Zündstoff - Hans Bischoff - E-Book

Zündstoff E-Book

Hans Bischoff

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Beschreibung

Ein kaltblütiger Attentäter am Bodensee, eine ehrgeizige Kommissarin, die im Trüben fischt und ein chronisch unpünktlicher Überlinger Scheidungsanwalt auf Mörderjagd. Der brutale Bombenanschlag auf seine neue Mandantin erschüttert Jean Maurice Knöpfle, den erfolgsverwöhnten Scheidungsanwalt in Überlingen und zwingt ihn in Ermittlungen auf eigene Faust. Er treibt nicht nur die ehrgeizige Kommissarin aus Konstanz zur Weißglut, sondern kommt auch fragwürdigen Machenschaften in der Baubranche auf die Spur und dem Attentäter gefährlich nahe. Ein Fall mit Zündstoff. Der Erste für Jean Maurice Knöpfle. Zündstoff, der neue Krimi von Hans Bischoff ist Auftakt zu einer Reihe um Jean Maurice Knöpfle, den charismatischen Ermittler wider Willen. Knöpfle, Ergebnis des One-Night-Stands einer schwäbischen Mutter und eines französischen Vaters, ist kein Ermittler im üblichen Sinn, sondern er schlittert einfach zufällig oder neugierig in brisante Fälle rein und nervt seine Umwelt. Er liebt einen Hauch von Luxus und pflegt konsequent den engen Kontakt zur regionalen Gastronomie und zu Modehäusern rund um den Bodensee, vor allem in und um Überlingen. Knöpfle, der Mann zwischen zwei Frauen und seinem eifersüchtigen Hund. Zündstoff spielt am Bodensee, ist aber kein typischer Bodenseekrimi.

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Seitenzahl: 432

Veröffentlichungsjahr: 2021

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»Ohne schlechte Menschen gäbe es keine guten Anwälte.«

Charles Dickens

Inhaltsverzeichnis

Teil 1

Kapitel 1:Mittwoch, 25. Oktober 2017

Kapitel 2: Mittwoch, 25. Oktober 2017

Kapitel 3: Montag, 23. Oktober 2017

Kapitel 4: Jean Maurice Knöpfle

Kapitel 5: Mittwoch, 25. Oktober 2017

Kapitel 6: Donnerstag, 26. Oktober 2017

Kapitel 7: Donnerstag, 26. Oktober 2017

Kapitel 8: Freitag, 27. Oktober 2017

Kapitel 9: Samstag, 28. Oktober 2017

Kapitel 10: Montag, 30. Oktober 2017

Kapitel 11: Montag, 30. Oktober 2017

Kapitel 12: Donnerstag, 2. November 2017

Kapitel 13: Freitag, 3. November 2017

Kapitel 14: Freitag, 3. November 2017

Kapitel 15: Montag, 6. November 2017

Kapitel 16: Montag, 6. November 2017

Teil 2

Kapitel 17: Dienstag, 7. November 2017

Kapitel 18: Mittwoch, 8. November 2017

Kapitel 19: Donnerstag, 9. November 2017

Kapitel 20: Freitag, 10. November 2017

Kapitel 21: Freitag, 10. November 2017

Kapitel 22: Freitag, 10. November 2017

Kapitel 23: Samstag, 11. November 2017

Kapitel 24: Sonntag, 12. November 2017

Kapitel 25: Montag, 13. November 2017

Kapitel 26: Kowalski

Kapitel 27: Dienstag, 14. November 2017

Kapitel 28: Dienstag, 14. November 2017

Kapitel 29: Mittwoch, 15. November 2017

Kapitel 30: Mittwoch, 15. November 2017

Kapitel 31: Donnerstag, 16. November 2017

Kapitel 32: Donnerstag, 16. November 2017

Teil 3

Kapitel 33: Freitag, 17. November 2017

Kapitel 34: Freitag, 17. November 2017

Kapitel 35: Montag, 20. November 2017

Kapitel 36: Montag, 20. November 2017

Kapitel 37: Dienstag, 21. November 2017

Kapitel 38: Dienstag, 21. November 2017

Kapitel 39: Mama

Kapitel 40: Dienstag, 21. November 2017

Kapitel 41: Mitwoch, 22. November 2017

Kapitel 42: Donnerstag, 23. November 2017

Kapitel 43: Patrick

Kapitel 44: Samstag, 25. November 2017

Kapitel 45: Samstag, 25. November 2017

Kapitel 46: Montag, 27. November 2017

Kapitel 47: Mittwoch, 29. November 2017

Kapitel 48: Sonntag, 3. Dezember 2017

Epilog

Teil 1

1

Mittwoch, 25. Oktober 2017

Sie war heute später dran als in den letzten Tagen. Er hatte sich die Zeiten stets penibel notiert. Meist war sie gegen fünfzehn Uhr aufgetaucht. Heute erst zwanzig vor vier. Es würde nichts ändern.

Er konnte jetzt sehen, wie sie aus dem Wagen stieg, ein paar Einkaufstüten aus dem Kofferraum zog und zur Haustüre lief, wo sie aus seinem Blickfeld verschwand. Gut fünf Minuten später betrat sie den großen Raum und ging ein paar Schritte zu dem Glastisch, den sie anscheinend als Arbeitstisch oder als Schreibtisch benutzte. Die raumhohe, fast komplett um den linken Flügel der Villa reichende Fensterfront machte es ihm sehr leicht, die Frau von seinem Posten aus genau beobachten zu können. Sie trug heute wieder diese hässliche rosa Jacke, die ihm überhaupt nicht gefiel. Das muss Dir egal sein, das geht Dich nichts an, sagte er sich. Scheint modern zu sein. Hauptsache, ihr gefällt sie.

Sie legte einen Aktenkoffer und ein paar andere kleinere Gegenstände, die er nicht identifizieren konnte, auf den Glastisch. Er schaute zu, wie sie einige Akten aus dem Koffer entnahm. Dann setzte sie sich in einen Sessel und begann, in einer dieser Unterlagen zu lesen.

Seine Aussicht aus dem Baumversteck wurde nur dann jeweils kurz eingeschränkt, wenn die großen Lastwagen auf der Bundesstraße vor ihm vorbei rollten. Manchmal fuhren da fünf oder sechs hintereinander, ganze Konvois. Heute Nachmittag war der Verkehr zum Glück insgesamt schwach. Er schaute zu, wie sie wieder aufstand, kurz zum See blickte und anschließend zum Glastisch zurückging. Dort blätterte sie erneut in irgendwelchen Schriftstücken.

Er wusste genau, dass es sein musste. Mit dieser Frau hatte alles begonnen. Doch plötzlich geisterte wieder diese verdammte Unsicherheit in seinem Kopf herum, die ihn schon seit Tagen quälte. Ist es richtig, was ich tue? Werde ich es schaffen?

Er trommelte hektisch mit beiden Fäusten gegen den Kopf. »Ich bin es Dir schuldig, es ist mein Schwur«, flüsterte er dabei und versuchte, wieder ruhig und gleichmäßig zu atmen. Seine ausgestreckte Hand zitterte, er fühlte Schweiß auf der Stirn. Er durfte sich jetzt keinen Fehler erlauben. Er müsste nur den Knopf auf dem Display drücken, ganz einfach, nichts weiter. Viel einfacher, als wenn er ein Streichholz anreißen und an die Lunte halten müsste. Er fühlte den miesen Geschmack im Mund, biss sich auf die Lippe. Sein Blick fiel auf das Tattoo am Unterarm. Der Schwur und das Kreuz.

Sie setzte sich jetzt auf einen Stuhl an dem Glastisch.

»Sie ist schuldig.«

Er musste es tun. Zum ersten Mal.

Die Uhr auf dem Handy zeigte 15:58.

Er drückte den roten Button.

2

Mittwoch, 25. Oktober 2017

»Wo wollen die denn schon wieder hin«, maulte Jean Maurice Knöpfle, als ihn der Streifenwagen mit Sirene und Blaulicht von der Straße zwang. Wahrscheinlich muss der Leberkäse noch warm auf die Wache, dachte er kichernd und zog den Jaguar wieder auf die übliche Fahrspur zurück.

Er würde heute ausnahmsweise fast pünktlich, das hieß bei ihm höchstens eine Viertelstunde zu spät, zu seinem Mandantengespräch mit Frau Obermüller, der erfolgreichen Architektin in ihrer Villa oberhalb Nußdorf eintreffen. Jean Maurice Knöpfle war zwar wegen seiner Erfolge als Scheidungsanwalt, jedoch nicht wegen seiner Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit geschätzt. Nun ja, damit konnte er leben. Besser unpünktlich, als erfolglos. Diese eigene Einschätzung gefiel ihm. Ein gutes Image für einen Mann wie ihn, wie er fand, als er durch Nußdorf, einem der Überlinger Stadtteile fuhr. »Unpünktlich, aber erfolgreich, meine Damen!«, hörte er sich selbstbewusst sagen. Man könnte das auch als arrogant auslegen, kam ihm in den Sinn. Warum eigentlich nicht?

