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Eigentlich eine ganz normale Leiche, berichtet die Kriminalassistentin Christina Hahn ihrer Chefin Kim Lorenz, die eigentlich voll damit beschäftigt ist, ihre kleinen Zwillinge zu betreuen. Diese sogenannte „normale“ Leiche liegt am Ufer der Insel Reichenau. Der junge Familienvater war wohl nicht sehr beliebt, das findet Christina Hahn schnell heraus. Die Nachbarn haben wenig Gutes über ihn zu berichten. Da es kaum brauchbare Spuren gibt, beschließt Kim Lorenz, aus Gaienhofen über den See zu fahren und der schönen Insel Reichenau einen Besuch abzustatten. Ihren Mann lässt sie mit den Kindern überfordert zurück. Am nächsten Tag wird ein bekannter Obstgärtner, Ludwig Schrammel, in den Scherben seines Gewächshauses tot aufgefunden. Zwei Tote innerhalb von zwei Tagen auf der Reichenau? Kim Lorenz und Christina Hahn ermitteln im Obst- und Gemüseanbau-Milieu und treffen auf viel Neid und Missgunst. Dann verschwindet ein junger Obstverkäufer spurlos. Er hat für Schrammel am Stand gearbeitet.
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Seitenzahl: 270
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Bernd Weiler
Bernd Weiler ist in Eislingen/Fils geboren, studierte Anglistik und Germanistik in Tübingen und Leeds. Als freier Redakteur und Autor arbeitete er bei zahlreichen Reise- und Naturführern mit. Seit einigen Jahren schreibt er auch Krimis. Das leise Sterben auf der Reichenau ist bereits der fünfte Krimi mit der Kommissarin Kim Lorenz. Der Autor lebt mit seiner Familie in Pfullingen am Albtrauf.
Ich habe zu danken …
… den Reichenauer*innen, die mir ihre schöne und fruchtbare Insel als Schauplatz für diesen Krimi zur Verfügung gestellt haben (ohne natürlich wirklich gefragt worden zu sein)
… ihrem Bürgermeister, Herrn Dr. Wolfgang Zoll, für ein sehr informatives Gespräch
… meinem Lektor Bernd Storz für seine Sorgfalt und zahlreiche Anregungen
… meiner Korrektorin Sabine Tochtermann für ihre akribische Arbeit an diesem Text
… dem Verlag Oertel + Spörer für die Möglichkeit, ein weiteres Buch in der Kim-Lorenz-Reihe zu veröffentlichen
… meiner Familie für ihre Geduld mit meiner Schreiberei, erschwert durch die Corona-Pandemie
… dem Jurek, der mir gestattete, seinen Namen zu verwenden
Bernd Weiler
Das leise Sterben auf der Reichenau
Oertel+Spörer
Dieser Kriminalroman spielt an realen Schauplätzen. Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden. Sollten sich dennoch Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen ergeben, so sind diese rein zufällig und nicht beabsichtigt.
© Oertel + Spörer Verlags-GmbH + Co. KG 2021Postfach 16 42 · 72706 ReutlingenAlle Rechte vorbehalten.Titelbild: © Adobe StockGestaltung: PMP Agentur für Kommunikation, ReutlingenLektorat: Bernd StorzKorrektorat: Sabine TochtermannSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-96555-094-0
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Für Jurek
Waldi wollte heute nicht so recht. Vielleicht war es das trübe Herbstwetter, das ihm immer Mühe mit dem Schnaufen machte. Er kam halt auch in die Jahre, dachte sich der alte Mann auf seinem morgendlichen Spaziergang. Es war immer dieselbe Route, die er und sein kleiner Dackel miteinander gingen. Ein schöner Weg, wenn das Wetter stimmte: Von seinem kleinen Häuschen führte ein schmaler Pfad vorbei an alten Trauerweiden hinunter zum See. Jedes Mal ärgerte er sich über die dreckigen Schuhe und Waldis schmutzige Pfoten, die er dann wieder putzen musste. Aber das gehörte zu seinem Leben, er hatte das genauso in seine Runde eingebaut wie die tägliche Brezel beim Bäcker an der Ecke. Denn am Ende seiner Runde machte er noch einen Gang durch die Gemeinde. Am Platz in Mittelzell traf er meist den einen oder die andere und man schwatzte ein wenig über die Zeit und über die Reichenau und ihre Menschen. Er hatte lange Jahre die Poststelle auf der Insel geleitet. Was hieß geleitet, er war die Post gewesen auf der Reichenau bis zu seinem Ruhestand. Heute gab es eigentlich keine Post mehr, nur noch eine Agentur, die ein Laden war, in dem man alles Mögliche kaufen konnte. So änderten sich die Zeiten. Früher war er die Informationszentrale der Insel gewesen. Bei ihm gingen die Reichenauer ein und aus und jeder wusste was zu erzählen. Bei ihm konnte man sich damals informieren, was wichtig war auf der Insel: Wer wird heiraten, wo wurde ein Kind erwartet, wem ging es nicht so gut. All die Informationen, die eine so relativ kleine Gemeinschaft wie hier auf der Reichenau ausmachte. Das hatte sich im Laufe der Zeit allerdings geändert, als immer mehr Touristen auf die Insel kamen und immer mehr Wochenendhäuser und Ferienwohnungen gebaut wurden. Freilich hatte es auch schon vor seiner Zeit ein paar Häuschen gegeben, in denen betuchte Stuttgarter die Wochenenden und den Sommer verbrachten. Aber inzwischen lebte die Insel neben dem Gemüse- und Salatanbau von diesen Gästen, die manchen Euro in den Läden und Wirtschaften ausgaben.
