Das Leid von Müttern totgeborener Kinder - Annette Stechmann - E-Book

Das Leid von Müttern totgeborener Kinder E-Book

Annette Stechmann

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Beschreibung

Theologie und Seelsorge sind mit zunehmender Bedeutungslosigkeit in der Postsäkularität konfrontiert. Es stellt sich die drängende Frage nach der Sprachfähigkeit von Theologie. Zwei bekannte Umgangsweisen - das einfache Wiederholen traditioneller Sprachformen, aber auch der Verzicht auf christliche Gottesrede - erweisen sich nicht als zielführend. Die vorliegende Dissertation versucht eine Alternative: Sie sucht nach einem Qualitätsmerkmal christlicher Gottesrede in der Gegenwart an einem existentiellen theologischen Ort - dem Leiden von Müttern totgeborener Kinder. Es werden "eigene Theologien" von Müttern totgeborener Kinder durch narrative Untersuchungsverfahren herausgearbeitet. Systematische Theolog/inn/en (Plattig, Faber, Bründl, Rahner, Sander, Klinger) kommentieren diese "eigenen Theologien". Mittels der Reflexion dieses Forschungsprozesses wird dann ein Qualitätsmerkmal christlicher Gottesrede in der Postsäkularität gewonnen: die Haltung der Zärtlichkeit.

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Annette Stechmann

Das Leid von Müttern totgeborener Kinder

Ein Ort der Theologie

Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge

105

Herausgegeben von Erich Garhammer und Hans Hobelsberger in Verbindung mit Martina Blasberg-Kuhnke und Johann Pock

Annette Stechmann

Das Leid von Müttern totgeborener Kinder

Ein Ort der Theologie

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2018

© 2018 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

E-Book-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbHwww.herold-va.de

ISBN

978-3-429-05308-6

978-3-429-04995-9 (PDF)

978-3-429-06405-1 (ePub)

Vorwort

Der religiöse Quellcode, über lange Jahrhunderte monopolistisch von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften verwaltet, ist in unseren Breiten seit einiger Zeit zur individuellen Nutzung freigegeben. Das hat zwei für christliche Pastoral einschneidende Konsequenzen: Zum einen greift ihre klassische Gottesrede nicht mehr selbstverständlich, da sie nicht mehr mit einem gemeinsamen Plausibilitätsraum rechnen kann – auch nicht in den existentiellen Situationen des Lebens. Zum anderen entwickeln sich außerhalb der christlichen Kontexte neue, eigenständige und auch noch weitgehend unbekannte individuelle religiöse Praktiken und Diskurse. Das lässt vermuten, dass spezifische Orte existieren, an denen Menschen zur Bewältigung ihres Lebens eigenständig Theologien entwickeln.

Die Studie von Annette Stechmann ist von beiden Erfahrungen her geprägt und entworfen. Als langjährige Krankenhausseelsorgerin mit Schwerpunkt auf der Begleitung von Müttern, deren Kinder tot geboren wurden, kennt die Verfasserin die Sprachnot traditioneller christlicher Gottesrede in solchen und verwandten Situationen gut. Andererseits hat Frau Stechmann in vielfältigen Gesprächen mit betroffenen Frauen deren Fähigkeit erlebt, ihre Situation auch mit der Entwicklung jeweils „eigener Theologien“ jenseits christlicher Orthodoxie zu bewältigen.

Es zeichnet diese Forschungsarbeit aus, sich naheliegenden Umgehungsstrategien zu verweigern und weder zu fordern, die Frauen vorsichtig, aber bestimmt auf den Weg zum kirchlichen Glauben zurückzuführen, noch dafür zu plädieren, die christliche Gottesrede mehr oder weniger verschämt zurückzunehmen und es bei jenen kommunikativen Prinzipien Empathie, Authentizität und Respekt zu belassen, die etwa die Humanistische Psychologie empfiehlt und wie sie die neuere Krankenhausseelsorge in berechtigter Ablösung älterer sakramentenpastoral orientierter Konzepte übernommen hat.

Die Forschungsfrage dieser Arbeit lautet vielmehr, wie es heute angesichts des Leidens von Müttern totgeborener Kinder noch oder wieder möglich ist, vom christlichen Gott zu sprechen, also weder zu verstummen, noch einfach auf vergangene theologische Sprachmuster zurückzugreifen. Diese Frage motivierte die Arbeit, treibt sie voran, und findet zum Schluss auch eine spezifische und weiterführende Antwort; sie besitzt zudem Relevanz weit über das engere Forschungsfeld hinaus.

Am „locus theologicus existentialis“ trauernder Mütter wird deutlich, dass es die Kraft weiterzuleben ist, die diese Frauen eint, obwohl oder gerade weil sie erfahren haben, wie zerbrechlich das Leben ist. Die hier interviewten Frauen entwickeln „eigene Theologien“. Sie verwenden dazu christliche, aber auch andere religiöse Traditionen und teilweise entwickeln sie selbst neue religiöse Diskurse. Ihre Theologien liegen quer zu einschlägigen theologischen Fach-Diskussionen. Die Zerbrechlichkeit wie das Neuwerden religiöser Sprache dokumentieren sich hier in einem.

Annette Stechmann hält zu Recht fest, dass die christliche Theologie angesichts der in den Interviews erhobenen, existentiell bewährten unorthodoxen Theologien der Frauen realisieren muss, dass sie mit ihren Traditionen nur noch auf fragilem Boden steht. In einem innovativen methodischen Schritt hat Frau Stechmann eine Reihe renommierter deutschsprachiger systematischer Theologen und Theologinnen eingeladen, diesen Boden zu betreten und sich den spezifischen Theologien der trauernden Frauen auszusetzen. Die Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen aus der Systematik dokumentieren die Bereitschaft zu hören, sich berühren zu lassen, verletzbar und angreifbar zu werden, ohne zu verstummen. Diese Theologinnen und Theologen hören, denken und lernen – um dann ihre Theologie zu wagen.

Dies und auch das Schlusskapitel der Autorin selbst belegen nachdrücklich Dorothee Sölles Feststellung, Theologie habe mehr mit Poesie und Kunst zu tun, als nur Wissenschaft zu sein.1 Wenn Annette Stechmann das Qualitätsmerkmal christlicher Gottesrede in der Zärtlichkeit ortet und Zärtlichkeit dabei mit Isabella Guanzini als elementare Wahrnehmung der Endlichkeit, Verletzlichkeit und Vergänglichkeit aller Dinge begreift, dann eröffnet sich von hierher eine Perspektive auch auf die Frage nach dem zukünftigen Design der wissenschaftlichen Theologie.

Annette Stechmanns Arbeit ist an der Schnittstelle von Systematischer und Praktischer Theologie angesiedelt, denn sie fragt nach den abduktiven, also überraschenden und nicht direkt planbaren Konsequenzen der neuen Situation der Rede von Gott für diese Rede selber. Sie reiht sich damit ausgezeichnet ein in jenen neueren Forschungsstrang der Praktischen Theologie ein, der, meist mit Mitteln der empirischen Sozialforschung, in den konkreten Praktiken des Volkes Gottes innovative und kreative Orte einer zukünftigen zeitgemäßen Pastoral eruieren und explorieren will.

Auf jeder Seite der hier vorgelegten Arbeit spürt man die langjährige pastorale Erfahrung der Verfasserin. Man spürt aber auch das Vertrauen in die christliche Gottesrede, ein Vertrauen, das freilich nur im Wagnis der ungeschützten und liebevollen Begegnung eingelöst werden kann.

Rainer Bucher

Graz, 10.1.2018

1 Vgl.: D. Sölle, Gegenwind. Erinnerungen (Gesammelte Werke, Bd. 12), hg. v. Ursula Baltz-Otto und Fulbert Steffensky, Freiburg/Br. 2010, 62.

Inhalt

Dank

1 Zugänge

2 Mit der Nussschale unterwegs auf bewegter See – Erfahrungen in der Klinikseelsorge

2.1 Eine alte Friedhofskapelle – viele junge Menschen

2.2 Mütter – Väter, Geschwister – Großeltern

2.3 Tränen – Gefühlskälte

2.4 Verstummen – Worte finden

2.5 Gott verantwortlich machen – ihn verteidigen

2.6 Gewalt, Wut und Ohnmacht – Liebe

2.7 Wann ist ein Kind ein Kind?

2.8 Der Griff in die Traditionskiste – moderne Bestattung ohne Gott

2.9 Sonderfall Spätabtreibung?

2.10 Resümee: Es fehlt das richtige Wort

3 Die Forschungsfrage

3.1 Fragestellung aufgrund der erlebten Praxis

3.2 Überblick über die aktuelle theologische Forschung zum Thema totgeborene Kinder und Sprachfähigkeit christlicher Gottesrede heute

3.2.1 Aktueller Forschungsstand in der Theologie zum Thema „totgeborene Kinder“

3.2.1.1 Der Umgang mit totgeborenen Kindern in der Vergangenheit – die Bedeutung von Jenseitsvorstellungen für die Trauer der Eltern und die Bestattungsform

3.2.1.1.1 Der Limbus – ein Sprechversuch der Theologie mit Bedeutung für die Jenseitsvorstellung von totgeborenen, ungetauften Kinder