Fünfhundert Meter weiter, kurz nach der Abzweigung von der Hauptstraße in die am Sonnenhang liegende Wohnstraße, fiel sein Blick abrupt auf ein völlig irreales Bild und riss ihn aus seinen Gedanken. Er starrte auf zwei Feuerwehrfahrzeuge, einen Notarztwagen, die Polizeistreife, die ihn soeben überholt hatte und auf einen rauchenden Berg eingestürzter Mauerteile, zerrissener Fensterrahmen und zerlegter Möbelstücke, die anklagend in die Luft ragten.

Der Anwalt stieg im letzten Moment viel zu hart in die Eisen und stoppte das schwere, in die Jahre gekommene Cabrio. Den Jaguar XK, sein ›Kätzchen‹, das er seit sechs Jahren fuhr. Er blieb wie angewurzelt hinter dem Lenkrad sitzen, unfähig, sich zu bewegen, bis einer der Feuerwehrleute mit den Armen ruderte und ihn energisch anwies, zu verschwinden. »Du bisch em Weg!«, hörte er ihn rufen, was ihn wieder in die Realität zurückbrachte.

Die Realität. Das waren die Reste des Südflügels der Obermüllerschen Villa. Der große Raum mit der einzigartigen Panoramaaussicht über den Bodensee. »Sie wohnen hier schon begnadet, Frau Obermüller«, hatte er bei seinem ersten Besuch begeistert gesagt, während er den Blick über den Überlinger See in Richtung Südosten schweifen ließ. Unteruhldingen, die Mainau und dahinter das schweizerische Ufer mit dem Säntis, der alles überragte. Jetzt lag der Seeblick in Schutt und Asche. Zerborsten, verbrannt, tot.

Tot? Mein Gott, er hatte vor lauter Zerstörung überhaupt nicht mehr an seine Mandantin gedacht. War sie …? Knöpfle schnallte sich hektisch los, schob sich etwas ungelenk aus dem niedrigen Sitz und stieg aus. Er machte vorsichtig ein paar Schritte über den Rasen, bis er wieder angehalten wurde. Diesmal stand ihm einer der Polizeibeamten im Weg.

»Sie können hier nicht weiter! Wer sind Sie überhaupt und was suchen Sie hier?« Dabei stellte sich der Polizist mit ausgebreiteten Armen vor den Anwalt, der einen Schritt zurückwich und im Matsch stand. Einer der Feuerwehrwagen musste über den perfekt geschnittenen Rasen gefahren sein und Knöpfle hatte genau die verschlammte Fahrspur erwischt.

»Scheiße, meine Schuhe! Das sind Budapester. Die Hose ist auch verspritzt. Schauen Sie sich das mal an!«, motzte er den völlig unschuldigen Beamten an.

»Dann ziehen Sie halt Gummistiefel an, aber was gehen mich Ihre Schuhe an? Sie haben hier nichts zu suchen, also hui, verschwinden Sie! Abflug!«

Jean Maurice Knöpfle hatte im Grunde genommen nichts gegen staatliche Organe wie Staatsanwälte, Richter und Polizisten. Aber von so einem jungen Rotzlöffel, wie er sein Gegenüber nach oberflächlicher Musterung im Geiste bezeichnete, ließ er sich nicht vorschreiben, was er zu tun hatte. Da kam unweigerlich der alte Revoluzzer zum Vorschein.

»Jetzt hören Sie mal gut zu. Ich bin der Anwalt von Frau Obermüller, der Architektin und Eigentümerin dieser Ruine, die vorgestern noch eine traumhaft schöne Villa war. Und ich hätte mit ihr jetzt einen Besprechungstermin gehabt. Also …«

»Das ist mir egal«, versuchte der Beamte, ihn zu unterbrechen, was ihm jedoch nicht gelang.

»Was ist mit Frau Obermüller? Ich will sofort zu ihr. Ist sie in Ordnung? Ich will das jetzt wissen!« Jean Maurice wurde laut, der junge Polizist wurde leise und winkte hilflos einem weiteren Beamten in Uniform. »Komm mal rüber!«

»Was ist hier los? Sie behindern unsere Arbeiten. Wer sind Sie und warum wird es hier laut?« Der ältere Kollege kam mit finsterem Blick auf die beiden Streithähne zu.

»Mein Name ist Jean Maurice Knöpfle und ich bin der Anwalt von Frau Obermüller, der Eigentümerin des Hauses.«

Der Beamte starrte ihn mit einem leichten Grinsen im Gesicht an. Blödmann, dachte Knöpfle, der diese Reaktion auf seinen Namen allzu oft miterleben musste und sie nicht mehr als lustig empfand.

»Wer hat Sie denn schon gerufen und warum eigentlich?«, fragte der Polizist.

»Ich habe es bereits versucht, Ihrem jungen Kollegen hier nahezubringen. Ich hatte einen gestern vereinbarten Termin mit meiner Mandantin. Und stehe hier jetzt vor einem Schutthaufen. Und da ich nicht von einem Erdbeben ausgehe, muss ja was anderes passiert sein. Und vor allem, was ist mit der Architektin? Die war ja sicher im Haus und hat auf mich gewartet.«

Knöpfle schaute auf seine Rolex. Ein bisschen Luxus muss sein, war sein Credo. Geld bei der Bank zu bunkern, machte wirklich keinen Spaß. Er musste für den Blick auf die Uhr stets die Hemdmanschette hochschieben. »Obwohl ich fast pünktlich gewesen wäre«, meinte er entschuldigend zu dem Beamten.

Der Polizeibeamte schüttelte den Kopf. »Das ist ja alles recht und schön, aber ich darf Ihnen im Rahmen unserer Ermittlungen im Moment …, es war ja auch erst gerade.«

»Mein Gott! Was heißt, erst gerade? Das bedeutet ja – wann war die Explosion? Da wäre ich mit …?«

Sein Gegenüber atmete laut und vernehmlich aus. »Das war vor gut fünfzehn Minuten erst, laut Zeugen.«

Knöpfle starrte ins Leere. »Da wäre ich angekommen! Wenn ich pünktlich gewesen wäre.« Mehr sagte er nicht dazu. Die Erkenntnis reichte, um seinen Blutdruck in die Höhe zu treiben und den Kreislauf in Wallung zu versetzen.

Der Polizist hob die Schultern und verzog mitfühlend das Gesicht. »Glück gehabt, Herr Anwalt! Ich schlage jetzt vor, Sie warten hier, bis die Frau Meister eintrifft, die Kommissarin aus Konstanz. Sie wird hier ermitteln und Sie vielleicht gleich vernehmen. Aber fahren Sie das Auto da vorne auf die Seite.« Er warf einen interessierten Blick auf den Jaguar. »Sechszylinder?«

»Acht!«

»Teuer, oder? Aber als Anwalt, na ja! Also, Sie warten hier!«

Knöpfle war noch immer so geschockt, dass er ausnahmsweise nicht wie gewohnt auf Befehle der Staatsgewalt reagierte, sondern nickte und sich wieder ins Auto schwang.

»Scheiße!«, war sein einziger Kommentar. Er betrachtete gedankenverloren die Szenerie vor seinem Wagen.

Er schreckte auf, als plötzlich jemand an die Seitenscheibe klopfte. Er schaute von seinem iPad hoch, auf dem er in der letzten halben Stunde versucht hatte, einige Notizen zu schreiben, um sich abzulenken. Allerdings war er immer wieder dabei hängen geblieben. Der Schock wegen der Explosion und der Unsicherheit, was seine Mandantin betraf, saß zu tief. Vielleicht hat mir meine Unpünktlichkeit tatsächlich das Leben gerettet, führte er sich ständig wieder vor Augen.

»Herr Knöpfle?«

Die Stimme von außen riss ihn abrupt aus seinen Gedanken. Er ließ die Scheibe herunter fahren und schaute langsam von unten nach oben an der Frau entlang, die neben dem Wagen stand. Sie trug eine gelbe Regenjacke und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass es angefangen hatte, stärker zu regnen.

