Im Bann der Rache - Hans Bischoff - E-Book

Im Bann der Rache E-Book

Hans Bischoff

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Beschreibung

Stuttgart, Heilig Abend 2014. Edgar van Damme hat seine Drohung von vor dreizehn Jahren wahr gemacht und seinen Schwiegervater in den Ruin getrieben. Für Peter Förster, selbstständiger IT-Entwickler, gerät die Welt völlig aus den Fugen. Er landet auf der Straße. Als Getriebener bricht er zu einer Rache auf, die alle Beteiligten in ihren Bann zieht: Förster, zwei starke Frauen und ein paar schräge Vögel. Nur mit deren Hilfe kann er sich im Kampf mit einem ungleichen Gegner aus dem Sumpf ziehen und diesen zu Fall bringen. Er bringt dabei sich und andere in tödliche Gefahr. Peter Förster steht auf dem Weg vom obdachlosen Underdog zurück in sein Leben und in die Freiheit in einem beinharten Duell kurz vor seinem letzten Fehler: Er hat Edgar van Damme unterschätzt. »Im Bann der Rache« ist der erste Band der Peter-Förster-Reihe. 3. überarbeitete Ausgabe 2021

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Seitenzahl: 456

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Hans Bischoff

IM BANN DER RACHE

Ein Mann übt Vergeltung

Kriminalroman

»Es gibt kein angenehmeres Geschäft,

als dem Leichenbegräbnis eines Feindes zu folgen.«

Heinrich Heine

Prolog Heilig Abend 2014, Stuttgart

Ich schreckte aus dem Grübeln auf. Sollte ich gleich kotzen oder wenigstens das Menü abwarten? Die überaus großzügige Zusage, trotz meiner derzeit eher prekären Lebensumstände an der riesigen Tafel mit all den herausgeputzten vornehmen Gästen Platz nehmen zu dürfen, hatte mich weitgehend aus der Bahn geworfen. Ich saß mitten im illustren Kreis meiner lieben und ach so liebenswerten Familie. Mitten im weihnachtlich geschmückten, besser gesagt durchgestylten Speiseraum. Eine wahre Orgie aus voluminösen Kerzen, alle in reinstem Weiß, umschmeichelten die gastliche Tafel mit ihrem sanften, warmen Licht. Mehr Happy Christmas ging nun wirklich nicht.

Ich mag Weihnachten eigentlich gerne, fühlte mich jedoch in diesem Moment in eine Atmosphäre extremen Weihnachtskitsches getaucht, der die luxuriöse Villa am Stuttgarter Killesberg in eine Szenerie dieser amerikanischen Heile-Welt-Filme verwandelte. Ich hatte Bilder von illuminierten Rentieren und aufgeblasenen Weihnachtsmännern im Kopf, die entweder in ihrem Licht strahlten oder durchs Kamin anrauschten. Hollywood lässt grüßen.

Allein die Kosten der Tischdekoration hätten mir im Moment ziemlich sicher für ein halbes Jahr zum Leben gereicht. Neun weiße Gedecke, wahrscheinlich Meißner Porzellan, aber da war ich mir nicht sicher, warteten zwischen weihnachtlichen Gestecken – farblich abgestimmt – auf ihre Nutzer. Meine Tochter Brigitte war sehr penibel, wenn es um ihre Außendarstellung ging. Was die vielen millimetergenau ausgelegten Silberbestecke alle sollten, hatte sich mir zehn Minuten vor Eröffnung der weihnachtlichen Tafelrunde noch ganz und gar nicht erschlossen. Ich war derartige Ansprüche seit einiger Zeit nicht mehr gewohnt und hatte sie vergessen. Aber Brigitte, die Dame des Hauses, kannte sich mit solchen Gepflogenheiten selbstverständlich bestens aus. Das hatte sie nicht von mir. Ich tat mich schon seit Kindheit schwer, mit mehr als jeweils einem Messer und einer Gabel zu essen. Aber das hier war Dinieren auf höchstem Niveau, es sah verdächtig nach fünf Sternen aus. Mindestens. Ich würde mich blamieren, das war so sicher wie das Amen in der Kirche.

Warum war ich nur hier her gekommen, obwohl mein ganzes Inneres sich vehement dagegen gewehrt hatte. Schuld daran war Kalle, der mich knallhart losgeschickt hatte.