3.2.1.1.2 Konsequenzen für den Umgang mit verstorbenen Kindern in der Vergangenheit seitens der Kirche

3.2.1.2 Ab wann ist ein Kind ein Kind?

3.2.1.3 Totgeborene Kinder in der jüngsten Vergangenheit und Gegenwart

3.2.1.3.1 Das Erleben von Eltern heute – wenn Lebensanfang und Lebensende zusammenfallen

3.2.1.3.2 Trauer von Männern und Frauen

3.2.1.3.3 Liebe

3.2.1.3.4 Sprachlosigkeit der Eltern und der professionellen „Kümmerer“

3.2.1.3.5 Internet

3.2.1.3.6 Glaubensfragen

3.2.1.3.7 Ansprüche der Gesellschaft an Kinder heute

3.2.1.3.8 Abtreibung

3.2.1.3.9 Geschöpflichkeit und Gottesebenbildlichkeit – ab wann ist heute ein Kind ein Kind?

3.2.1.3.10 Begräbnisordnungen und Liturgie nach dem II. Vatikanum

3.2.1.3.11 Praxis der Seelsorge und anderer Berufsgruppen in der Klinik

3.2.1.3.12 Empfehlungen für das seelsorgliche Gespräch

3.2.1.4 Konkretisierung der Fragestellung aus der Forschung zu totgeborenen Kindern

3.2.2 Sprachfähigkeit christlicher Gottesrede

3.2.2.1 Die Polarität von Glauben und Leben – Spurensuche in der wissenschaftlichen Theologie

3.2.2.2 Pastoralpsychologische Perspektiven

3.2.2.3 Existentielle Auseinandersetzung mit der Theodizeefrage

3.2.2.4 „Theologische Ansätze zur Akzeptanz des Negativen“ – Eine Abgrenzung zum Theodizeediskurs

3.2.2.5 Gottesrede in der Postsäkularität

3.2.2.6 Die Polarität von Gott und Welt im Fokus der Ohnmacht des Menschen und der Macht Gottes: Der Ort der Theologie in der Postsäkularität

3.3 Konkretisierung der Forschungsfrage aus Praxis und Forschung

4 Das Forschungsdesign

4.1 Empirie und systematische Theologie – Brennpunkte einer innovativen Pastoraltheologie

4.2 Die Wahl der Empirischen Methodik : Die Narrationsanalyse

4.3 „Narrationsanalyse“ konkret

4.4 Die Kommentierung des empirischen Forschungsergebnisses durch systematische Theolog/inn/en

4.5 Pastoraltheologie: Ort der Erarbeitung des Qualitätsmerkmals christlicher Gottesrede an einem existentiellen Ort in der Postsäkularität

5 Die vier Interviews – die Entstehung neuer Theologien

5.1 Theologien von Frauen, deren Kinder in der Schwangerschaft gestorben sind

5.1.1 Verena – „sie war irgendwie ja NIEDLICH, ne, ist ja doch (.) mein Kind“

5.1.2 Martina – ein Himmel ohne Gott

5.1.3 Susanne – mein „kleines Geschenk“

5.1.4 Sabine – „verwundet wie Jakob am Jabbuk und besonders gesegnet“

5.2 Das Zerschmelzen christlicher Theologie und die Kreativität der Frauen

5.3 Das Zerschmelzen christlicher Theologie und die Suche nach einem Halt

5.3.1 Zwischen Abkanzeln und Verstummen – die Ahnung des Weges zärtlicher Achtsamkeit

5.3.2 Der existentielle Sprung auf liquiden Grund – der Weg zu zärtlicher Lebendigkeit

5.3.3 Der theologische Sprung auf fragilen Grund

5.3.4 Es geht ums Ganze

6 Die Kommentierung der systematische Theolog/inn/en

6.1 Brief an die systematischen Theolog/inn/en mit Zusammenfassung des empirischen Ergebnisses

6.2 Michael Plattig: Die Haltung der Freundschaft als verantwortete seelsorgliche Begleitung

6.3 Eva-Maria Faber: Die eigenen Theologien der Frauen – Aufgabe und Lernpotential systematischer Theologie

6.4 Jürgen Bründl: Mütter totgeborener Kinder als prekär privilegierte Theologinnen

6.5 Johanna Rahner: Das Gebet als locus theologicus einer Theologie an der Grenze

6.6 Hans-Joachim Sander: Die Entdeckung der Metonymie als Sprachfigur christlicher Gottesrede

6.7 Elmar Klinger: Der Trost des Theologen angesichts des Todes von Kindern

6.8 Abduktionen christlicher Gottesrede in den Kommentaren selbst

6.8.1 Die unbedingte Akzeptanz der Frauen und das Verstummen des Theologen

6.8.2 Der mit–seiende Gott und die schmerzhafte Antwortlosigkeit der Theologie angesichts der urmenschlichen Frage nach dem Leid

6.8.3 Der riskante Weg wissenschaftlicher Theologie in der Auseinandersetzung um die Theodizee-Frage nach dem Warum des Todes des „Heiligsten“

6.8.4 Das Gebet als locus theologicus existentiell herausgeforderter wissenschaftlicher Theologie

6.8.5 Die Bewältigung quälender Ohnmacht durch die Metonymie Gott und die Entdeckung von Hoheitstiteln für die totgeborenen Kinder

6.8.6 Vom Rand in die Mitte – oder der Trost eines Theologen durch die unverbrüchliche Liebe der Mütter zu ihren Kindern

6.8.7 Zusammenfasssung

7 Die Revolution der Zärtlichkeit Gottes – Qualitätsmerkmal christlicher Gottesrede in der Postsäkularität

7.1 Revolution der Zärtlichkeit Gottes: Die frohe Botschaft der Mütter totgeborener Kinder

7.1.1 Der Sturm – Ein Ende der Liebe Gottes?

7.1.1.1 Der Sturm der Theodizee

7.1.1.2 Der Sturm der Postsäkularität

7.1.2 untergehen – gerettet werden

7.1.3 Die Revolution der Zärtlichkeit Gottes in den Theologien der Mütter totgeborener Kinder

7.2 Revolution der Sprachfähigkeit christlicher Theologie

7.3 Zärtlichkeit – Qualitätsmerkmal christlicher Gottesrede in der Postsäkularität

8 Literaturverzeichnis

„Adventure rarely reaches it’s predetermined end.

Columbus never reached China.

But he discovered America.”2

Alfred North Whitehead 1967

2 Sander, Gotteslehre, 12.

Dank

Mein herzlicher Dank gilt allen, die mich während des Prozesses dieser Arbeit unterstützt und begleitet haben.

Zunächst danke ich den vier Frauen, die mir ihre Lebensgeschichte und die ihrer Kinder erzählt haben, aber auch allen anderen Frauen und Männern, die ich als Klinikseelsorgerin in den schwierigsten Zeiten ihres Lebens begleiten durfte.

Ich danke Prof. Dr. Rainer Bucher, der mich das Fragen neu gelehrt hat und daran festgehalten hat, dass christliche Theologie etwas zu lernen und zu sagen hat in Lebenssituationen, wo sie zunächst verstummt. Er hat mich im Prozess der Dissertation positiv und wertschätzend begleitet. Prof. Dr. Maria Elisabeth Aigner danke ich für ihre Vorfreude auf diese Arbeit. Dr. Daniela Böhringer bin ich für die Begleitung durch die anfänglich unbekannten Gestade der Soziologie sehr dankbar.

Prof. Dr. Jürgen Bründl, Prof. Dr. Eva–Maria Faber, Prof. Dr. Elmar Klinger, Prof. Dr. P. Michael Plattig OCarm, Prof. Dr. Johanna Rahner und Prof. Dr. Hans–Joachim Sander haben mir wertvolle theologische Impulse im Prozess dieser Arbeit zur Verfügung gestellt. Das pastoraltheologische Privatissimum der Universität Graz hat mich unendlich bereichert. Prof. DDr. Walter Schaupp danke ich für die Übernahme des Zweitgutachtens.

Das Bistum Hildesheim hat mich zu 20 Prozent von meiner Arbeit als Pastoralreferentin in der Klinikseelsorge der Universitätsmedizin Göttingen freigestellt. Dadurch wurde diese Arbeit überhaupt möglich. Mein Dank gilt den einzelnen Frauen und Männern, die sich für mich eingesetzt haben. Auch die Drucklegung hat das Bistum großzüg unterstützt.

Meine Familie zeigt mir immer wieder die Schönheit des Lebens und die Bedeutung von wertschätzender Liebe und von Zärtlichkeit als Grundhaltung im Umgang mit anderen Menschen und der Welt. Diese Erfahrung ist tragend für diese Arbeit und mein ganzes Leben.

1 Zugänge

Wer ist dieser Gott, der Liebe genannt wird und der allmächtig ist? Wie ist ein allmächtiger Gott zu denken? Ist er liebend allmächtig? Allmächtig liebend? Ohnmächtig und nur in der Liebe mächtig? Wie gehen Allmacht und Liebe zusammen? Schon meine Diplomarbeit3 habe ich unter dieser Fragestellung geschrieben und war versucht, mit Hilfe der Prozesstheologie eine „Antwort“ auf die Frage nach dem Leiden zu finden bzw. ein theoretisches Modell zu konstruieren, das helfen kann, Allmacht und Liebe in Gott miteinander zu vereinbaren.

Meine Praxis als Pastoralreferentin und Klinikseelsorgerin hat mir gezeigt, dass in der Praxis mit Konstrukten wenig anzufangen ist. Wenn Menschen sterben, bin ich mit diesen Menschen traurig. Wenn sie nach dem Warum fragen, wollen sie keine theologische Unterweisung, sie möchten jemanden, der mitfühlt, die mitgeht, die versteht und akzeptiert was an Bewegungen vorhanden ist.

Konkret die seelsorgliche Arbeit mit Müttern und Vätern totgeborener Kinder ruft Fragen nach Gott hervor, die nicht einfach zu beantworten sind: Wie kann es sein, dass ein Kind nicht lebend auf die Welt kommt? Sie sind doch die unschuldigsten Wesen überhaupt! Was haben sie mit Gott zu tun? Was hat Gott mit ihnen zu tun? Verstorbene Kinder und ihre an ihrem Tod leidenden Angehörigen stellen für alle begleitenden Berufe eine höchste emotionale Herausforderung dar. Was passiert da eigentlich, wenn ein Kind – und dann auch noch ein ungeborenes Kind – stirbt? Es hatte ja gar keine Chance zu leben. Ist es überhaupt ein Kind, wenn es nicht lebend geboren wurde?