Er unterbrach seine Gedanken und schaute hinüber zur Waldsiedlung, einem Ortsteil der Reichenau auf dem Festland. Es war zu wenig Platz, zu wenig Wohnraum auf der Insel, um all die Menschen unterzubringen, die hier ihrer Arbeit nachgingen. Irgendwann, war es in den Sechzigern oder Anfang der Siebziger Jahre gewesen, hatten die ersten Reichenauer drüben auf dem Festland ihre Häuser gebaut. So genau wusste er das eigentlich gar nicht. Die spätere Waldsiedlung war eben die Waldsiedlung gewesen und geblieben. Für die Reichenauer war die Insel die Insel und die Waldsiedlung die Waldsiedlung, so vielfältig inzwischen die Verbindungen auch sein mochten. Er selbst, wenn er genau nachdachte, kannte niemand aus der Siedlung. Aber das musste nicht viel heißen, seine Verwandtschaft war klein. Es gab nur noch einen Vetter, der wohl noch in Konstanz lebte. Es war Jahre her, dass sie sich mal eine Karte zu Weihnachten geschickt hatten. Eigentlich schade, dachte der alte Mann, denn immerhin war man zusammen aufgewachsen und hatte so manchen Jugendstreich gemeinsam erlebt. Er riss sich aus seinen Gedanken und ließ den Blick über die Landschaft streifen. Durch die vielen Gewächshäuser und das milde Klima der Insel konnte man hier das ganze Jahr über Salat und Gemüse anpflanzen. Ein einträgliches Geschäft, dachte er bei sich, denn er kannte den einen oder anderen Gemüsebauern ganz gut. Denen ging es nicht schlecht, und wenn sie klagten, dann klagten sie auf hohem Niveau, wie man so sagte. Aber so war das mit den Menschen, immer wollten sie mehr und es musste noch besser gehen, ein größeres Haus, ein teureres Auto und natürlich mehr Land. Das war hier auf der Reichenau das eigentliche Gold. Wer Land hatte, der hegte und pflegte es und war vor allem stolz darauf.
Auch er war Landbesitzer. Zwar hatte er den Streifen bisher nur für ein wenig Kleingärtnerei genutzt, das Stückchen lag aber ganz praktisch wenige Hundert Meter von seinem Häuschen entfernt. Sein Onkel Herbert hatte es ihm hinterlassen. Das Haus des Onkels war für die Tilgung der Schulden draufgegangen. Der Onkel hatte halt sein Leben lang kein Händchen für das liebe Geld gehabt. Trotz einträglicher Schmiedewerkstatt hatten ihn schließlich seine beiden Kinder um ein kleines Vermögen gebracht. Nachdem er sich immer ganz gut mit dem Onkel verstanden hatte, hinterließ ihm der diesen kleinen Acker. Immer wieder mal meldete sich der ein oder andere der angrenzenden Gemüsebauern, ob er das Stück Land nicht verkaufen wolle. Aber was sollte er mit dem Geld, fragte er sich und verneinte jedes Mal.
Er bog auf den Uferweg ein. Meistens traf er hier keinen Menschen um diese Zeit. Es war Viertel nach sieben. An dieser Stelle konnte man ziemlich weit in den Seeuferweg hineinsehen. Entfernt erkannte er einen Jogger, der in greller Sportkleidung in seine Richtung lief. Als dieser offensichtlich junge Mann näherkam, hatte er das Gefühl, ihn zu kennen. Das musste dieser Erik von gegenüber sein, der Vater der kleinen Familie mit der netten jungen Frau. Mit dem hatte er schon lange mal sprechen wollen. Da ging es immer ziemlich laut zu, wenn der Mann am Abend von der Arbeit nach Hause kam. Soweit er wusste, war er bei einem Handwerksbetrieb als Flaschner angestellt. Die Familie wohnte noch nicht lange in einem Zweifamilienhaus, das anstelle eines Fischerhauses errichtet worden war. Die Erben hatten das alte Haus abreißen lassen und die beiden Wohnungen schnell vermietet. Sie wohnten im ersten Stock. Die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen waren zwei und drei Jahre alt und hielten ihre Mutter auf Trab.
Es ärgerte ihn immer so, wenn der Mann abends seine Frau anschrie. Den Geräuschen nach schrie er nicht nur, sondern wurde auch handgreiflich. Das Weinen der Frau, Sabine hieß sie, ging ihm durch Mark und Bein. In manchen Wochen kam das fast jeden Abend vor. Sein Entschluss war lange schon gewachsen. Er würde den jungen Mann heute zur Rede stellen, das musste sein. Er schaute dem Jogger entgegen. Der war nur noch etwa fünfzig Meter entfernt. Er rannte recht schnell, sportlich war er, der Erik, dachte er noch. Dann hob er die Hand in die Höhe, um dem jungen Mann zu signalisieren, dass er stehenbleiben solle. Der erkannte den alten Mann und verlangsamte seine Schritte. Schließlich kam er direkt vor ihm zu stehen.
