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Als Peter Förster vom nächtlichem Unfall seiner Enkelin Jasmin van Damme erfährt, ahnt er noch nicht, in welch unfassbare Mordserie er geraten würde. Während der Ermittlungen der Kripo stößt Förster auf ein Handy mit Videos von live inszenierten Morden mehrerer Frauen durch einen maskierten Maler. Eine davon ist das Unfallopfer. Durch sie gerät ein weltweit operierendes Online-Netzwerk in den Fokus der Ermittler. Dabei überschlagen sich die Ereignisse und bringen alle Beteiligten an ihre Grenzen. Und der Maler bereitet sein größtes Meisterwerk vor. Die Uhr bis zum Event tickt gnadenlos herunter. »Das letzte Opfer« ist der dritte Band mit und um Peter Förster.
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Seitenzahl: 350
Veröffentlichungsjahr: 2021
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»Künstler haben gewöhnlich die Meinung von uns,
die wir von ihren Werken haben.«
Marie von Ebner-Eschenbach (1830-1916)
»Ich töte diese Frauen nicht, ich erhebe sie zur exklusivsten Form der Malerei. Ich verschaffe ihnen ihre größte Rolle. Eine Hauptrolle. Ich mache sie zur Berühmtheit. Sie werden Teil der endgültigen Vollendung der Kunst.«
Der jünger wirkende Mann mittleren Alters, laut Protokoll einundfünfzig, schaute durch den Kommissar, der ihm gegenüber saß, hindurch. »Sie werden das nicht verstehen können. Sie sind meilenweit, ach, Galaxien davon entfernt, in meinen Kategorien als Künstler zu denken.«
Die beiden Männer taxierten sich gegenseitig wie vor einem Duell und schwiegen. Die Neonröhre an der Decke warf ein kaltes, fahles Licht auf die Szenerie. In diesem jämmerlichen, wahrscheinlich seit hundert Jahren nicht mehr renovierten Vernehmungsraum über die Vollendung der Kunst zu schwafeln, ist schon sehr speziell, dachte der ältere der beiden. Er schaute seinem Gesprächspartner, der dem Blick standhielt, in die Augen. Kopfschüttelnd wandte er sich ab und blätterte in einem vor zwei Tagen erstellten Vernehmungsprotokoll der spanischen Kollegin hin und her. Das Rascheln der einzelnen Seiten durchbrach, neben den Atemgeräuschen, als einziger Laut die Stille des Raumes. Er ließ die Akte aufgeschlagen auf der zerkratzten Resopalplatte des Tisches liegen, der die beiden Gesprächspartner voneinander trennte. Er wartete ein paar Sekunden bis er wieder sein Gegenüber anblickte und erneut den Kopf schüttelte.
»Stimmt, in Ihren Kategorien kann ich nicht denken. Ich will und kann Ihr Tun nicht verstehen! Ich will Sie nur vor den Richter bekommen. Nicht wegen Ihrer, nun ja, einzigartigen Kunst, sondern schlicht wegen mehrfachem Mord! Verstehen Sie das? Sie sind kein begnadeter Künstler, für den Sie sich halten. Nein, Sie sind ein perverser, gewissenloser Serienmörder! Der für seine Taten büßen wird. Wir haben Ihre DNA, das reicht als Beweis, dass Sie die Frauen höchstselbst getötet haben.« Er war laut geworden und winkte dem vor der Tür wartenden Streifenbeamten. »Kollege, nimm ihn mit und buchte ihn wieder ein!«
Hauptkommissar Fritz Wachter von der Stuttgarter Kripo hatte im Laufe seiner langen Dienstzeit unzählige Vernehmungen hinter sich gebracht. Raubmörder, Lustmörder, Totschläger, Vergewaltiger. Er war den verrücktesten Typen gegenüber gesessen. Spießige Ehemänner, die ihre Frau wegen eines verkorksten Abendessens umgebracht hatten. Rentner, die den Finanzberater um die Ecke brachten, der sie um ihr Erspartes erleichtert hatte. Prostituierte, die ihren Kunden im Streit wegen zwanzig Mark getötet hatten. Vergewaltiger, die noch stolz auf ihre Taten waren und damit prahlten. Aber noch nie musste er einem Menschen ins Gesicht blicken, der so irreal von sich und seinem Tun überzeugt war, wie dieser Künstler. Dieser Mann, mit dem er sich seit gestern auseinandersetzen musste. Dieser Wahnsinnige, der sich noch einmal umdrehte, als ihn der Streifenbeamte rausführen wollte.
»Sie können das nicht verstehen! Sie sind einer von denen, die im Museum staunend mit großen Augen vor den dicken Bilderrahmen stehen, und sich daran aufgeilen, einmal im Leben zwei Minuten lang die Mona Lisa gesehen zu haben oder vor einem Rubens gestanden zu sein. Diese lächerlichen, monströsen Machwerke!« Er lachte hysterisch auf. Ein krächzendes Lachen. »Meine Kunst ist die Vollendung! Diese Frauen sind von mir aus ihrem armseligen Leben zu etwas Einzigartigem erhöht worden. Ich lasse sie auferstehen, ich mache sie unsterblich! Was waren sie denn vorher? Nutten? Sekretärinnen? Hausfrauen? Ich dagegen inszeniere sie als Kunstwerk. Viel zu wertvoll, zu einzigartig, um die Werke unzivilisierten Horden von Durchschnittstypen sichtbar zu machen und mit Blicken malträtieren zu lassen.« Er versuchte unwillig den Polizisten abzuschütteln, der ihn in Gewahrsam hatte. »Ich bin kein Mörder! Diese toten Frauen werden doch erst durch mein geniales Werk lebendig. Ich bin der größte lebende Künstler auf dieser Erde. Der einzig wahre Erbe der Genies der Renaissance , merken Sie sich das, Sie Banause!« Er schleuderte diesen letzten Satz hasserfüllt in den Raum, bevor er dem Polizisten folgte.
Fritz Wachter blieb noch einige Minuten stumm auf seinem Platz sitzen und breitete penibel mehrere Fotos vor sich aus. Es war immer das selbe Motiv. Nur die Frauen auf den Bildern wechselten. Ihn schauderte.
»Unfassbar«, murmelte er.
Er scannte sorgfältig seine Umgebung ab, wie immer, wenn er in einer Stadt eintraf.
Willemstad, Curaçao.
Der Maler war froh, unerkannt die stickige Ankunftshalle des Flughafens mit den sich drängenden Menschen hinter sich lassen zu können. Menschenmengen, Öffentlichkeit als solche waren ihm ein Graus. Er hasste es, wenn es ihm nicht gelang, sich vor dieser, sich ihren niedrigen Instinkten hingebenden Öffentlichkeit zu verbergen. Er als einziger hatte zu bestimmen, wann und für wen er öffentlich wurde. Nicht dieses abscheuliche Volk, diese Wichtigtuer, Banausen ohne jeden intellektuellen Hintergrund, diese Facebook-Nymphomanen, den Blick nur noch auf ihre schwachsinnigen Handys gerichtet. Sie nahmen ihre reale Umgebung kaum mehr wahr. Gut für ihn.
»Taxi«, rief er dem nächststehenden Fahrer zu, der ihn jedoch freundlich zum vordersten Wagen in der Taxireihe wies. Ignorant, dachte er und stieg in den zweiten Wagen der Reihe, nachdem zeitgleich eine alte Dame mit einer entschuldigenden Geste den ersten Wagen in Beschlag genommen hatte. Er genoss die Ruhe und Anonymität des Taxis. Der Fahrer ließ ihn zum Glück in Ruhe. Kein sonst oft übliches Dauergeschwätz, das ihn nicht im Geringsten interessierte. Es fiel ihm mit zunehmendem Alter immer schwerer, in diesen Situationen komplett abzuschalten, wurde ihm schmerzlich bewusst.
