Todesschreie an der Waisenhausmauer - Bernd Kaufholz - E-Book

Todesschreie an der Waisenhausmauer E-Book

Bernd Kaufholz

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Beschreibung

Neun Bücher über authentische Kriminalfälle hat Bernd Kaufholz seit 1999 inzwischen verfasst, und mit jedem davon seine Leserschaft immer wieder gefesselt, zuletzt mit dem »Leichenpuzzle von Anhalt« (2018). Anlass genug, die spektakulärsten davon in einer Best-Of-Ausgabe erneut zu präsentieren. Der Autor hat dafür die spannendsten 60 Fälle herausgesucht, die sich über einen Zeitraum von 386 Jahren spannen, angefangen mit einem historischen Kriminalfall von 1602 über Delikte in der sowjetischen Besatzungszone bis hin zu Schwerverbrechen in der DDR im Jahr 1988. Alle neu aufgelegten Fälle entstammen den nicht mehr lieferbaren Kaufholz-Bänden der Reihe »Spektakuläre Kriminalfälle«.

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Seitenzahl: 149

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Alle abgedruckten Kriminalfälle dieser Ausgabe erschienen erstmals im Mitteldeutschen Verlag, Halle (Saale), in den Bänden „Tod unterm Hexentanzplatz“ (1999), „Der Ripper von Magdeburg“ (2001), „Die Arsen-Hexe von Stendal“ (2003) bzw. „Der Amokschütze aus der Börde“ (2004).

Hinweis: Mit Sternchen (*) versehene Namen in den Kriminalfällen wurden vom Autor geändert.

2019

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Inhalt

Mord für ein paar Stiegen Obst

Der Knochenfund in Fermersleben

Der Mord des falschen Polizisten

Der Polizistenmord in Zelle 16

Die Arsen-Hexe von Stendal

Der Hammer-Mörder von Calbe

Ein Mord, zwei Geständnisse

Die Kopfkissen-Mörderin

Der Tod des Eisenbahners

Der Mörder vom Rotehornpark

Der Magdeburger Gattenmord

Der Tote in den Spiegelsbergen

Todesschreie an der Waisenhausmauer

Der Mord am Kindergartenzaun

Das tote Kind im Schrebergarten

Der Ripper von Magdeburg

Mord für ein paar Stiegen Obst

Es sollte ein schöner Abend werden. So hatten es sich Emma Hoppenz und ihr Bekannter August H. jedenfalls vorgenommen. Der Spätsommer ist an diesem 2. September 1950 noch einmal warm und der Weg nahe einem Obstgarten in Gernrode ideal, um den Tag friedlich ausklingen zu lassen.

Völlig unerwartet peitschen plötzlich Schüsse. August H. sieht noch den ungläubigen Blick in den Augen seiner Partnerin, dann stürzt Emma Hoppenz zu Boden. Instinktiv wirft sich H. neben die Sterbende. Das rettet ihm wahrscheinlich das Leben. Denn die nächsten Schüsse, die ihm gelten, gehen über seinen Kopf hinweg.

Kaum 24 Stunden später kontrollieren Nachtwächter Erfurt und sein Kollege in Westerhausen bei Blankenburg eine Plantage. Dabei erwischen sie zwei Männer. Die Apfeldiebe greifen sofort zu den Waffen und schießen auf die Wächter. Erfurt wird von einem Explosivgeschoss der Oberschenkel zerfetzt. Er verblutet. Der zweite Wachmann kann fliehen. Für ein paar Stiegen Obst wurden Diebe zu Mördern.

Die beiden gehören zu einer Bande, die seit 1948 Harz und Vorharz unsicher macht. Auf ihr Konto gehen unzählige Einbrüche, acht Raubüberfälle, vier Mordversuche und die zwei Morde im September 1950. Die Verbrecher nehmen in den Landkreisen Wernigerode, Quedlinburg und Sangerhausen alles mit, was man nur irgendwie zu Geld machen kann: Fahrräder, Autos, Lastkraft- und Ackerwagen, einen 18 Zentner schweren Bullen, Kühe, Schweine, Ziegen und Nahrungsmittel. Wehe demjenigen, der die Bande beim Stehlen ertappt. Wer Glück hat, kommt mit Knüppelschlägen davon.

Hier wohnten Ende der 1940er-Jahre die Körner-Brüder. Das Gehöft in Döben bei Schönebeck wurde inzwischen saniert.

