Pkw 0.15 Uhr unmittelbar hinter dem Bahnübergang in der Steinbachstraße. Der Bürgermeister wohnt nur ein paar Schritte entfernt. »Naja, das war wohl heute nichts«, verabschiedet er sich bei Jöck und Ragnitz. »Aber vielleicht sind die Leute ja schlauer geworden und führen jetzt alle ein ordentliches Leben.« Als er die verdutzten Blicke der Polizisten sieht, lacht er laut auf: »Das ist natürlich nicht mein Ernst. Also dann, bis demnächst. Und noch einen ruhigen Dienst.« Dass er einen der Wachtmeister zum letzten Mal sieht, ahnt Kleinsimon in diesem Augenblick nicht.

Der Tatort, das Ortspolizeiamt in Bad Bibra. Vor den Schreibtischen liegt der erschossene Polizist.

Bereits als er angehalten hat, ist Arthur Paul ein Auto aufgefallen, das auf dem linken Bürgersteig in Richtung Stadt steht. Der Dienstwagenfahrer sieht den Bürgermeister auf das Fahrzeug zugehen und hört, wie das Fenster heruntergekurbelt wird. Trotz des Schneesturms kann Paul verstehen, dass der Fahrer dem Bürgermeister erzählt, er komme nicht weiter, weil die Batterie den Geist aufgegeben habe. »Ich schlafe erstmal im Auto. Früh sehe ich dann weiter«, hört Paul den Mann hinter dem Lenkrad sagen. Mit dieser Erklärung gibt sich das Ortsoberhaupt zufrieden und geht in Richtung seiner Wohnung.

Doch den beiden Polizisten kommt die Sache nicht geheuer vor. Sie steigen beide aus, um den Fahrer zu kontrollieren. Auch ihnen erzählt der Mann im Auto die Geschichte von der streikenden Batterie. »Wo kommen Sie so spät in der Nacht her?«, will Jöck wissen. »Aus Naumburg«, so die Antwort. Doch dann korrigiert sich der Mann: »Ich meinte natürlich aus Camburg.« Das Misstrauen der Wachtmeister wird stärker, denn das Fahrzeug steht genau in der anderen Fahrtrichtung. Jöck hakt nach: »Nun noch mal: Woher kommen Sie?« Der Gefragte bietet eine dritte Version an: »Aus Eckartsberga.«

Das reicht, um Jöcks Misstrauen weiter zu steigern, zumal er auf dem Rücksitz Säcke und Koffer liegen sieht: »Bitte steigen Sie aus.« Nachdem der Fahrer dem Befehl des Polizeioberwachtmeisters Folge geleistet hat, setzt sich der Polizist selbst hinters Steuer und tritt den Starter durch. Der Motor springt sofort an. »Glück gehabt«, sagt der Mann mit den zum Mittelscheitel gekämmten brünetten Haaren.

»Bitte begleiten Sie uns zum Polizeibüro. Wir müssen den Sachverhalt klären«, so Jöck. Oberwachtmeister Ragnitz setzt sich auf die Hinterbank, der Autobesitzer neben Jöck auf den Beifahrersitz. Die drei Männer folgen im Privat-Pkw Arthur Paul, der den Dienstwagen der Stadt zum Büro in der Schenkenbergstraße steuert.

Im Dienstraum der Polizisten verlangt Ragnitz die Papiere des Mannes. Kraftfahrer Paul beobachtet an den Türrahmen gelehnt, wie der Mann, der hinter dem rechten Schreibtisch sitzt, dem Polizisten am gegenüberstehenden Schreibtisch zwei Dokumente reicht – die Fahrpapiere für Pkw und Motorrad. Ausgestellt sind sie auf den Namen Bruno Priest* aus Camburg in Thüringen. Ragnitz wiederholt die Frage, was er so spät in Bad Bibra zu suchen habe. »Ich will zu meinem Bruder nach Nebra zum Tabakschneiden«, antwortet Priest. Auf die folgenden Fragen antwortet der 30-Jährige auffällig widersprüchlich. Ragnitz hakt nach: »Sie sind doch sicher nicht allein gekommen?« Als Priest auch das vehement abstreitet und sich weiter in Widersprüche verstrickt, entscheidet Ragnitz, den 30-Jährigen bis zum nächsten Morgen im Revier zu behalten. Jöck erklärt dem Verdächtigen: »Bis spätestens drei Uhr wissen wir, ob Sie die Wahrheit gesagt haben. Wir bringen Sie jetzt in die Zelle.«