Eine gute Stunde später ließ er sich ein kleines Abendessen in seiner Suite im Renaissance Curaçao Resort – direkt am Kreuzfahrerterminal in Willemstad gelegen – servieren. Er hielt nichts von diesen, heutzutage in allen Hotels angebotenen, opulenten, jedoch vergleichbaren Menüs. Er fand sie einfach nur dekadent, solange anderswo auf der Welt im gleichen Augenblick Menschen Dreck fraßen oder verhungerten. Diese Verlogenheit widerte ihn an.
Mit der Zimmerwahl des Vorstands war er außerordentlich zufrieden. Eine großzügige Suite, mit Wohn- und Schlafraum und einem exklusiv ausgestatteten Bad. Wobei, im Grunde genommen stand ihm dies ja auch zu. Was wäre denn das Netzwerk ohne ihn?
Als er gegen 23 Uhr, wie vereinbart, in der Hotelbar das Vorstandsmitglied für Amerika traf, bedankte er sich freundlich für die exzellente Unterbringung.
»I’m very amused! Sehr schönes Ambiente. Es ist einfach angenehm, mit stilsicheren Menschen zu arbeiten. Vielen Dank Charles.«
Es gab keine Nachnamen im Netzwerk, man sprach sich ausschließlich mit Vornamen an.
Der Mann namens Charles nickte wohlwollend. »Sie hatten eine gute Anreise, Sir?«, fragte er.
»Danke, die Business-Class bietet doch einige Annehmlichkeiten, vor allem auf langen Flügen.«
Er musterte sein Gegenüber. Charles strahlte die Selbstsicherheit des erfolgreichen Geschäftsmanns aus. Anwalt? Unternehmer? Politiker? Der Maler entschied sich für Anwalt und schätzte ihn auf etwas über fünfzig, trotz der weißen, aber vollen Haare. Wahrscheinlich eine Haartransplantation, dachte er. Machen immer mehr Amerikaner, hatte er gelesen. Er vermutete den Mann in Boston, typischer Amerikaner von der Ostküste. Republikaner, Eliteuniversität, Militär, in die richtigen Kreise hineingeboren oder entsprechend geheiratet. Und Golfspieler. Millimetergenauer Rechtsscheitel. Sieht aus, wie mit dem Beil gezogen, fand er. Jetzt habe ich alle Klischees über die Amis verarbeitet, dachte er und musste dabei leicht lächeln. Dann wandte er sich wieder seinem Gesprächspartner zu.
»Ist alles vorbereitet? Das ausgewählte Model bereit?«
»Sie werden zufrieden sein. Alles ist vorbereitet, wie Sie es wünschen.«
»Wann?«
»Übermorgen. 18 Uhr.«
»Gut. Sie holen mich um sechzehn Uhr hier ab. Bitte pünktlich.«
Das Vorstandsmitglied Charles nickte.
»Selbstverständlich, Sir! Sollten Sie Wünsche haben, melden Sie sich bitte bei mir.«
Der Maler war der einzige im Netzwerk ohne Namen. Er war »Sir«. Er war das Zentrum.
»Danke Charles.«
Nacht.
Der Regen klatschte schwer auf die Erde. Ungewöhnlich für die eher trockenen, regenarmen Frühlingsmonate auf Curaçao, aber in diesem Jahr war vieles anders.
Als Jasmin van Damme den dunklen Körper erfasste, der die verwaschene weiße Mittellinie der Straße unterbrach, war es zu spät. Zu spät für eine Reaktion, die den Aufprall noch hätte verhindern können. Der Kleinwagen wurde abrupt abgehoben, presste den Körper auf den regennass glänzenden Asphalt und knallte ächzend auf die Fahrbahn zurück. Jasmin zerriss die Lenkung, stand voll auf der Bremse, der Wagen schleuderte nach rechts, zurück nach links, bevor er quer zur Fahrbahn grässlich quietschend zum Stehen kam. Die Scheinwerfer erfassten plötzlich die schwarzen Bäume seitlich der Straße. Wie böse Geister standen sie da, senkrechte Streifen hinter einem Vorhang aus Wasser. Jasmin starrte sie an. Der stete Rhythmus der Scheibenwischer unterbrach die Wasserfluten, die die Bäume immer wieder verschwimmen ließen. Nur das Brummen des leistungsschwachen Fahrzeugs, das gleichförmige Trommeln des Regens auf dem Wagendach und das schwere Atmen der Fahrerin waren zu hören. Sonst Stille. Keine Schreie. Nichts. Fast friedlich, kam ihr in den Sinn, bevor die nächtliche Realität sie einholte.
Jasmin fing sich schnell. Sie war auf der Rückfahrt von ihrer Dessous-Boutique in Punda, dem angesagtesten Viertel von Willemstad, der Hauptstadt der Karibikinsel Curaçao. Normalerweise schloss sie das Geschäft gegen neunzehn Uhr, heute waren jedoch zwei sehr betuchte Touristinnen aus Jordanien angesagt. Es hatte sich gelohnt, die zwei Stunden länger geöffnet zu haben, die beiden waren im Kaufrausch. Als Jasmin später über den Unfall berichtete, war sie selbst überrascht, wie klar sie nach dem ersten Schock denken konnte, was ihr alles in den Sinn kam. Jetzt blickte sie durch die Wasserschlieren auf der Seitenscheibe des Wagens in die Dunkelheit.
Der Körper.
Wo?
Sie öffnete vorsichtig die Fahrertür, der starke Regen schlug ihr ins Gesicht, die Wassertropfen platzten auf der Haut. Sie stieg aus, drehte sich jedoch noch einmal zurück und fingerte nach ihrem Handy in der Türbox. Die Taschenlampen-App. Der kaltweiße Lichtstrahl durchbrach die Fluten des nächtlichen Tropenregens. Sie lief los. Sie zwang sich, die wenigen Schritte zu machen, dann stand sie vor dem verdreht, quer zur weißen Linie liegenden Körper. Eine Frau. Blond. In roten Dessous aus ihrer Boutique. Jasmin kannte die Unterwäsche genau. Teuer, sehr sexy. Aus ihrer eigenen Kollektion. Selten gekauft.
»Hallo!«
Jasmin beugte sich vorsichtig über die Frau. Durch den Anprall wurde sie auf die Seite gedreht, als liege sie zum Einschlafen bereit im Bett. Das Gesicht wurde zum Teil durch einen Arm verdeckt. Sie blutete nicht.
»Hallo! Können Sie mich verstehen?« Jasmin fragte stockend, ganz zaghaft, bis sie erkennen musste, es ist zu spät. Die Augen waren tot. Die Frau vor ihr lebte nicht mehr.