»Ja, äh … hallo.« Er stieg aus. »Hallo, Sie sind …?«

»Dagmar Meister, Hauptkommissarin aus Konstanz. Ich übernehme hier die Ermittlung.«

»Jean Maurice Knöpfle, angenehm. Aber woher kennen Sie meinen Namen?«

Die Kommissarin lachte. »Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, Sie bei der Einweihung des neuen Amtsgerichts zu erleben.«

Knöpfle hielt sich die Hand vor die Augen. »Oh, verdammt. Vergessen Sie es bitte schnell! War keine Sternstunde anwaltlichen Auftretens.« Genauer gesagt, war er nach den diversen Drinks, die er sich mit Staatsanwalt Müller geteilt hatte, so besoffen, dass ihn sein Kompagnon Erwin Schrott geschnappt und an die frische Luft gesetzt hatte.

»So, jetzt aber zu Ihnen.« Dagmar Meister schaute ihn durchdringend an. »Was haben Sie hier zu suchen?«

»Hätten Sie zuerst Ihren Kollegen gefragt, wüssten Sie es schon. Ich hatte einen Termin mit Frau Obermüller.« Warum, das geht die Tante nichts an, dachte sich der Anwalt.

»Wann wäre das genau gewesen?«, wollte die Kommissarin wissen.

»Um vier, sechzehn Uhr. Allerdings bin ich erst um Viertel nach hier angekommen.«

»Da sind Sie ja knapp vorbei geschrammt. Dusel gehabt!«

Besonders mitfühlend hörte sich das für Jean Maurice nicht an. Aber sie hat recht, stellte er fest. Ich kann jetzt mein Lebensmotto verändern. Besser unpünktlich, als tot. Er sog trotz des Gestanks und des Staubs, der von der Ruine ausging, begierig die Luft ein. Tief atmen, einmal, zweimal, dreimal. Er schaute fragend die Kommissarin an. »Was ist mit Frau Obermüller? Ich will das jetzt wissen! Frau Kommissarin, erzählen Sie mir nichts von laufenden Ermittlungen und diesem Quatsch!«

»Wir haben eine Tote gefunden, sie muss aber noch identifiziert werden.« Sie schaute Knöpfle von oben herab an. Kein Wunder, bei der Länge, mindestens ein Meter achtzig, dachte er. Dann kam es. »Sie könnten uns dabei doch behilflich sein. Sie sind ihr Anwalt.«

Knöpfle schauderte. Ein Frösteln durchzog ihn. Er ballte die Hände. Sollte er jetzt eine Tote identifizieren, die es vielleicht nur noch in Stücken gab? Und er kein Blut sehen konnte. Sogar bei der Blutabnahme beim zweijährlichen Check musste er wegsehen. Er verkrampfte und es pochte schmerzhaft in seinem Magen, der sich zusammenzog.

»Äh, das muss doch ein Verwandter machen, oder?«

»Ja, natürlich, aber wir hätten schneller Gewissheit. Und so schlimm sieht sie auch nicht aus. Kommen Sie!« Mama mia, Männer, dachte Dagmar Meister. »Sensibelchen!«

»Meinen Sie mich?«

»Sehen Sie sonst noch jemand? Los!«

»Moment, ich brauche zuerst meinen Schirm aus dem Kofferraum.«

»Mein Gott, er könnte ein bisschen nass werden. Jetzt kommen Sie endlich!« Die Kommissarin schüttelte den Kopf.

Sie bahnten sich einen Weg zwischen Feuerwehrleuten, Polizisten und herumliegenden Trümmern hindurch. Da lag ein Teil des Sessels, in dem er bei seinem ersten Besuch gesessen war. Er stolperte über den traurigen Rest des riesigen Gemäldes, das ihm damals an der Rückwand aufgefallen war. Nicht sein Geschmack.

Zwei Minuten später standen sie, geführt von einem der Feuerwehrmänner, vor der mit einer Plane zugedeckten Leiche. Vom beschädigten, nach Südosten ausgerichteten Seitenflügel der Villa waren nur noch zwei komplette Mauern und zwei Säulen übrig, welche die Zimmerdecke und das Dach trugen. Die gesamte Fensterfront zum See hin fehlte. Überall Staub und Trümmerteile unterschiedlicher Größenordnung.

Die Kommissarin hatte sich Latexhandschuhe übergezogen und hob eine der Ecken der Plastikplane hoch. Knöpfle versuchte, sich mit geschlossenen Augen auf das vorzubereiten, was er gleich anschauen sollte.

»Die Augen sollten Sie schon öffnen, sonst wird es etwas schwierig.«

Blöde Kuh, dachte Knöpfle, riss die Augen auf und blickte seiner toten Mandantin ins Gesicht. Ein Zombie. Die Haare waren versengt, ein paar kleine Splitter ragten aus der Haut, der Mund war blutig. Und das gesamte Gesicht war von grauem Staub überzogen.

»Sie ist es.« Knöpfle nickte zur Bestätigung zweimal, dann wandte er sich ab. Sein Magen rebellierte, er musste hier raus. Hätte ich auch so ausgesehen, fragte er sich insgeheim. Der Gedanke ließ ihn schaudern. Scheiße, so zu enden. Herbert kam ihm dabei in den Sinn. Beerdigungsunternehmer in Markdorf. Ein alter Kumpel, der öfter mal originelle Geschichten über seine Tätigkeit zum Besten gab. »Hab ich Dir den schon erzählt? Beim letzten Unfalltoten fehlte der …«

»Arschloch! Dir fehlt jegliche Empathie«, hatte er ihn damals zum Schweigen gebracht.

Die Hauptkommissarin hielt ihn am Arm fest. »Ok, Sie sind in Ordnung? Das wars jetzt erst mal für Sie. Wobei, ich möchte noch wissen, weshalb Sie Frau Obermüller vertreten haben.«

»Es gibt eine anwaltliche Schweigepflicht, an die ich mich halte!« Hast wohl gemeint, dass ich jetzt plaudere in meinem Schock? Aber so daneben bin ich doch noch nicht.

Dagmar Meister schüttelte den Kopf. »Ich weiß, ich weiß. Aber jetzt hören Sie mal genau her!« Sie deutete mit dem Zeigefinger genau auf Knöpfles Nase. »Die ganze Sauerei hier sieht nicht nach einer Gasexplosion aus. Der Heizkeller liegt unter der rückseitigen Hälfte der Villa, es riecht und roch nicht nach Gas, es ist nichts beschädigt. Und explosive Stoffe lagerten nach Erkenntnis der Feuerwehr auch nicht im Haus. Also? Was soll da von alleine hochgehen, frage ich Sie?«

»Sie meinen, …?«

»Ja, ich meine! Da hat jemand nachgeholfen, das war eine Bombe! Ferngezündet, denke ich. Da wollte jemand auf Nummer Sicher gehen, bombensicher. Um die Architektin um die Ecke zu bringen. Vielleicht auch Sie. Die Feuerwehr hat mögliche Reste eines Zünders gefunden. Jetzt kommen Sie!«

Knöpfle war platt. Ein Irrer sollte seine Mandantin in die Luft gejagt haben? Und ihn fast mit? Er schaute die Kommissarin fassungslos an. »Frau Kommissarin, sind Sie wirklich sicher?«

»Hauptkommissarin, wenn schon! Ja, wir sind ziemlich sicher. Ich warte natürlich die Ergebnisse der KTU ab, die Jungs müssten morgen fertig sein.«

Knöpfle hatte das Gefühl, dass sie bei dieser Feststellung noch ein paar Zentimeter länger wurde. Eine Bombe war auch für eine Hauptkommissarin aus Konstanz kein alltäglicher Fall.

Sie musterte ihn prüfend. »Könnten Sie sich vorstellen, wer es auf Ihre Mandantin abgesehen haben könnte? Hatte sie besondere Probleme?«

Der Anwalt zuckte mit den Achseln. »Keinen Schimmer. Ich kannte sie nicht näher, habe nur einmal persönlich mit ihr gesprochen. Sie war lediglich Mandantin, wie Sie ja soeben erwähnten. In einer einfachen Sache, um die es heute erst gehen sollte.« Knöpfle war selbst überrascht, dass er nichts davon sagte, dass sich Sabine Obermüller in letzter Zeit bedroht fühlte. Sie konnte oder wollte allerdings nicht präzisieren, von wem genau, hatte jedoch eine starke Vermutung. Familie. Sie meinte, eventuell verfolgt zu werden, zumindest beobachtet. Nun ja, das geht die Polizei im Moment nichts an, die sollen selber ermitteln, sagte er sich.