Ragnitz steht hinter dem linken Schreibtisch auf und geht in den Vorraum, um das Vorhängeschloss für die Arrestzelle zu holen. Als er zurückkommt, stellt er sich an den kleinen Schreibmaschinentisch neben dem linken Schreibtisch: »Folgen Sie mir!« Arthur Paul öffnet die Tür zum Vorraum, und tritt zur Seite. Jöck hält Ragnitz kurz zurück und sagt: »Lass uns erstmal die Taschen durchsuchen.«

In diesem Moment steht Priest auf und greift in die rechte Außentasche seines Mantels. Die Polizisten sind überzeugt, dass er seine Taschen entleeren will, doch Priest zieht eine Pistole und schießt sofort zweimal auf Ragnitz, der direkt vor ihm steht. Dann richtet er die Waffe auf Jöck und gibt mehrere Schüsse ab.

Sofort stürzt Ragnitz getroffen zu Boden. Jöck macht eine halbe Drehung nach rechts, bevor auch er zusammenbricht. Der Schütze schnappt sich die Papiere, die noch auf dem Schreibtisch liegen, und entwendet Ragnitz’ Dienstwaffe aus dem Holster.

Paul gerät in Panik. Er rennt auf die Straße und versteckt sich hinter dem Nachbarhaus. Nach zwei, drei Minuten sieht er, wie Priest aus dem Revier kommt und zum Auto geht, das gegenüber dem Rathaus auf der Straßenseite in Richtung Kölleda steht. Der Wagen springt sofort an. Der Täter rast Richtung Naumburg davon.

Es ist 0.45 Uhr, als Paul zurück ins Polizeibüro eilt. Unmittelbar an der Tür zum Dienstraum liegt Jöck auf dem Rücken. Rechts neben dem Schreibtisch Ragnitz. Beide regen sich nicht. Der Kraftfahrer kniet sich erst neben den 28 Jahre alten Jöck, dann neben Ragnitz. Beide sind zwar bewusstlos, aber atmen noch.

Paul läuft auf die Straße, um Hilfe zu holen. Dabei trifft er auf Ewald Bruns*, der über den Diensträumen wohnt. »Laufen Sie zu Frau Dr. Hamann«, ruft er ihm zu. »Die beiden Polizisten wurden angeschossen.« Doch die Ärztin öffnet nicht, und Paul muss vom Revier aus einen anderen Arzt anrufen. Kostbare Zeit geht verloren. Als der angeforderte Mediziner Dr. Holter eintrifft, ist Ragnitz wieder bei Bewusstsein und sitzt stöhnend vor Schmerz auf einem Stuhl. Bei Jöck kann der Mediziner jedoch nur noch den Tod feststellen.

Die vier tödlichen Schussverletzungen

Gegen 1.30 Uhr klingelt bei Bürgermeister Kleinsimon das Telefon. Völlig aufgelöst erzählt ihm Paul, was sich im Polizeirevier zugetragen hat. Der 53-Jährige zieht sich schnell etwas über und geht zum Ortspolizeiamt. Dort verständigt er die Polizeidienststelle des Kreises in Kölleda. Kriminalobersekretär Bergmann und Kreisamtsleiter Grunatowski machen sich auf den Weg nach Bad Bibra. Telefonisch meldet Kleinsimon den Fall inzwischen ebenfalls dem Landpolizeiposten Burckersroda. Er teilt mit, dass der Täter ein gewisser Priest aus Camburg ist. »Aber passen Sie auf, der Täter hat zwei Pistolen dabei. Er hat nichts mehr zu verlieren.«

Um 3.48 Uhr geht in der Abteilung Mordkommission I in der Kriminaldirektion Halle eine sogenannte Ereignismeldung ein, die den nächtlichen Sachverhalt schildert. Kriminalobersekretär Schnelle und seine Mannschaft fahren nach Bad Bibra. Der erschossene Oberwachtmeister liegt noch im Revier, der schwerverletzte Ragnitz wartet indes immer noch auf den Transport ins Naumburger Krankenhaus. Ein Krankenwagen konnte »nicht beschafft werden«, wie es im Protokoll von Schnelle heißt. Kurz entschlossen wird Ragnitz mit dem Dienstwagen der Mordkommission zur Klinik gefahren.