Jasmin van Damme war eine starke junge Frau, gerade mal sechsundzwanzig. Tough, erfolgreich, emanzipiert. Sie war es gewohnt, selbstbewusst zu handeln und reagierte auch in dieser Situation sehr rational. Sie ging zurück zum Wagen. Der Regenschauer nahm an Intensität zu, inzwischen war sie völlig durchnässt. Sie zitterte trotz der fast 30 Grad, die auch jetzt an diesem späten Abend im März für Saunaklima sorgten und schaltete den noch laufenden Motor aus und die Warnblinkanlage ein, falls unerwartet doch mal ein anderes Fahrzeug hier vorbei kommen sollte. Die kleine Straße war zwar öffentlich, allerdings wurde sie fast nur von den Anwohnern der kleinen Bucht, gut vier Kilometer von der Inselhauptstadt Willemstad, nahe des Papagayo Beach Resorts im Süden der Insel gelegen, genutzt. Jasmin van Damme wohnte dort seit Juni 2015 zusammen mit ihrem Lebensgefährten, dem Allgäuer Jan Heller, »in einem kleinen, aber feinen Strandhaus«, wie sie es augenzwinkernd nannte. Es verfügte über rund einhundertfünfzig Quadratmeter Wohnfläche, einen wunderschön eingewachsenen Garten mit eigenem Strand.
Jasmin tippte Jans Kurzwahl in die Handytastatur.
»Ja, was gibt’s«, meldete sich eine verschlafen wirkende Stimme. »Wo …«
»Jan, komm schnell hier her«, sie stockte kurz. »Ich habe eine Frau totgefahren. Ich hab sie einfach nicht …«
»Schatz, was redest Du da? Wo bist Du genau?« Jan war plötzlich hellwach.
»Kurz vor dem Golfplatz. Komm bitte gleich und rufe die Polizei an!«
Jasmin drückte das Gespräch weg und lehnte sich an die immer noch offen stehende Fahrertür. Der Regen rann ihr über das Gesicht, zog feine Linien in das sonst perfekte Make-up, lief in die Augen. Die langen, derzeit dunkelblonden Haare klebten am Kopf, einzelne Strähnen pappten unangenehm an Nase und Kinn. Schon nach wenigen Minuten, die ihr allerdings wie eine Ewigkeit vorkamen, hörte sie einen Wagen kommen. Jan. Er ließ die Wagentür offen stehen, rannte auf sie zu, nahm sie in die Arme, und erst da klappte sie schluchzend zusammen.
»Oh Jan, wie konnte …?«
»Ganz ruhig, Liebste! Wir schaffen das. Bist Du sicher, dass sie tot ist?«
Jan strich Jasmin die nassen Haarsträhnen aus dem Gesicht und drückte sie an sich. Plötzlich straffte sich Jasmins Körper, sie war wie umgewandelt.
»Jan, die Frau lag schon quer auf der Straße. Die ist mir nicht ins Auto gelaufen. Nein, die lag bereits dort. Mitten auf der weißen Linie, direkt vor mir. Ich hab das wieder ganz deutlich vor Augen. Ich weiß es genau!«
»Mein Gott, was sagst Du da? Sie lag schon da?«
Jasmin nickte, Jan starrte sie an. »War die schon tot? Vielleicht schon von jemand anderem überfahren? Oder ist sie vielleicht eine Selbstmörderin?«
Jasmin schüttelte den Kopf.
»Weiß ich doch nicht. Aber eines weiß ich, ich habe die Frau schon mal gesehen und mit ihr gesprochen.«
Jan schaute reichlich verwirrt auf seine Freundin.
»Wie bitte? Du kennst sie?«
»Kennen nicht direkt, sie war in meinem Laden. Zusammen mit einem Mann. Sie haben richtig teure Sachen aus meiner »Butterfly«-Kollektion gekauft. Ziemlich sexy.«
»Wahnsinn!«, konnte Jan nur sagen und schaute auf die Tote.
»Und jetzt liegt sie hier«, flüsterte Jasmin.
Schon zehn Minuten später traf ein Streifenwagen der Verkehrspolizei ein, die beiden Beamten übernahmen konzentriert vorgehend das Kommando. Nur gut eine Minute verging, bis auch der Sani eintraf. Kurz darauf lag der Unfallort im gleißend gelben Licht zweier mobiler Scheinwerfer, die den Körper der toten Frau durch den Regenschleier hindurch anstrahlten und fast wie ein Kunstwerk auf einer Bühne wirken ließen. Ein surrealer Anblick.
»Du machst hier keine Aussage in Deinem Zustand!«, machte Jan klar.
Jasmin reagierte nicht.
»Hast Du mich verstanden? Keine Aussage!«
Jasmin nickte. »Ist ok.«
Im selben Moment sprach der ältere der beiden Polizisten Jasmin direkt an, während sein Kollege den Wagen inspizierte.
»Sie sind die Fahrerin?«
Jasmin nickte.
»Ihre Papiere bitte!«
Jan drehte sich um, zog Jasmins Handtasche aus dem Wagen, kramte kurz darin und reichte dem Beamten die gewünschten Dokumente. Der schaute nur kurz auf den Ausweis und musterte Jasmin mit einem durchdringenden Blick.
»Deutsche? Sie leben hier?«
Er wartete keine Antwort ab, sondern schob die beiden Papiere kommentarlos in seine Uniformtasche und wandte sich an Jan. Vielleicht hielt er ihn für den Erziehungsberechtigten oder traute ihm zumindest eine rationalere Betrachtungsweise des ganzen Vorfalls als der Unfallverursacherin zu.
»Die Papiere sind beschlagnahmt. Sie kann die Insel nicht verlassen. Und sie fährt jetzt mit uns zurück ins Präsidium zur Vernehmung.«
»Sie können gerne direkt mit mir sprechen, ich bin in der Lage, selber zu antworten«, forderte Jasmin den Beamten auf, was diesen sichtlich irritierte, bevor er sich erneut an Jan wandte. »Waren Sie auch im Wagen? Wer sind Sie?«
»Ich war zuhause, Jan Heller, ich bin Frau van Dammes Lebensgefährte. Sie hat mich angerufen, hier steht mein Wagen.« Jan fuchtelte mit dem ausgestreckten Zeigefinger vor den Augen des Beamten hin und her. »Sie steht unter Schock, das sieht man doch, und ist nicht vernehmungsfähig. Warten Sie bitte bis morgen, und dann nur mit Anwalt.«
Der Polizist trat einen Schritt zurück und blieb konsequent bei seiner Entscheidung.
»Sie halten sich da raus!«
Er unterstrich die Aussage mit einem Fingerzeig auf Jan. Der hob entschuldigend beide Hände hoch.
»Die Vernehmung muss jetzt erfolgen. Kommen Sie bitte mit!« Der Beamte wandte sich an Jasmin. Sie nickte und drehte sich zu Jan.
»Das geht schon in Ordnung, ich bin soweit ok. Du kannst ja auf jeden Fall den Anwalt anrufen und mich dann abholen.«
Jan schüttelte nur den Kopf, machte jedoch gute Miene zum bösen Spiel.
»Wenn Du meinst, dann mach das gleich. Aber wenn es Probleme geben sollte, berufe Dich auf den Anwalt. Hast Du gehört?«
Jasmin nickte nur kurz, nahm Jan ihre Handtasche ab und folgte dem Beamten zum Streifenwagen. Der jüngere Polizist machte noch ein paar Fotos von der Toten und dem direkten Umfeld des Unfallortes, klappte die Scheinwerfer zusammen und ging dann auch zum Wagen. Dort bekam er Anweisungen seines Kollegen, die er murrend zur Kenntnis nahm. Er sollte vor Ort warten, bis der Unfallwagen abgeschleppt werden könnte, um ihn in der Polizeistation zu untersuchen.