»Gut, dann können Sie jetzt gehen. Geben Sie mir bitte Ihre genaue Adresse.«

Jean Maurice drückte ihr eine Visitenkarte in die Hand. Sie schaute nur kurz darauf. »Knöpfle und Schrott, Kanzlei. Familien- und Erbrecht, aha«. Sie richtete den Blick wieder auf den Anwalt. »Guter Slogan.« Sie steckte die Karte ein und lachte. »Hoffentlich!«

Knöpfle schaute ihr nach. Er war noch nicht ganz in der Lage, sich ein schlüssiges Bild von der Frau zu machen. Hat sie Haare auf den Zähnen oder tut sie nur so tough? Er drehte sich um und ging mit steifen Schritten zum Auto. Er müsste ein wenig recherchieren, nahm er sich vor, setzte sich in den Wagen und versuchte, sich zu beruhigen, bevor er den unwirtlichen Ort verließ. »Jean Maurice, bleib dabei: Besser unpünktlich, als tot!«, murmelte er und drehte das Radio laut. ›The road to hell‹ rockte da ab.

Er hatte keine Lust mehr, ins Büro zu gehen, dafür war er viel zu aufgewühlt. Aber er musste noch den Hund abholen. Che schlief dort garantiert schnarchend unter Isoldes Schreibtisch.

Isolde Mondschein, die Sekretärin der Kanzlei. Der ruhende Pol, der Liebling der Mandanten und das Mädchen für alles in einer Person. Ohne die Fünfzigjährige, die 1989 über Ungarn aus der DDR abgehauen war, wäre die Kanzlei aufgeschmissen.

Knöpfle & Schrott. Rechtsanwälte.

Die Kanzlei mit dem »geilen Slogan«, wie Knöpfle sagte: »Alles, was Recht ist.« Die einzigartige Verbindung von pedantisch und chaotisch. Erwin Schrott, der stets korrekte, detailverliebte Fachanwalt für Erb- und Familienrecht auf der einen Seite. Ihm gegenüber Jean Maurice Knöpfle, der extrovertierte Scheidungsspezialist mit oft sehr engen Kontakten zu seinen glücklich geschiedenen Mandantinnen. Dazwischen Isolde, die Frau, die Frauen liebte, ohne ein größeres Tamtam darum zu machen. Nach einer kurzen, missglückten Liaison mit einem Kollegen, aus der ein Sohn hervorging, hatte sie »die Seiten gewechselt«, wie sie selber sagte. »Was solls, ich mag einfach keine Männer nah an mir dran, außer Euch beiden, natürlich«, hatte sie ganz am Beginn ihrer Tätigkeit verlauten lassen und sich geoutet, als Schrott sie knutschend mit ihrer Freundin an der Empfangstheke angetroffen hatte. Seitdem verstanden sich die drei hervorragend, sah man von den gänzlich unterschiedlichen Ansichten und Denkweisen der beiden Anwälte ab. Schrott, das konservativ denkende und wählende CDU-Mitglied und sein Partner, der »kapitalistische Kommunist«, wie ihn Schrott öfter mal, vor allem in Gesellschaft, bezeichnete. »Linke Sprüche machen, aber ein Luxuslotterleben führen! Du predigst Wasser und säufst Wein!«

»Ist mir so lieber als umgekehrt«, konterte dann Knöpfle meist. »Ich mache mir einfach den Kapitalismus zu nutze.«

Inzwischen hatte sich der Regen wieder abgeschwächt. Die beiden Scheibenwischer schmierten. Sollte ich ersetzen, nahm er sich vor. Er parkte das rote Cabrio – in ›italian-racing red‹, wie die Farbe genau hieß – im Halteverbot, halb auf dem Gehweg vor der Kanzlei in der Franziskanerstraße. Sofort bildete sich ein Stau, ein Kurierfahrer hupte, ein Linienbus musste warten, der Fahrer fuchtelte mit den Armen. Knöpfle konnte zwar nicht Lippenlesen, das Wort, welches der Mann soeben von sich gab, war allerdings klar zu erkennen. Es fing mit A an. Knöpfle winkte nur lässig ab, zog wegen des Regens den Kopf ein und ging schnell ins Haus.

»Hallo Jean«, begrüßte ihn Isolde. »Du bist so blass?« Che zog lediglich ein Augenlid etwas nach oben, bewegte nur ganz dezent den Schwanz und schlief weiter.

»Hallo Isolde!« Knöpfle atmete heftig ein und stoßweise aus, dabei lehnte er sich gegen Isoldes Schreibtisch. »Du kannst Dir nicht vorstellen, was passiert ist! Frau Obermüller ist tot. Machst Du mir einen Espresso? Am besten dreifach!« Während Isolde an der Espressomaschine hantierte, berichtete er der fassungslos reagierenden Sekretärin vom Bombenanschlag und von seinem Glück. »Eine Viertelstunde, Isolde! Nur fünfzehn Minuten, und ich wäre jetzt im Nirvana. Ihr müsstet eine Todesanzeige für mich aufsetzen.«

»Der Herrgott bewahre mich davor! Da hat sich Deine Unpünktlichkeit wenigstens einmal mal ausgezahlt«, rief Erwin Schrott aus dem Archivraum. »Ich habe mitgehört. Weiß man schon, wer oder warum?«

»Nein, die fangen erst mit den Ermittlungen an, sind aber sicher, dass es ein Anschlag und kein Unfall war. Leute, ich muss jetzt erst mal runterkommen und gehe nach Hause.« Er stürzte gierig den Espresso hinunter, dann bückte er sich und zog Che am Ohr. Der grunzte und reagierte nur zögerlich auf die Aufforderung seines Herrchens, mitzukommen. Stattdessen setzte er seinen bedauernswertesten Hundeblick auf, bis ihm Isolde ein Leckerchen zuwarf.

»Dein Hund ist bestechlich! Und Du, mach einen guten Roten auf und erhole Dich!«, meinte Isolde. »Und dann bis morgen. Deinen Termin um sechs mit dem Maler sage ich ab.«

»Danke Dir und ciao. Che, komm jetzt!« Der Mischling aus Boxer und Schäferhund stand wie in Zeitlupe auf, streckte sich auf die doppelte Länge, trottete hinter Knöpfle her und ließ sich, im Wagen angekommen, genüsslich auf dem lederbezogenen Beifahrersitz nieder. Che war fünf und seit drei Jahren bei Jean Maurice, weil dieser einen Grund benötigte, um mehr Bewegung zu haben. »Ich brauche einen Hund, um meinen inneren Schweinehund zu besiegen«, hatte er argumentiert, als er seinen neuen Begleiter aus dem Tierheim holte, wo der Hund als schwer vermittelbar galt.

»Er ist nicht zu erziehen, macht, was er will, ist faul und gefräßig«, lautete die Beurteilung der Tierpflegerin. »Er hat einfach zu wenig soziale Kompetenz!«

»Passt genau zu mir«, antwortete Knöpfle, nahm Bello mit und taufte ihn auf Che um. Seitdem waren die beiden ein Herz und eine Seele. Che genoss sein neues Leben, freundete sich sofort mit Isolde an, nahm den Platz unter ihrem Schreibtisch ein und verschlief den Tag. Nach Feierabend gings in die Prärie, Che konnte andere Hunde oder Katzen jagen, rumschnüffeln, wo er wollte. Jean hatte seine Bewegung, beide waren happy. Diese Ausflüge waren nur noch zu steigern, wenn Knöpfles Daueraffäre Stella zu Besuch war. Che brachte sie fast um vor Freude, wenn sie ihm den Bauch knuddelte. Lediglich Ches Eifersucht störte das allgemeine Glück. Er legte sich dann breit vor die Schlafzimmertür und knurrte, wenn sein Herrchen und die junge Frau über ihn hinweg stiegen.

Unter wüstem Geschimpfe mehrerer Autofahrer startete Knöpfle die knapp 400 Pferde des Achtzylinders, gab Gas, fuhr los und fädelte sich in die Kolonne der Fahrzeuge ein.

»Che, ich sags Dir, das war ein Scheißtag. Du wärst beinahe zur Vollwaise geworden und wieder im Heim gelandet.« Die einzige Reaktion des Hundes: Er leckte sich am Hintern.