Wenn ein Kind noch vor der Geburt stirbt, empfinden Eltern diese Situation wie einen abgebrochenen Anfang, wie eine nicht erfüllte Zusage neuen Lebens, wie ein gebrochenes Versprechen. Zwischen diesen kleinen Menschen und dem übergroßen, allmächtigen Gott klafft eine enorme Distanz. Wenn ein Kind stirbt, dann „stirbt die Zukunft“4. Wenn ein Kind stirbt, stirbt menschgewordene Liebe. Es erschüttert das Vertrauen in den „lieben“ Gott. In einer solchen Situation wird Gottes Allmacht spürbar für die Eltern, erschreckend spürbar, aber nicht so sehr seine Liebe. So ist der Tod von Kindern schon bei Albert Camus in „Die Pest“5 der Grund des Atheismus, der Ablehnung Gottes.

Ich musste in 16 Jahren als Klinikseelsorgerin erfahren, dass es Leiden gibt, auf das einfach keine Antwort möglich ist. In diesen Situationen würden Antworten wie z.B. „Gott liebt dich aber trotzdem“ eiskalt abkanzelnd wirken. Sie erwecken – so gesprochen und selbst mit bester Absicht so gesprochen – den Eindruck, dass Seelsorge das Leiden der Menschen nicht ernst nimmt. Ich erlebe mich in meiner Tätigkeit immer wieder als sprachlos und beginne zu ahnen, dass die Rede von Gott am Leiden eines Menschen weder einfach vorbeigehen noch es – im schlimmsten Fall – dazu benutzen kann, um die eigene Theologie zu retten. Es zeigt sich in der Praxis, dass es keine immerwährende Rede von Gott angesichts des Leidens gibt, die in jeder Situation und auf jeden Menschen zutreffen würde, passend wäre, oder ihn gar trösten könnte.

Aus dieser Situationsbeschreibung erwächst die Frage nach der Sprachfähigkeit der Theologie: Hat sie überhaupt etwas zu sagen in einer Frage, an der sie selbst an ihre Grenzen stößt? Wie wenig es eine Mutter tröstet, deren Kind in der Schwangerschaft gestorben ist, vom gekreuzigten Sohn (!) Gottes zu sprechen, hat einmal eine Mutter von sich aus beantwortet: „Nicht einmal das hast du hingekriegt, Gott! Selbst bei deinem eigenen Sohn nicht!“6

Wenn Theologie etwas zu sagen hätte, was wäre dann Frauen zu sagen, deren Kinder tot auf die Welt gekommen sind? Was wäre Frauen zu sagen, die sich aus Liebe für eine späte Abtreibung entschieden haben?

Hat christliche Theologie an dieser Stelle etwas zu sagen, das noch nicht zur Sprache gekommen ist, das aber in der Offenbarung Jesu Christi grundgelegt ist? Es ist die Erfahrung der Tradition, dass es Menschen in der Geschichte immer wieder gelungen ist, das Evangelium so zu verkünden, dass es eine Bedeutung hatte. Ansonsten hätte sie sich nicht fortgeschrieben bis in die Gegenwart7.

Eine weitere Frage, die mich beschäftigt, ist die Frage nach der Relevanz von Theologie im Hier und Jetzt. Wesentlich damit verknüpft ist die Frage, ob Theologie noch von Gott spricht, oder ob da nicht viel zu viele Worte sind, zu viele Antworten, gesammelt in Büchern, Fachzeitschriften und kirchlichen Dokumenten, die niemand mehr hören will? Ist die Frage nach der Lösung dieses Problems die Frage nach der Art der Rede von Gott, was im Grunde genommen Theologie von ihrem Wortursprung her ist? Wie kann sie so sprechen, dass sie etwas zu sagen hat, dass sie eine Bedeutung hat, dass sie das Wort Gottes in diese Welt trägt, so dass es etwas bedeutet? Wie kann sie Gott „sprachliche Repräsentanz“8 in dieser Welt verschaffen?

Welche Form der Kommunikation ist richtig? Wie geht es, neue Wege zu den Menschen zu gehen, die der Offenbarung, der Tradition und gleichzeitig der Lebenswelt der Menschen, die sich deutlich vom christlichen Glauben abwendet und gleichzeitig nach Spiritualität sucht9, gerecht wird?

Papst Franziskus träumt in Evangelii Gaudium

„von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient“10.

Die Frage ist also nicht so sehr, wie Kirche bewahrt bzw. erneuert werden kann, sondern die Frage ist, was Kirche für Menschen tun muss, um ihnen durch das Evangelium in ihrer Wirklichkeit zu helfen. Welche Theologie, welche Rede von Gott, welche Verkündigung des Evangeliums ist heute notwendig? Welche verändert die existentielle Not von Menschen?

Um diese Frage beantworten zu können, ist es wohl notwendig, die existentielle Not von Menschen genauer in den Blick zu nehmen. Es ist nicht notwendig, zuerst in Bibel und Tradition eine Antwort auf eine Frage zu finden, die vielleicht noch nicht einmal gestellt wurde, sondern die „Zeichen der Zeit“11 in den Blick zu nehmen, um sich den notleidenden Menschen zuzuwenden.

So beginne ich nun mit einem Blick in die Gegenwart in meine Arbeit als Klinikseelsorgerin.

3 Stechmann, Gott und ihre Gerechtigkeit.

4 „Für einen Vater, dessen Kind stirbt, stirbt die Zukunft. Für ein Kind, dessen Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit“, Auerbach, Aphorismen.

5 Camus, Die Pest.

6 Vgl. Stechmann, „Sie beerdigen doch Fußnägel!“, 208.

7 Vgl. Bucher, Wer braucht Pastoraltheologie wozu?, 197.

8 Bucher, Die Theologie im Volk Gottes, 37.

9 „Die Macht der etablierten, von alters her ansässigen religiösen Regime geht noch immer zurück. […] Andererseits spricht viel dafür, dass religiöses Interesse kein aussterbendes Phänomen ist. Selbst Menschen jüngerer Generationen wünschen die rituelle Gestaltung von Lebenswenden, machen sich ihre Vorstellungen von einem Leben nach und vor solchen Übergängen, beten und glauben an Wunder. Bemerkenswert an dieser Entwicklung ist, dass den konfessionellen Formen, die uns aus der Vergangenheit vertraut sind, nun vielfältige individuelle Auswahlmöglichkeiten gegenüberstehen, die sogar die Möglichkeit einschließen, anscheinend widersprüchliche Optionen zu kombinieren. Diese Entwicklung können wir als religiöse Individualisierung bezeichnen. Allenthalben lautet die Diagnose in den Niederlanden: ‚Religion’ ist in, ‚die Kirche’ ist out.“ (de Groot, Fluide Formen religiöser Gesellschaft, 22-23).

10 Papst Franziskus: Evangelii Gaudium Nr. 27.

11 Sander, Die Zeichen der Zeit erkennen.

2 Mit der Nussschale unterwegs auf bewegter See – Erfahrungen in der Klinikseelsorge

Seit 2001 arbeite ich als Pastoralreferentin, als katholische Klinikseelsorgerin in der Universitätsmedizin Göttingen. Die Erfahrungen, die ich in der Praxis mit dem Thema „totgeborene Kinder“ gesammelt habe, sollen in diesem Kapitel zunächst im Überblick erzählt werden. Ziel ist, mein Vorwissen, aber auch meine Vorprägung in Bezug auf dieses Thema offenzulegen12. Meine Erfahrungen in diesem pastoralen Arbeitsfeld möchte ich in diesem Kapitel darstellen, um meinen eigenen Zugang zu reflektieren und das Thema anfanghaft zu umreißen. Dieses Kapitel will für das Thema sensibilisieren und einen Zugang zur Thematik ermöglichen.

Meiner ersten Beerdigung totgeborener Kinder stand ich zusammen mit meinem evangelischen Kollegen, einem Gemeindepastor, vor. Die Beerdigungsstelle auf dem evangelischen Friedhof war schon geschaffen, eine Stele mit einem Regenbogen und den Worten „Ein Hauch von Leben…“ errichtet. Die ersten Beerdigungen hatten schon stattgefunden, begleitet von dem evangelischen Pastor allein.

Dieser bat um katholische „Mitträgerschaft“. Schnell kam mein damaliger Chef auf die Idee, dass ich dort mit einsteigen sollte. Ich kann mich noch an mein Grauen erinnern. Selbst hatte ich damals noch kleine Kinder. Das Thema Schwangerschaft war mir nahe. Ich wusste darum, was es für ein Geschenk war, was es für ein Wunder war, meine Kinder gesund in den Händen zu halten, dass dies nicht selbstverständlich ist. Ich war auf der „glücklichen Seite“ – bei mir war alles gut verlaufen. Wie würde es sein, anderen Frauen zu begegnen, die dieses „Glück“ nicht gehabt haben, denen ihr Wunder noch vor der Geburt im Bauch gestorben war? Würde ich das aushalten können? Würden sie neidisch sein? Das waren nur wenige Fragen, die ich mir damals stellte.

Ich wusste nicht, was mich bei dieser Bestattung erwarten würde. Ich wusste nicht, ob ich den Bedürfnissen der Trauernden gewachsen sein würde. So recherchierte ich etwas hilflos im Internet nach Erfahrungswerten und Bedürfnissen dieser Frauen. Ich erfuhr, welche (religiösen) Worte verwaiste Frauen mehr verletzen als dass sie ihnen helfen. Ich wollte helfen, ich wollte Hoffnung schenken. Gleichzeitig hatte ich keine Idee davon, was trösten kann, was helfen kann. Ich merkte, wie schwierig es für mich war, zu Worten zu kommen.

Schon nach dieser ersten Beerdigung, wo ich weinende Männer und Frauen vor mir sah, ich aber nichts von ihnen wusste außer dem äußeren Eckdatum, dass sie Eltern eines Kindes geworden waren, das tot geboren wurde, wusste ich, dass ich mehr von ihnen wissen musste, um ihnen etwas sagen zu können. Deshalb entwickelten wir im Team das Beerdigungsformat weiter: Es sollte nun ein Trauergespräch eine Woche vor der Bestattung geben, damit die Eltern uns ihre Geschichten erzählen konnten, damit sie auch voneinander wussten, damit sie sich kennenlernen konnten. Seitdem findet dieser Abend regelmäßig statt. Er gehört bis heute zu den größten Herausforderungen, die ich in meiner pastoralen Tätigkeit als Klinikseelsorgerin erlebe.