»Schau Dir dieses Pack nur noch ein Mal ganz genau an, Du wirst sie danach nicht mehr so friedlich treffen. Hau rein, und sieh zu, dass Du Dich mit der Köchin gut stellst, ohne unseren Anteil am Festessen kommst Du nicht zurück«, machte er mir unmissverständlich klar.

Wenn Kalle etwas dermaßen bestimmend von sich gab, war Widerspruch zwecklos und gefährlich. Dann hielt man sich besser dran und tat es auch. Aus diesem Grund stand ich jetzt hier rum wie bestellt und nicht abgeholt, fühlte mich beschissen und vollkommen fehl am Platz. Mit Kalles Warnung im Kopf entschied ich mich dafür, erst nach dem Dessert zu kotzen.

Aus der offenen, an die weitläufige Diele angrenzenden Wohnhalle, Wohnzimmer konnte man dazu nicht mehr sagen, strahlte das Weihnachtsbaum-Monument silberglänzend wie ein außerirdisches Raumfahrzeug. Ohne zu zählen, tippte ich auf gefühlte tausend glitzernde Kugeln, Engelchen, weiße Federchen und ähnlich viele elektrische Kerzen. Heutzutage wahrscheinlich LEDs, man ist schließlich umweltbewusst. Als ich noch eine Familie hatte, zündeten wir meist echte Kerzen am Baum an, die Brigitte, als sie klein war, ausblasen durfte. Nun ja, das war einmal. Lange her. Vor ein paar Monaten hätte mir die Erinnerung daran Tränen in die Augen getrieben. Heute nicht mehr. Das war eine andere Zeit.

Zum Glück reichte die Halle über zwei Stockwerke, sonst hätte man mit der Kettensäge an die gewaltige Nordmanntanne ran müssen. Ich stellte mir das Massaker bildlich vor und musste bei diesem Gedanken genüsslich grinsen. Du bist ganz schön destruktiv Alter, kam mir in den Sinn.

»Was macht Dir gerade so viel Freude, Peter? Oder darf ich Opa sagen?« Mit ihrem strahlenden Lächeln war Jasmin, meine Enkelin, ein fantastischer Lichtblick, als sie in ihrem eleganten schwarzen Kleid und auf ihren unfassbar hohen High Heels auf mich zu stöckelte.

»Ich habe mir nur so nebenbei vorgestellt, was ich hier mit einer Kettensäge anrichten könnte. Jasmin, Du siehst großartig aus, eine Augenweide!«

Küsschen links, Küsschen rechts.

»Lass Dich drücken, alter Mann, ich sehe Dich viel zu selten.«

»Nun ja, das liegt ja wohl weniger an mir, ich hätte schon die Zeit. Aber Du bist ja dauernd beschäftigt. Wie läuft das Geschäft?«, entgegnete ich. Zwar war ich nach wie vor nicht unbedingt mit ihrer Branche einverstanden. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es Spaß machen könnte, als Domina ältere Vorstandsvorsitzende oder hohe Beamte auszupeitschen, in Babyklamotten zu stecken, in Käfigen zu halten oder anderweitig zu quälen. Aber ich hoffte, dass sie wenigstens gute Geschäfte dabei machte.

»Es könnte gar nicht besser laufen, im Gegensatz zu Dir. Willst Du denn ...«

In diesem Augenblick wurde sie von meinem unbemerkt aufgetauchten Schwiegersohn Edgar abrupt aus unserem Gespräch gerissen. »Mein schönes Töchterlein, chic wie immer, und gleich beim lieben Opa? Komm mal mit, ich muss kurz mit Dir reden.« Sagte es, zog sie recht unsanft von mir weg Richtung Arbeitszimmer und ließ mich stehen. Typisch Edgar van Damme.

Mein Name ist Peter Förster, bin Witwer und Alkoholiker, depressiv und meist schlecht angezogen. Im kommenden April könnte ich 66 Jahre alt werden, falls es mich der Alkohol, die miserable Ernährung und die Winterkälte erleben lassen. Vor einem halben Jahr war ich noch Unternehmer, nun ja, Kleinunternehmer, Einzelkämpfer. Aber erfolgreich. Ich entwickelte individuelle Softwarelösungen sowie Apps für Spieleanbieter. Seit knapp drei Monaten war ich pleite, seit November nun schon Penner, lebte auf der Straße und soff. Wie es dazu kam? Das fragen Sie besser meinen Schwiegersohn, Edgar van Damme, von Beruf Finanzhai. Wobei, letztlich war ich selbst schuld an meiner beschissenen Situation, wenn ich sie ausnahmsweise ehrlich und selbstkritisch betrachtete.