»Undankbares Mistvieh«, meinte Knöpfle pikiert. »Das bin ich Dir also wert?«

Zehn Minuten später parkte er in der Tiefgarage des Mehrfamilienhauses in der Nellenbachstraße am nördlichen Stadtrand Überlingens. Sie drehten noch kurz eine kleine Gassirunde, damit Che pinkeln konnte. Sein Herrchen schloss sich ihm an einem Birnbaum an. Dann schnappte die Wohnungstür hinter den beiden ein. Knöpfle kraulte seinen Hund hinter den Ohren. »Junge, Junge, für heute reichts! Fragen wir mal Stella?« Che wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, Jean Maurice griff zum Handy. »Hallo, Sweetheart! Hast Du heute Abend Lust auf mich? Bitte komm, ich brauche Dich!«

3

Montag, 23. Oktober 2017

Vor sechs Tagen hatte sich Sabine Obermüller bei Isolde Mondschein gemeldet. Sie bräuchte einen anwaltlichen Rat wegen einer Erbsache. Eigentlich ein Job für Erwin Schrott, der hatte jedoch kurzfristig keine Kapazität mehr frei, weshalb Isolde Mondschein »sehr gerne den Anwalt Knöpfle« als Alternative vorschlug. Drei Tage später traf er die neue Mandantin, ihrem Wunsch entsprechend in ihrer Villa. »Damit Sie selber sehen, um was es geht.«

Sabine Obermüller arbeitete erfolgreich als freie Architektin, hatte in den vergangenen Jahren mehrere Wettbewerbe gewonnen und plante gerade ein zukunftsweisendes Projekt in Überlingen. Ein Wohn-, Geschäfts- und Ärztehaus. Die perfekte Umgebung für gut situierte ältere Menschen. Die gesamte Versorgung auf Wunsch unter einem Dach. Es gab zwar noch die üblichen Einwände der Anwohner dagegen, auch einen erbitterten Streit im Gemeinderat wegen der geforderten Sozialwohnungsquote des Gebäudes, »doch bis zu meinem Fünfzigsten habe ich es durch!«, meinte die Architektin optimistisch, als sie sich Knöpfle gegenüber auf dem Sofa niederließ.

»Da können Sie sich ja noch ganz schön Zeit lassen«, meinte er mit einem leichten Lächeln im Gesicht.

»Charmeur! Herr Anwalt, Ihre Kanzlei ist mir empfohlen worden, als kompetent und vor allem diskret. Ich hoffe, diese Einschätzung stimmt?«

»Voll und ganz, gnädige Frau.« Jean Maurice Knöpfle konnte Kavalier alter Schule sein, wenn er wollte oder erkannte, dass es ihm was bringen würde. »Wir sind in jedem Fall ganz individuell für unsere Mandanten da. Was kann ich nun für Sie tun?« Dabei reichte er der Mandantin eine Visitenkarte und eine kleine Broschüre, die ihm eine Werbeagentur aus Bad Saulgau für teures Geld entworfen hatte. »Man müsste einfach vorher fragen«, meinte Erwin Schrott damals vorwurfsvoll, als die Rechnung kam.

»Es geht um einen Erbstreit und ich fühle mich bedroht.«

Knöpfle war zwar überrascht, blieb aber cool. Er taxierte die Architektin und versuchte, sie einzuschätzen. Dunkelblaues Businesskostüm, mittelhohe Pumps, die Haare hochgesteckt. Sie machte nicht den Eindruck einer ängstlichen, unsicheren Frau. Ganz im Gegenteil wirkte sie in ihrem ganzen Auftreten souverän, was auch durch die Wirkung des Salons, in dem sie saßen, unterstrichen wurde. Die Einrichtung überzeugte durch klare Linien und reduzierte Vielfalt. Weiß und Grau dominierten die Sitzgruppe mit dem ausladenden Sofa und den beiden tiefen Sesseln. Unterbrochen wurde diese Farbstimmung nur durch ein großformatiges Gemälde an der Rückwand des Salons, in dessen Rot- und Orangetöne Knöpfle einen Sonnenuntergang hinein interpretierte. Er fand die Atmosphäre etwas unterkühlt, aber das ist Geschmacksache, gestand er sich ein. Auf jeden Fall wirkte alles sehr überzeugend und hochwertig.

»Frau Obermüller, können wir bitte noch kurz die vertragliche Seite beleuchten, damit wir …«

»Das ist kein Problem, lassen Sie mir den Vertrag einfach hier, ich schicke ihn in die Kanzlei. Einen Kaffee, Herr Knöpfle?«

»Wenn es geht, wäre mir ein doppelter Espresso lieber.«

»Kein Problem, ich bin gleich wieder da.«

Der Anwalt hätte einen sofort unterzeichneten Vertrag zwar vorgezogen, »was man hat, das hat man«, war seine Überzeugung, aber er stimmte ausnahmsweise ohne Unterschrift zu, als sie ihm die kleine Tasse reichte.

»Selbstverständlich können wir die vertragliche Seite so regeln, Frau Obermüller. Dann legen wir jetzt los.«

Sie nahm einen kleinen Schluck Wasser, drehte das Glas ein paar Mal in der Hand und stellte es erst weg, als sie mit ihrer Schilderung begann.

»Ich habe zwei Schwestern, richtig muss es heißen, eine Schwester und eine Halbschwester. Meine Mutter hatte kurze Zeit ein Verhältnis, bevor sie sich scheiden ließ und mit ihrem neuen Partner nach Hamburg zog. Ich bin die Älteste von uns dreien, dann kam Susanne und die Jüngste ist Biggy. Richtig heißt sie Brigitte. Als mein Vater vor sechs Jahren starb, hat er neben der Villa hier ein größeres Vermögen hinterlassen. Ich habe die Villa übernommen, wie es im Testament stand. Meine Schwester Susanne war damals im Ausland und ist erst seit acht Monaten wieder zurück. Sie war nicht mal bei der Beerdigung, na ja, das hat jetzt nichts mit dem Erbe zu tun.« Sie wischte den Satz mit der Hand weg. »Susanne sollte vergleichbare Vermögenswerte bekommen. Und Biggy, die Halbschwester, lebt mit Familie in Berlin. Bei ihr sollte der Pflichtteil infrage kommen. So weit, so gut. Vom Notariat wurde damals alles in die Wege geleitet, es gab lediglich ein paar kurze Diskussionen, aber keinerlei ernsthafte Schwierigkeiten. Wir waren uns alle einig. Ich hielt alles für erledigt. Wobei mein Mann, er ist übrigens vor zwei Jahren bei einem Skiunfall ums Leben gekommen …«

»Das tut mir sehr leid«, unterbrach sie Knöpfle und senkte seinen Blick auf halbmast.

Sie winkte ab. »Lawine. Ich bin darüber weg. Er war immer skeptisch, ob der ganze Deal Bestand haben würde. Und jetzt habe ich den Salat. Ok, plötzlich tauchten vor zwei Monaten meine Schwestern auf und drohten mit Klage. Susanne behauptete, sie wäre zu gering abgefunden worden. Im Vergleich zu ihrem Erbteil wäre der tatsächliche Wert der Villa ums Doppelte höher. Die Immobilie war 2011, vor sechs Jahren, auf zweieinhalb Millionen eingeschätzt worden. Susanne hätte jetzt einen Gutachter beauftragt, der den damaligen Wert auf fast fünf Millionen Euro korrigiert hätte.« Sie trank kurz einen Schluck, dann fuhr sie fort, Knöpfle hörte stumm zu. Sie wirkte jetzt etwas hektisch.

»Sie wäre deshalb beschissen worden und forderte von mir nun den Ausgleich, mehr als eine Million.«

»Und wie kommt Ihre Halbschwester ins Spiel?«

»Die zwei haben sich verbündet und Biggy versucht, auf den Zug aufzuspringen. Ihr Pflichtteil wäre dadurch ebenfalls zu gering berechnet worden, deshalb – und so weiter! Die wollen nun fast zwei Millionen von mir. Ich müsste die Villa verkaufen oder versuchen, einen Kredit zu bekommen. Beides habe ich nicht vor!« Sie schlug wenig damenhaft mit der flachen Hand auf den niedrigen Couchtisch. »Was meinen Sie?«

Jean Maurice Knöpfle setzte seinen Denkerblick auf. »Das alles ist heftig, hohe Summen. Wir müssen wohl überlegt an die Sache rangehen. Ich sollte von Ihnen auf jeden Fall das Testament und den neuen Gutachterbericht haben. Die Villa wurde doch damals ebenfalls von einem Gutachter eingeschätzt, diese Unterlagen brauche ich auch. Als erstes müssen wir die neue Expertise zu Fall bringen und die Villa neu bewerten lassen. Sollten das vor sechs Jahren fünf Millionen gewesen sein, so müsste der Wert heute, ihren Schwestern zufolge, ja schon fast bei zehn liegen. Und das halte ich für weit überhöht, das ist unrealistisch. Aber Sie sind die Fachfrau.«

Die Mandantin nickte. »So sehe ich das auch. Ich würde die Villa heute realistisch auf gute vier bis knapp fünf Millionen schätzen, wenn ich die Entwicklung der Immobilienpreise hier im Überlinger Raum zugrunde lege. Der Bodensee ist teuer«, fügte sie hinzu.