»Gute Morge, Herr Wiegand, danke, dass Sie anghalte hend. Ich mecht mal was mit Ihne schwätza«, sagte der alte Mann.
»Sie sind doch der alte Glaubscher von nebenan«, meinte der junge Mann.
»Genau, ihr direkter Nochber, Glaubscher, Rudolf«, sagte der alte Mann.
»Und, was gibt’s?«, fragte der junge Mann.
»Ich hör Sie emmer schreia, am Obend, ond ihr Frau weina«, sagte der alte Mann.
»Das geht Sie nichts an!«, sagte der junge Mann laut.
»Eigentlich net, aber mer denkt sich halt sei Sach«, meinte der alte Mann.
»Sie sollten das Denken den Pferden überlassen, die haben größere Köpfe«, sagte der junge Mann lächelnd.
»Abr d’s kloinere Hirn«, bemerkte der alte Mann.
»Also, was wollen Sie?«, fragte der junge Mann.
»Eine Ruhe mecht i, ond dass Sie Ihr Frau net schlaget!«, sagte der alte Mann nun etwas lauter als vorher.
»Wie schon gesagt, das geht Sie nichts an!«
Der junge Mann schaute hinaus auf den morgendlichen See, als ob der alte Mann sich dort die Antwort auf seine Frage suchen solle. Der sah ihn an und ging einen Schritt auf ihn zu. Das wollen wir doch mal sehen, dachte er. Ihm ging dieser großschnäuzige junge Mann schon lange auf die Nerven. Das konnte doch nicht sein, dass der fast jeden Abend so einen Zirkus veranstaltete. Er war ein zurückhaltender Typ und mischte sich ungern in solche Sachen ein, aber wenn es um eine junge Frau und ihre Kinder ging, dann konnte er so richtig narret werden.
»Ich denk, des geht mich sehr wohl etwas an! Wenn Sie domit net aufhöret, no ruf ich die Polizei an!«, sagte der alte Mann mit fester Stimme. Er versuchte dabei, dem jungen Mann in die Augen zu schauen, aber der blickte weiter auf den See hinaus.
»Das werden Sie schön bleiben lassen, Alter. Sonst setzt es was, dann brauchst du dir um deine Rente keine Sorgen mehr zu machen!«, sagte der junge Mann und wandte sich dabei ihm wieder zu.
»Was heißt da Rente? Wellet Sie mir etwa droha?«, fragte der alte Mann.
»Was heißt drohen? Du hältst einfach deine alte Klappe und gut ist!«
»Und wenn i mei Klapp net halta will?«
»Dann kriegst du eins drauf, damit du still bist!«
»Des geht net.«
»Das geht sehr wohl, hier und jetzt, wenn du willst!«, sagte der junge Mann und ging, als er das sagte, auf den alten Mann zu. Seine Augen versprühten einen Zorn, den der alte Mann nicht verstand. Was ging in einem solchen Menschen vor, fragte er sich, woher diese Aggression, diese Verachtung? Der alte Mann stellte sich dem jungen Mann entgegen. Er wich keinen Schritt zurück. Doch der junge Mann ging noch näher auf den alten Mann zu.
»Ich geh’ zur Polizei, gleich jetzt. Dann kennet Sie sich verantworte«, sagte der alte Mann und wandte sich ab.
Der junge Mann hielt ihn an der Schulter fest.
»Moment, Opa. So leicht kommst du mir nicht weg!«
»Lasset Sie mich los!«
»Du gehst auf keinen Fall zur Polizei. Das geht gar nicht!«
»Ond wie ich zur Polizei geh!«, rief der alte Mann. Er versuchte, weiterzugehen. Dackel Waldi wurde schon ganz unruhig. Er war es nicht gewohnt, dass die morgendlichen Spaziergänge so unterbrochen wurden. Außerdem konnte er diesen jungen Mann nicht riechen. Er zog an seiner Leine und schnappte nach dem Hosenbein des jungen Mannes.
»Halten Sie den Köter fest, sonst fliegt hier gleich ein Dackel durch die Luft!«, rief der junge Mann und scheuchte mit dem anderen Bein den Hund zur Seite.
»He, lasset Sie mei Hundle fei en Ruah!« Der alte Mann ging auf den jungen Mann zu und schob ihn weg.
»Wenn Sie mich noch einmal anfassen, dann passiert was, Alter, hast du mich verstanden?«
»Sie sollet mein Hund en Ruah lassa!«
»Ich sagte: Nicht anfassen, verstanden?« Der junge Mann stand nun dem alten Mann gegenüber. Mit der Hand schlug er ihm den Hut vom Kopf.
»He, was soll denn des?«, rief der alte Mann entrüstet.