»Lass nie andere unbesehen Dein Geld verwalten!«, hatte mir schon mein Vater nahe gelegt, als er im Herbst 2000 ganz unerwartet im Sterben lag. Vielleicht hätte ich damals bei meinem letzten Besuch in der Klinik auf ihn hören sollen. So war ich jetzt nur noch der Peter, hatte zwei gute Kumpels, einen alten rissigen Rucksack, einen Schlafsack und mit viel Dusel zwischendurch einen Schlafplatz im Männerwohnheim bei Ossi in Stuttgarts Altstadt. Daneben verfügte ich über mehr als 200.000 Euro Schulden, die ich sicher nie abzahlen konnte. Die kleine Rente, die ich mir nun schon seit zwei Monaten in Ermangelung eines Girokontos bar beim Sozialamt abholte, wird dafür aller Voraussicht nach nicht ganz reichen.

Dieses neue Leben war auch der Grund, dass sich meine Familie, außer Jasmin, weitestgehend sehr schnell und konsequent von mir abgewandt hatte. Meine Tochter Brigitte lebte in ihrer eigenen Luxuswelt, spielte liebe- und verständnisvolle Ehefrau von Edgar und kümmerte sich wenig um andere Themen als ihre Charity-Veranstaltungen, Modeschauen und Yogatreffs. Schon gar nicht um mich, dafür hatte Edgar vor Kurzem erfolgreich gesorgt. Und dann waren da noch Edgars Eltern aus Hamburg zu Besuch, ein typisch hanseatisch geprägtes Fabrikantenehepaar, das mich sowieso als unter ihrer Würde betrachtete. Dies allerdings schon immer. Mein Enkel Tommy hatte mit mir ebenso wenig am Hut. Außer seinem Faible für Produkte mit dem angebissenen Apfel verband ihn wenig mit mir. Seine Welt bestand aus Kiffen, Computerspielen und Abhängen. Ein weiteres eingeladenes Paar kannte ich nicht. Es waren Kunden oder Geschäftspartner von Edgar. So um die Vierzig, makellos gestylt, so vornehm, dass es schon fast wehtat. Sie war dermaßen dünn, dass ich Angst hatte, sie könnte auseinanderbrechen. Er zeigte ein gelangweiltes, arrogantes Pokerface und verzog die Mundwinkel höchstens mal zu einem gepressten, abschätzigen Lächeln.

Die »herzliche« Einladung zum heutigen Weihnachtsmenü war eine Forderung meiner Lieblingsenkelin Jasmin. Sie wollte provozieren und mich dabei haben und zwang Edgar dazu. Ich könnte mich allerdings selbst ohrfeigen, dass ich tatsächlich gekommen war und mich zwischen diese Meute reinsetzte, aber erstens war Kalle sehr überzeugend und zweitens hatte ich an Weihnachten schon lieber eine Gans auf dem Silberteller, als eine kalte Pizza unter unserer Brücke. Es war nicht mehr zu leugnen, ich war am Ende, war ganz unten angekommen. Am Arsch. Peter, der Penner, dem man Wohlverhalten nahe gelegt hatte, um das schöne, traute Fest nicht zu stören.

»Halt bloß die Schnauze!«, stand handschriftlich in Edgars Klaue rot, quer über den Text bereits auf der Einladung, die mir Brigitte, meine Tochter, beim Eintreffen dezent und etwas peinlich berührt in die Hand gedrückt hatte. Peter, der Penner, das schwarze Schaf der Familie, der einfach nicht dazu passte. Nicht mehr in diese Welt der Schönen und Reichen, und der ganz schön Reichen. Weihnachten war in diesen Kreisen schließlich ein gesellschaftliches Statement. Das man mit möglichst vielen und wichtigen »Likes« in den sozialen Medien ausschlachtete, um den Neid der anderen Damen aus dem Klub zu genießen.