»Da haben Sie wohl Recht.«

Die Architektin nickte erneut. »Sie haben die verschiedenen Unterlagen übermorgen, wäre das ok? Können Sie noch einmal her kommen? Ich bin sehr stark unter Zeitdruck wegen des Projektes.«

»Kein Problem, Frau Obermüller. Sind Ihre Schwestern schon mit Anwälten aufgetaucht?«

Sabine Obermüller stöhnte kurz. »Nein. Nur das Gutachten kam von einer Anwaltskanzlei.« Sie zögerte. »Sie haben lediglich versucht, mich zu bedrohen.«

»Wie bitte? In welcher Form?«

»Ich fand in den letzten Tagen zwei Drohbriefe im Briefkasten.« Sie schlang die Arme um die Brust und lehnte sich etwas nach vorne. Knöpfle fand sie recht attraktiv, wischte den Gedanken allerdings weg. »Zeigen Sie mir doch …!«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe die beiden Zettel weggeworfen. Als Drohbriefe kann man sie eigentlich nicht bezeichnen, es stand nur jeweils ein Satz darauf: Sich auf Kosten anderer zu bereichern, wird bestraft! Oder so ähnlich.« Ihre Stimme zitterte ein wenig.

»Wir hätten die Briefe untersuchen lassen können. Und warum sind Sie denn nicht …?«

»Zur Polizei? Vergessen Sie’s! Das würde mich möglicherweise das Projekt kosten. Ich wäre sofort in der Presse. Und die Investoren! Die Branche ist viel zu sensibel bei Negativschlagzeilen. Das ist ein Haifischbecken. Da hört jeder das Gras wachsen. Nein, nein, Polizei kommt nicht infrage. Ich habe die Drohung auch nicht allzu ernst genommen, ich kenne schließlich meine Schwestern. Große Klappe und nichts dahinter.«

»Sie sind sicher, dass die Zettel von Ihren Schwestern sind?«

»Ja! Von wem denn sonst? Ich glaube nicht, dass ich Feinde habe, die mich so dilettantisch bedrohen würden. Aber die beiden waren schon immer gegen mich. Ich war stets die Böse, die Streberin. Papis Liebling. Nur, weil ich von klein auf etwas für meinen Erfolg getan habe. Und Susanne? Die ist mit ihrem Lover kurz vor Vaters Tod nach Thailand in die Sekte eines dieser bekannten Gurus verschwunden. Sie hat nie was auf die Reihe gekriegt. Biggy ist nur Mitläuferin, die macht, was Suse sagt. Die Zettel sind typisch für beide. Nicht mal diese lächerlichen Drohungen kriegen sie hin.« Sie winkte genervt ab, dann lachte sie. »Schreibfehler waren auch noch drin!«

»Sie halten wirklich nicht viel von Ihren Schwestern.«

»Stimmt.«

»Frau Obermüller, sollte noch eine Drohung auftauchen, sagen Sie mir bitte sofort Bescheid. Wir sollten das ernst nehmen. Ansonsten arbeite ich mich jetzt in den Fall ein. Wenn ich dann Ihre Unterlagen bekommen kann. Wie wäre es mit Mittwoch? Sechzehn Uhr ok?«

»Das ist in Ordnung. Vielen Dank. Übrigens, Ihre Vornamen und der Nachname. Wie …? Klingt irgendwie ungewöhnlich.«

»Ich habe einen Migrationshintergrund.« Er lachte. »Mutter Schwäbin aus Stuttgart, Vater französischer Oberst aus Toulouse. Mutter bestand auf Knöpfle, mein Erzeuger auf die Vornamen. Nach seinem Großvater selig. Gleich nach meiner Geburt war er weg. One-Night-Stand, das wars. Ich bin bei meiner Mutter aufgewachsen. Sie lebt heute in Heidelberg in einer betreuten Wohnanlage, sie ist leider etwas dement und erkennt mich nicht immer. Ist schade und tut weh.«

Die Architektin streichelte mit spitzen Fingern sanft über seinen Arm und begleitete ihn bis zum Eingang. »Halber Franzose und dann ein englisches Auto fahren? Wie lässt sich das denn vereinbaren?«, fragte sie lächelnd.

»Ich bin Europäer und deshalb gehts. Trotz Brexit.«

Sie verabschiedeten sich lachend und Knöpfle fuhr in die Kanzlei zurück. An der Einmündung auf die Hauptstraße musste er kurz stoppen, um zwei Kleinwagen vorbei zu lassen, die über die Ausfahrt von der B 31 herunter kamen. Den kleinen weißen Lieferwagen, der auf dem gegenüber einbiegenden Feldweg parkte, bemerkte er nicht.

In der Kanzlei beriet er sich mit seinem Kompagnon an der Empfangstheke, den üblichen Espresso in der Hand, eines seiner Grundnahrungsmittel.

»Klingt nicht uninteressant. Hohe Summen«, meinte Schrott. »Wir sollten uns halt abstimmen, Du weißt ja, ich bin …«

»Der Erbfachmann, ich weiß«, ergänzte Knöpfle. »Bevor ich Blödsinn mache, bearbeitest Du den Fall im Hintergrund. Ich schaue, dass es vorne läuft. Die Frau ist clever, sie hat die Villa damals von ihrem eigenen Gutachter bewerten lassen. Kein Wunder, dass die Schwestern sauer sind. Aber wir werden das Schiff schon schaukeln.«

»Wie meistens«, fügte ein lächelnder Erwin Schrott hinzu. »Übrigens, wie alt ist die Mandantin?«

»Ich verweigere die Aussage!«

»Nicht schon wieder«, rief Isolde aus ihrem Büro.

»Halt Du Dich raus!« Knöpfle grinste. »Zu alt! Und zu emanzipiert für nen Chauvi wie mich.«

4

Jean Maurice Knöpfle

Jean Maurice Knöpfle war am 24. Mai 39 Jahre alt geworden. Zwilling.

»Solltest langsam etwas kürzer treten, bevor die Vier vorne steht«, meinte sein Partner Erwin Schrott damals. »Allerdings, nicht falsch verstehen, nicht im Job! Da brauchen wir Dein volles Engagement in der Kanzlei!«

»Du weißt genau, dass ich das immer bringe!«, entgegnete Jean Maurice.

»Ja, vor allem bei der Betreuung Deiner frisch geschiedenen Hausfrauen«, warf Uschi, seine gleichaltrige Freundin aus Stuttgart ein. Alle lachten.

»Macht nur weiter so!«, empörte sich Knöpfle bühnenreif. »Das ist aufopfernder After-Sales-Service! Im Interesse der Kanzlei, ausschließlich!«

Das Geburtstagskind blickte grinsend in die Runde über die Schar seiner Freunde und Bekannten am ›Tavolo Grande‹ bei seinem Lieblingsitaliener in der Greth am Überlinger Landungsplatz. Dann klopfte er gegen sein Weinglas, der Gesprächswirrwarr verstummte langsam, es wurde still.

»Liebe Freunde, ich weiß zwar, dass es verdammt teuer wird, freue mich aber trotzdem, dass Ihr alle dabei seid«, begann er.

»Leute, der Typ verdient sich als Rechtsanwalt doch dumm und dämlich, also, schlagt alle zu!«, meinte Eric Gärtner, ein alter Kumpel aus der Stuttgarter Zeit. Er bekam lautstarke Zustimmung für seinen Zwischenruf.

»Freunde, das ist langsam ein Alter, in dem man sich Gedanken macht. Über das, was war und über das, was kommt. Und über sich selber.« Er nahm einen Schluck. »Ich bin nicht immer ganz einfach zu ertragen. Manche, ich hoffe, keiner von Euch«, er drohte mit dem Zeigefinger, »halten mich für ein arrogantes Arschloch. Nicht immer zu Unrecht. Frisurenmäßig tendiere ich stark zu meinem Hund. Wir könnten den gleichen Friseur haben. Man sagt mir eine freche Klappe nach, was überhaupt nicht stimmt, wie ich finde.«

Gelächter.

»Ich hocke zu viel und zu oft in der Kneipe rum.« Er deutete auf drei nebeneinander sitzende, ähnlich alte Männer. »Jungs, ich brauche Euch einfach für die wirklich qualifizierten Gespräche über die Probleme unserer Welt.«

Gelächter und ein Zwischenruf. »Intelligenz sitzt an der Theke!«

»Stimmt. Ich liebe eine eigenartige Sportart, die keiner versteht. Aber Rugby ist einfach eine geile Sache, deren Credo mir sehr entgegenkommt. Es gibt eine Kernaussage zu Rugby, die ich voll unterschreibe, obwohl ich nicht weiß, ob Ihr sie kapiert: Fußball ist ein Spiel für Gentlemen, gespielt von Rowdys. Rugby dagegen ist ein Spiel für Rowdys, gespielt von Gentlemen. Das ist der feine Unterschied. Und so versuche ich auch, meinen Job zu machen. Aber, ich bin abgeschweift.«

Allgemeines Gelächter.