Die drei Sanitäter bargen nach einer oberflächlichen Untersuchung den Leichnam und fuhren kurz darauf ebenfalls in Richtung Willemstad zurück. Jan blieb noch eine Weile neben dem Polizisten stehen und betrachtete trotz der jetzt wieder herrschenden, nur vom gelben Blinklicht der Warnanlage des Unfallwagens unterbrochenen, Dunkelheit die Straße und das angrenzende Buschland mit den wenigen hohen Bäumen.
»Scheiße, verdammt! Was ist da passiert, wenn die Frau schon tot war?«, kam ihm über die Lippen, bevor er nach Hause fuhr und nur Minuten später seinen Anwalt, Dr. Conchi anrief.
»Dottore, wir haben ein Problem. Bitte kümmern Sie sich gleich um Jasmin! Sie ist bei der Polizei.«
Willemstad, Curaçao
Die Augen der fünf Personen, die in dem leicht abgedunkelten Raum saßen, waren hinter den schwarzen Karnevalsmasken nicht zu erkennen. Es herrschte gespannte Stille, man hätte eine Stecknadel fallen hören. Drei Männer und zwei Frauen, alle ziemlich unförmig in identische dunkelgraue Schutzanzüge gekleidet. Fünf Menschen, die sich nur per Vornamen kannten und ihre Augen versteckten. Es galt, Anonymität zu wahren, weshalb sie auch einzeln am Flughafen abgeholt und in die Villa am Strand gebracht worden waren. Der Vorstand hatte sie, als alle eingetroffen und maskiert waren, mit den Vornamen vorgestellt. Sie wurden sehr deutlich angewiesen, nicht miteinander zu sprechen oder Daten untereinander auszutauschen.
Etwas abgesetzt, seitlich neben den Besucherplätzen, war eine auf einem Stativ installierte Videokamera genau auf die frei im Raum stehende runde Säule ausgerichtet, die vom Boden bis zur Decke reichte. Die Kamera wurde von einem ebenfalls maskierten Mann im Schutzanzug bedient.
»Guten Abend liebe Gäste, ich bin der Vorstand für den amerikanischen Kontinent.« Der soeben eintretende Mann, stämmig, gut fünfzig Jahre alt, nickte der kleinen Schar der Wartenden zu. Auch er trug die Augenmaske und den Schutzanzug.
»Sie sind heute Abend hier, weil Sie sich bei unserer letzten Auswahl durch Ihr großes Interesse«, er lächelte, »und die entsprechende Summe qualifiziert haben, exklusiv der Entstehung des nächsten einzigartigen Werkes unseres Künstlers beiwohnen zu dürfen. Ich gehe davon aus, Sie sind stark genug, das hier zu Erlebende uneingeschränkt zu verkraften und zu genießen. Ich betone es wie stets, das Ereignis ist schwer zu verdauen, aber schließlich haben Sie sich dafür beworben und Sie kennen alle die Konsequenzen.«
Er blickte einmal von links nach rechts und zurück über die kleine Stuhlreihe.
»Sie haben jetzt noch die Gelegenheit, den Raum zu verlassen, wobei dies jedoch bedeuten würde, dass Sie für die Zukunft aus unserem elitären engen Kreis ausgeschlossen sind.«
Der Vorstand wartete einige Sekunden, niemand nahm das Angebot an.
»Gut, dann bitte ich darum, unser Modell herein zu führen.«
Die Flügeltür zum Nebenraum öffnete sich. Zwei, in schwarze Anzüge gekleidete Männer mit Gesichtsmasken führten langsam eine hochgewachsene Frau in den Raum, die mit einem bodenlangen, ebenfalls schwarzen Umhang nahezu vollständig verhüllt war. Auch sie trug eine Augenmaske.
Die Atmosphäre knisterte, die Spannung war greifbar. Einer der Besucher atmete schwer. Die beiden Männer dirigierten die Frau vor die Säule.
»Fixieren Sie das Modell bitte!«, befahl der Vorstand den beiden Männern.
Die Frau ließ es regungslos geschehen, dass sie mit weißen Seilen, die vom Hals bis zu den Beinen in regelmäßigen Abständen um sie und den Umhang geschlungen wurden, weitgehend bewegungsunfähig an die Säule gefesselt wurde. Eine der beiden zuschauenden Frauen stieß einen spitzen Schrei aus, verharrte jedoch sofort wieder in regungsloser Erwartung. Die beiden Männer wurden nun vom Vorstand entlassen. Einer verließ den Raum, der zweite verzog sich geräuschlos in den Hintergrund und wartete, genau im Rücken des Kameramannes. Die Frau an der Säule wirkte wie eine elegante, antike Statue. Zwei Strahler warfen ein warmes Licht auf die Szene, welche das Modell faszinierend, fast überirdisch perfekt ins Licht rückte.
»Ein Bild der Vollkommenheit wird es werden«, rief der Mann im weißen Overall aus, der in diesem Moment über einen Seiteneingang unbemerkt den Raum betreten hatte und den die Zuschauer nun überrascht anblickten. »Ein Bild der Vollkommenheit, ein Meisterwerk«, wiederholte er euphorisch und trat neben die Frau.
Der Vorstand nickte ihm ehrerbietig zu.
»Willkommen in unserem Kreis, Sir! Das Modell gehört Ihnen.«
Willemstad, Curaçao
»Ich bin’s, Jan, hallo Peter! Ich komme schnell vorbei, Jasmin hatte einen Unfall.«
»Was ist los? Unfall? Wie geht es ihr? Ist sie …«
»Nein, sie ist ok. Aber ich stehe schon fast vor Deiner Tür. Lass mich rein, es pisst.«
Jasmin, Unfall? Ich machte mir Riesensorgen um meine Enkelin. Meinen absoluten Liebling.
Ich?
Ich bin Peter Förster. 67 Jahre alt, lebe und wohne nur ein paar hundert Meter von Jasmin und ihrem Partner Jan entfernt in meinem originellen Strandhaus, das drei verschiedene Baustile in sich vereint. Hier auf der wunderschönen Karibikinsel Curaçao. Hergekommen bin ich nicht ganz freiwillig, aber dazu später. Im Moment interessierte mich nur das Schicksal Jasmins, dieser tollen und schönen Frau. Meine Enkelin. Die Einzige, die mir von meiner Familie geblieben ist.
Der hereinstürmende Jan riss mich aus meinen Gedanken.
»Sag, was ist passiert?«
Jan winkte ab. »Immer mit der Ruhe«, rief er und ließ sich in meinen Lieblingssessel fallen. »Also, Jasmin hat auf der Heimfahrt eine Frau überfahren, die allerdings bereits auf der Straße lag. Es könnte möglich sein, dass sie eventuell bereits tot gewesen ist, meint Jasmin. Eine Selbstmörderin vielleicht.«
»Meine Fresse, das ist ja furchtbar!« Im selben Moment wurde ich jedoch stutzig. »Wo ist das genau passiert?«
»Kurz vor dem Golfplatz, ein paar Meter.«
»Da ist doch tote Hose um diese Zeit. Da legt sich doch keiner auf die Straße, um sich umzubringen. Ist doch Quatsch, alle Viertelstunde kommt mal ein Auto. Also wenn, dann war die schon tot. Und dann haben wir keinen Selbstmord, sondern …«
»Ein Verbrechen?«
Jan machte einen verwirrten Eindruck und schaute mich ungläubig an.