Da störte einer wie ich.

Freitag, 19. September 2014, Stuttgart

Ich hatte nicht gehört, wie der andere hereingekommen war. Es interessierte mich auch nicht. Es war klar, wer und was kommen würde. Und warum. Deshalb drehte ich mich erst von meinem riesigen 27-Zoll Bildschirm weg, als der Lichtschalter ein leichtes Klicken von sich gab und mich die plötzliche gleißende Helle der Deckenstrahler blendete.

»Hallo mein Lieber, immer noch am Tüfteln?«

Ich drehte mich langsam ein Stück weit um. Edgar lehnte grinsend am silbrig glänzenden Metallrahmen der Bürotür, der mir Lichtblitze in die Augen spiegelte. Ich musste blinzeln.

»Was interessiert denn Dich das noch, Edgar van Damme, Du verlogenes Finanzgenie?«

Van Damme verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Du hast Dich eben verzockt, Du Computerfreak. Hättest eben doch besser bei Deinen Apps bleiben sollen. Aber man ist halt so gierig.« Edgar drückte sich aufreizend langsam um den Schreibtisch herum. »Und jetzt sind die teuren Spielzeuge weg, dumm gelaufen.«

Ich war innerlich am Platzen, versuchte aber, ruhig zu bleiben. »Du weißt ganz genau, wem ich das zu verdanken habe, Du Arschloch. Du hast mir die Anlagen mundgerecht serviert, alles easy, kann überhaupt nichts schiefgehen. Und ich Blödmann habe Dir vertraut. So vertraut, dass Du auch noch meine Firma ausbluten konntest«, sagte ich eher zu mir als zu ihm. »Nur damit Du Deinen Hass ausleben kannst.«

Edgar setzte seinen gewohnt überlegenen Gesichtsausdruck auf. Die Augen nach oben verdreht zeigte dies, und so gut kannte ich ihn, dass er seinen Gesprächspartner für einen Idioten hielt. »Du redest Scheiße, wenn Du Dein Maul aufmachst. Aber jetzt ist hier Schluss, morgen bist du draußen. Und übrigens, Deine Beschuldigungen wirst Du nie beweisen können, ich war nämlich schon immer schlauer als Du. Ich wusste das damals schon, vor dreizehn Jahren, weißt Du noch? Als Du meintest, mich gegen Brigitte ausspielen zu können und mich sitzen ließest, als ich Dich gebraucht hätte. Ich hab's Dir damals gesagt und jetzt habe ich‘s Dir gezeigt.«

Edgar beugte sich über meinen Bildschirm und deutete mit dem Zeigefinger auf die verschiedenen Ordner auf dem Desktop.

»Finger weg!«

»Und denke nicht einmal dran, von hier irgendwelche Daten abzugreifen und einzupacken, die ganze Chose hier gehört mir. Ich habe alles aus der Konkursmasse aufgekauft, das Zeugs hier ist alles meins, merk Dir das! Jetzt haue ich wieder ab.«

Mit diesen salbungsvollen Worten drehte er sich auf dem Absatz herum, stolzierte aus dem Büro raus und reckte den Mittelfinger der rechten Hand nach oben. Ich saß da wie versteinert. Ich wusste ja, dass es genau so kommen würde. Seit Tagen schon war klar, er würde hier alles übernehmen, Inventar, Technik, Daten. Auch das Büro, das ich ebenfalls von ihm gemietet hatte. Drei kleinere Räume sowie eine Toilette. Weiß gestrichen, mit dunklem Parkettboden und jeweils mit einem fast raumhohen Fenster versehen. Eines der Zimmer war mit einem großen Glastisch, sechs bequemen schwarzen Lederstühlen, einer Glasvitrine und einem 55-Zoll-Bildschirm für Präsentationen ausgestattet, sogar mit der neuesten Ultra-HD-Technik. In einem weiteren Raum waren eine kleine Küche sowie Einbauschränke für Akten und Büromaterial untergebracht. Im dritten Zimmer arbeitete ich. Nur mein großer Schreibtisch, eine Ablage, meine kleine Nespresso-Kaffeemaschine und zwei Rechner standen hier. Und nichts davon gehörte noch mir.