Erst durch diese Trauergespräche erfuhr ich, dass auch Eltern abgetriebener, auch spät abgetriebener Kinder zu der Bestattung kommen. Das war eine weitere Herausforderung für mich. Ich wollte nicht als überzeugte Abtreibungsgegnerin und an dieser Stelle als Vertreterin der katholischen Kirche der Tötung von Kindern Gottes Segen geben. Das widerstrebte mir. Aber ich lernte die Trauer dieser Eltern kennen und ich wusste natürlich auch, dass auch die abgetriebenen Kinder genauso Geschöpfe Gottes sind wie jedes andere Kind. Wer Mensch ist, hat auch ein Recht auf eine Bestattung.

Das Interesse an den Frauen und ihrer Geschichte hat sich in mir verdichtet zu einer noch größeren Frage, nämlich wie die Frauen das ihnen Geschehene deuten, denn manchmal hatte ich das Gefühl, dass Frauen wütend waren, auch eventuell auf mich – und ich verstand nicht genau, warum.

Auch entstand in mir der Eindruck, dass es zwar schön war, dass ich etwas sagte, aber dass ich immer messerscharf an diesen Frauen vorbei sprach. Dieser Eindruck motivierte mich, diese Frauen genauer kennenlernen zu wollen. So wuchs in mir das Interesse daran, genauer zu wissen, wie die Frauen diese Situation selbst deuten.

2.1 Eine alte Friedhofskapelle – viele junge Menschen

Die Kapelle, in der die Bestattungen in Göttingen stattfinden, ist eine schöne, alte Friedhofskapelle. Christlich versteht sich, lutherisch – zumal sie auf einem Friedhof steht, der der ev.–luth. Kirchengemeinde St. Petri gehört. Die Bestattungen finden nicht in der großen Kirche, gleich an der Straße, in der sich so manch kleinere Trauergemeinde verlieren würde, statt, sondern in einer kleinen Kapelle, in der ca. 50 Menschen Platz finden. Diese Kapelle steht mitten auf dem Friedhof. Sie ist das zu Stein gewordene Bekenntnis, dass es für die Toten einen Ort im Himmel gibt. Direkt neben der Kapelle liegt das Kindergrabfeld. Wer in die Kapelle will, geht an kleinen Engelsfiguren, an der Regenbogenstele, an bunten Windrädern, Teddys und kleinen Namenssteinen vorbei. Eines wird sofort klar, wenn man zur Kapelle geht – hier sind Kinder bestattet. Der Eingang in die Kapelle ist mit einem biblischen Spruch versehen. So ist spätestens hier klar, dass es sich um eine christliche Kapelle handelt. An den Wänden direkt neben der Aufbahrungsmöglichkeit für den Sarg steht links geschrieben: „Fürchte dich nicht!“ und rechts „Glaube nur!“ Hier sind an zentraler Stelle zwei christlich konnotierte Imperative verewigt, die deutlich den trauernden Menschen aufrichten sollen und den Weg zum Trost zeigen wollen. Hinter der Aufbahrungsmöglichkeit für den Sarg steht ein metallenes Kreuz. Dieses bildet bei unseren Beerdigungen hinter dem kleinen weißen Kindersarg die Mitte, das Zentrum des Raumes. Dass dann noch an jedem Stuhl ein evangelisches Gesangbuch liegt, ist nur noch eine weitere Zutat, die verdeutlicht, dass es sich um einen evangelisch–christlichen Raum handelt. Die Bestattung der Kinder, die in der Schwangerschaft verstorben sind, findet auf christlichem Grund und Boden statt.

Die Menschen, die nun aber kommen, sind ganz besondere Menschen. Sie sind alle jung. Es sind Menschen, von denen man annimmt, dass ihnen noch nicht allzu viele liebe Menschen gestorben sein können, weil sie noch so jung sind. Es sind vornehmlich Frauen, häufig auch mit Partner. Manche mit Eltern oder anderen eigenen Kindern. Eine wichtige Besonderheit ist im Unterschied zu anderen Bestattungen, dass alle Teilnehmenden in intensiver Trauer da sind. Bei anderen Trauergemeinden ist der Grad der Trauer bei den Anwesenden nicht immer derselbe. Hier versammeln sich Frauen und Männer, denen nicht etwa Mutter oder Vater, sondern ein eigenes Kind gestorben ist – das eigene Kind, das bereits bei der Geburt tot war. Es sind alles Menschen, die eher selten christliche Räume betreten, denen diese Umgebung vornehmlich fremd ist.

2.2 Mütter – Väter, Geschwister – Großeltern

Diesen Müttern und Vätern begegne ich meistens zwei Mal: Beim Trauergespräch und bei der Bestattung selbst. Zum Trauergespräch kommen die Mütter und auch so mancher Vater, manchmal eine Freundin der Mutter, manchmal eine Großmutter. Die Eltern können dort, wenn sie mögen, ihre Geschichte und die ihres Kindes erzählen. Diese Gelegenheit wird genutzt. Es ist noch nie passiert, dass jemand seine Geschichte nicht erzählt hat. Wohl unterscheiden sich die Inhalte der Schilderungen als auch die Art und Weise, wie erzählt wird. Manche finden Worte, manche kriegen einfach kein Wort über die Lippen (was sie auch nicht müssen) und manche weinen auch einfach und erzählen so ohne Worte die Geschichte ihres Kindes und das unglaublich Schlimme, das ihnen widerfahren ist. Die Geschichten sind unterschiedlich: Da sind Kinder von selbst gestorben und niemand weiß, warum. Da sind Kinder echte Wunschkinder gewesen – und dann gab es die Pränataldiagnostik, die den Eltern offenbart hat, dass ihr Kind zu krank ist, um leben zu können – oder dass das Kind zwar behindert ist, aber eigentlich lebensfähig ist. Eltern erzählen davon, dass sie entscheiden mussten. Dass es keine Möglichkeit gibt, sich nicht zu entscheiden. Wie schwierig solche Entscheidungen sind – und sie erzählen von ihren inneren Kämpfen und von dem, was ihnen geholfen hat, zu einer Entscheidung zu kommen. Ein häufig genannter Grund für eine Abtreibung ist der Zeitdruck, unter dem Entscheidungen getroffen werden „müssen“. Ein weiterer Grund ist das Gefühl, es mit einem behinderten Kind nicht schaffen zu können. Es sei heutzutage sehr ungewöhnlich, ein behindertes Kind auf die Welt zu bringen. Als häufigster Grund wird die Liebe zum Kind genannt: Ihm eine OP nach der anderen in einem sowieso zu kurzen Leben nicht antun zu wollen, zu wissen, dass das Kind nicht lange leben wird und ihm deshalb Qualen zu ersparen. Ein weiterer genannter Grund ist der, dass es sowieso nichts bringt, ein Kind auszutragen, nur damit es sterben kann.

Die Mütter haben körperlich die größte Nähe zu ihren Kindern und sind damit auch emotional stark involviert, wenn diese – egal aus welchem Grund – so früh sterben. Für sie sind es konkrete Kinder13. Manchmal haben sie schon geahnt, dass sie schwanger sind, bevor der Test oder der Frauenarzt dieses bestätigt haben. Sie haben schon in den ersten Wochen der Schwangerschaft große körperliche Veränderungen an sich festgestellt: Müdigkeit, Übelkeit, einen Energiepunkt im unteren Bauch oder Wassereinlagerungen. Viele Frauen haben den Kindern schon im Bauch Namen gegeben: Krümelchen, Pünktchen z.B. oder einen anderen Kosenamen. Sie haben angefangen, sich mit den großen Veränderungen, die ein Kind im Leben bedeutet, auseinanderzusetzen. Sie fühlen sich leer, wenn das Kind nicht mehr in ihrem Bauch ist. Manche von ihnen haben Schuldgefühle. Sie fragen sich, ob sie sich auf die falsche Toilette gesetzt haben, sodass die Bakterien, die zum Tod des Kindes geführt haben, in sie eindringen konnten. Sie fragen sich, ob sie überhaupt richtige Frauen sind, wenn sie noch nicht einmal ein gesundes Kind zur Welt bringen können, ob sie zu viel Stress hatten, ob sie sich vielleicht nicht genügend auf das Kind gefreut haben, das Kind im ersten Moment der Schwangerschaft vielleicht sogar abgelehnt haben und deshalb schuldig sind, dass das Kind nicht bei ihnen geblieben ist, weil es sich nicht willkommen gefühlt hat.

So manche Frau hat auch mit Hilfe von Kinderwunschbehandlungen versucht, schwanger zu werden. Wenn sie es dann endlich gewesen ist und dann dieses Kind stirbt, ist es unendlich schwer für sie, denn es steht die Frage im Raum, ob sie jemals Mutter eines lebenden Kindes werden kann.

Viele Väter sind bei den Gesprächen und auch bei den Beerdigungen dabei. Väter übernehmen manchmal den Part beim Trauergespräch, die „harten Fakten“ der Geschichte zu erzählen. Sie erzählen auch von Reaktionen, die sie bekommen haben – verständnisvolle, aber auch von Menschen, die die Trauer der Eltern abgewertet haben, etwa „es war ja noch nichts“ oder „ihr seid ja noch jung, ihr könnt ja nochmal schwanger werden“ oder „ihr habt ja noch andere Kinder“. Solche Reaktionen verletzen Eltern in der Trauer um ihr einzigartiges Kind, das es so nicht wiedergeben wird. Männer schweigen aber, wenn ihre Frauen erzählen. Sie verstehen sich häufig als Begleiter ihrer Frauen, die ja die Schwangerschaft, die Geburt des toten Kindes körperlich alleine bewältigen mussten. Sie fühlen sich oftmals hilflos, weil sie das Geschick nicht ändern konnten, auch wenn sie es so gerne gewollt hätten. So mancher hat schon gesagt, er hätte gerne seiner Frau einen Teil der Last abgenommen. Es gibt auch einige Männer, die sagen, dass es für sie noch kein reales Kind gewesen sei, weil sie die körperlichen Veränderungen nicht selbst gespürt haben. An diesen Stellen wird klar, welche Belastung eine solch unterschiedliche Bewertung dessen, was gewesen ist, für die Partnerschaft bedeuten kann.