»Das nächste Mal ist es nicht nur dein Hut, Alter, verstanden? Du hältst die Klappe!«
»Zur Polizei geh’ ich, des isch sicher!«, rief der alte Mann und wandte sich ab.
»He Alter, so kommst du mir hier nicht weg!«, sagte der junge Mann und griff dem anderen an die Schulter.
»Lasset Sie mich los!«
»Noch ziemlich kühl das Wasser, trotz des warmen Frühjahrs«, meinte der junge Mann und zog den alten Mann das schmale Seeufer hinunter. Der wehrte sich, konnte aber gegen den deutlich Stärkeren nichts ausrichten.
»He, hallo«, rief der alte Mann, »Sie könnet mi doch net dohanna ens Wasser schmeiße!«
»Kannst du schwimmen?«
»Net guat.«
»Dann hast du halt Pech gehabt! Also, Köpfer oder Arschbombe«, sagte der junge Mann mit einem hämischen Lächeln.
Der alte Mann merkte nun, dass es dem anderen ernst war. Er machte sich von dem jungen Mann los und drehte sich vom See weg. Aber er kam nicht weit.
»Aber hallo, du bleibst hier, wollen doch mal sehen, wie gut du wirklich schwimmen kannst.«
Der junge Mann griff nach der Jacke des alten Mannes, der schlüpfte aus dem Kleidungsstück, brachte ein paar Schritte zwischen sich und den jungen Mann. Fast gleichzeitig hob er seinen Wanderstock und schlug in Richtung des anderen. Der stand mit dem Rücken zum See, verlor das Gleichgewicht und kippte nach hinten auf den Uferstreifen. Sein Kopf platschte ins flache Wasser. Nur weg von hier, dachte der alte Mann. Ohne nach seinem Gegenüber zu schauen, drehte er sich um.
Er ging mit seinem Hund zurück auf den Uferweg und verließ die Stelle mit schnellen Schritten. Erst als er die erste Straße erreicht hatte, wurden seine Gedanken klarer. Was hatte er gemacht? Heute würde er sich keine Brezel in der Bäckerei holen. Obwohl, vielleicht würde das auffallen, wenn er seine Gewohnheiten änderte. Er ging also weiter zur Hauptstraße und in Richtung der Bäckerei. Er hatte seinen Hut vergessen, fiel ihm jetzt erst auf. Mit einem kurzen Rundumblick vergewisserte er sich, dass ihn niemand gesehen hatte. Er beeilte sich auf dem Uferweg, schnell zu der Stelle zu kommen. Schon von Weitem sah er seinen Hut auf der Uferböschung liegen. Er würde keinen Blick hinunter zum See werfen. Er wollte nicht wirklich wissen, was passiert war. Aber er sollte vielleicht nach dem jungen Mann sehen. Der war ins Wasser gefallen, wahrscheinlich. Aber er war viel zu aufgeregt, um nachzusehen.
Heute lag ein seltsamer Schleier auf dem See. Der Blick hinüber zum Schweizer Ufer verriet wenig über das, was sich auf der anderen Seeseite befand. Mit ein bisschen Geduld konnte man die Ortschaften zwischen den Nebelschwaden erahnen.
Kommissarin Kim Lorenz kannte den Blick zu anderen, klareren Zeiten. Aber irgendwie schien ihr diese trübe, nur schemenhafte Sicht der Dinge dort drüben typisch für ihre derzeitige Situation. So ähnlich schaute sie auch gerade auf ihr Leben. Ihr Leben als Mutter von Zwillingen, als Partnerin und vor allem auch als Hauptkommissarin. Da war ihrer Ansicht nach doch einiges durcheinander gekommen.
Freilich hatte sie damit gerechnet, dass ihre Aufgabe als Mutter sie ziemlich in Beschlag nehmen würde. Allerdings musste sie immer noch herzhaft lachen, wenn sie an den Moment oder vielmehr die Momente zurückdachte, wo erst sie, dann ihr Freund Peter die freudige Botschaft erhalten hatten, dass nicht nur ein Kind in ihre Familie kommen würde. Für sie war es wirklich eine freudige Botschaft gewesen, das konnte sie mit Fug und Recht behaupten. Vielleicht war ihr das Ausmaß dieser Information zu dem Zeitpunkt noch nicht so richtig klar, aber andererseits war sie ein Mensch, der sich der Situation stellte und die entstehenden Probleme anging. Ganz anders verhielt es sich da bei ihrem Freund Peter. Der war beinahe in einen Schockzustand geraten, als sie ihm nach dem Besuch bei ihrer Ärztin erzählt hatte, was da auf sie beide zukam. Käsbleich war der geworden und musste sich erst einmal setzen. Er hatte sich das doch so schön vorgestellt. Seine Kim zu Hause mit dem Kind und er endlich der Schreibende, der Schriftsteller, der sich voll auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Scheißabächle, dachte Kim Lorenz bei sich, das war dann doch anders gekommen. Mit den beiden putzigen Babys waren sie beide ziemlich beschäftigt. Aber was nutzte alles Nachgedenke, dachte sie. Sie musste die halbe Stunde nutzen, die Julia mit den Zwillingen spazieren war. Es war schon toll, dass Julia ihr immer wieder aushalf. Aber als sie damals ihr und Max die freudige Botschaft mitgeteilt hatten, war seine Reaktion nur ein herzhaftes Lachen gewesen. Julia hingegen hatte eher zurückhaltend freudig gewirkt. Als ob sie damals schon geahnt hatte, was da auf Kim und Peter zukommen würde. Auf jeden Fall hatte Julia ihr vom ersten Tag an, nachdem sie aus dem Krankenhaus zurück war, nicht nur mit Rat, sondern vor allem mit Tat zur Seite gestanden. Schließlich hatte auch Max begriffen, dass es mit Lachen nicht getan war.