»Du meinst, jemand hat die Frau auf die Straße gelegt? Bewusst?«
»Oder weil er keine andere Möglichkeit fand und vielleicht hoffte, die wahre Todesursache als Unfall verschleiern zu können. Ich spinne jetzt einfach mal. Das sind alles nur wilde Spekulationen. Wo ist Jasmin jetzt?«
»In der Polizeistation Montana, denke ich. Ich wollte die Vernehmung auf morgen verschieben, mit unserem Anwalt. Aber Du kennst ja Deine Enkelin, immer tough, immer geradeaus. Sie würde das lieber gleich machen, meinte sie, und ich sollte sie nur später abholen.«
Ich überlegte.
»Lass uns gleich hinfahren. Wir müssen die Sache in die richtige Richtung lenken. Die Tote muss in die Pathologie.«
»Ich habe noch was vergessen«, Jan stand dabei auf. »Sie hat die Frau mit einem Begleiter in ihrer Boutique gehabt. Die beiden haben sich teure Wäsche ausgesucht und genau in diesen Dessous lag sie jetzt auf der Straße.«
Das alles klang nicht mal ansatzweise nach einem simplen Unfall, sondern nach Panik oder einer genau arrangierten Vorgehensweise. Wir mussten zur Polizei, zu Jasmin.
»Jan, wir fahren!«
Die Polizeistation Montana, ein unscheinbares einstöckiges Gebäude mit Flachdach, liegt nur etwa drei Kilometer von unserer Wohngegend entfernt in einem ruhigen Wohnviertel der Hauptstadt. Jan und ich waren allerdings alles andere als ruhig, als wir ein paar Minuten später dort eintrafen. Ich meldete uns an, der wachhabende Beamte kontrollierte genauestens unsere Ausweise, ließ sich alles aushändigen, was wir in der Hosentasche hatten und rief seinen Kollegen an.
»Ich habe hier zwei Verwandte der Fahrerin, dieser Deutschen. Kann ich sie Euch … gut, ist in Ordnung.«
Er stemmte sich mühsam von seinem uralten Drehstuhl hoch und winkte uns, zu folgen. Die Station wirkte nicht unfreundlich, hellgelb gestrichene Räume, überall Glasscheiben an den einzelnen Büros. Siebziger Jahre. Ein wenig heruntergekommen. Nachdem wir einen kurzen Flur mit dem üblichen Kaffeeautomaten und einem altersschwach wirkenden Kopierer hinter uns gelassen hatten, hieß der Beamte uns, zu warten. Er schaute durch die vor uns liegende, halb geöffnete Tür, nickte einem unsichtbaren Gesprächspartner zu und ließ uns eintreten.
Der Raum war nur spärlich möbliert. Ein einfacher Tisch, vier Stühle und eine schmale Ablage an der Stirnwand. Lediglich das Foto eines alten Mannes unterbrach die Kahlheit der Wände. Ich war nicht sicher, ging aber davon aus, dass es sich um einen früheren Gouverneur der Insel handeln könnte.
Jasmin saß einem vielleicht fünfzig Jahre alten Mann in Zivil – dunkle Hose, weißes Poloshirt – gegenüber und lächelte uns an.
»Bin ich froh, dass Ihr da seid und dazu kommen dürft.«
»Jasmin, wie geht es Dir? Wirst Du korrekt behandelt? Ich habe Doktor Conchi bereits angerufen, er hat gesagt, Du …«
»Ihr Anwalt hat bereits angerufen. Wir kennen uns gut, er bekommt umgehend die Akte. Und es gibt keinerlei Anschuldigungen gegen Frau van Damme.« Als der Kommissar ihn unterbrach, schaute Jan sorgenvoll auf seine Partnerin.
»Alles gut«, bestätigte sie.
Der Kommissar erhob sich und reichte mir die Hand.
»Julian Ramirez. Guten Abend, setzen Sie sich bitte.«
Ich stellte mich ebenfalls vor.
Er deutete freundlich auf einen der beiden freien Stühle am Besprechungstisch. Dann begrüßte er, allerdings nur durch ein Nicken, auch Jan, der sich neben Jasmin setzte.
Ich schaute den Beamten fragend an. »Können Sie uns …?«
»Langsam, meine Herren. Frau van Damme hat ihre Aussage bereits weitgehend gemacht. Ich habe Sie dazu gebeten, weil sich die ganze Sache doch recht ominös anhört. Wobei ich keinerlei Zweifel an der bisherigen Schilderung der jungen Dame hier hege, das möchte ich gleich hinzufügen.«
Er schaute sehr wohlwollend, für mein Gefühl etwas zu intensiv, auf Jasmin.
»Eine Frage noch, wann war die Frau bei Ihnen in der Boutique?«
Jasmin überlegte nur kurz. Ramirez wartete gespannt.
»Das war vor drei Tagen, am Dienstag, spät nachmittags so gegen fünf.«
Jasmin wies mit der Hand auf den Kommissar. »Übrigens sprachen die beiden englisch, beide aber mit einem Akzent. Ich denke, er war Deutscher. Und sie, ich glaube auch, bin mir nicht ganz sicher. Ihr Englisch war nicht fehlerfrei, ich musste ein paar Mal das Lachen vermeiden. Ich habe mich nicht als Deutsche zu erkennen gegeben, da ich den beiden das Urlaubserlebnis nicht kaputt machen wollte.«
»Wie haben die beiden bezahlt?«
»Bar, das hat mich auch gewundert, macht ja sonst kaum jemand hier.«
Jan und ich schauten uns an.
»Deutsche?«
»Ok!« Ramirez bedankte sich und wandte sich dann an mich. Ich schien ihm altersmäßig als Ansprechpartner näher zu liegen, als Jan. Der mit seinem schwarzen Vollbart, von dem er sich nicht trennen wollte, bei manchen Menschen fraglos einen etwas fragwürdigen Eindruck hinterließ. Jasmin fand ihn sexy. »Den Bart«, hatte sie mir mal erklärt.
»Zuerst mal haben wir es mit einem Unfall mit Todesfolge zu tun, das ist unstrittig. Frau van Damme hat die Tote überfahren. Wir können aufgrund des Wetters nur schwer eine mögliche Verfehlung nachweisen, zum Beispiel zu schnell gefahren.«
Jasmin wollte ihn unterbrechen, aber er winkte ab.
»Und das bedeutet, dass die Fahrerlaubnis Ihrer Partnerin auf jeden Fall eingezogen bleibt bis zur endgültigen Klärung des Sachverhaltes. Das ist Vorschrift, nehmen Sie dies bitte zur Kenntnis.«
Er zog unmissverständlich Jasmins Führerschein, der auf dem Tisch lag, zu sich her und schob ihn in eine Aktenmappe. Dann lehnte er sich auf seinem Stuhl etwas zurück und schaute abwechselnd auf uns drei.
»Mehrere Dinge kommen mir komisch vor und lassen Fragen entstehen.«
Er ließ den Satz kurz wirken, bevor er weiterredete. »Die Tote muss auf der Straße gelegen haben, was wir daran erkennen können, dass Ihr Fahrzeug auf der Haube und am Kühlergrill keinerlei Spuren eines Aufpralls aufweist. Das haben wir bereits kurz überprüft.«
Er kratzte sich am Hals, wo sich kleine rote Pusteln zeigten.
»Allergie! Rasierschaum. Übrigens, Ihr Wagen wird morgen wieder freigegeben.«
Ich war sehr zufrieden mit dieser Aussage, sie bestätigte absolut Jasmins Erklärungen.
»Was bedeutet das nun für Frau van Damme?«, fragte ich Ramirez.