Er nahm erneut einen Schluck. »Ich soll kürzertreten, meint Erwin. Ich sage Euch, ich, Jean Maurice Knöpfle höchstselbst, einen Scheiß werde ich tun! Frühestens mit achtzig, wenn überhaupt, und bis dahin …«, er deutete auf die Theke, »Freibier!«

Alle grölten durcheinander, Uschi rief »Wir lieben Dich, Alter«, nur Stella schaute dabei etwas pikiert.

Uschi und Stella. Die beiden Frauen in seinem Leben. Seine Freundinnen, Lebensgefährtinnen, Affären oder Geliebten. Was waren sie eigentlich genau? Er schob die Beantwortung dieser Frage schon viel zu lange vor sich her.

Als er seiner Kollegin Isolde mal sein Doppelverhältnis erklären sollte, hatte er sich für die Einstufung der beiden geschämt. Aber es war so: Uschi Engel in Stuttgart war die Gefährtin für die wahre Liebe, Stella die Gespielin für den Körper. Sie wohnte in Pfullendorf, nur eine gute Viertelstunde entfernt, was vor allem spontane Treffs zur Stillung ihrer beiden amourösen Verlangen einfacher machte.

»Zu mir oder zu Dir?« Stella und er funktionierten perfekt. Was Knöpfle trotzdem die Freiheit sicherte, die er einfach brauchte. Die Abende mit den Kumpels an der Theke ließ er durch nichts beeinträchtigen.

Uschi und Jean Maurice waren beide in Stuttgart aufgewachsen und kannten sich seit der Schule. Schon damals war er verliebt in sie und trug ihr die Schultasche nach Hause. »Ich heirate Dich mal«, hatte er als Zehnjähriger hoch und heilig versprochen, jedoch nie gehalten. Was allerdings auch ihr entgegenkam. »Dauernd wollte ich Dich nicht um mich herum haben«, hatte sie ihm vor einigen Jahren klar gemacht. Weshalb beide damit zufrieden waren, regelmäßig zu skypen und sich ein, zwei Mal im Monat für ein langes Wochenende zu sehen. Meist in Uschis Wohnung im Stuttgarter Westen oder in einem kleinen Hotel im Nordschwarzwald.

Beide waren während der Studentenzeit aktiv in der linken autonomen Szene unterwegs. Sie waren, kurz gesagt, gegen alles. Gegen Atomkraft, gegen Kapitalismus, gegen die Bosse, gegen Kohl, gegen die Amis, gegen die Alten. »Die sind an allem schuld«, war die geltende Meinung. Uschi kettete sich an Eisenbahnschienen gegen die Castortransporte an, was Knöpfle aufgrund seiner Klaustrophobie nicht mitmachte. Die Klamotten wären dabei auch schmutzig geworden, was ihm schon im jungen Alter gegen den Strich ging. »Der schöne Jean«, hieß es in Freundeskreisen. »Einfach was Besseres.« Sie ließen sich vor amerikanischen Militärstützpunkten wegtragen, waren bei fast jeder Studentendemo dabei, nahmen Hörsäle auseinander und landeten öfter mal eine Nacht im Knast.

»Ich habe sogar mal einen Molotowcocktail geworfen«, erzählte er gerne bei entsprechenden Gelegenheiten. Eigentlich bei jeder sich bietenden Gelegenheit. »Fiel aber in eine Pfütze.« Er hielt sich immer noch für den linken Rebellen, wie damals während des Jurastudiums. Widerspruch bügelte er mit dem Hinweis ab, »ich habe inzwischen lediglich eine realistischere, oder besser, erwachsenere Sicht auf die Dinge.«

Uschi war eine selbstbewusste Frau, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stand. Sie war Partnerin in einer kleinen PR-Agentur in Stuttgart und betreute einige namhafte Kunden, überwiegend aus dem Handel. Die gemeinsame linke Vergangenheit verband sie und Jean Maurice bis heute. Beide wussten, dass der andere immer für sie da sein würde. Eine ganz besondere, tiefe Liebe, die sogar Knöpfles diverse Eskapaden und seine Daueraffäre Stella ertrug. »Wenn Du meinst, dass Du für Dein Sexleben auch noch Stella brauchst, dann mach das«, war Uschis Meinung. »Aber erzähle mir wenigstens nicht dauernd von ihr!« Die Liebe der beiden fühlte sich nach außen an wie ein ›Gentlemans Agreement‹. Es war jedoch viel mehr, viel tiefer.

Etwas mehr Probleme mit Jeans großer Liebe hatte Stella Lombardi. Vielleicht war dies auf ihr jugendliches Alter – vierundzwanzig – und die fehlende Lebenserfahrung zurückzuführen. Stella war von allen Seiten mehr als hübsch anzusehen, was ihr Lover stolz ausnützte. Er zeigte sich gern mit ihr und nahm huldvoll die Komplimente entgegen. »Da hast Du einen scharfen Feger dabei«, hieß es mehr als einmal. »Wie machst Du das?«

Stella hatte eine italienische Mutter und einen deutschen Vater. Knöpfle hatte die beiden vor einem Jahr kennengelernt. Sympathische Leute. Beide sehr attraktiv, vor allem die Mutter. Kein Wunder, dass das Töchterchen so gut geraten war.

Stella arbeitete bei einem Orthopäden und versetzte ihn mit ihren Massagen in wahre Wonnezustände. Jean wusste ganz genau, dass er ihr gegenüber nicht ehrlich war. Seine wahre Liebe würde immer Uschi gehören. Aber Stella war in der Nähe, sah toll aus, trug gerne recht sexy Outfits, war ein bisschen naiv – was allerdings nur Knöpfle glaubte – und machte ihn heiß, wenn sie ihn nur anschaute. Stella war pure Erotik. In letzter Zeit moserte sie allerdings immer mal wieder wegen Uschi rum. »Die ist doch zu alt für Dich«, versuchte sie, Jean einzureden.

»Meine Süße, ich liebe Dich! Vergiss Uschi ganz einfach, nur wir zählen hier. Komm her, meine Süße. Jetzt gehen wir schön essen und danach …«, er nahm sie in den Arm, »… danach will ich Dich ganz für mich haben. Ok?«

Meist war dann alles wieder gut. Stella arrangierte sich.

Wenn nicht Che mal wieder einen Strich durch die Rechnung machte.

»Dieser Hund treibt mich in den Wahnsinn«, jammerte Knöpfle dann. Und Che drehte sich auf den Rücken, was Stella veranlasste, ihn zu kraulen anstatt Jean Maurice.

»Ich werfe Dich raus, undankbarer, sexbesessener Köter! Verschwinde hier und such Dir ein paar läufige Hündinnen!«

Che brummte bei solchen Beschimpfungen nur, wedelte mit dem Schwanz und drückte sich an Stella, bevor ihn Knöpfle unsanft auf den Flur beförderte. »Manchmal habe ich das Gefühl, er lacht Dich aus«, meinte Stella, bevor sie sich doch wieder Ches Herrchen zuwandte.

In manchen Augenblicken mit Stella fühlte er sich wie ein Verräter, er machte ihr und sich etwas vor, denn eigentlich wünschte er sich klare Verhältnisse. Er träumte dann von einer Ehe mit Uschi, vielleicht sogar von einer Familie. Sein eines Ich sagte, fälle doch endlich mal eine Entscheidung, sein zweites Ich dagegen sprach sich für den Statuts Quo aus. »Warum willst Du das ändern?« Und bisher obsiegte sein zweites Ich.

Gut essen und top gekleidet zu sein, wenn nötig auch teuer, waren neben dem Jaguar seine weiteren Leidenschaften. Trotz der chronischen Rotfärbung seines Bankkontos liebte er einen Hauch von Luxus und pflegte konsequent einen engen Kontakt zur regionalen Gastronomie und zu angesagten Modegeschäften rund um den Bodensee, vor allem natürlich in und um Überlingen. Von der, für ihn alternativlosen Kneipe in der Hafenstraße, in der er mit Che mindestens zwei Mal in der Woche hockte, über die diversen Italiener – »buona sera, Maurizio« – und manche gut bürgerlichen Wirtschaften in den Teilorten bis zu gehobenen Restaurants mit exzellenter Küche reichte seine Bandbreite. Er war überall ein gern gesehener und beliebter Gast, nicht nur, weil er meist wirtschaftlich interessante Rechnungen zu begleichen hatte.