Edgar hatte es geschafft. Er war gezielt vorgegangen, seit ich ihm im Sommer 2001 die Unterstützung bei seiner Veruntreuung verweigert und Brigitte in seine diversen Affären eingeweiht hatte. Ich konnte es zu der Zeit nicht mehr mit ansehen, wie er meine Tochter hinterging. Das Verhältnis zwischen Edgar und mir war seitdem nur noch nach außen herzlich. Wir arrangierten uns jedoch und die Sache geriet in den folgenden Jahren in Vergessenheit. Jetzt wusste ich, es schien nur so. Zuerst hatte er mich mit hochriskanten Anlagen über den Tisch gezogen und dann trieb er mich auch noch dadurch in den Ruin, dass ich ihn vertrauensvoll meine gesamten Finanzen machen ließ. Dass er dazu noch betrügerisch einige meiner Apps auf seinen Namen registrieren ließ, schlug dem Fass den Boden aus. Ich hatte nichts mehr, niente, nada, rien ne va plus! Das Schlimmste an allem war jedoch, dass ich mir selber sagen musste, »Du warst und bist ein absoluter Idiot!«

Wenn ich ehrlich war, völlig selber schuld. Wie blöd konnte man denn eigentlich sein? Ich hatte ihm total vertraut, nun ja, Familie eben. Und selber war ich ein absoluter Träumer, naiv, unfassbar naiv. Ich hing nur Tag für Tag über meinen digitalen Meisterwerken, konzentrierte mich ausschließlich auf meine Arbeit und war froh, mich um nichts anderes kümmern zu müssen. Die große Chance dabei über den Tisch gezogen zu werden, wäre für Menschen mit normaler Intelligenz vorhersehbar gewesen, anscheinend nicht für mich. Sollte mir zu denken geben. Blödmann. Trotzdem war diese »Verabschiedung« ein harter Schlag in die Magengrube und er tat verdammt weh. So abserviert zu werden, war fast nicht zu ertragen. Ich war am Ende. Privat und geschäftlich pleite, ruiniert. Mein Büro war weg, meine Technik, mein Konto war leer, nur die Schulden waren da. Von der Bank gabs nichts mehr, der Gang zum Amtsgericht vor drei Tagen war der logische letzte Schlag. Knockout! Fünf Schritte zum Versager, vielleicht sollte ich ein Buch schreiben, den Titel hätte ich schon.

Nach dem Studium arbeitete ich bei mehreren großen IT-Unternehmen, war Freelancer und machte mich 1993 als Softwareentwickler selbstständig. 2000 wurde daraus die Peter Förster IT GmbH mit Sitz in Stuttgart. Nina und ich hatten 1969 sehr früh geheiratet, unsere Tochter Brigitte kam im selben Jahr zur Welt. 1986, mit nicht mal ganz achtzehn, sie hatte gerade das Abitur bestanden, wurde sie von Edgar geschwängert. Jasmin, mein Enkelkind wurde 1987 geboren. Edgar und Brigitte heirateten dann erst drei Jahre später. Vor gut sieben Jahren verstarb meine Frau Nina, der Krebs hatte sie bereits mit knapp vierundfünfzig eingeholt. Sie kämpfte noch eine ganze Weile, aber sie verlor. Es war eine schlimme Zeit, für uns beide. Ich musste hilflos zusehen, wie sie Tag für Tag langsam starb.