Die Kripo in Quedlinburg schafft es gar nicht mehr, die Anzeigen zu bearbeiten, von einem Ermittlungserfolg ganz zu schweigen. Die Wahlen stehen in der DDR bevor, und die Polizei des Kreises gerät immer mehr unter Druck. Die Volkspolizei-Landesbehörde Sachsen-Anhalts bildet eine Einsatzgruppe. Ihr Kern ist die Mordkommission. Chef der Sonderermittler wird der Leiter des Dezernats B, VP-Kommandeur Müller.

Zuerst werden die Spuren beider Mord-Tatorte ausgewertet. Die sichergestellten Patronenhülsen gehören zu einem deutschen Karabiner 98 und einer FN-Pistole belgischen Fabrikats.

Müller weist als Nächstes an, alle Wohnungen im Aktionsradius der Bande zu durchsuchen. Besonders gründlich werden mutmaßliche Wilderer und Leute, die verdächtigt werden, illegal Waffen zu besitzen, unter die Lupe genommen. Dabei werden zig schwarze Waffen beschlagnahmt und untersucht, viele Strafverfahren werden eingeleitet, aber auf die Mordwaffen stoßen die Ermittler nicht.

Obwohl die Sonderermittler beinahe 24 Stunden am Tag arbeiten, kommen sie nicht weiter. Es gibt keine heiße Spur. Die zuständige Staatsanwaltschaft stellt die Ermittlungsverfahren vorläufig ein. Die Untersuchung der eingezogenen Pistolen und Gewehre geht auf Anweisung der Landeskriminalpolizei allerdings weiter. Die Waffen werden zu Vergleichszwecken an die kriminaltechnische Untersuchungsstelle nach Halle geschickt. Doch vorerst können auch die Waffenexperten keinen Erfolg verbuchen, und selbst die größten Optimisten beginnen bereits zu resignieren.

Doch dann kommt der kaum noch erwartete Durchbruch. Nach 13 Monaten stoßen die Kriminaltechniker auf eine Pistole des Typs FN. Schussproben ergeben: Es ist die Waffe, mit der Emma Hoppenz am 2. September 1950 in Gernrode erschossen wurde. Die belgische FN war bei der Durchsuchung eines Bauernhofes in Döben bei Schönebeck sichergestellt worden. Das Gehöft gehört den Brüdern Walter und Willi Körner.

Die Kripo beißt sich in dieser vielversprechenden Spur fest. Denn die Döbener sind keine Unbekannten für die Polizei. Beide werden schon seit einiger Zeit verdächtigt, ihre Finger in Viehdiebstählen zu haben. Die neben der belgischen Pistole beschlagnahmten Bolzenschussgeräte und Schlachterwerkzeuge untermauern diesen Verdacht. Die Kripo greift zu. Walter Körner kommt in Untersuchungshaft. Doch Willi gelingt es, vor seiner Verhaftung zu fliehen.

Nun wird die Mordkommission in Halle aufgestockt. Sie nimmt die Ermittlungen wieder in die Hand. Der Einsatzleiter, ein VP-Oberkommissar, schreibt später: „Die vordringlichste Aufgabe bestand in der Ergreifung des flüchtigen und vermutlich bewaffneten Verbrechers Willi Körner und der Herstellung des Zusammenhanges zu weiteren, noch nicht aufgeklärten Verbrechen, insbesondere in den Kreisen Quedlinburg und Schönebeck.“

Doch sowohl Walter Körner als auch seine Ehefrau und die Frau des Flüchtigen leugnen hartnäckig. Walter Körner schiebt alles seinem Bruder Willi in die Schuhe. Dass die Untersuchungen nicht vorankommen, liegt auch daran, dass es eine undichte Stelle beim Volkspolizeikreisamt Quedlinburg gibt; ein Verwandter der Körner-Brüder arbeitet dort als Kraftfahrer. Er kennt immer den neuesten Ermittlungsstand und weiß, was die Kripo plant. So lässt er die Schuhe neu besohlen, die einer der Brüder trug und von denen es einen Tatort-Gipsabdruck gibt. Die Fahrräder, die die Körners benutzten, werden zerlegt und die Einzelteile verscherbelt. Auch den Karabiner lässt er verschwinden. Bis Ende November 1951 kann der VP-Kraftfahrer seine Verschleierungstaktik anwenden, dann fliegt sein Verrat auf. Gegen ihn wird Haftbefehl erlassen. Insgesamt werden elf Bandenmitglieder ermittelt, zehn werden verhaftet. Nur Willi Körner ist noch auf der Flucht. Doch die Polizei vermutet, dass dessen Ehefrau nach wie vor Kontakt mit ihm hat. Sie wird deshalb überwacht. Bei einer Wohnungsdurchsuchung finden die Kriminalisten auf einem Abstellbord dann auch einen noch feuchten Rasierpinsel. Das Haus wird observiert, doch Willi Körner lässt sich nicht sehen. Die Kripo verhaftet daraufhin die Ehefrau. Nach einem stundenlangen Verhör verrät sie, dass sich Willi Körner bei einem Bauern in Breitenstein versteckt hat.