Der Rücken des Ermordeten mit drei Austrittswunden

Am Tatort können die Mordermittler an Jöcks totem Körper vier Einschüsse feststellen: unter dem Kinn in der Mitte des Halses, an der rechten Halsseite, unter der rechten Achselhöhle und in der linken Brusthälfte. Drei Austrittswunden werden im Nacken und im Bereich des rechten und des linken Schulterblattes gefunden. Das vierte Projektil ist nicht ausgetreten. Der Steckschuss in die Brust habe wahrscheinlich das Herz getroffen und so zum Tod des Oberwachtmeisters geführt, notiert Kriminalobersekretär Schnelle.

Die Untersuchung im Krankenhaus von Naumburg ergibt, dass Ragnitz’ Oberarm von einem Projektil getroffen wurde. Die Verletzungen sind zwar schwer, aber nicht lebensgefährlich. Während die »Mord I« in Bad Bibra ermittelt, warten Beamte in Camburg vor der Wohnung des Schlossers Bruno Priest, um ihn festzunehmen. Wie sich später herausstellt, sind sie zu spät. Der Polizistenmörder war bereits gegen 5 Uhr, lange vor dem Eintreffen der Schutzpolizei, mit einem seiner Brüder in der Wohnung, hatte sich dort in großer Eile umgezogen und sie dann schnell wieder verlassen. Im Protokoll heißt es: »Es ist davon auszugehen, dass der Tatverdächtige über die Grenze in die Westzone flüchten will.« Das Kriminalamt in Weimar wird informiert und um »Mitfahndung« gebeten. Die Meldung wird an die Grenzstellen Heiligenstadt, Eisenach und Ellrich weitergeleitet. Dazu gehört auch die genaue Personenbeschreibung: »1,80 Meter groß, langes, schmales Gesicht, lange Haare, Fassonschnitt, längliche Nase, brünettes Haar, Mittelscheitel.«

Auch nach Bruno Priests Bruder Erich wird gefahndet. Inzwischen wird vermutet, dass der 27-Jährige an der Tat beteiligt war.

Fünf Tage nach den Schüssen, am Vormittag des 23. Februar, werden die Mordermittler in Bad Bibra von einer Mitteilung vom Ortspolizeiamt Camburg überrascht. Darin heißt es: »Die flüchtigen Brüder Erich und Ernst Priest haben sich in Camburg gestellt.« Die Aussage der Geschwister wird zitiert: »Wir drei Brüder waren am Freitag (20. Februar) in Naumburg und haben Bruno veranlasst, die Waffen abzugeben. Wir sind danach gemeinsam bis Saalfeld gefahren, dort haben wir Bruno alleine gelassen.«

Die Brüder sagen darin außerdem aus, dass Bruno nach München wollte. Sie sollten seiner Ehefrau mitteilen, dass sie alles stehen- und liegenlassen und sofort in die bayerische Landeshauptstadt kommen solle.

Außerdem werden die bislang ahnungslosen Beamten über die Vorgänge der letzten Tage informiert: Tatsächlich wurde von der Kriminaldienststelle Kölleda eine Meldung über eine Waffenabgabe an das Kriminalamt Halle weitergegeben. Der darin enthaltene Bericht deutet allerdings nicht grade auf saubere Arbeit der ermittelnden Organe hin. Im Aktenvermerk wird vom »21. Februar« gesprochen und davon, dass »die beiden Waffen durch Ernst und Erich Priest in Naumburg bei der Amtsanwaltschaft« abgegeben wurden. Und obwohl der Amtsanwaltschaft bekannt ist, dass »Waffensachen reine Angelegenheit der zuständigen Operativgruppe oder der Kriminalpolizei sind, wurden die Waffen ohne Vernehmungsverhandlung hinterlegt.«

Patronenhülse und Geschoss vom Kaliber 7,65 mm

Laut Bericht handelt es sich bei den Pistolen um eine » ›08‹ mit Magazin und sechs Schuss Munition sowie einen angerosteten ›Browning‹ mit Magazin und zwei Schuss Munition«.