In der Zeit danach konzentrierte ich mich ausschließlich auf meine Arbeit, ich stürzte mich praktisch rein. Vierzehn Stunden und mehr brütete ich vor dem Rechner an meinen digitalen Computerspielen sowie an speziellen Softwarelösungen, meist für die Anbieter dieser Spiele. Ich war gut im Geschäft und verdiente gutes Geld. Kontakte zur Außenwelt beschränkten sich weitgehend auf Kundengespräche und einzelne Treffen mit der Familie, vor allem mit Brigitte und den Kindern. Edgar war selten dabei. Dazwischen war ich oft auf Geschäftsreise unterwegs zu Kundenterminen. All dies half mir einigermaßen mit der Situation fertig zu werden, mir fehlte die Zeit, um über den Schicksalsschlag nachzudenken, der Ninas frühen Tod herbeigeführt hatte. In dieser Phase kümmerte ich mich praktisch nicht mehr um meine eigenen Finanzen, um Buchhaltung und Finanzamt. Die Mahnungen wurden ständig mehr. Ich war nicht nur organisatorisch überfordert. Ich war Entwickler, ein Spielefreak, aber kein Unternehmer. Als meine Probleme immer sichtbarer wurden, bot mir Edgar großzügig an, sich um diesen Bereich zu kümmern. Er war seit einigen Jahren als Anlageberater erfolgreich selbstständig und war sich sicher, dass er diese Aufgabe als Nebenjob für mich übernehmen könnte. Ich war begeistert, hatte ich diesen Scheiß endlich weg und in guten Händen. Er war das Finanzgenie und kannte sich auch mit Steuern aus. So wurde Edgar im Sommer 2009 ganz offiziell zu meinem persönlichen Finanzchef. Ich überließ ihm praktisch alles, bis hin zur Kontovollmacht. Schließlich musste er ja Überweisungen machen und Zahlungen vornehmen können. Persönlich hatten wir zu diesem Zeitpunkt einen guten und engen Draht zueinander. Eitel Freude Sonnenschein, so sah es zumindest aus. Das Ganze gab mir wieder etwas Halt nach dem Verlust meiner Frau, es ging mit mir bergauf. Auch mit meinen geschäftlichen Erfolgen. Umsatz und Gewinn waren im Steigflug begriffen, ich hatte bei ein paar hoffnungsvollen Rennern die Finger drin.

Eines Tages, im März 2010 stand dann plötzlich Edgar im Büro.

»Hey Alter, wir müssen reden, hast Du kurz Zeit für mich?«

»Kein Problem, leg los, was hast Du auf dem Herzen?«

»Wir sollten uns langsam damit beschäftigen, darüber nachzudenken, was wir mit Deiner Kohle anstellen. Du hast die drei letzten Jahre richtig gut verdient und wir haben das meiste in der Firma drin gelassen. Das wird jetzt zu viel und muss raus. Du hast keinen Ertrag aus den flüssigen Mitteln, die momentan nur faul rumliegen, statt zu arbeiten« erläuterte Edgar.

»Was sollen wir Deiner Meinung nach tun?«, fragte ich.

Edgar lachte anzüglich. »Du weißt, dass ich ein paar richtig gute Pferdchen am Laufen habe, also ausnahmsweise keine Mädels in der Altstadt, was ja auch nicht schlecht wäre, sondern echt starke Fonds. Geschlossene Immobilienfonds, die ich selber aufgelegt habe und die ich selber und ausschließlich in der Hand habe.«

»Was bedeutet das dann? Was bringt mir das und wie funktionieren diese Fonds?« Ich hatte keine Ahnung von Geldanlagen, von geschlossenen oder offenen Immobilienfonds schon gar nicht, und nie mit Edgar darüber gesprochen. Es hatte mich nie interessiert. Ich konnte mich ja erfolgreich hinter meinem Mac und finanziell hinter Edgar verkriechen.

»Ich erkläre es Dir kurz, aber nur ganz kurz. Ich gründe eine Fondsgesellschaft, lege einen Fonds auf, sammle Geld von Investoren ein und investiere es in bombensichere Gewerbeimmobilien mit hoher Rendite, Mietgarantie und allem was dazu gehört, um den Fonds für die Gesellschafter interessant zu machen. Also Ladenzentren, Kliniken, Hotels, Bürogebäude und die ein oder andere hochwertige Wohnanlage. Gut gemischt wegen der Risikostreuung. Ich investiere also nicht in irgendwelche Aktienfonds oder andere undurchsichtige Geschichten, sondern uns gehören Topimmobilien in erstklassigen Lagen. Du weißt vielleicht, bei einer Immobilie zählen drei Dinge: Lage, Lage und noch einmal Lage. Und ich habe mit die besten, viele in den neuen Bundesländern, wo eben immer noch viel investiert wird und Zuwächse da sind, aber auch in Polen. Seit sie in der EU sind streben die dort drüben ganz nach oben, da geht richtig die Post ab, und ich bin dabei. Mit Dir, wenn Du willst. Rendite vor Steuern von Anfang an zwischen sieben und zehn Prozent, jedes Jahr! Bei anderen Anlagen kriegst Du gerade noch zwei oder drei lausige Prozentchen. Und am Schluss nach fuffzehn Jahren, wenn die Immobilie verkauft wird, ein toller Schlussgewinn für jeden Anleger.«

Er war während seines kurzen Vortrags vor meinem Schreibtisch umher getrabt und selbst richtig euphorisch geworden. Begeistern konnte Edgar schon immer. Er war ein begnadeter Verkäufer, authentisch, man glaubte ihm, was er sagte. Dummerweise ich auch.