Ein 14-köpfige Festnahmegruppe stürmt in einer regnerischen Novembernacht das Anwesen. Es kommt zum Schusswechsel. Körner springt aus einem Giebelfenster in vier Metern Höhe. Dabei feuert er weiter und trifft einen Polizisten in den Oberschenkel. Er versucht, freies Gelände zu erreichen, und läuft genau in die Arme der VP-Posten, die dort absperren. Körner versucht auch dort wieder, sich den Weg freizuschießen. Dabei wird er selbst von einer Kugel getroffen. Er bricht tot zusammen.

Am 24. November 1952 beginnt die Hauptverhandlung vor dem Bezirksgericht Halle. Es geht um zwei Morde, drei Mordversuche, acht Raubüberfälle und rund 150 Diebstähle. Die Anklageschrift des Oberstaatsanwaltes umfasst 388 Blatt, einen 71 Seiten langen Schlussbericht sowie fünf Aktenbände mit Anlagen. Am 27. November wird der Hauptangeklagte Walter Körner zweimal zum Tode, zu 15 Jahren Zuchthaus und Ehrenverlust auf Lebzeiten verurteilt. Das Vermögen der Körners wird eingezogen.

Der Knochenfund in Fermersleben

„Bei Bauarbeiten in der Straße Alt Fermersleben wurden am 30.05.00 um 8.50 Uhr menschliche Gebeine gefunden. Es handelt sich wahrscheinlich um zwei Oberschenkel-, zwei Arm- und einen Zehknochen sowie um einen Teil des Schädeldachs.“ Hinter dieser sachlichen Polizeimeldung könnte sich ein Vermisstenfall aus der Mitte der 1950er-Jahre verbergen.

Der Rosenmontag des Jahres 1955 ist bitterkalt. Das Quecksilber steht auf minus 21 Grad. Die Magdeburger quälen sich seit Tagen durch eine meterhohe Schneedecke.

In Fermersleben, unten am Elbweg, wo die Prellbergs unweit der alten Fähre Michaelis in einem an Land gezogenen Kettendampfer wohnen, verabschiedet sich Sohn Klaus-Werner abends von seiner Mutter. Der 19-Jährige hat extra mit einem Kollegen aus der Gießerei den Dienst getauscht, um Rosenmontag im „Schwarzen Adler“ in Buckau zu feiern.

Ilse Prellberg ruft aus dem Bullauge ihrer Wohnung dem jungen Mann nach: „Willst du wirklich gehen – bei dem Nebel?“ Klaus-Werner ist schon fast in der milchigen Suppe verschwunden, als er antwortet: „Wir haben um einen Kasten Bier gewettet.“

„Das waren die letzten Worte, die ich von Klaus gehört habe“, erinnert sich Ilse Aschenberg (zuvor Prellberg) in ihrer Magdeburger Zehngeschosserwohnung. Im Büfett steht das gerahmte Foto des jungen Mannes. Das Einzige, was der heute 87-Jährigen außer den Erinnerungen von ihm geblieben ist.

„Als ich am nächsten Morgen von der Nachtschicht kam, habe ich überall herumgehorcht, wo Klaus sein kann. Dann bin ich zur Polizei“, erzählt die Rentnerin. „Doch da haben sie die ganze Sache nicht ernst genommen. ‚Wer weiß, unter welchem Rock der steckt‘, haben sie gesagt.“

Ilse Aschenberg glaubt nicht, dass sich die Polizei große Mühe gegeben hat. „‚Der ist bestimmt ertrunken oder in den Westen abgehauen‘, wurde mir in der Dienststelle Am Buckauer Tor gesagt.“ Sie habe zwar gehört, dass zwei Brüder mal in Verdacht geraten sein sollen, etwas mit dem Verschwinden ihres Sohnes zu tun zu haben. „Aber richtig gesagt, hat mir keiner was.“