Sein Bekleidungsstil orientierte sich an exklusiver Mode, edlen Accessoires und hochwertigen Schuhen: Der elegante, stets schmal geschnittene Anzug zum klassischen Hemd, kombiniert mit schlichten Sneakers oder aufwändigen Budapestern. Knöpfles Business-Look punktete mit zeitloser Eleganz und Seriosität und bewies dabei dennoch modisches Gespür.

In der Freizeit dominierte ein lässiger, aber stets hochwertiger Casual-Look. Kleidung musste zum Anlass passen, das war wie ein Dogma für ihn. Knöpfle lief nie im T-Shirt und mit kurzen Hosen rum. »Männer haben keine schönen Beine.« Er hasste Hoodies und Jogginghosen. »Wer das auf der Straße trägt, hat doch schon die Kontrolle über sein Leben verloren«, war seine glasklare Meinung, die er mit einem weltweit bekannten Modeschöpfer mit hohem Kragen teilte. Erwin Schrott, sein Kompagnon, hielt ihn für einen »eitlen Fatzke«, einen Snob, und machte ihn gerne mal wegen seiner Begeisterung über die neue Rolex an. »Angeber!«

»Du hast keine Ahnung, Erwin. Das ist die erlesenste Verbindung von Schönheit und Werterhalt. Die wird immer mehr wert. Im Übrigen ist sie mein einziger Schmuck!«

»Na gut, werde glücklich damit!«

»Ich unterstütze die Wirtschaft«, war Knöpfles Credo, wenn er einkaufte oder an der Theke stand, während Che seine Wasserschale bis auf den letzten Tropfen ausschleckte. Kein Wunder, im Wasser war öfter ein Schluck Bier dabei.

Jean Maurice blieb trotz aller guten Ansätze ein Chaot und Revoluzzer. Ein Mann der Widersprüche. Hätte er für seine Eigentumswohnung nicht Nang, seine thailändische Putzfrau, die auch noch seine Hemden bügelte, »wäre es besser, ich lebte auf der Straße.«

»Bist Du jetzt doch unter die Kapitalisten gegangen, Du Salonkommunist! Edle Immobilie und dazu noch der Luxusschlitten!« Mit diesen Feststellungen hatte ihn Erwin Schrott konfrontiert, als er mit der Nachricht ankam, er habe soeben eine Eigentumswohnung gekauft.

»Man muss diesen gefräßigen Miethaien etwas entgegensetzen, das habe ich jetzt gemacht. Auch die Bundesregierung sagt, Immobilien seien die beste Altersvorsorge. Also! Und meine englische Katze ist kein Luxus, sondern automobile Traditionspflege«, rechtfertigte er sich damals vor zwei Jahren. »Das ist kein Auto, das ist ein Wagen! Aber dafür hast Du mit Deinem Audi kein Verständnis.«

Ein weiteres Hobby prägte Knöpfle auf ungewöhnliche Weise. Das Singen. Er war begeisterter Karaokesänger und – niemand konnte sich erklären, wieso – Mitglied im Männerchor Überlingen. »Wie geht das? Du hast doch als linker Vaterlandsverräter nichts mit der deutschen Vereinsmeierei und dem Volksliedgut am Hut? Was verschlägt Dich in den Gesangsverein? Im Frühtau zu Berge, oder was? Im Auto hörst Du Heavy Metal? Das passt hinten und vorne nicht«, hatten Isolde und Erwin fassungslos reagiert als sie zum ersten Mal von seiner Leidenschaft hörten.

»Jetzt hört mal her! Ich bin evangelisch, seit Geburt! Dafür kann ich nichts. In Stuttgart ist das eben so, da sind die meisten evangelisch, glaube ich. Und in der ganzen Kindheit habe ich im Kirchenchor gesungen. Sopran. Ich wollte anfangs nicht, da wurde ich gezwungen, aber später hat es mir gefallen. Und durch die Chorsängerei hatte ich immer eine Eins in Musik. Ich liebe es einfach, zu singen und habe eine gute Stimme, sagt unser Chorleiter. Und …« er hob den Zeigefinger, »… ich bin regelmäßig dabei, selbst wenn wir mal in einer Kirche auftreten. Hilft vielleicht irgendwann mal, wer weiß? Nein, im Ernst. Das gemeinsame Singen hilft mir, runter zu kommen. Es verschafft mir innere Ruhe, gibt mir auch ein bisschen Halt, ich kann mich von allem lösen. Ich bin Teil einer Gruppe, und Gedanken sind frei.«

»Du könntest dafür auch Yoga oder so was Ähnliches machen. Oder laufen, aber ausgerechnet Männerchor? Wahrscheinlich eher wegen der Kneipenbesuche nach der Probe«, entgegnete Isolde.

»Diese esoterischen chinesischen Turnübungen sind nichts für mich, und Sport sowieso nicht. Mit dem Hund raus, das reicht. Singen! Ich komme auch an keiner Karaokekneipe vorbei, wie Du ja schon mitgekriegt hast, einfach geil, meinen vollen Tenor zu hören!«

»Tja, Jean Maurice, der Heldentenor!« Isolde lachte. Sie konnte im wahrsten Sinne ein Lied davon singen. Die letzte Weihnachtsfeier der Kanzlei endete in einer Karaokebar in Singen mit dem Kollegen Knöpfle auf der Bühne. Er rockte den Laden bis morgens um vier.

»Jean, Du bist einfach nicht normal!«, flachste Schrott, als das Taxi die drei am frühen Morgen wieder in Überlingen abgeliefert hatte.

»Ich weiß, Erwin! Und das ist gut so!«

5

Mittwoch, 25. Oktober 2017

Asya Güler, Kommissaranwärterin und Assistentin von Dagmar Meister, sah nur kurz auf, als ihre Chefin heftig atmend das Büro betrat. »Und?«

»Bombe!« Meister ließ sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen, legte die Beine auf die Tischplatte, stöhnte und streckte ihre einszweiundachtzig Körpergröße. Sie schaute über den Schreibtisch weg auf die ihr gegenüber sitzende junge Frau. »Asya, ich sags Dir, so ein Schlachtfeld habe ich noch nie gesehen. Wie im Krieg. Also, so stelle ich mir den Krieg vor.« Sie tippte sich mit der Hand auf die Stirn. »Du glaubst es nicht, eine Riesenvilla, und der vordere Teil ist weitgehend zerstört.« Sie stand auf. »Ich brauche jetzt zuerst einen Kaffee.«

»Da hinten steht die Kanne, vorher neu gemacht.« Asya zeigte auf eine Ablage neben der Glastür zum Flur. »Und Du meinst, kein Unfall, sondern eine Bombe?«

Dagmar Meister schielte ihre Kollegin ungläubig erwartungsvoll an, aber der Satz »Ich hole Dir einen« kam nicht. Sie machte sich deshalb selber auf und kam kurz darauf mit einem hässlich grünen, mit ›Daggi‹ bedruckten Kaffeebecher in der Hand wieder zum Schreibtisch zurück. »Eine Bombe, das ist zweifelsfrei. Ferngezündet, wahrscheinlich aus der näheren Umgebung. Eventuell aus dem Wald gegenüber der Bundesstraße. Bisher allerdings keine Spuren. Die Kollegen suchen aber noch. Die Feuerwehr hat Reste eines Zünders gefunden. Die KTU ist bereits dran. Ich habe mit Helmut schon telefoniert, der hofft, bis morgen ein Ergebnis zu haben.«

Die Assistentin schüttelte den Kopf. »Aber dafür braucht man doch jede Menge Sprengstoff.«

»Sicher, wobei man vor allem genau wissen muss, wo man eine oder mehrere Ladungen anbringen muss. Ich glaube, da kennt sich jemand aus. Wobei, Bomben zu bauen kannst Du heute ja auch im Internet lernen.«

»Ihr habt nur die tote Frau gefunden?«

Dagmar Meister nickte. »Ja, sonst ist niemand betroffen, auch nicht in der Nachbarschaft, zum Glück.«

»Zeugen?«

Meister schüttelte den Kopf. »Bis jetzt nichts Brauchbares, aber die Jungs sind dran. Die Tote ist auch schon inoffiziell identifiziert, es ist die Besitzerin, eine Architektin. Wir haben vor Ort einen Anwalt aus Überlingen angetroffen, der einen Termin mit ihr gehabt hätte. Der Sack wollte aber nicht sagen, warum. Den werde ich mir noch mal vorknöpfen.« Sie musste lachen. »Vorknöpfen ist gut, der heißt Knöpfle!«

Asya grinste. »Was machen wir jetzt?«