Kim machte sich an die Wäsche. Sie hatte sich einige Aufgaben vorgenommen, die sie in der kurzen Zeit, in der sie allein war, erledigen wollte. Die Wäsche war das Erste, dann die Fläschchen fertigmachen und schließlich, wenn es noch reichte, zumindest ein wenig kehren.
Sie kam nur bis zu den Fläschchen. Von Anfang an hatten die beiden Kleinen zusätzlich ihr Fläschchen bekommen. Das machte es ihr leichter, denn mit dem Milchfluss klappte es nicht ganz so gut. Ihre Hebamme hatte sie zwar beruhigt, dass die Milch bei Zwillingen sowieso meist nicht ausreichte, aber irgendwie wollte man als Mutter doch alles geben. Ein sehr willkommener Nebeneffekt des Zufütterns war, dass die beiden Purzel fast von Anfang an mehr oder weniger durchgeschlafen hatten. Das hatte dann alle Diskussionen um die Notwendigkeit und vor allem Gesundheit des Zufütterns schnell beendet, denn auch Peter hatte eingesehen, dass ein ruhiger Schlaf, zumindest für fünf oder sechs Stunden, echt was wert war. Dafür musste auch er so manche Frühschicht übernehmen. Meist meldeten sich die beiden so gegen fünf, ließen einem aber durchaus eine weitere halbe Stunde, bis dann Alarm angesagt war. Dann aber raus, Wasser gekocht, das Pulver angerührt und abkühlen lassen. Das waren dann die kritischsten Minuten. Als ob die Kinder es ahnten, dass die Fläschchen fertig waren. Sie stellte diese dann kurz in kaltes Wasser und machte den Test an der Innenseite des Handgelenks. So hatte es ihr die Hebamme gezeigt. Wenn man an dieser Stelle die Hitze nicht als Schmerz empfand, dann stimmte die Temperatur. Peter brauchte natürlich wieder eine Extrawurst. Er war sofort losgezogen und hatte ein digitales Thermometer für teures Geld erstanden, das die Temperatur bis auf zwei Stellen hinter dem Komma anzeigte. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt, Julia und die Hebamme auch.
Sie hörte die Haustüre. Peter. Er hatte seinen morgendlichen kreativen Spaziergang beendet. Sie schnappte sich den Besen und begann zu kehren. Peter sollte eine fleißige Hausfrau und Mutter zu sehen bekommen.
»Hatte eine tolle Idee. Ich geh gleich nach oben. Das muss ich aufschreiben!«, rief Peter auf dem Gang.
Sie stellte den Besen in die Ecke. Schade. Dann machte sie jetzt Kaffee, damit der fertig war, wenn Julia mit den Zwillingen zurückkam. Sie schenkte sich schon mal eine Tasse ein. Vielleicht sollte sie Peter eine nach oben bringen. Sie war schon ein wenig neugierig, was das für eine Idee war, die er unbedingt aufschreiben musste. Mit der Tasse in der Hand ging sie die Holzstufen hinauf. Das Schöne an ihrer Wohnung waren die zwei Zimmer unterm Dach. Zwar war es im Sommer oft ein bisschen warm, aber sie hatten ausreichend Platz und Peter hatte sein eigenes kleines Zimmer zum Schreiben. Sie klopfte.
»Ja«, kam es von innen.
»Ich bin’s, mit Kaffee!«, sagte Kim.
»Prima, das kann ich jetzt brauchen«, erwiderte Peter, als sie die Tasse auf seinem Schreibtisch abstellte.
»Ich bin doch neugierig«, sagte sie leise.
»Ich weiß«, meinte er nur.
»Was ist das für eine Idee?«, wollte sie wissen.
»Ach, erst mal nichts Besonderes, obwohl, eben kein Fall von dir. Was Neues!«
»Das ist gut. Dann fällt dir das Schreiben vielleicht leichter«, sagte sie.
»Genau. Ich lass mir alles nur einfallen. Keine Vorbilder, kein echter Fall, nur Fantasie!«, sagte er euphorisch.
»Das ist bestimmt gut. Um was geht es denn und wo?«
»Spielt auf der Reichenau. Ich dachte, Mainau – das kennt doch jeder. Ist auch zu viel Tourismus dort. Reichenau ist ruhiger, genau der Ort für einen Mord.«
»Wie passiert es?«, fragte Kim.