»Peter, lass uns Deine zweihunderttausend nehmen und sinnvoll anlegen. Sicher und mit Riesenrendite. Du weißt, Du kannst voll auf mich setzen und ich zeige Dir höchst persönlich die Objekte in meinen Fonds. Ich fahre zum einen oder anderen mit Dir hin, ich will, dass Du genauso überzeugt bist wie ich. Und wie meine vielen anderen Anleger, die jetzt schon im dritten Jahr richtig Kohle machen. Wir lassen auf jeden Fall genug liquide Mittel liegen, dann bist Du immer voll flüssig. Aber den großen Batzen solltest Du wirklich arbeiten lassen, nicht rumliegen. Weil so wird der Batzen eher kleiner als größer, und das muss wirklich nicht sein. Du hast ihn Dir hart erarbeitet.«

»Du bist mein Finanzgenie, wenn Du das ...«

Peter unterbrach mich. »Was ich noch sagen wollte, wir haben jährliche Gewinnausschüttung, immer im September, jeweils auf den Tag genau.«

Ich musste später zugeben, dass er mich schon richtig heißgemacht hatte. Mein rationales Denken war spürbar reduziert, es versagte, war auf Off geschaltet. Der Bauch dagegen sagte ja.

»Also, wenn Du das so sagst, dann machen wir das auch, ich hab eh‘ keine Ahnung. Aber mach bloß keinen Mist, Du kennst ja meine Finanzen. Wenn die zweihundert weg sind, ist nicht mehr viel da. Ich habe schließlich keine Immobilien. Und mein einziger sonstiger Besitz kostet nur Geld und bringt nichts«, entgegnete ich ihm.

Er kostete zwar regelmäßig Geld, aber er war schon ein geiles Teil, mein alter Mercedes SL mit dem Pagodendach, in rot, beige Sitze in Leder. Edgar behauptete immer wieder, wenn er mich damit sah, »gib die alte Nuttenschleuder doch endlich ab und fahre was Aktuelles, von mir aus auch wieder einen Benz. Einen, der nicht dauernd stehen bleibt«. Natürlich hatte er nüchtern betrachtet recht, aber ich liebte diesen Oldtimer, an dem man immer wieder rum schrauben musste, selbst wenn er mich zwischendurch mal im Stich ließ. Wir werden auch nicht jünger und fitter, sagte ich mir. Ich hatte ihn schon vor sechs Jahren durch Zufall in Köln entdeckt, als ich einen Kunden besuchte. Er stand da in einem Malerbetrieb, vor dem ich parkte, war abgemeldet und sah hässlich aus. Staubig, mit nur drei Rädern. Das fehlende Vierte war durch Ziegelsteine ersetzt. Ich hatte mich sofort verliebt, ging spontan ins Büro des Chefs, fragte, wie viel er wolle und wir waren schnell einig. Natürlich hatte ich viel zu viel bezahlt, aber ich brauchte zu diesem Zeitpunkt unbedingt eine neue Liebe. Und da es keine Frau sein konnte, so weit war ich in meinem Witwerdasein noch nicht, wurde es eben der SL. Edgar unterbrach mich bei meinen Gedanken.

»Peter, ich garantiere Dir, wir werden die Finanzwelt rocken mit diesem Fonds und Du bist dabei, ok?«

»Ja, ich mache es. Bleibt ja in der Familie. Aber mach bloß keinen Scheiß, weil dann stehe ich auf der Straße und Du kannst mich verhalten!«

»Ok, wenn's schief geht, kommst Du zu uns zum Essen. Falls ich dann noch was zu knabbern habe.« Edgar lachte aus vollem Hals. »Ich lade Dich aber auch so ein, auf jeden Fall hauen wir jedes Jahr im September so richtig rein und lassen die Puppen tanzen. Dann kommst Du auch wieder mal raus aus Deiner Bude!«