Manche der verstorbenen Kinder haben auch größere Geschwister, die sich auf das Geschwisterchen schon sehr gefreut haben, die Bilder gemalt haben, die das Kind durch den Bauch der Mutter geküsst haben, die schon überlegt haben, was sie mit ihm gemeinsam spielen könnten. Manche Geschwister wussten offiziell noch nichts von der Existenz des werdenden Lebens. Deshalb überlegen manche Eltern, es ihnen auch gar nicht zu sagen, sie nicht mitzunehmen zur Beerdigung. Die älteren Kinder bekommen sehr wohl die Gefühle der Eltern mit, die Traurigkeit, die Verzweiflung, wissen diese Gefühle aber nicht einzuordnen. Ein vermeintliches Verschonen kann an dieser Stelle auch einfach bedeuten, dass sich Eltern in dieser schwierigen Situation davor schützen, dieses traurige Ereignis verbalisieren zu müssen. Das bedeutet in der Konsequenz, dass das Geschwisterkind allein gelassen ist mit dem, was es an Trauer, Wut und anderen Gefühlen bei seinen Eltern wahrnimmt. Es hat keine Hilfe, diese Gefühle einzusortieren und steht alleine mit der Auseinandersetzung da.

Bei den Bestattungen sind auch immer wieder Großeltern anwesend. Wenn z.B. eine Mutter sehr jung ist, kommt häufig deren Mutter mit, die dort mit ihrer eigenen Trauer, aber vor allem auch mit ihrer Sorge um ihre junge Tochter anwesend ist. Großeltern kommen auch mit, wenn sie sich selbst sehr Enkel gewünscht haben. Dieser Wunsch kann allerdings Druck für die verwaisten Eltern bedeuten, was in der Trauerfeier zu berücksichtigen ist.

2.3 Tränen – Gefühlskälte

Es wird unendlich viel geweint, wenn Kinder so früh gestorben sind. Es gibt fast keine Erzählung von Eltern über ihr Kind, die nicht von Tränen begleitet ist. Tränen fließen, Tränen strömen, Tränen tropfen. Tränen werden versucht zu unterdrücken, herunterzuschlucken, um sprechen zu können. Das gelingt mal mehr, mal minder.

Diese Tränen erzählen auf eine viel tiefere Art und Weise als Worte es können von dem, was diesen Eltern passiert ist: Wie sehr sie der Tod des Kindes verletzt hat, wie traurig sie sind, wie unverstanden sie sich wissen – und dass sie mit allem gerechnet haben, aber nicht damit, dass ihnen ihr Kind stirbt. Dieses Thema ist immer noch etwas, an das „man“ nicht denkt – es ist ein Thema, das heute noch unter dem Teppich gehalten wird. Die meisten dieser jungen Eltern haben selber noch nicht erlebt, dass ihnen ein Verwandter gestorben ist – und müssen jetzt mit dem Tod ihres ungeborenen Kindes zurechtkommen.

Eine Bestattung erfüllt ihren Zweck, wenn sie Eltern erlaubt zu weinen. Wenn das, was an Trauer in ihnen ist, ins Fließen kommen kann. Wenn sie diese Tränen nicht verbergen müssen. Wohl aber kann es auch passieren, dass ich, wenn Eltern z.B. selbst Texte für ihre Kinder geschrieben haben, beim Vortrag dieser Texte ebenfalls beginne zu weinen. Es geht fast nicht, solche Briefe von Eltern an ihre Kinder ohne diese Tränen vorzutragen.

Als ich angefangen habe, meine Dissertation zu schreiben und die Interviews begonnen habe zu transkribieren, sind mir unendlich viele Tränen gelaufen. Es ist einfach furchtbar traurig, dass ein Kind noch vor der Geburt stirbt. Wie kann das sein? Diese Frage, die ich selbst nicht zufriedenstellend beantworten kann, zeigt Ohnmacht, zeigt das Ringen um diese Kinder, um die Liebe dieser Eltern zu ihren Kindern. Ihre Geschichte macht betroffen, berührt andere Menschen und verletzt sie sogar in ihrem Hoffen und Glauben, dass Gott das Leben will. Was dann übrig bleibt, sind einfach Tränen.

Ganz am Anfang meiner Tätigkeit in der Klinikseelsorge habe ich immer gedacht, dass ich nicht weinen dürfte, dass es von mir als Seelsorgerin verlangt wäre, die Situation zu halten, „darüber“ zu stehen. Viele Patient/inn/en, aber auch vor allem die Mütter und Väter der verstorbenen Kinder haben mich gelehrt, dass das Mitweinen eine nichtverbale Sprache ist – ein erstes Mittel der Kommunikation, das den Eltern unmittelbar zeigt, dass ich mitfühle, dass ich mit ihnen bin, dass ich mich zutiefst berühren lasse von ihrer Geschichte, von ihrer Trauer um ihre verstorbenen Kinder.

Das, was Eltern in ihrer Trauer viel mehr verletzt als die mitfühlenden Tränen anderer Menschen, ist Gefühlskälte. Bei einer werdenden Zwillingsmutter hatten die Wehen aufgrund einer bakteriellen Infektion eingesetzt. Nun war die Fruchtblase des einen Kindes geplatzt und der Muttermund war leicht geöffnet. Die Fruchtblase des anderen Kindes allerdings war noch vollkommen intakt, beide Herzen schlugen. In dieser Situation hatte ihnen ein Arzt gesagt: „Machen Sie es weg. Dann können Sie in zwei Tagen schön Weihnachten feiern.“

Dieser Satz transportiert einerseits die medizinische Realität. Ich bin keine Ärztin, aber mit bloßem Menschenverstand betrachtet ist die Geburt dieser beiden noch lebenden Kinder wohl nicht mehr aufzuhalten gewesen. Die Aussage, „es weg zu machen“, hat diese beiden werdenden Eltern sehr verletzt. „Es“ waren immerhin die beiden Kinder, mit denen dieses Ehepaar nach vielen Jahren erfolglosen Kinderwunsches durch künstliche Befruchtung schwanger geworden war. Sie waren nicht ein „Es“, das man einfach so „wegmachen“ konnte. Es waren zwei Kinder, die wahrscheinlich keine Überlebenschance hatten. Es waren zwei Wunschkinder, erhofft, ersehnt und erbeten vom Schöpfer dieser Welt. Es waren zwei Kinder, von denen sich die Eltern schwersten Herzens verabschieden mussten, die sie loslassen mussten – sie, die sie so sehr ersehnt hatten. Statt den Trauerprozess zu ermöglichen, die Eltern mitfühlend bei dem wohl irreversiblen Geburtsprozess zu unterstützen, erschwerten diese kalten Worte den Eltern die Situation noch. Sie waren unendlich schwer zu ertragen, sagten mir die Eltern mit bleichen Gesichtern und zitternden Lippen. Sie fühlten sich sehr alleine gelassen.

Solche Reaktionen gibt es aber nicht nur bei Ärzt/inn/en (natürlich gibt es viele, die auch menschlich hervorragende Arbeit leisten, das sei an dieser Stelle gesagt, damit nicht der Eindruck entsteht, Ärzt/inn/en seien gefühlskalte Monster), sondern auch bei Seelsorgenden.

Ich habe miterlebt, wie eine Pastorin bei einem Gedenkgottesdienst für verstorbene Kinder von den glücklichen Momenten der Geburt ihres eigenen Kindes erzählte: Wie sie ihr Kind erhofft hatte, wie es größer wurde in ihrem Bauch, wie sie es nach glücklicher Geburt auf ihre Brust gelegt bekam, wie wunderschön es war, dieses Kind aufwachsen zu sehen und mit ihm durch den Wald zu tollen. Das verkündete sie als „frohe Botschaft“ Eltern, die manchmal noch nicht einmal einen Körper hatten, den sie hätten beerdigen können, weil das Kind – so klein wie es war – tatsächlich bei einer Blutung verloren gegangen war? Ein größeres Maß an Abkanzlung der Trauer der Eltern kann man sich eigentlich nicht vorstellen. Der Grund mag vielleicht eine zu große Betroffenheit der Pastorin gewesen sein, dass sie dieses furchtbare Schicksal so vieler Eltern emotional nicht ausgehalten hat. Aber ist es ihr erlaubt, als Predigerin, als Verkünderin der Frohen Botschaft, Eltern gegenüber mit einer solchen Gefühlskälte zu agieren? Die Botschaft, die sie verkündet hat, war: „Ich bin glückliche Mutter – und ihr seid es nicht!“ – wo ist da der Trost?

Weitere kalte Reaktionen sind die Reaktionen von Umstehenden – manche Eltern haben eine „Hitliste“ von verletzenden Bemerkungen gemacht:

„Es hat eben nicht sollen sein./Nächstes mal (!) klappt es bestimmt. Ach, du wirst doch bestimmt schnell wieder schwanger./Ich hab doch gleich gesagt, wenn man Babysachen zu früh kauft, dass das Unglück bringt./War vielleicht besser so, wer weiß, was für eine Behinderung das Kind gehabt hätte./Bis jetzt war es doch nur ein Zellklumpen./Warum? Was hast du falsch gemacht?/Das passiert so vielen Frauen und die heulen auch nicht./Das Kind sucht sich selbst aus, wo es wohnen will./Übertreib mal nicht mit dem trauern (!)./Ist eine Beerdigung nicht völlig übertrieben?/Du bist keine Mutter, weil das noch kein richtiges Kind war“14.