Es wird weiterhin hervorgehoben, dass die Beamten der Kriminaldienststelle Kölleda aufgrund der Informationen durch die Ortspolizisten in Camburg angewiesen wurden, Ernst und Erich Priest »sofort festzunehmen« und nach Kölleda zu überführen. Die Waffen wurden an die Kriminalobersekretäre Anders und Meister übergeben und umgehend nach Kölleda gebracht. Außerdem schaltete sich nun auch das Landeskriminalamt Halle mit der Forderung ein, alle Ermittlungsergebnisse unverzüglich an die Abteilung K7 des LKA weiterzuleiten.

Ein Kurier brachte die Fotos des gesuchten Polizistenmörders und seiner Brüder nach Halle. Alle drei Geschwister wurden zur Fahndung ausgeschrieben.

Nachdem sie erfahren hatten, dass die Polizei nach ihnen sucht, stellten sich Erich und Ernst Priest am 22. Februar freiwillig in Camberg und wurden in Untersuchungshaft nach Kölleda überführt.

Während eines Verhörs am 24. Februar schildert der 47-jährige Ernst, der 1927 wegen Wilddieberei und Totschlags in Torgau zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, wie er den 18. Februar verbracht hat. Er sei mit seinem Bruder Bruno verabredet gewesen. »Wir wollten am Nachmittag nach Nebra fahren, um dort von einer Farm Fuchsfleisch zu holen. Ich habe dann meinen Bruder Erich gefragt, ob er Lust hätte, mitzukommen und unsere Verwandten in Nebra zu besuchen.

Um 16 Uhr fuhren wir los. Im Gasthaus von Steinbach tranken wir einen Kaffee und anschließend ging es weiter nach Bad Bibra. Dort wollte ich einen Koffer voll Rolltabak verarbeiten lassen.« Doch die Tabakschneiderei sei geschlossen worden. Nachdem er und seine Brüder eine Zeitlang vergeblich nach einer anderen Möglichkeit gesucht hätten, den Tabak schneiden zu lassen, seien sie nach Nebra weitergefahren. »Dort verbrachten wir den Tag mit unseren Geschwistern.«

Gegen 23.15 Uhr seien sie in Nebra abgefahren. »Wir wollten in Bad Bibra nochmal versuchen, einen Tabakschneider zu finden. Wir stellten den Wagen auf einer Straße mit Gefälle ab, weil die Batterie schwach war, und das Auto schlecht ansprang. Ich ging dann mit Erich in die Marktstraße und klopfte beim Tabakschneider an. Aber der hat nicht aufgemacht, und wir gingen zurück zum Auto.« Doch das habe nicht mehr dort gestanden, wo es abgestellt worden war. »Wir haben es gesucht und wussten nicht, warum Bruno weggefahren ist.«

»Aber Sie beide haben die Zeit noch genutzt, um in den Friseurladen in der Marktstraße 19 einzubrechen«, äußert der Kriminalsekretär, der den Arbeiter verhört, einen Verdacht. »Schließlich ist Ihr Bruder Erich ja Friseur und konnte die gestohlene Haarschneidemaschine, die acht Schneideköpfe und die drei Rasiermesser sowie die Effilierschere sicherlich gut gebrauchen? Außerdem waren Sie doch in der Tatnacht zumindest in unmittelbarer Nähe des Geschäftes.«

Doch der Verhörte streitet den Einbruch vehement ab: »Ich kann nur sagen, dass alles so gewesen ist, wie ich es gesagt habe.« Er habe auch nicht gewusst, dass Bruno eine Pistole dabeihatte.

»Nachdem wir das Auto eine ganze Weile gesucht haben, gingen wir wieder zu dem Platz, wo es gestanden hatte. Da kam Bruno angerast und bremste scharf neben uns ab.« Er habe gerufen: »Schnell, schnell! Wir müssen fort. Ich habe einen Zusammenstoß mit der Polizei gehabt!« Auf der Fahrt in Richtung Steinbach habe der Bruder nur »unzusammenhängendes Zeug« geredet. Er sei von einem Polizisten geschlagen worden. Brunos Gesicht war mit Blut beschmiert und auf der rechten Seite aufgekratzt. Seine Unterlippe war aufgerissen. Kurz vor Camburg habe Bruno dann gesagt, dass er zwei Pistolen dabeihätte und schnell nach Hause fahren müsse, um sich umzuziehen. »Er gab dann auch zu, dass er bei einem Handgemenge ›blindlings um sich geschossen‹ hat. Er hat ›Warnschüsse‹ abgegeben und dabei wohl einen Polizisten getroffen.«

Bruno habe behauptet, man beschuldige ihn, auf Schieberware aus Steinbach zu warten. »Ich wurde mit der Pistole bedroht.« Auch vom Diebstahl der Dienstwaffe von Bruno Ragnitz habe er berichtet.