Die Jahre vergingen und immer wieder mal hatte die verzweifelte Frau einen Funken Hoffnung, etwas über ihren Sohn zu erfahren. „Einmal wurden am Kettendampfer Knochen gefunden“, sagt sie. „Doch durch die Blechmarke wurde schnell geklärt, dass es ein toter Soldat ist.“

Ilse Aschenberg ließ nichts unversucht, um Licht in das Verschwinden des jungen Mannes zu bringen. Selbst an Walter Ulbricht schrieb sie. „Der DDR-Generalstaatsanwalt in Berlin hat mir nur geantwortet, dass der Fall bei der Magdeburger Polizei in guten Händen liegt. Der Suchdienst vom Roten Kreuz fühlte sich ‚nicht zuständig‘, und auch ein Brief ans Komitee vom Roten Kreuz in Genf war umsonst.“

1965 bekam sie dann noch einmal Besuch eines Kriminalisten. Der wollte, wie er sagte, „den Fall wieder aufrollen“. „Aber ich habe nie wieder etwas von ihm gehört“, winkt die alte Frau ab.

Die Gerüchteküche kochte. Schließlich war die Familie des Magdeburger Urgesteins Paul Michaelis bekannt in der Bezirksstadt. „Klaus ist politischer Häftling“, flüsterte der eine, „Weihnachten ist dein Junge wieder zu Haus“, ein anderer. Dass der Vermisste in Coswig im Gefängnis sitzt, wollte ein Dritter ganz genau wissen. „Aber schon im Zug dorthin hat man mir erzählt, dass das Gefängnis in Coswig gar nicht mehr in Betrieb ist“, erzählt Ilse Aschenberg.

Nach der Wende ging die Rentnerin erneut zur Polizei. Doch dort machte man ihr keine großen Hoffnungen. Die Akten sind bestimmt nicht mehr da, hieß es.

Und nun – 45 Jahre später – finden Bauarbeiter menschliche Knochen. Etwa 150 Meter vom Elbweg entfernt, der drei Kilometer weiter am heute rostzerfressenen alten Kettendampfer endet.

Vor dem Haus Alt Fermersleben 78 lagen die Gebeine. Und Ilse Aschenberg fragt sich, ob das Verschwinden ihres Sohnes nun doch noch aufgeklärt wird.

Ingo Ruthe vom zuständigen 2. Fachkommissariat der Magdeburger Polizeidirektion ist eher skeptisch. „Wir müssen zuerst nachgraben, ob es noch Akten gibt. Dann muss die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob aufgrund des alten Vermisstenfalls und der relativen Nähe des Fundorts ermittelt werden soll.“

Theoretisch ist es möglich, aus Knochen den genetischen Fingerabdruck zu entnehmen. Die Vergleichs-DNA-Analyse aus der Speichelprobe der Mutter würde dann zweifelsfrei klären, ob es sich bei dem Toten um Klaus-Werner Prellberg handelt oder nicht. Wie gesagt: theoretisch. „Denn mit jedem Jahr, in dem ein Körper in der Erde liegt, verringern sich die Chancen, analysefähiges Material in den Knochen zu finden“, weiß der Kriminalist Ingo Ruthe.

Nicht ganz so pessimistisch ist Professor Dieter Krause, Chef des Instituts für Rechtsmedizin der Magdeburger Uniklinik. „Man kann nicht von vornherein ausschließen, dass noch DNA zu finden ist. Man muss es einfach versuchen.“ Laut DNA-Gesetz bedarf es jedoch zuvor einer richterlichen Anordnung. Und die dürfte es erst dann geben, wenn alle anderen Methoden ausgeschöpft sind, wie die Untersuchung des Alters, der Liegezeit, der Größe.

Ilse Aschenberg hat sich damit abgefunden, dass ihr Sohn wohl nicht mehr lebt. „Aber wo er liegt und wie er zu Tode kam, möchte ich schon gern wissen, bevor ich sterbe“, sagt die weißhaarige Frau.

Im Juli 2000 steht das Ergebnis fest. Zwar konnte die Rechtsmediziner aufgrund der langen Liegezeit keinen genetischen Fingerabdruck mehr von den Knochen nehmen, aber die Vermessung der Skelettreste brachte ans Tageslicht, dass es sich um eine Frau gehandelt haben muss.