Der Tod von Kindern bevor sie geboren worden sind, ist etwas, das Menschen emotional bis ans Äußerste herausgefordert, sodass es zu solchen Reaktionen der Abwertung kommt. Manches ist vielleicht noch nicht einmal böse gemeint, sondern einfach sehr ungeschickt geäußert. Manche Menschen lässt dieser Tod aber vielleicht wirklich kalt. Er bedeutet ihnen nichts, weil ja noch nichts gewesen sei.

In jedem Fall lässt sich feststellen, dass der Tod von Kindern zu Stellungnahmen herausfordert – sowohl bei Außenstehenden als auch bei den Müttern, Vätern und allen anderen Familienangehörigen.

2.4 Verstummen – Worte finden

Am Anfang meiner Bestattungspraxis habe ich gemerkt, wie mir die Worte im Mund stecken geblieben sind. Was habe ich solchen Frauen zu sagen? Was habe ich ihnen von Gott zu sagen? Dass er mitgeht und tröstet? Dass er die Kinder aufnimmt (so wie häufig das Evangelium von der Aufnahme der Kinder durch Jesus bei Kinderbestattungen gelesen wird)?

Aber da fängt es schon an, schwierig zu werden: Wer ist dieser Gott, der diese Kinder aufnimmt? Wenn er sagt „lasset die Kinder zu mir kommen“ meint er dann auch, dass er sie so gerne bei sich hat, dass er sie ihren Eltern wegnimmt? Nicht selten habe ich solche Assoziationen von Eltern gehört. Ja, ist er denn verantwortlich für das Sterben dieser wirklich ganz und gar unschuldigen Kinder, die mit dieser Unschuldigkeit auch jeglichen Tun–Ergehens–Zusammenhang zwischen Schuld und Tod aufheben? Ist er schuld an ihrem Tod? Wie kann eine Mutter einem Gott, der schuld ist am Tod ihres Kindes, ihr Kind anvertrauen?

Sehr schnell stand ich vor dieser Frage, die mich daran gehindert hat, leichtfertig davon zu reden, dass Gott diese Kinder aufnimmt. Aber was kann ich diesen Eltern dann noch sagen? Habe ich ihnen als Theologin überhaupt etwas zu sagen? Natürlich gibt es auch eine persönliche Überzeugung bei mir, die sagt, dass Gott nicht so (punktuell) in die Welt eingreift, dass Allmacht etwas Anderes ist als „Fügung“, dass er doch der Gekreuzigte ist und als solcher ein Mitleidender im Leid dieser Eltern. Aber die Rede davon hat diese Eltern nicht erreicht. Im Gegenteil: Sie blieben stumm bei den Bestattungen. Sie weinten noch nicht einmal. So verstummte auch ich mit dieser Botschaft von Kreuz und Auferstehung.

Es stellte sich die Frage, was nun zu tun war. In der Praxis der Bestattungen habe ich mich in der Folgezeit an die Seite dieser Eltern gestellt: Ich habe ihre Wut auf diesen und ihre Angst vor diesem Gott aufgenommen und versucht, sie zu verbalisieren. Ich habe die Eltern Kerzen anzünden lassen: Kerzen ihrer Hoffnung, ihrer Liebe für diese Kinder – und habe sie diese Kerzen zum Sarg in der Kapelle stellen lassen. Ich habe ihnen Raum gegeben, das, was an Trauer, Wut, Hoffnung und Liebe da ist, zu verbalisieren und zu symbolisieren. Dieses Ritual empfanden die Eltern als gut. Sie waren dankbar, dass sie Raum bekommen hatten für das, was sie bewegte.

Aber was habe ich mit diesem Ritual vom christlichen Gott gesagt? Diese Bestattung war bestimmt „gut“ – und trotzdem ließ mich die Frage nicht los, ob es nicht etwas gibt, was ich als Theologin sagen könnte. Hildegund Keul hat sich mit dem Zerbrechen von Sprache und der schöpferischen Macht der Gottesrede auseinandergesetzt15: „Die christliche Rede von Gott setzt bei solchen Erfahrungen der Sprachlosigkeit an.“16 Ich begann Gottesmetaphern zu suchen, denn ich las bei ihr:

„Das Versagen von Sprache in Gottesfragen fordert zur Auseinandersetzung mit Metaphern heraus. Denn die Metapher ist eine Sprachform, die genau hier ansetzt. Sie dient dem Überschreiten von Sprache durch Sprache. […] Denn in den Gottesmetaphern kommt das zur Wort, was alle Worte übersteigt und letztlich unsagbar ist: das Geheimnis des Lebens, das sich in dessen Zerbrechlichkeit offenbart.“17

Ich begann nach solchen Metaphern zu suchen, stieß aber auf eine weitere Schwierigkeit: Fast keiner dieser jungen Menschen wusste etwas vom christlichen Gott bzw. konnte etwas mit Metaphern anfangen, die ich in dieser Situation fand, einfach, weil das Verständnis der Welt ein ganz anderes ist. Es gibt kaum noch christlich–religiöse Prägung in Göttingen – fast keine/r kann z.B. das Vaterunser beten, keine/r weiß, was ein Segen ist. Wir haben auch muslimische Eltern dabei oder Buddhisten oder Menschen, die an heidnische Gottheiten glauben. Ich war also konfrontiert mit Menschen, die nicht christlich sind – hatte ich das Recht, nur weil ich die Bestattung als Christin und Seelsorgerin durchführte, sie in ein christliches Konzept von Bestattung zu pressen? Wozu habe ich hier überhaupt ein Recht? Darüber hinaus stellt sich nicht nur die Frage, ob ich das Recht habe, von dem Gott zu sprechen, an den ich glaube, weil ich der Bestattung vorstehe, sondern auch, ob ich dazu nicht sogar verpflichtet bin? Aber wie sollte ich es tun, wenn mir die Sprache von ihm angesichts des Leids dieser Eltern zwischen den Fingern zerbröselte?

Das waren Fragen, die sich mir immer lauter stellten.

Ich erkannte, dass Sprachlosigkeit Sensibilität für Begriffe schafft. Meine Sprachlosigkeit führte dazu, dass das, was ich einst als Gesprächsführung – aufbauend auf humanistischer Gesprächspsychologie18 – als Spiegelung rein verbaler Sprache sehr vereinfacht gelernt hatte, für mich an eine Grenze kam. Ich hatte es mit Sprachlosigkeit bei Trauernden, mit Wortlosigkeit bei mir und ihnen zu tun. Ich merkte, dass diese Sprachlosigkeit mir half, die Menschen genauer in den Blick zu nehmen. Ich erkannte die Sprachlosigkeit als Weg zu diesen Menschen und hielt sie nicht mit Worten doch auf eine bestimmte Art und Weise auf Distanz.

Rogers als Hauptvertreter der humanistischen Gesprächspsychologie wehrt sich zutiefst gegen die Verengung seiner Methodik, wie ich sie als seinen Ansatz gelernt hatte. Er schlägt für Berater ein „Sensivitätstraining“19 vor:

„das befähigt zu feinfühligerem Zuhören, dazu, mehr von dem unterschwelligen Sinngehalt zu erfassen, den der andere mit Worten, Gebärden und Körperhaltung ausdrückt, gibt die Möglichkeit von innen heraus intensiver so wie auch freier auf die Bedeutung des jeweils Geäußerten zu reagieren“20.

Rogers bedenkt, wie sich gezeigt hat, durchaus auch die nonverbale Kommunikation. So empört er sich in der Fußnote zu dieser Textstelle und schreibt:

„Ich kann nur hoffen, daß die oben erfolgte Darstellung des Einfühlungsvermögens als therapeutische Haltung endlich ausreichend meinen Standpunkt verdeutlicht, wonach ich keineswegs eine hölzerne Technik des Pseudoverstehens befürworte, bei welcher der Berater lediglich ,widerspiegelt, was sein Klient soeben gesagt hat’. Die Ausdeutungen meines Ansatzes, wie sie sich mitunter in der Ausbildung und Fortbildung von Beratern eingeschlichen haben, muß ich aufs schärfste mißbilligen.“21

Trotzdem hat das, womit ich zu tun hatte, mit etwas Anderem zu tun. Ich wusste, dass Worte nicht alles sind, dass Schweigen oder Tränen an dieser Stelle mehr sagen können als Worte. Aber ich hatte nichts mehr zu sagen angesichts der Widersprüche von Transzendenz und Immanenz, dass die Liebe von Eltern nicht ausgereicht hat, menschgewordene Liebe zu gebären. Jedes vorschnelle Wort von einem Gott, der das Leben für diese Kinder will, dass er ihnen Zukunft schenkt, wo sie ja bei ihren Eltern keine haben konnten (wer hat es ihnen denn genommen?) von Leben und Tod – von einem Leben, das zu Ende war, bevor es geboren wurde, verbot sich mir, als mir diese Frauen und Männer ans Herz rückten.

Damit wurde deutlich, dass die humanistische Gesprächspsychologie, auch in ihrer Nicht–Engführung, hier nur bedingt weiterhilft, obwohl ich wusste, was ich zu tun hatte, weil hier auf einmal theologische Grundsatzfragen im Raum standen, auf die ich keine Antwort hatte, auf die ich angesichts der Grausamkeit dessen, was Eltern erlebt hatten, nicht einfach irgendwelche theologischen Lösungen anbieten konnte, auch nicht in Form von Metaphern, aber auch nicht in philosophischen (und dann teils auch theologisch rezipierten) Überlegungen wie der Theodizee als Erklärung des Übels in der Welt22. Stattdessen geriet ich an meine eigene Grenze – was sollte ich diesen Frauen und Männern von Gott sagen, für den ich ja als Klinikseelsorgerin stand?

2.5 Gott verantwortlich machen – ihn verteidigen

Am Anfang der Bestattungen bin ich mit dem Selbstbewusstsein aufgetreten, ich hätte als katholische Klinikseelsorgerin Menschen in dieser Lebenssituation etwas zu sagen. Ich wollte von der Hoffnung sprechen, dass, wenn schon jetzt alles zerbrochen ist, am Ende einer sein wird, der die Menschen wiederaufrichten wird, der die Kinder aufnimmt, der ihnen jetzt, da sie tot sind, die Geborgenheit schenken wird, die ihre Eltern ihnen nicht schenken können. Auf diese Botschaft spürte ich jedoch keine deutliche Resonanz. Ich spürte nicht, dass sie die Eltern tröstet.