»Die erste Frage: Wie ist die Tote dort hin gekommen und warum? Wurde sie an der Unfallstelle getötet und liegen gelassen? Es deuten keine Spuren darauf hin. Wollte sie sich selbst töten, was allerdings kaum zu vermuten ist. Da würde sie sich einen anderen Ort aussuchen. Und sicher nicht noch vorher reizvolle Dessous kaufen und anziehen. Da sind Sie sicher der selben Ansicht.«
Ich nickte bestätigend, Ramirez lag auf der selben Linie wie ich.
Der Kommissar wandte sich an Jasmin. »Übrigens, sehr attraktive Wäsche.«
Jasmin lächelte ihn an. »Vielen Dank. Wäre etwas für Ihre …«
Ramirez winkte ab. »Zu teuer für einen hiesigen Beamten. Und Single! Aber kommen wir zur zweiten Frage: Wenn wir ausschließen, dass sie noch lebendig an den Unfallort gekommen ist, wer hat sie dann dort hingebracht und abgelegt? Und auch wieder, warum und wann? Und warum gerade dort? Sollte sie als Unfallopfer gefunden werden?«
Der Kommissar hob die Schultern an und breitete die Hände aus.
»Wenn ich eine Leiche verschwinden lassen möchte, entsorge ich sie doch normalerweise nicht auf der Straße! Oder würden Sie das tun?«
Jasmin schaute zuerst auf Ramirez, dann auf Jan und mich.
»Ich hatte das Problem bisher noch nicht. Und wenn sie aus einem Wagen gefallen wäre?«
»Dann hätte jemand sie nicht ordnungsgemäß angeschnallt!«
Ramirez stieß ein wieherndes Lachen aus.
»Sorry! Aber manchmal gibt es die unwirklichsten Sachen. Egal, wir werden die Leiche obduzieren, dann haben wir auch den Todeszeitpunkt. Vielleicht lässt sie sich damit auch eher identifizieren. Wobei ich bereits ein Foto an die anderen Dienststellen und an den Airport geschickt habe. Bisher nichts. Leider haben wir keine Kreditkartendaten von ihr oder dem Begleiter. Die beiden haben ja in Ihrem Geschäft bar bezahlt.«
Er schielte zu Jasmin und zuckte mit den Schultern. »Mit dem Gerichtsmediziner habe ich bereits gesprochen. Er ist schon dran, spätestens morgen früh wissen wir Bescheid.«
Genau in diesem Moment plärrte das Telefon. Der Kommissar ließ es dreimal klingeln, erst dann nahm er ab.
»Ja, Ramirez?«
Er hörte stumm ein paar Sekunden zu, dann legte er den Hörer auf, schaute uns mit zufriedener Miene an und ließ ein paar dramatische Sekunden verstreichen.
»Der Gerichtsmediziner. Ein erster Check ging schneller. Sie wurde erdrosselt! Die massiven Strangulationsspuren am Hals deuten auf ein Seil oder sogar eine Kette hin. Sie muss geblutet haben. Wann weiß er noch nicht genau, das gibts morgen früh. Er schätzt zwei bis die Stunden. Die Verletzungen am Körper sind erst nach ihrem Tod entstanden, als Frau van Damme über den Körper gefahren ist. Der Gerichtsmediziner schätzt sie auf etwa dreißig Jahre. Ob sie vergewaltigt wurde, lebend oder als sie schon tot war, wissen wir noch nicht. Es gibt unterschiedliche DNA-Spuren an ihr.«
Aus dem bisher zufriedenen Blick des Kommissars wurde ein triumphierender, als er die folgenden vier Worte jeweils mit Pause dazwischen herausstieß:
»Wir … haben … einen … Mord!«
Wir Drei schauten zuerst uns, dann den Kommissar an.
Jasmin reagierte als erste. »Was bedeutet das nun für mich? Für uns?«
Ramirez kehrte wieder zur amtlichen Seriosität zurück, was allerdings dauerte und was ihm schwer zu fallen schien. Er war immer noch von seinem Jagdfieber erfasst. Ein Mordfall! Und was für einer. Ein Mord war zwar für das Opfer unangenehm, mit sehr endgültigen Folgen. Zugegeben. Aber für einen Ermittler wie ihn ein wahres Geschenk zwischen all den kleinen Einbrüchen, Körperverletzungen, Drogengeschichten oder Betrügereien, die sonst seine Arbeitstage prägten. Oder wenn mal wieder einer seine Frau verprügelte und ein paar Jungs im Hafen meinten, sich an die Eier gehen zu müssen, und es mit gebrochenen Nasen oder Messerstichen endete. Einerseits unterstützten Mordfälle auch auf einer Karibikinsel die Karriereschritte des erfolgreich ermittelnden Beamten und andererseits war es einfach eine Frage des Berufsethos, den Menschen zu beweisen, »schaut her, wir sind für Euch da und wir lösen solche Fälle souverän.«
»Frau van Damme, für Sie bedeutet dies zuerst mal, dass Sie keinen Menschen auf dem Gewissen, sondern nur einen Leichnam überfahren haben. Eine Tote, die schon tot war.« Er lachte kurz auf. »Sorry, das war Quatsch. Sie bekommen auf jeden Fall in ein paar Tagen Ihren Führerschein zurück. Ich brauche Sie nur noch ein wenig hier, damit Sie das Protokoll unterschreiben können.«
Ramirez lächelte Jasmin gönnerhaft an.
Die schaute auf Jan.
»Könnte ich das Protokoll nicht morgen unterschreiben? Ich wäre jetzt gerne zu Hause. Es ist alles ein wenig zu viel. Können Sie das verstehen?«
Typisch Jasmin, dachte ich, als ich ihr verführerisches Lächeln bemerkte, das sie soeben dem Kommissar schenkte. Sie kriegt einfach jeden rum, garantiert auch ihn.
»Selbstverständlich habe ich dafür Verständnis, gnädige Frau. Morgen ist Samstag, aber ich werde ins Büro kommen. Wäre zwölf Uhr morgen für Sie in Ordnung?«
Er strahlte sie an, Jan verdrehte die Augen, Jasmin lächelte.
»Das ist sehr freundlich, Herr Kommissar, ich werde pünktlich sein. Vielen Dank.«
»Mann, oh Mann!« Jan stöhnte, als wir durch die Eingangstür auf den Parkplatz traten.
Ich musste lachen.
»Liebe Jasmin, Du bist einfach unverbesserlich! Jetzt haut ab, Ihr beiden, ich gehe zu Fuß nach Hause, sind ja nur drei Kilometer, der Regen ist weg und ich brauche Luft nach dieser Aufregung. Bin nicht mehr der Jüngste.«
»Ich liebe Dich, Opa!«
Sagte sie und küsste mich auf die Wange.