Ilse Aschenberg hat nie erfahren, was aus ihrem Sohn geworden ist. Sie starb wenige Monate, nachdem feststand, dass der Knochenfund in Magdeburg-Fermersleben nichts mit dem Verschwinden von Klaus-Werner Prellberg zu tun hat.

Der Mord des falschen Polizisten

Vor zwei Tagen haben die Eltern Monika ein Federballspiel gekauft. Die Sechsjährige aus Halle kann es kaum erwarten, damit auf die Straße zu gehen. „Wenn du Brötchen und Butter im Konsum eingekauft hast und dann noch schnell in die Lauchstädter Straße läufst und Milch holst, kannst du gleich runter“, verspricht ihr die Mutter am 25. August 1958 kurz vor 9 Uhr.

Das Kind mit dem blonden Bubikopf und den lustigen Sommersprossen sputet sich. Erst die wenigen Meter bis zur Stalin-Allee (heute Merseburger Straße), dann zum Milchmann um die Ecke. Eine halbe Stunde später ist sie wieder in der Wohnung in der Nauestraße. „Bitte, bitte, darf ich das Brötchen mit auf die Straße nehmen, Mutti?“, bettelt die Kleine. Die Mutter lächelt und nickt.

Eine Viertelstunde später sieht der Vater durchs Küchenfenster Moni auf dem Hof spielen. Dann geht er mit dem elfjährigen Sohn in den Keller, um den Handwagen zu holen. Um 10.15 Uhr verlassen sie das Haus. Als Paul Grimme* gegen 11.50 Uhr zurückkommt, ist seine Ehefrau völlig aufgelöst: Die Tochter ist verschwunden. „Ich war nur kurz zum Einkaufen“, erzählt sie. „Als ich vor einer halben Stunde wiederkam, war Moni weg.“ Sie habe die nähere Umgebung abgesucht und auch bei Bekannten nachgefragt.

Die Eltern laufen noch einmal die Gegend ab. Vergeblich. Sie melden Monika beim Volkspolizeikreisamt Halle als vermisst. Monika sei „zugänglich, rege und gutmütig“, gibt Paul Grimme zu Protokoll.

Die sechsjährige Monika verschwand im August 1958

Kurz darauf läuft die Fahndung an. Alle Polizeireviere, Funkwagenbesatzungen, Schnellkommandos, Verkehrs-, Transport- und Wasserschutzpolizisten wissen nun, dass Monika Gerda Grimme, geboren am 28. Januar 1952 in Greiz, seit dem 25. August, 10 Uhr, verschwunden ist. „110 Zentimeter groß, ovales Gesicht, schlank, Ponyfrisur, bekleidet mit schwarz-rotem Trägerrock, gleichfarbiger Bluse, blau-weißen Söckchen und braunen Sandaletten“, tönt es in der Stadt aus Lautsprecherwagen der Polizei. „Das Kind kann einen weißen Igelitbeutel mit roter Schnur bei sich haben. Darin zwei Federballschläger mit weißen Griffen.“

Am 26. August wird das Ermittlungsverfahren eröffnet: Verdacht auf Kindesentführung.

Ein Blitzfernschreiben der Polizei geht um 10.05 Uhr an die Bezirkspolizeibehörde Gera mit der Frage, ob sich das vermisste Mädchen bei der Oma Else Meyer* in Greiz aufhält. Diese war am 25. August nach einem Besuch in Halle wieder abgereist. Die Antwort des Polizeikreisamtes Greiz: „Die Vermisste ist nicht bei besagter Person aufhältig.“

Nachbarn der Eltern in der Nauestraße werden befragt. Auf dem Spielplatz am Lutherbogen zeigen Kriminalisten Müttern und spielenden Kindern Monikas Foto. Aber niemand kann sich an das Mädchen erinnern. Keller und Böden werden durchsucht – ohne Erfolg. Parallel wird in Krankenhäusern nachgeforscht. Doch weder in den Polikliniken Süd und Nord, dem Waldkrankenhaus Dölau, dem Krankenhaus St. Elisabeth noch in der Uniklinik gibt es eine Spur. Die Recherche beim Krankentransport verläuft ebenfalls ergebnislos. Am Nachmittag des 26. August schnüffeln Polizeihunde in den Gartenanlagen rund um den Lutherbogen. Auch in den Lauben und Stallungen wird das Kind nicht entdeckt.