Dann habe ich überlegt, die biblische Tradition der Klage23 laut werden zu lassen: Indem ich bei einer Beerdigung z.B. Psalm 77 vortrug, erreichte ich die Eltern schon eher. Aber ich hatte das Gefühl, dass der Inhalt zwar richtig war, dass aber die „Verpackung“ – ein Gebet in „alter“, ungewohnter Sprache, dann doch wie eine unsichtbare Mauer zwischen den Eltern und dem Inhalt stand.

In all dem wurde nicht nur ein legitimer pastoraler Anspruch deutlich, sondern auch das verborgene Ziel, Gott verteidigen zu wollen. So suchte ich nach theologischen Konstrukten, die ein bestimmtes Bild Gottesbild retten könnten. Das Modell des mitleidenden Gottes von Jürgen Moltmann, das Modell der Trinität24, erschien hierbei als ein repräsentatives Modell, mit dem ich mich als Theologin vor diese Eltern stellen konnte. Ich wollte ihnen ja etwas von Gott sagen. Aber auch all diese Gedanken halfen nichts. Die Trauer der Eltern war größer. Sie wollten keine wohlfeilen theologischen Antworten, sondern sie wollten Trost. Dafür reichten ihnen die Sterne in der Nacht, so schien es mir. Die Sehnsucht nach einem neuen Tag schien mir nicht in ihrem Denkhorizont zu sein. Als seien sie durch den Tod ihrer Kinder zu Kindern der Nacht geworden, in der höchstens die Sterne der Mitmenschlichkeit und Solidarität untereinander die Nacht erhellen können – so auch beim Candlelighting–Gottesdienst25.

Durch diese Erlebnisse und auch durch die Analyse der Interviews wurde mein Begriff von Gott herausgefordert. Sie waren geradezu ein Angriff auf mein Gottesbild. Ich rang mit diesem Begriff von Gott, stellte mich den Frauen radikal an die Seite. Ich begann selbst, Gott zu klagen, warum diese Kinder gestorben sind. Ich weinte viele Tränen im Mitgefühl mit diesen Müttern. Ich hatte wirklich Angst, Gott selbst zu verlieren und begann zu verstehen, dass ich hier nichts retten kann, dass ich unendlich ohnmächtig bin, dass ich Gott nicht festhalten kann, sondern dass er selbst für sich und sein „Dasein“ verantwortlich ist und nicht ich. Ich musste lernen, dass ich als Theologin nicht für diesen Gott verantwortlich bin. Er entzog sich meinem Zugriff, so dass ich ihn nicht mehr „einsetzen“ konnte. Ich habe ein bestimmtes Gottesbild durch den Prozess der Auseinandersetzung mit diesen Eltern und besonders in den Interviews dieser Frauen verloren. So stand ich dann da – als eine Frau, die von Gott reden will, denn das ist es im wahrsten Sinne für mich, Theologin zu sein – aber ich war sprachlos. Ich hatte die Rede von ihm verloren, weil er sich mir in der Auseinandersetzung mit dem Tod noch nicht geborener Kinder entzogen hatte. So kam ich zu dem Schluss, dass ich bisher ein bestimmtes Gottesbild verteidigt, dieses aber letzten Endes verloren hatte.

2.6 Gewalt, Wut und Ohnmacht – Liebe

Die Frauen, die ihre Kinder verloren haben, haben häufig Gewalt erfahren. Oftmals berichten Frauen, dass ihre Körper nicht bereit waren, die Kinder herzugeben. Sie berichten, dass die Einleitung einer Geburt unendlich lange gedauert hat, mehrere Tage, dass es deshalb eine schwere Geburt war. Sie berichten von abwertenden Reaktionen von Ärzt/inn/en „es war ja noch nichts!“ oder von Hebammen, die so gucken, als wenn gerade ein Missgeschick passiert wäre. Sie erleben, dass sie mit ihren Gefühlen, dass da vielleicht etwas nicht stimmt, nicht ernst genommen werden, belächelt werden. Sie erleben, dass sie ihre Kinder – teilweise nur vom Stationspersonal betreut – auf dem Zimmer ohne Hebammenbetreuung entbinden müssen. Sie fühlen sich allein gelassen. Sie sind voller Wut auf die Situation, auf Ärzte und Ärztinnen und auch auf Gott, der ihnen das angetan hat.

Sie sind voller Liebe für ihre Kinder, die sie eigentlich nicht hergeben wollen, aber es müssen, weil sie entweder schon gestorben sind oder weil sie sich für den Abbruch entschieden haben.

Die Männer schildern häufig das Gefühl von Ohnmacht: Sie hätten gerne ihrer Partnerin etwas abgenommen – z.B. die Schmerzen. Sie hätten am liebsten alles rückgängig gemacht. Das Kind gerettet. Sie kämpfen mit dem ärztlichen oder pflegerischen Personal oder mit der Krankenkasse, mit… und müssen doch erleben, dass es nicht in ihrer Macht steht, das Kind und ihre Frau zu retten.

2.7 Wann ist ein Kind ein Kind?

Die Frage, wann ein Kind ein Kind ist, stellt sich in einer solchen Situation in besonderem Maße. Diese Frage wird unterschiedlich bewertet. Die Mütter und Väter, die in den Trauergesprächen auftauchen, sprechen ganz klar von ihren Kindern. Sie geben ihnen Namen. Sie sagen, dass sie ab dem Zeitpunkt, als sie das Herz schlagen sahen, sich als Mutter und Vater dieses Kindes verstanden haben. Andere sehen diese Kinder als menschliches Material an. So sagte mir ein Arzt angriffslustig einmal, dass ich ja Zehennägel bestatten würde26.

Auch in den Reaktionen der Umwelt kommt etwas von der Ansicht zutage, diese Kinder seien ja noch gar keine Kinder gewesen. „War ja noch nichts“ – ist hier die häufigste Aussage, die deutlich macht, welchen Stellenwert diese Kinder hatten.

Auf der Grabstele des Regenbogenvereins Göttingen auf dem Grabfeld St. Petri/Weende steht „ein Hauch von Leben – unvergessen“. Selbst diese Definition der Kinder als „Hauch von Leben“ verletzt Frauen, die unter körperlichen und seelischen Schmerzen ihr geliebtes Kind auf die Welt bringen mussten, obwohl sie nichts als das Leben für dieses Kind wollten.

Auch der Gebrauch der Wörter „es war eine Totgeburt“27 oder aber „es war eine Fehlgeburt“28 sprechen ebenfalls nicht davon, dass es ein Kind war, das den Weg zum Leben nicht gefunden hat. Sie sprechen von einer Sache, wie einem Organ, und von einem Fehler. Doch diese Kinder waren keine Fehler.

In der Bewertung dessen, wie mit totgeborenen Kinder umgegangen werden soll, hat sich auch die Politik verändert29, sodass es inzwischen eine Bestattungsmöglichkeit für diese Kinder gibt. Selbst das war lange Zeit nicht geregelt. Torsten Barthel, der den Verband der Friedhofsverwalter Deutschlands als Rechtsanwalt berät30, schreibt noch 2012 in der juristischen Online–Fachzeitschrift Jurion31:

„Bislang fanden betroffene Eltern bei Totgeburten mit einem Gewicht unter 500 Gramm nur manchmal einen aufnahmebereiten Friedhof. Immerhin enthalten einige der 16 Friedhofs– und Bestattungsgesetze (BestattG) der Länder Regelungen wie in Niedersachsen, wonach ‚auf Verlangen der Eltern ein Tot–oder Fehlgeborenes zur Bestattung auf dem Friedhof zuzulassen ist’ (§ 8 Abs. 1 Satz 2 Nds. BestattG).“

Die Bestattung erfolgte

„zumeist in einem Kindersammelgrab, wo die Kinder vierteljährlich gesammelt, gemeinsam verbrannt und in einer Urne bestattet werden. Manche Länder machen die Bestattung sogar gänzlich vom Goodwill des Friedhofsträgers abhängig. Bittere Konsequenz: Das tote Kind ist organischer Abfall, Krankenhausmüll, der ordnungsgemäß entsprechend der Hygienevorschriften entsorgt werden muss. Entsorgung bedeutet in der Regel Verbrennung zusammen mit herausoperierten Blinddärmen oder Geschwüren oder Zuführung der Asche zum Sondermüll.

Diese Praxis hatte ihre Wurzel in der Regelung des § 31 Abs. 3 PStV in seiner bisherigen Fassung. Danach gilt: Wenn das Gewicht der Leibesfrucht weniger als 500 Gramm beträgt, handelt es sich um eine Fehlgeburt. Sie wird in den Personenstandsregistern nicht beurkundet, wenn sie ohne Merkmale des Lebens wie Herzschlag, Nabelschnurpulsation oder Lungenatmung und kein Teil einer Mehrlingsgeburt war. Was aber nicht personenstandsrechtlich beurkundet wird, hat als Mensch nicht existiert, ist also keine ‚Leiche’ und damit eben nicht bestattungspflichtig.

Dabei wird die ehrfurchtvolle Behandlung menschlicher Überreste durch Pietät, Sitte und religiöse Anschauung bestimmt. Bereits die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Schwangerschaftsabbruch enthält wesentliche Aussagen zum sittlichen Empfinden unseres Kulturkreises. Danach beginnt die Menschenwürde spätestens mit der Nidation (Einnistung) der Eizelle (Urt. v. 25.02.1975, Az. 1 BvF 1/74, 1 BvF 2/74, 1 BvF 3/74, 1 BvF4/74, 1 BvF 5/74, 1 BvF 6/74). Somit besitzt auch ein Fehlgeborenes Menschenwürde und kann das sogenannte postmortale Persönlichkeitsrecht beanspruchen“32.