Keine Minute später stand ich alleine vor dem flachen Gebäude. Einzelne, von den beiden vor der Polizeistation stehenden Straßenleuchten hell angestrahlte Nebelschwaden krochen über den warmen Asphalt. Überbleibsel der bis vor wenigen Minuten hernieder stürzenden Sintflut. Der März war in diesem Jahr ungewöhnlich nass. Die Regenzeit im Dezember und Januar war kürzer als üblich, anscheinend hatte sich der Regen in das sonst eher trockene Frühjahr verlagert. Am nun klaren Himmel zeigten sich die ersten Sterne. Es war kurz nach Mitternacht. Ich ließ die Geschehnisse dieses späten Abends noch einmal Revue passieren, und wurde das latente Gefühl nicht los, dass uns die ganze Geschichte noch um die Ohren fliegen würde. Ich konnte dieses, im Unterbewusstsein gespeicherte Gefühl nicht rational belegen, es war einfach da. Im Bauch. Warum liegt da eine Tote auf einer absolut ruhigen, kaum befahrenen Nebenstraße? Wo kam sie her? Die ganze Angelegenheit machte einen völlig abstrusen Eindruck. Sollte ein möglicher Mörder tatsächlich gedacht haben, die tote Frau als Unfallopfer »sterben« zu lassen. Dafür war meiner Ansicht nach sowohl der gewählte Ort unsinnig als auch die Polizei hier auf Curaçao zu gut ausgebildet und ausgestattet, um darauf reinzufallen. Die würde den Versuch ziemlich sicher erkennen. Wir waren hier kein Entwicklungsland, wo so was vielleicht noch funktionieren könnte. Oder war der Mörder in Panik geraten, und der Unfallort war der Tatort? Warum mitten auf der Straße? Ich kam zu keinem Ergebnis. Was mich allerdings den ganzen Rückweg über beschäftigte, war die Tatsache, dass die Frau in den Dessous getötet wurde, die sie kurz vorher ausgerechnet bei Jasmin gekauft hatte. Zusammen mit einem Begleiter. Gab es da einen Zusammenhang? Jasmin hatte dem Kommissar gegenüber von einem seriös wirkenden, gut gekleideten und sehr zuvorkommenden Mann gesprochen. Sie konnte ihn recht gut beschreiben. Etwa 50 Jahre alt, 180 cm groß, dunkelhaarig. Der müsste doch zu finden sein auf dieser überschaubaren Insel. Dass er bar bezahlt hatte, irritierte mich allerdings, das tat kaum einer hier, das war ungewöhnlich. Nun ja, er wird seine Gründe gehabt haben.
»Und diese Gründe könnten Teil eines Mordfalles sein«, sagte ich halblaut und wenig überzeugt vor mich hin.
Ich sollte jedoch recht behalten.
»Sie lag da, direkt nach der kleinen Kurve vor dem Golfplatz. Ich konnte sie nicht sehen, sie verschwamm praktisch mit der Straße.«
Jasmin lehnte sich an Jans Schulter.
»Jan, ich bin da drüber gefahren. Es war fürchterlich, wenn ich denke, dass sie noch gelebt haben könnte …«
Jan hielt sie fest.
»Mach Dir jetzt bitte keine solchen Gedanken mehr. Du hast sie nicht getötet. Sie war schon …«
»Aber es war ihr Körper, den ich geschändet habe.«
»Geschändet haben die ihn, die sie vielleicht vergewaltigt und umgebracht haben. Nicht Du!«
Jasmin küsste ihn.
»Danke! Und jetzt gehe ich unter die Dusche.«
Es dauerte fast eine Ewigkeit, bis sie zu Jan ins Bett kroch und sich wie eine Katze zusammenrollte.
Sie hatte versucht, alles wegzuwaschen.
Ich konnte noch nicht ins Bett gehen und setzte mich mit einem Glas Chiaretto di Bardolino, den ich hier auf Curaçao unverschämt teuer einkaufte, auf meine Terrasse, direkt am Strand. Die Wellen liefen leise auf den schmalen Sandstreifen auf, eine frische Brise war aufgekommen und drückte die Temperatur auf gefühlte 20 Grad herunter. Die Nacht war von betörender Schönheit. Wahrscheinlich würde es dennoch noch einmal regnen. Schon ungewöhnlich im Frühjahr.
Die letzten beiden Jahre gingen mir durch den Kopf. Zwei Jahre in denen sich Jasmins, Jans und mein Leben drastisch verändert hatte. Von der erfolgreichen Domina mit eigenem Studio, vom mittellosen IT-Studenten und vom ruinierten und abgestürzten Computerspieleentwickler hin zu begüterten Privatiers auf einer Karibikinsel. Wir drei genossen unser bislang sorgenfreies Leben in einer traumhaften Umgebung. Sorgenfrei, seit wir mit Sicherheit wussten, dass gegen uns in Deutschland nicht ermittelt wurde. Wir waren sauber. Jasmin hatte letztes Jahr ihre Wäscheboutique eröffnet, die fantastisch lief. Jan beschäftigte sich per Homeoffice immer mal wieder mit einigen interessanten IT-Jobs. Und ich? Ich war Rentner, Stammgast in Ronaldos Strandbar und kümmerte mich zwischendurch, wenn ich nicht gerade mit den beiden um die Häuser zog, um meinen Garten, renovierte ein wenig am Haus herum und malte. Abstrakt, gegenständlich, was mir in den Sinn kam. Mir fehlte nichts. Fast nichts. Nur Silvia. Meine Freundin in Stuttgart. International erfolgreiche Wirtschaftsjournalistin. Bis jetzt hatte ich es, trotz ihrer Zusage im letzten Herbst bei unserem Aufenthalt in Piemont nicht geschafft, sie zum Umzug in die Karibik zu bewegen.
»Irgendwann komme ich auf Deine Insel«, hatte sie mir geflüstert. Wir sahen uns zwar mindestens drei bis vier Mal im Jahr ein paar Tage oder Wochen. Aber die Abschiede waren hart. Zu hart, wie ich fand.
»Ich verspreche Dir, eines Tages komme ich. Für immer«, hatte sie beim letzten Abschied am Stuttgarter Flughafen noch ein Mal versprochen. Und man soll die Hoffnung ja nicht aufgeben.
Mein iPhone unterbrach schrill meine Gedanken. Es war Jan.
»Ist was?«
»Nein, alles in Ordnung. Sie schläft wie ein Murmeltier. Aber meinst Du, wir kriegen das hin und an Jasmin bleibt nichts hängen?«
»Mach Dir keine Sorgen, mein Lieber. Im schlimmsten Fall kriegt sie einen Strafbefehl wegen des Unfalls, wobei ich das nicht glaube. Die sind viel zu sehr mit dem Mord beschäftig. Keine Panik, Junge!«
Jan lachte leise.
»Wenn Du das sagst. Und jetzt, gute Nacht! Kommst Du heute vormittag rüber? Mir wäre es recht, wenn Du mit zur Polizei fährst. Der Kommissar mag Dich. Mich ignoriert er ja weitgehend.«
»Ok, kurz vor zwölf. Ciao!«
Die beiden waren meine Familie. Der Rest war im Laufe meines Rachefeldzugs gegen meinen Ex-Schwiegersohn Edgar vor zwei Jahren auf der Strecke geblieben. Edgar saß in Stuttgart-Stammheim noch mindestens zehn Jahre wegen seiner beiden Morde und der Betrügereien ein. Meine Tochter Brigitte hatte die Verbindung zu mir abgebrochen, als ich ganz am Boden lag, zum Obdachlosen geworden war, in Selbstmitleid ertrank und nur von meinen damaligen »Kollegen“ und heutigen Freunden am Leben gehalten wurde. Kalle und Jacek in Stuttgart. Ohne die beiden säße ich heute nicht hier, Jasmin würde nach wie vor reiche Kunden als Domina quälen und Jan wäre wahrscheinlich als aktives Mitglied im Chaos Computer-Club im Darknet gelandet.
»Lieber Gott«, habe ich oft gebetet, »danke, dass Du uns trotz des Diebstahls von mehr als fünf Millionen beschützt hast.« Millionen, um die ich Edgar van Damme mit Hilfe meiner Gefährten erleichterte. Geld, um das er zuvor mich und seine vielen anderen Anleger betrogen hatte. Ich gebe zu, ich war rachsüchtig, weil er mich über Jahre unbemerkt systematisch in den Ruin getrieben hatte. Ich wollte es ihm mit gleicher Münze heimzahlen. Manchmal bereue ich es, aber, wenn ich ehrlich sein soll, nur ein bisschen. Er hatte es verdient. Zu meiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass wir immerhin die Hälfte des Geldes anonym wieder an die existenziell Geschädigten zurückfließen ließen.