Beim Umziehen in der Wohnung habe Ernst Priest seinen Bruder aufgefordert, ihm die Pistolen zu geben. »Doch der wollte nicht.«

Dann schildert er den weiteren Verlauf der Tatnacht: »Wir waren dann noch bei unserem Bruder Erich. Von Dornburg fuhren wir mit dem Zug um 5 Uhr bis Saalfeld. Bruno wollte von dort bei Sonneberg über die Zonengrenze.« Bevor sich die Wege trennten, habe Bruno ihnen doch noch die Pistolen übergeben.

Der Kriminalsekretär hakt misstrauisch nach: »Es ist nicht besonders glaubwürdig, dass ein Mörder, der zum Äußersten entschlossen ist, seine Waffe aus der Hand gibt, sozusagen sein Verteidigungsmittel. Es handelt sich bei den Pistolen doch bestimmt um Ihre eigne Waffe und die Pistole Ihres Bruders Erich?«

Ernst Priest streitet auch diesen Vorwurf ab.

Am 21. Februar seien er und Erich nach Naumburg gefahren, um die Pistolen abzugeben. »Um 7.30 Uhr waren wir beim Rechtsanwalt Dr. Schnell. Der erklärte uns, dass es sich um einen ›schwierigen Fall‹ handelt.« Mit dem Bürovorsteher der Kanzlei seien sie dann zur Amtsanwaltschaft gegangen. Dort hätten sie die Pistolen gegen Quittung hinterlegt.

Auch Erich Priest wird in der Kreispolizeidienststelle Kölleda verhört. Wie sein Bruder sitzt er dort in Untersuchungshaft. Er schildert den Ablauf des Tattages wie Ernst und sagt ebenfalls aus, Bruno sei »ziemlich aufgeregt gewesen«, als sie in Bad Bibra wieder zu ihm ins Auto gestiegen seien. Der Bruder habe von einem »Handgemenge« und von Schüssen auf Polizisten gesprochen. Auch Erich war das Blut aufgefallen, mit dem Bruno »besudelt« war. Das Geschehen an den folgenden Tagen schildert er ebenfalls so wie sein Bruder Ernst. Er fügt allerdings an, er und Ernst hätten vergeblich versucht, Bruno zu überzeugen, mit zur Polizei zu kommen. »Und ihn mit Gewalt zur Polizei zu schleifen, das brachten wir nicht übers Herz. Er ist doch unser Bruder.«

Der Täter in Wehrmachtsuniform

Der Mord an Oberwachtmeister Jöck zieht Kreise. Im Zuge der Ermittlungen findet die Polizei bei Verwandten des Täters Zucker und Soda – sogenannte schwarze Ware, die Mitglieder der Priest-Familie versteckt haben. Brisant ist eine Aussage von einem Mann aus Altenrode im Kreis Querfurt, der behauptet, er habe gehört, dass der gesuchte Polizistenmörder damit geprahlt haben soll, auch schon »einen Angehörigen der Roten Armee erschossen« zu haben. Die Abteilung 5 des Kriminalamtes in Halle geht dieser Aussage nach. Doch der 25 Jahre alte Maurer aus Nebra streitet beim Zeugenverhör am 28. Februar in der Kriminaldienststelle Kölleda ab, jemals solch eine Bemerkung gemacht zu haben. Er kenne die Gebrüder Priest viel zu wenig, um so etwas behaupten zu können. Auch, dass er erzählt haben soll, die Brüder hätten Zucker gestohlen, könne er nicht bestätigen. »Ich habe nichts Derartiges herumerzählt.«

Bei einer weiteren Vernehmung von Erich Priest Ende Februar versucht der Kriminalobersekretär herauszufinden, wohin sich der gesuchte Mörder abgesetzt haben könnte. »Wir haben keine Verwandten in den Westzonen«, beteuert der Friseur. »Nur unsere Schwester Martha in Bremen.« Allerdings sei Bruno während der Zeit beim Reichsarbeitsdienst in einem Ort bei München gewesen. »Aber ob er dahin noch Kontakte hat …?« Und auch Ernst Priest, der aus dem Polizeigefängnis vorgeführt wird, zuckt nur die Schultern, als er gefragt wird, wo Bruno sein könnte: »Er hat in Saalfeld nur gesagt, dass er nach München will.«