Die Leiterin des Kindergartens, in den das Mädchen bis vor kurzem ging, kann nicht weiterhelfen. Ebenso wenig die Mitarbeiterinnen zweier anderer Kindereinrichtungen in der Nähe. Hoffnung setzen die Ermittler auf Bauarbeiter, die in der Nauestraße 16 am 25. August ein Dach deckten. Ihnen ist jedoch nichts aufgefallen.

Am Nachmittag des 28. August 1958 fährt Hugo Linde* mit dem Fahrrad von seiner Arbeitsstelle, der Bäckereimaschinenfabrik, nach Hause. Unterwegs kommt dem Lagerverwalter in den Sinn, dass er seine Tochter Helga besuchen könnte.

Der 51-Jährige radelt in Richtung Bahndamm an der Dieselstraße. Dort muss er austreten. An einem Gebüsch, nahe dem Maisfeld des VEG Halle/Saale, legt er sein Fahrrad ab. Dabei schaut er nach rechts. Er sieht „etwas Helles leuchten“ und geht bis etwa einen Meter auf die Stelle zu. Dann prallt er zurück. „Eine Leiche, eine Frauenleiche“, murmelt er erschrocken. Er schwingt sich auf sein Rad und fährt zurück zum Bahnübergang. Der Schrankenposten ruft die Transportpolizei an. Um 16.50 Uhr ist die Morduntersuchungskommission an der Fundstelle im Südosten der Stadt. Kriminaltechniker beginnen an der Bahnstrecke Halle–Ammendorf – zwischen Kilometer 3,8 und 3,9 – mit ihren Untersuchungen. Die Tote, es ist die vermisste Monika, liegt am Fuße des Bahndamms, fast verdeckt von einem Haselnussstrauch. Sie ist nur noch mit dem rechten Strumpf bekleidet. Der weiße Igelitbeutel bedeckt Brust und Kinn. Die Sandaletten stehen auf dem Bauch des Kindes. Um den Hals hat das Mädchen einen 65 Zentimeter langen Strick, der aus vier Schnüren zusammengedreht ist. Unterhalb des Ohres befindet sich ein einfacher Doppelknoten. Über dem Kopf sind ein rosa Seidenschlüpfer und ein grünblauer Strickschlüpfer gezogen. Auffallend ist, dass der Körper mit einer „weißgrauen Substanz“ überzogen ist.

Der Fundort der toten Monika an einem Haselnussstrauch an der Bahnstrecke Halle–Ammendorf

Eines der Tatwerkzeuge: Dieses Stück Strick legte der Mörder um den Hals des Opfers

Zwei Dinge stehen mit Sicherheit fest: Das Kind fiel einem Sexualdelikt zum Opfer und der Fundort ist nicht der Tatort.

Fährtenhund „Tasso“ führt die Ermittler am Rande des Maisfelds in Richtung Halle. Nach 60 Metern biegt der Rüde auf eine belebte Straße. Dort verliert er die Spur. Die Obduktion am 29. August ergibt, dass das Kind „wahrscheinlich durch das Verschließen der oberen Luftwege (Mund und Nase) bewusstlos wurde oder bereits starb“. Todesursache könnte auch „Strangulation mittels Stricks“ gewesen sein.

In Halle werden am selben Tag 350 Plakate aufgehängt: „1.000 DM Belohnung“ für Hinweise auf den Mörder der kleinen Moni.

Zur gleichen Zeit bekommt VP-Hauptwachtmeister Sommer bei einem Fahndungseinsatz im Hauptbahnhof Halle die Information, dass ein junger Mann im Wartesaal Reisende kontrolliert. Er würde sich dabei als Kripo-Leutnant ausgeben.

Sommer stellt den Unbekannten, lässt sich dessen Ausweis zeigen. Der 18-Jährige heißt Herbert Engler* und wohnt in Wettin im Saalkreis. Im Protokoll der Transportpolizei heißt es unter der Tagebuch-Nummer 465/58: „Hat zwischen dem 25. August und 2. September 1958 Aufschreibungen gemacht, die den Charakter von VP-Fahndungen haben. Unterschrieb als Leutnant der K.“

Ein Ermittlungsverfahren wegen Amtsanmaßung wird eingeleitet. Dabei stellt sich heraus, dass der Hilfsarbeiter vom VEB Bau Landsberg seit dem 25. August nicht mehr auf Arbeit war.