Jetzt war unsere gemeinsame Idylle plötzlich gestört.
Und ich war eingenickt.
Willemstad, Curaçao
Der Mann im weißen Overall, dessen Gesicht mit einer hautfarbenen Latexmaske bedeckt war, die nur Augen, Nase und Mund frei ließ, nahm sich Zeit. Sollen sie ruhig warten, diese geilen Verrückten, die ihre Erregung kaum mehr unter Kontrolle haben, dachte er. Es gab ihm ein unbeschreibliches Gefühl der Macht, hier ganz entspannt seitlich von der an die Säule gebundenen Frau zu stehen und sich konzentriert auf sein Werk einzustimmen.
Er war der Maler. Sie sein zweites Werk in diesem Jahr.
Er verschwand hinter einem frei im Raum stehenden Wandschirm und holte eine weiß lackierte Staffelei hervor, die er zwischen den Zuschauern und seinem Modell aufstellte. Auf der Staffelei war bereits eine hochformatige Leinwand befestigt. Etwa 150 mal 80 cm groß. Er strich prüfend in Halbkreisen mit der Hand über die weiße Fläche und lächelte. »Wunderbar.«
Die Frau an der Säule war ganz unnatürlich hell, fast weiß geschminkt. Der Maler trat nahe an sie heran und streichelte sanft über ihre rechte Wange. Aus dieser Bewegung heraus griff er in ihre langen blonden Haare, fasste sie zusammen und drehte sie zu einem lockeren Dutt hoch, den er mit einer Haarklammer fixierte. Er betrachtete die Frau prüfend eine ganze Weile, bevor er ihren schlanken Hals umfasste und wiederum ganz sanft mit den Fingern darüber strich. »Schön bist Du geworden. Noch schöner wirst Du werden.«
Das Modell zeigte keine Regung.
Der Maler wandte sich um und blickte auf die fünf Sitzenden und den seitlich davon stehenden Vorstand. »Meine Damen, meine Herren! Sie werden jetzt Zeugen bei der Entstehung meines neuesten Werks. Nur einer oder eine von Ihnen wird es bekommen, wird es betrachten können. Die anderen werden nur die Erinnerung daran im Kopf haben. Sie wissen das. Es wird, wie alle meine Werke, nicht in Museen hängen und es wird nie …«, er blickte von einem zum anderen, »es wird niemals von Ihnen verkauft werden! Obwohl es zu den teuersten zeitgenössischen Kunstwerken gehört. Dies ist das ungeschriebene Gesetz unserer Gemeinschaft, an das Sie sich halten werden.«
Er zeigte nacheinander mit dem Finger auf die fünf Gäste. »Es wäre Ihr Tod, sollten Sie der Meinung sein, mein Werk mit anderen teilen zu wollen. Mein Werk ist einzigartig, exklusiv nur für einen von Ihnen bestimmt, für den unsere Auktion später zum Glücksfall werden wird.« Er lächelte und deutete kurz auf den Vorstand. »Sie kennen die Preise! Die Zahlungsmodalitäten vereinbaren Sie bitte mit Charles. Genug geredet, lassen Sie uns beginnen.« Mit diesen Worten richtete er eine der beiden Lichtquellen neu aus, um stärkere Glanzpartien in den schwarzen Umhang des Modells zu zaubern.
Der Vorstand nickte nur und schob eine Art Servierwagen, voll mit Farbtuben, Farbtöpfen, Pinseln und Malerpaletten, vor die Säule. »Sir, es ist bereit!« Dann trat er einen Schritt zurück, verbeugte sich und verließ den Raum.
Der Maler begann mit schnellen, unkontrolliert wirkenden, aber akkurat sitzenden Strichen die Struktur des schwarzen Umhangs aufzubauen. Es war faszinierend, zu sehen, wie er nur mit Schwarz und Weiß sowie unterschiedlichen Grautönen den Faltenwurf und den Lichteinfall zwischen den weißen Stricken entstehen ließ.
Im Raum herrschte eine gespannte Atmosphäre und absolute Ruhe, sah man von den Arbeitsgeräuschen des Malers ab. Er trat immer mal wieder von der Staffelei zurück und warf einen prüfenden Blick auf seine Arbeit. Er ließ sich Zeit. Die werden es langsam nicht mehr aushalten, kam ihm in den Sinn. Es ist immer das gleiche. »Da müsst Ihr durch«, murmelte er fast unhörbar. »Da müsst Ihr durch!«
Die fünf Zuschauer wurden in der Tat langsam unruhig und schauten sich öfter mal unsicher gegenseitig an. Wann würde es beginnen? Es breitete sich eine Mischung aus nervöser Erwartung und Furcht vor dem Kommenden aus. Nach gut einer Stunde wurden sie aus ihrer Unsicherheit gerissen.
Der Maler begab sich plötzlich hinter den Wandschirm, es klirrte leise und er kehrte mit einer eisernen Kette, die er zwischen den ausgestreckten Händen hielt, zurück. Eine kräftige Kette, die an mittelalterliche Folterkammern erinnerte. Er zog sie zufrieden auseinander und wirkte dabei völlig abwesend. Wie in Trance. Die Frau an der Säule wandte leicht den Kopf zum Maler, der Maler lächelte ihr zu.
Die Spannung im Raum und zwischen Maler und Modell war auf dem Höhepunkt, es knisterte. Eine Stecknadel, die zu Boden fiel, wäre zu hören gewesen. Die Frau versuchte, sich in ihren Fesseln zu bewegen, was misslang, als der Maler auf sie zu ging. Er hielt die Kette locker zwischen den Händen und trat direkt neben sein Modell. Er ließ die angerostete Kette langsam vor ihr hin und her schwingen. Die Gesichtszüge der blonden Frau ließen plötzlich auf blanke Angst schließen, sie blieb jedoch stumm. Der Blick war nicht zu sehen, ihn verdeckte die Augenmaske.
»Es wird nicht schnell gehen«, flüsterte der Maler und trat hinter die Säule. Er nahm dem Modell die Maske ab. »Ich opfere Dich auf dem Altar der einzig wahren Kunst und erhebe Dich in ein neues Dasein.«
Die Kette rasselte leise.
Kurz nach zwölf standen wir am folgenden Mittag in der Polizeistation auf der Matte. Ramirez ließ uns fünf Minuten warten, »überlastet«, dann bat er uns in sein Büro. Er zog noch den Bürostuhl seiner abwesenden Assistentin ran, dann saßen wir drei in Reih und Glied vor seinem Schreibtisch.
»Guten Morgen.«
Er schaute interessiert auf Jasmin.
»Haben Sie alles einigermaßen überstanden?«
»Danke. Es geht mir soweit ganz gut. Ich bin ok.«
Der Kommissar nickte wohlwollend, klappte einen rosafarbenen Aktendeckel auf und betrachtete stumm ein Foto. Dann schaute er endlich auf.
»Wir haben nun das offizielle Untersuchungsergebnis des Gerichtsmediziners. Zum Glück erstaunlich schnell. Ein sehr interessanter Fall.«
Er machte eine dramaturgisch perfekte Pause und blickte in die Runde.