Die Fahndung wird auf andere Besatzungszonen ausgeweitet. Nachdem der Generalstaatsanwalt in Halle kategorisch ablehnt, das Verfahren gegen Bruno Priest einzustellen, erlässt das Amtsgericht Kölleda am 10. Mai 1948 gegen den Schlosser Bruno Priest Haftbefehl. Als aktueller Aufenthaltsort wurde laut der Akten Neukirchen im Kreis Ziegenhain bei Kassel in der amerikanischen Zone ermittelt.

Durch die Gendarmerie-Station Ziegenhain wird über die zuständige Staatsanwaltschaft in Marburg/Lahn einen Tag später mitgeteilt, dass die Fahndung in Neukirchen erfolglos war. »Unter der im Haftbefehl angegebenen Adresse, Bahnhofstraße 12, ist kein Bruno Priest gemeldet. Eine Person mit diesem Namen wohnt dort auch nicht.«

Der Haftbefehl und die Bitte um Fahndung gehen von Halle an das Kriminalpolizeiamt für die britische Zone in Hamburg. Aber auch dort ist nichts über den Gesuchten bekannt.

Obwohl die Staatsanwaltschaft sich intensiv um die Suche nach Bruno Priest bemüht und von der Kripo fast monatlich Ermittlungsberichte anfordert, läuft die Fahndung ins Leere. Die Brüder des gesuchten Mörders werden »aus der deutschen Gerichtsbarkeit entlassen«, aber nicht auf freien Fuß gesetzt. Ihnen war zwar weder im Zusammenhang mit den Schüssen auf den Polizisten noch mit dem Einbruchdiebstahl beim Friseur eine Straftat nachzuweisen, allerdings wird ihnen illegaler Waffenbesitz vorgeworfen, und der fällt unter Besatzerrecht. Sie warten im Polizeiarrest auf die Überstellung zum örtlichen NKWD, von dem sie zu mehreren Jahren Haft verurteilt werden. Erich Priest gelingt 1953 die Flucht aus dem Gefängnis Gräfentonna bei Gotha in Thüringen.

Am 20. November 1948 wird das Ermittlungsverfahren gegen Bruno Priest eingestellt.

In einem Schreiben des Oberstaatsanwalts der Stadt Halle an den Leiter der Mordkommission des Präsidiums der Saalestadt wird der Fall aber zwei Jahre später wieder thematisiert. Darin kritisiert der Oberstaatsanwalt, dass der Mord an den Polizisten immer noch ungesühnt ist, und erkundigt sich, ob die Ermittlungen gegebenenfalls wieder aufgenommen werden könnten. Die Antwort des Moko-Chefs lautet: »Infolge allgemeiner Arbeitsüberlastung konnten in der Mordsache Jöck bisher noch keine weiteren Ermittlungen getätigt werden.«

Zwei Jahre später wird der Fall ins Deutsche Fahndungsbuch des Bundeskriminalamtes aufgenommen. Allerdings lediglich als »Aufenthaltsermittlung«, da »kein beglaubigter Haftbefehl aus der DDR vorliegt«.

Die Jahre vergehen, und die Kriminalisten, die 1948 mit dem Polizistenmord in Bad Bibra zu tun hatten, gehen nach und nach in den Ruhestand. Fast 40 Jahre später, im September 1987, kommt dennoch ein letztes Mal Bewegung in den Fall. In einer »Verfügung« der Staatsanwaltschaft Halle an den Kripo-Leiter der Volkspolizei-Bezirksbehörde heißt es unter anderem: »In den folgenden Jahren sind die Fahndungsausschreibungen zur Verhaftung mehrfach verlängert worden, die letzte Verlängerung erfolgte 1984, ohne dass weitere Prüfungshandlungen vorgenommen wurden, ob Priest überhaupt noch am Leben ist.« Es wird darauf verwiesen, dass erneut Ermittlungen angeschoben werden müssen, um den Aufenthaltsort des Gesuchten festzustellen beziehungsweise die Frage zweifelsfrei zu beantworten, ob der inzwischen 70-Jährige noch lebe. Aus den Akten werden fünf Punkte zitiert, die mögliche Hinweise für die Ermittlungen sein könnten. Der vielversprechendste ist eine Liste mit Personen, darunter die Ehefrau Priests, die eventuell Angaben über seinen Verbleib machen können. »Die Ermittlungen müssten bis zum 31. Oktober 1987 abgeschlossen sein, da dann zu entscheiden ist, ob eine neue Fahndungs-/Verhaftungsausschreibung erfolgen muss«, endet das Schreiben an VP-Oberst Amler.