»Streit im Gewächshaus, Sturz, Scherben und scharfes Glas.«
»Klingt blutig, aber interessant. Motiv?«
»Neid, Missgunst, Gier.«
»Das geht immer. Auf der Reichenau geht es oft um Land. Da war erst was in der Zeitung. Zu wenig Anbauflächen, kein Bauland mehr möglich. Da wird es ziemlich eng auf der Reichenau.«
»Na also, das ist doch ein prima Hintergrund. Da lässt sich doch was draus machen! Danke dir«, sagte Peter, stand auf und nahm Kim mit einem dicken Kuss in den Arm.
»Ich helfe doch gerne. Wenn du den Mörder nicht findest, dann melde dich einfach bei mir. Ich habe eh grade nichts zu tun«, meinte Kim.
»Du hast – wir haben Zwillinge«, sagte Peter.
»Stimmt«, sagte Kim, »und wenn mich meine Ohren nicht täuschen, kommen die gerade mit Julia zurück. Ich muss runter«, sagte Kim und war schon auf der Treppe.
»Haaalloo«, tönte es von unten.
»Komme schon!«, rief Kim.
Julia hatte die Wohnungstür aufgestoßen und stand mit dem Zwillingskinderwagen davor. Lotta und Moritz strahlten ihre Mutter an und kicherten lauthals.
»Was ist denn hier los?«, fragte Kim.
»Wir haben Tiere nachgemacht«, sagte Julia lachend.
»Wohl eher du«, meinte Kim.
»Gut, ja, eher ich. Aber die beiden fanden das toll.«
»Kann ich mir vorstellen. Also, dann mal raus aus dem Wagen und rein ins Wohnzimmer. Wir legen sie auf ihre Decke. Ich habe Kaffee gemacht.«
»Das ist gut, den kann ich jetzt brauchen«, sagte Julia und trug Moritz ins Wohnzimmer.
Kim folgte ihr mit Lotta. Als die beiden Kleinen auf ihrer Decke spielten, setzten sich Julia und Kim zu einer wohlverdienten Tasse an den Esstisch.
»Das sind schon zwei Exemplare, das kann ich dir sagen. Langweilig wird es einem mit denen nicht!«
»Wem sagst du das«, erwiderte Kim.
»Die haben einen Spaß miteinander in diesem Kinderwagen. Ich war eigentlich fast nur zum Schieben da, die Unterhaltung haben die beiden geliefert, miteinander. Ich durfte erst am Schluss mal mitmachen.«
Kim wischte beiläufig ein paar Krümel vom Tisch. Sie hatte vergessen, ihn abzuwischen. So ganz klappte das eben doch nicht mit der perfekten Hausfrau. Aber sie arbeitete daran.
»Und, wie geht es dir?«, fragte Julia.
»Wie soll es mir schon gehen. Hausfrau und Mutter halt«, sagte Kim mit einem kleinen Seufzer.
»Na, na. Soll ich jetzt sagen: Du wolltest das schließlich so?«, fragte Julia.
»Nein, das nicht. Aber ich hatte vielleicht andere Vorstellungen. Irgendwie einfacher«, erklärte Kim.
»Das glaube ich dir. Aber vielleicht kann man sich das gar nicht vorstellen, Zwillinge«, sagte Julia.
»Vielleicht«, meinte Kim.
Warum war der Glaubscher zurückgekommen?, fragte er sich. Er konnte mit seinem Kahn nicht weiter ans Ufer fahren, ohne eventuell gesehen zu werden. Der hatte irgendwas aufgehoben, aber was? Jedenfalls lag der junge Mann noch am Ufer. Warum war der nicht wieder aufgestanden? Der Glaubscher war weg und sonst auch niemand zu sehen. Er musste ans Ufer fahren und nach dem jungen Mann schauen. Vorsichtig schob er den Kahn unter den langen Zweigen der Weide hindurch. Der lag da ziemlich leblos. Er fuhr ans Ufer und stieg aus. Vom Kopf des Mannes spülte es eine kleine Blutspur in den See. Das sah eigentlich gar nicht so schlimm aus, dachte er bei sich. Der Glaubscher hatte mit seinem Wanderstock herumgefuchtelt, aber damit schlug man doch keinen tot. Tot? War der überhaupt schon tot? Er sollte hingehen und die Halsschlagader anfassen. Das machten sie in den Filmen immer so. Aus dem Mund des Mannes kamen nur noch wenige Luftblasen an die Wasseroberfläche. Tot war er wahrscheinlich noch nicht. Sollte er ihn rausziehen? Die Polizei oder irgendwen anrufen? Aber er hatte sein Handy nicht dabei. Verflixt. Ausgerechnet. Aber er nahm es eigentlich nie mit auf den Kahn. Es konnte ins Wasser fallen. Die Luftblasen wurden immer kleiner. Vielleicht, wenn er sich aus dem Staub machte, fand ihn jemand anderes. Das war ihm zu kritisch. Man kannte doch diese Geschichten von wegen unterlassener Hilfeleistung oder falscher Erster Hilfe. Da kam man womöglich in was rein …
Lothar Bermaier fuhr sich in die nicht mehr vorhandenen Haare. Er strich sich über seine Glatze und dachte nach. Der Glaubscher, ha, des glaubsch net. Haut der dem jonge Mann oifach so übers Hirn. Worom eigentlich, Lothar, denk noch. Dia hend Streit ghet, des war deitlich. Aber worom streitet dia? Er konnte denken, wohin er wollte, es fiel ihm nichts ein. Aber, das war auch egal. D’r Glaubscher – schlägt oin dot oder fascht dot. Des muaß mer sich mol vorschtella. Guat, eigentlich hot er sich eher bloß gwehrt. Aber dann, dot isch dot, do gibt’s nex drzwischa. Ond wenn der Glaubscher oin dot gschlaga hot, no isch er ein Mörder oder zumindescht ein Totschläger. No ghert der nei ens Loch, fenf Johr mindeschtens. Oder er ka gar net aklagt werda, weil ihn koiner gseah hot. Weil ihn koiner verpfeift. Sollte er ihn verpfeifen?, fragte er sich. Da hatte er nichts davon, der Glaubscher wanderte eben in den Knast. Aber wenn er ihn nicht verpfiff. Wenn er ihn laufen ließ, dann war ihm der Glaubscher doch was schuldig. Der war ihm ganz gewiss gehörig was schuldig.