Der Deutsche Bundestag hat dann2013 einstimmig das Personenstandsrechtsänderungsgesetz (PStRÄndG) beschlossen33:

„Das Gesetz gibt Eltern von so genannten ‚Sternenkindern’ – also Kindern, die mit unter 500 Gramm tot geboren wurden – erstmals die Möglichkeit, die Geburt beim Standesamt dauerhaft dokumentieren zu lassen und ihrem Kind damit offiziell eine Existenz zu geben. Bisher war eine solche Beurkundung nicht möglich.

Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder: ‚Die Änderung des Personenstandsrechts zugunsten der vielen Mütter und Väter eines so genannten >Sternenkindes< ist nicht nur rechtlich und familienpolitisch notwendig, sondern vor allem eine Frage der Menschlichkeit. Eltern, die mit einer Fehlgeburt einen schweren Schicksalsschlag erlitten hatten, mussten bisher auch noch hinnehmen, dass ihr totes Kind behandelt wird, als hätte es nie existiert. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt eine Regelung finden konnten, die endlich einen würdigen Umgang ermöglicht mit diesen >Sternenkindern<, wie viele Eltern sie nennen. Die Neuregelung sieht vor, dass Eltern ihr totes Kind beim Standesamt namentlich anmelden können. Sie können ihm damit offiziell eine Existenz geben und erhalten einen Raum, um Abschied zu nehmen und als Familien wahrgenommen zu werden. Mir war es wichtig, dass die neue Regelung rückwirkend auch für Mütter und Väter gilt, die diesen schweren Schicksalsschlag bereits erleiden mussten.’

Aus diesem Anlass traf sich Bundesfamilienministerin Kristina Schröder [… ] mit den Eheleuten Martin, mit deren Schicksal und ganz persönlichem Einsatz dieser neue Umgang mit den so genannten ‚Sternenkindern’ besonders eng verbunden ist.“34

Die Initiative von vielen – von Ärzt/inn/en, Eltern und Kirchen und Politiker/inne/n – hat dazu beigetragen, dass es jetzt in Deutschland eine offizielle Regelung gibt, die eine adäquate Begleitung von trauernden Eltern und auch die Bestattung dieser Kinder ermöglicht.

Auch die kirchliche Sicht darauf, ab wann ein Kind ein Kind ist, hat sich im Laufe der Zeit entwickelt und verändert35. Heute ist es für die offizielle katholische Lehre klar, dass ab Befruchtung der Eizelle ein Kind ein Kind ist:

„Das menschliche Leben ist vom Augenblick der Empfängnis an absolut zu achten und zu schützen. Schon im ersten Augenblick seines Daseins sind dem menschlichen Wesen die Rechte der Person zuzuerkennen, darunter das unverletzliche Recht jedes unschuldigen Wesens auf das Leben.“36

Kirchliche und medizinische Einrichtungen reagierten in der Vergangenheit avantgardistisch auf Sorgen, Nöte und die Liebe von Eltern und Großeltern. So entstanden z.B. die Bestattungsmöglichkeit für totgeborene Kinder unter 500 g in Göttingen durch die Initiative einer katholischen Pfarrgemeinde, der evangelisch–lutherischen Kirchengemeinde St. Petri/Weende und eines Chefarztes einer gynäkologischen Abteilung des katholischen Krankenhauses in Göttingen als Reaktion auf die Frage eines Großvaters, wo denn jetzt sein Enkel bestattet werden würde. So haben sich das Weinen und die Trauer von Menschen mit dem Handeln der Kirche verbunden. Es ist ein Ort entstanden, in dem die Themen Gotteskindschaft und Wert eines jeden Menschen bei Gott konkret erfahrbar werden.

Die Frage nach dem Beginn des Menschseins wird von den betroffenen Müttern zumeist klar beantwortet, in dem diese Eltern von ihren Kindern sprechen. Denn die Frage, was es ist, was da in ihrem Leib heranwächst, ob es schon Leben ist, ob es ein Mensch ist, ob es ein eigenständiger Mensch ist, oder er das erst durch seine Geburt wird, sind Fragen, die diese Frauen einfach damit beantworten, dass sie ihren Kindern Namen geben, dass sie mit ihnen sprechen, dass sie für sie einzigartige Personen sind, die es so nie wiedergeben wird. Der Moment der Menschwerdung, den die meisten Frauen benennen, ist der Moment, wenn sie den Herzschlag auf dem Monitor des Ultraschallgerätes sehen.

Der Moment der Menschwerdung wird sehr unterschiedlich beurteilt: Zwischen den Überzeugungen „das war ja noch nichts“ und der Meinung der katholischen Theologie/Kirche37, die den Beginn des Lebens mit der Verschmelzung von Ei– und Samenzelle benennt, besteht eine maximale Spannweite. Mütter sind mit ihrer Wahrnehmung des Lebensbeginns, wenn sie das Herz auf dem Ultraschallbild schlagen sehen38, relativ nahe an der Überzeugung der katholischen Kirche.

2.8 Der Griff in die Traditionskiste – moderne Bestattung ohne Gott

Ein Konfliktpunkt bei den Bestattungen ist immer wieder, ob die christlichen Akteure im Flyer, der auf die Bestattungen aufmerksam machen soll, benannt werden sollen oder nicht. Mitarbeiterinnen von Regenbogen39, dem Verein der die Bestattungen der Kinder unter 500g Geburtsgewicht in Göttingen organisiert, haben darauf hingewiesen, dass viele Mütter und Väter zwar eine Bestattung möchten oder eine „Gedenkfeier“40, dass sie aber durch die Mitarbeit christlicher Institutionen von der Teilnahme an der Bestattung abgeschreckt werden könnten.

Dieser Konfliktpunkt ist ein echter, denn während die Menschen meistens nicht mehr christlich geprägt sind, bzw. eine bestimmte Form von Kirchlichkeit ablehnen und hier keinen Trost mehr erwarten, gibt es auf der anderen Seite ein echtes Engagement seitens der Kirchen für diese Menschen. So besteht seit dem II. Vatikanum die Möglichkeit der Bestattung ungetaufter Kinder41. Es gibt die evangelisch–lutherische Kirchengemeinde St. Petri, die ihren Friedhof für diese Bestattungen kostenlos zur Verfügung stellt und die Klinikseelsorge der Universitätsmedizin Göttingen, die sich hier seit Jahren hilfreich eingebracht hat. Die Gefahr gekränkter Kirchlichkeit ist natürlich gegeben, wenn Kirche zwar die Bestattungen macht, aber in den Flyern nicht auftauchen soll, aber eigentlich geht es um eine andere Frage: Wie ist es möglich, Eltern so beizustehen, dass es ihnen hilft, dass es sie tröstet – und zwar ohne auf der eigenen Position als Machtort zu beharren? Gibt es nicht doch einen Mehrwert des Christlichen, der diese Eltern auf ihrem Trauerweg unterstützen kann?

Wie geht es, in dieser Welt heute in Norddeutschland als Kirche aufzutreten? Das Beharren auf alten Bastionen ist eine Möglichkeit, die sich bei genauerem Nachdenken verbietet. Sollten wir uns dann verstecken? Uns nicht mehr öffentlich als Christ/inn/en bekennen und nur noch unsere seelsorglichen Fähigkeiten, die alle gesprächspsychologisch geschult sind, zur Verfügung stellen, obwohl wir wissen, dass reine Gesprächspsychologie nicht ausreicht? Sollten wir uns in der Öffentlichkeit gleich ganz abschaffen, weil nur noch das „Produkt light“ geht, aber nicht mehr der Habitus oder gar der Inhalt unserer Sendung? Geht es hier vielleicht sogar um noch mehr? Soll an dieser Stelle nicht mehr von Gott geredet werden? Sollen wir von ihm schweigen? Von ihm, den wir sowieso nicht in den Händen haben? Vor dem Menschen Angst haben, weil sie der Auffassung sind, dass er ihnen das Kind genommen hat? Sollten wir einfach die ganze christliche Theologie sein lassen in unserer säkularisierten Welt, statt immer noch darauf zu beharren, dass wir etwas zu sagen hätten von unserem Gott, von dem wir aber selbst angesichts des Unglücks, das diese Menschen übermächtigt hat, verstummen? Sollten wir nicht gleich mit Gott verstummen?

Sowohl das Verstummen als auch die Gesprächspsychologie helfen nicht ausreichend weiter. Deshalb frage ich mich: Wie komme ich in einer Welt, die sich selbst als säkular im Sinne von Taylor42 versteht, zu Wort: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit für Theologie und Kirche? Und wie habe ich darin umzugehen?43

2.9 Sonderfall Spätabtreibung?

Die Pränataldiagnostik macht es heute möglich, schon im Mutterleib zu erkennen, ob ein Kind krank ist oder nicht, ob es behindert ist oder nicht. Inzwischen gibt es sogar die Möglichkeiten von Operationen im Mutterleib. Pränataldiagnostik gibt so Einblicke in die Schwangerschaft, sie macht den Mutterleib „gläsern“44 und fordert zu Entscheidungen heraus, die früher einfach nicht zu treffen waren. Wenn man nichts weiß, braucht man auch nicht zu entscheiden.

Es gibt Behinderungen, mit denen ein Mensch leben kann, sogar gut leben kann. Aber es gibt auch Behinderungen, die so stark sind, dass klar ist, dass das Kind nur kurze Zeit leben wird. Darüber hinaus gibt es Abweichungen vom „Normmaß des Menschen“, das in einer Gesellschaft des Designs von Frauen verlangt, ein „perfektes Kind“ bzw. ein „Kind nach Maß“45 hervorzubringen.

Es gibt die Bestrebung in Kliniken, Schwangerschaften, bei denen die Entscheidung für eine Abtreibung gefallen ist, möglichst schnell zu beenden, um dem Kind bei der Abtreibung Schmerzen zu ersparen46, um die Eltern nicht länger zu zwingen, ein Kind auszutragen, das – nach gängiger Meinung – sowieso nicht am Leben bleiben sollte oder ein Kind auszutragen, das mit der Geburt zum Sterben verurteilt ist.