Einen Tag vor Ablauf der Frist wird der Staatsanwaltschaft mitgeteilt, dass »die im Oktober geführten Ermittlungen (…) keine neuen Hinweise ergeben haben«. Es sei mit 16 Verwandten des Polizistenmörders gesprochen worden. Keiner der noch in der DDR lebenden Befragten habe ein Lebenszeichen vom Gesuchten erhalten. »Es kann vermutet werden, dass Bruno Priest nicht mehr am Leben ist«, schreibt Kripo-Major Löser.

Ende 1994 glaubt die Staatsanwaltschaft Halle, nach nunmehr 46 Jahren, die Identität Priests festgestellt zu haben. Staatsanwalt Wölfel schreibt in seinem Bericht am 30. Januar 1995, dass Recherchen im Falle des Polizistenmordes den »dringenden Verdacht« ergeben hätten, dass ein gewisser »Hugo Walter Heinz Freitag in Dortmund unter falschem Namen gelebt hat«. Doch auch diese Hoffnung zerschlägt sich. Eine Verwandte des Gesuchten identifiziert Priest auf den Fotos, die ihr vorgelegt werden, nicht.

Im Jahr 2000 wird die Fahndung endgültig eingestellt. Staatsanwalt Hendrik Weber beantragt 2007 eine letzte Frist für zehn Jahre. 2017 werden die Akten dem Landeshauptarchiv in Merseburg übergeben. Bruno Priest, der Polizistenmörder von Bad Bibra, wäre in dem Falle, dass er noch lebt, zu diesem Zeitpunkt 100 Jahre alt gewesen.

DER SACK UNTERM KOHLEHAUFEN

Richard Räder* sitzt am Freitag, dem 22. Mai 1953, im Kommissariat Kriminaltechnik in Halle Polizeimeister Rasch gegenüber. »Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben«, sagt der 43-Jährige. »Am 20. Mai ist meine acht Jahre alte Tochter Helga nicht nach Hause gekommen. Sie sollte gegen 10.45 Uhr für eine Mieterin unseres Hauses im Kuttelhof eine Brause kaufen. Von diesem Weg zur Herrenstraße ist sie nicht zurückgekommen. Ich weiß nicht, wo sie sein könnte.«

»Wer ist die Bürgerin, für die Ihre Tochter einkaufen sollte?«

»Es handelt sich um Fräulein Ruth Banse*, die in unserem Haus wohnt. Sie kam am 20. Mai zu mir und sagte, dass sie schon eineinhalb Stunden auf Helga wartet.«

Vielleicht sei sie bei der Hitze baden gegangen, vermutet der Vater. »Sie hat wie im letzten Jahr einen Dauerbadeschein und badet öfter im Pionierpark auf der Peißnitz.«

»Haben Sie ein Foto Ihrer Tochter dabei? Und dann brauche ich noch eine Personenbeschreibung«, sagt der Polizeimeister.

Räder zieht ein Foto aus seiner Brieftasche und gibt es Rasch. »Helga ist schlank. Sie hat hellblondes Haar, links gescheitelt. Ihre Augenfarbe ist graublau, ihr Gesicht eher oval.«

»Und das Gebiss?«

»Lückenhaft.«

»Was hatte Ihre Tochter an, als sie das Haus verließ?«

»Eine schwarze Turnhose und einen rosa Schlüpfer. Kein Oberteil und keine Schuhe.«

Nachdem die Vermisstenanzeige aufgenommen wurde, informiert Unterwachtmeister Hesse gegen 15 Uhr Wasserschutz- und Transportpolizei. Das Jugendlager auf der Peißnitz-Insel wird in Kenntnis gesetzt. Die Leitung kann allerdings nicht weiterhelfen. Helga ist dort nicht gesehen worden.