Der hatte doch dieses Stückchen Land gleich neben seinen Beeten. Das wollte der ihm doch partout nicht verkaufen. Vielleicht wenn er ihn jetzt mal ansprach. So als Mitwisser. Er sollte mit seiner Frau mal drüber reden. In diese Gedanken versunken, schaute er wieder auf. Der junge Mann lag immer noch am Ufer. Er sah genauer hin. Es kamen keine Luftbläschen mehr aus dem Mund. Ausgehaucht, dachte Lothar Bermaier, so schnell konnte das gehen. Er schob seinen Kahn ins Wasser und schaute sich um. Kein Mensch zu sehen. Sie würden darüber reden. Er würde den Glaubscher mal ansprechen, zu sich bestellen, am besten unten im Anzuchtgewächshaus. Das war abgelegen und unauffällig für beide zu erreichen. Der Glaubscher konnte durch seinen Garten gehen. Er würde den Weg durchs lange Gewächshaus nehmen. So würde er es machen. Mal sehen, was sie dazu sagen würde. Aber er kannte sie. Wenn’s ums Geld ging …
Seit Kim nicht mehr im Dienst war, gestaltete sich ihr Alltag eher langweilig. Christina Hahn saß in ihrem Büro im ersten Stock der Polizeidirektion Konstanz. Immerhin inzwischen Kommissarin, dachte sie. Der Fall in Ravensburg war zwar nichts Spektakuläres gewesen, aber die Öffentlichkeit hatte über die Medien doch einiges über die geleistete Ermittlungsarbeit erfahren. Obwohl Kim Lorenz die ausschlaggebenden Dinge herausgefunden hatte, war auch ihr Name hin und wieder aufgetaucht. Das war natürlich wichtig, wenn es um die Beförderung ging. Und das hatte dann auch prompt geklappt. Kim hatte ihr eine gute Beurteilung geschrieben und sie war zur Kommissarin ernannt worden. Ein Ersatz für Kim war bisher noch nicht gefunden, daher saß Christina allein in ihrem Kommissariat und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Sie war sich allerdings nicht sicher, was für Dinge da kommen sollten. Ein richtiger Mord wäre ihr jetzt vielleicht auch ein bisschen viel für den Anfang gewesen. Andererseits waren sie nun mal die Mordkommission. Im Moment war nur sie die Mordkommission.
Sie sollte Kim mal anrufen und fragen, wie es ging mit den Zwillingen. Seit Wochen schob sie einen Besuch vor sich her. Warum, das wusste sie eigentlich selbst nicht so richtig. Vielleicht hatte das mit Beziehung und Familie zu tun. Da sah sie für sich im Augenblick überhaupt keine Perspektive. Der letzte Kandidat hatte sie ziemlich plötzlich einfach so abserviert, nachdem er beruflich in eine andere Stadt versetzt worden war. Sie hatte noch gedacht, was sind schon siebzig Kilometer, aber er hatte wohl anders gedacht. Nun war sie, wenn sie ehrlich zu sich war, ziemlich allein in diesem Konstanz. Dass diese Kim auch ausgerechnet jetzt Zwillinge bekommen musste.
Das hätte so schön für sie anfangen können. Zusammen mit Hauptkommissarin Kim Lorenz in der Mordkommission Konstanz. Das hörte sich doch gut an. Leider sah die Wirklichkeit anders aus. Ihr Dienststellenleiter hatte ihr wenig Hoffnung auf baldigen Ersatz für Kim gemacht. »Ist doch eh nichts los, Frau Hahn, das schaffen Sie doch gut alleine«, hatte der nur gemeint und das Telefonat recht schnell beendet.
Also, Frau Kommissarin, das schaffen Sie schon, sagte Christina laut vor sich hin und für einen Moment hätte sie das fast geglaubt.