Helga Räder

Die Behörde in Halle schickt Fernschreiben an die Volkspolizeikreisämter in Bernburg, Merseburg, Eisleben, Köthen und Bitterfeld. Der Vorgang wird »zur weiteren Bearbeitung dem Kommissariat Allgemeine Kriminalität übergeben«.

Erste Ermittlungen in dem Vermisstenfall ergeben, dass das Mädchen das letzte Mal im Geschäft »Prenzlau« in der Herrenstraße gesehen wurde. Begleitet wurde sie dabei von der Tochter der Familie Krausche*. Die Freundin erzählt der Polizei, dass es im Geschäft in der Herrenstraße keine Limonade gegeben habe, und Helga dann ein paar Häuser weiter zum Konsum gegangen sei. Die Verkäuferinnen bestätigen, dass das Kind dort gewesen ist.

Else Räder*, die Mutter der Vermissten, antwortet auf die Frage, ob sie den Verdacht habe, dass jemand etwas mit dem Verschwinden Helgas zu tun haben könnte: »Eine Beschuldigung gegen jemanden kann ich nicht aussprechen. Ich kann nicht bestimmt sagen, dass ihr jemand etwas angetan hat. Eines möchte ich aber noch angeben: Mein Kind fährt sehr gerne mit Autos mit.«

Die 39-Jährige ist überzeugt davon, dass Helga »nur mit Menschen mitgeht, die sie kennt«. Dann äußert sie doch noch einen Verdacht: »Ich kenne einen Paul Wolff*, der früher neben uns im Kuttelhof gewohnt hat. Jetzt wohnt er in der Leipziger Straße, und er liegt mit seiner Frau in Scheidung. Es ist möglich, dass er Helga getroffen hat, und sie mit ihm gegangen ist, weil sie ihn kennt.«

Die Kripo ermittelt, dass Wolff wegen Sittlichkeitsdelikten vorbestraft ist. Richard Räder erinnert sich daran, dass er den beschäftigungslosen Epileptiker am Tag des Verschwindens seiner Tochter gegen 11.20 Uhr unter dem Fenster seiner Wohnung im Kuttelhof vorbeigehen sah.

Die Aussagen der Eltern sind für Rasch, den zuständigen Meister der Volkspolizei von der Abteilung Kriminaltechnik, Grund genug, Paul Wolff vorzuladen. Bereits um 17 Uhr wird er im Kommissariat AK 1 des Kreisamtes verhört. Bevor er zu dem Verschwinden des Mädchens befragt wird, soll er sich zu seinem persönlichen Werdegang äußern. Einen Beruf habe er nicht erlernt, so der Mann, der eines von 16 Geschwistern ist. »Ich habe ja meine Krankheit seit dem 12. Lebensjahr. Ich habe hin und wieder gebettelt, um mich davon zu ernähren.« 15 Jahre zuvor sei er »von der damaligen Regierung sterilisiert« worden.

Am Mittwoch dem 20. Mai, sei er zu seiner Frau auf den Kuttelhof gegangen, mit der er trotz der Scheidung »immer noch geschlechtlich verkehre, soweit ich den Geschlechtsverkehr aufgrund meiner Sterilisation ausführen kann«. Am betreffenden Tag sei er von 17 bis 21 Uhr bei ihr gewesen. Er habe danach seine Frau ein Stück auf ihrem Weg zur Arbeit begleitet. »Anschließend bin ich zu meiner Mutter gegangen, in die Leipziger Straße, wo ich wohne.« Ein kleines Mädchen habe er nicht getroffen.

Da der 46-Jährige weder schreiben noch lesen kann, wird ihm das Protokoll vorgelesen. Die Überprüfung seines Alibis ergibt, dass er mit dem Verschwinden der kleinen Helga nichts zu tun haben kann.

Am 26. Mai 1953 veröffentlicht die Bezirksbehörde der VP ein sogenanntes Mithilfeersuchen in der Tageszeitung »Freiheit«. Darin wird mitgeteilt, es werde davon ausgegangen, dass Helga zum Baden gegangen sei. Dabei habe sie eine leere Brauseflasche bei sich gehabt. »Wer hat das Mädchen auf dem Weg zum Bade gesehen?« Eine Personenbeschreibung und ein Foto Helgas werden abgedruckt.