Ihr Telefon klingelte. Sie hatte extra diesen Retrosound eingestellt. Das erinnerte sie an die alten Krimis, die ihre Oma mit Leidenschaft geguckt hatte. Eines Tages hatten sie zusammen eine alte Folge des »Kommissars« auf YouTube angeschaut. Für heutige Verhältnisse waren das langweilige Fälle mit wenig Action und wenig Blut. Andere Zeiten eben, hatte Christina gedacht. Aber dieses Telefongeklingel im Büro der Sekretärin des Kommissars, Rehbein hieß sie wohl, das war der jungen Kommissarin im Gedächtnis geblieben.
Sie hob ab.
»Hahn, Mordkommission Konstanz«, meldete sie sich, schon ein wenig stolz. Sie horchte.
»Wo? Und wo auf der Reichenau? – Aha. – Können Sie sichern? – Gut. – Ich benachrichtige die Spurensicherung und die Gerichtsmedizin. Wie? – Eine Stunde wird es schon dauern. Ich bin vielleicht schneller vor Ort. Sie bleiben bitte am Tatort. Danke.« Sie legte auf.
Dieses Klingeln war vielleicht kein gutes Omen. Auch beim »Kommissar« war meistens was passiert, wenn es so geklingelt hatte. Sie legte sich einen Block zurecht und notierte das Notwendige. Tatort: Reichenau, Mittelzell, Leiche: junger Mann, Fundort: Am Ufer, Todesursache: Unklar. Benachrichtigen: Spurensicherung, Gerichtsmedizin. Die Spurensicherung hatten sie zumindest teilweise im Hause, die Gerichtsmedizin würde aus Friedrichshafen kommen. Das würde dauern. Sie machte die notwendigen Telefonate. Als Letztes rief sie in der Fahrbereitschaft an.
»Ja, hallo, hier Kommissarin Hahn, wie? – Ja, die Neue! Ich brauche einen Wagen! – Was? – Na gut, von mir aus. Man nimmt, was man kriegt!« Sie legte auf, schnappte sich ihren Block und ihre Tasche. Sie durfte die Jacke nicht vergessen. Obwohl, es war Frühsommer. Das sollte ohne Jacke gehen.
Als sie die Tür der Polizeidirektion aufmachte, war sie auf einiges gefasst. Aber was da vor ihr in der Vormittagssonne stand, das konnte sie nicht so richtig glauben. Wenn sie ehrlich war, dann hätte sie nicht gedacht, dass es so etwas bei der Polizei noch gab. Solche Fahrzeuge waren doch gesuchte Oldtimer, Autos von gestern oder besser vorgestern. Sie dachte an ihren Klingelton und fühlte sich zusammen mit dem vor ihr stehenden Fahrzeug in einer ganz alten Welt. Der »Kommissar« war auch immer ganz wichtig in ein solches Teil eingestiegen. Das waren eben die Autos damals. Sie ging auf den Käfer zu. So nannte man die damals. Der Fahrdienstleiter stand daneben und hielt ihr den Schlüssel hin.
»Hier isch des gute Schtück. Aufgetankt und fahrbereit. Spitze hundertundzwanzig. Aber net übertreiba!«, sagte er lachend.
Christina nahm ihm den Schlüssel ab, öffnete die Tür und stieg ein. Irgendwie schon total retro, dachte sie und startete den Motor. Der Fahrdienstleiter stand noch neben dem VW.
»Navi?«, traute sie sich vorsichtig zu fragen.
»Scherzle gmacht oder? Karte Reichenau auf em Beifahrersitz, ond jetzt los, Mädle!«, rief er und schlug die Tür kräftig zu.
Das »Mädle« würde sie ihm noch heimzahlen, da war sich Christina Hahn sicher. Sie machte sich auf den Weg auf die Reichenau. Der Käfer schnatterte fröhlich vor sich hin. Ganz so fröhlich zumute war es der Fahrerin nicht. Ihr erster Fall und gleich ein richtiger Toter. Sie hatte sich das hin und wieder vorgestellt in den letzten Jahren, wie es wohl sein würde, wenn sie ihren ersten Fall bekam. Irgendwie hatte sie sich da immer mit Kim Lorenz oder einem anderen Kollegen gesehen. Sie hätte sich auf keinen Fall vorgestellt, allein zu einem Tatort zu fahren. Sie ganz allein. Es wurde ihr ein wenig mulmig ums Herz. Sie hatte schon ihr Headset in der Hand, ihr Einfall: Kim anrufen. Aber das war vielleicht ein wenig voreilig. Sie sollte sich erst einmal einen Überblick verschaffen, die Lage einschätzen und dann vielleicht mit Kim telefonieren. Das war besser.
Eigentlich war das eine schöne Fahrt, immer wieder tat sich ein herrlicher Blick auf den frühsommerlichen Bodensee auf. Sie mochte den See inzwischen. Sie war in Murrhardt im Schwäbischen Wald aufgewachsen. Mit Wasser hatten sie es da nicht so gehabt. Eher ein wenig bergig und, wie der Name schon sagte, Wald, viel Wald. Aber schon in der Ausbildung war sie südlicher gelandet, in Sigmaringen. Da war es dann zum Bodensee schon nicht mehr so weit.