Und schon war er wieder weg, immer auf Achse, stets voll auf Speed. Manchmal überlegte ich mir, ob er Drogen nimmt, zugetraut hätte ich es ihm. Ich war jetzt also Mitbesitzer von Bürohäusern und Supermärkten. Toll! Er wird es schon richten, redete ich mir ein, um mich zu beruhigen. Aber bisher war er erfolgreich mit allem, was er anfing. Also Peter, sei Optimist, es wird schon gut gehen. Und acht Prozent jedes Jahr, da lässt sich so manches damit anfangen. Mit meiner drei Tage später erfolgten Unterschrift war ich Mitgesellschafter zweier Fonds. Einer betrieb eine Klinik in Erfurt, der andere sanierte ein Ladenzentrum in Chemnitz.

Jeder normal denkende Mensch hätte sofort abgewunken und »niemals« gerufen, ich jedoch nicht. Ich steckte in den letzten Entwicklungsschritten einer Erfolg versprechenden Spieleapp, als Edgar mir ein Jahr später vorschlug, »Der Fonds läuft wie geschmiert, lass uns über einen Kredit zusätzlich einsteigen. Der kostet Dich bei den derzeitigen Zinsen weit weniger, als der Fonds abwirft!« Im Nachhinein musste ich zugeben, ich hatte gar nicht richtig hingehört und das Ganze mehr oder weniger abgenickt. Es lief ja alles, was er bisher vorgeschlagen hatte. Und so nahm Edgar für mich einen Kredit über 200.000 Euro auf, den er in seinem neuesten Fonds investierte. Einer Seniorenwohnanlage in der Nähe von Posen, in Polen. Zweieinhalb Prozent Zins standen acht bis neun Prozent sicherer Rendite gegenüber. Nun denn, vielleicht ziehe ich da später mal hin, dachte ich mir, sieht richtig schön aus, das moderne Objekt im Grünen am Fluss.

Die ersten drei Gewinn-Ausschüttungen, 2011, 2012 und 2013, kamen auf den Tag genau. Edgar, der große Zampano, lud mich ein. Wir zogen um die Häuser in der Stuttgarter Szene und hatten jeweils einen wilden Abend miteinander, machten diverse Bars unsicher, alles lief glänzend, wie vorhergesagt. Für mich waren diese Nächte wie Balsam auf meine geschundene Seele, ich kam einfach mal wieder raus. Edgar ließ jedes Mal seinen alten Witz vom Stapel und lachte sich dabei halb tot.

»Ohne die eigene Frau ist es doppelt so schön und halb so teuer!«

Auf die Idee, mal nachzufragen, wie es um die Investitionen stand, war ich nie gekommen. Es lief ja, mir ging es blendend, die Geschäfte liefen gut, alles paletti. Im zweiten Jahr brüstete sich Edgar ziemlich besoffen mit seinen Millionen, die er bisher mit den Fonds verdient hätte. Er hörte gar nicht mehr auf, von tollen Steuerparadiesen zu faseln, wäre auf Dauer auch was für mich.

»Da müssen wir ran« meinte er und grinste anzüglich. »Du glaubst gar nicht, was da abgeht, geile Sache«. Er würde aus meinen Beteiligungen Millionen machen, wenn ich ihn ließe. »Dann kämst Du auch mal auf die Caymans, ha, ha, wär‘ doch was!«

2014 kam ich nicht ins Steuerparadies auf den Karibikinseln, sondern es kam der Bruch. Statt der Ausschüttung tauchte im Juli Edgar persönlich bei mir im Büro auf. »Hey Alter, wie geht es Dir? Alles ok?«

Ich konnte nicht mal antworten, so schnell redete er weiter.

»Houston, wir haben ein kleines Problem. Aber es ist alles lösbar, keine Angst, nichts ist passiert, der Fonds ist sicher. Aber wir haben im großen Ladenzentrum und in der Klinik hohe Mietausfälle durch Insolvenzen. Das hast Du nie im Griff, dass da mal einer über den Jordan geht. Ich bin aber schon an neuen Verträgen dran, teilweise mit sehr solventen Mietinteressenten. Und wir haben auch noch unsere Mietgarantie. Keine Panik deshalb. Aber ich kann im Moment nicht ausschütten, es wird später werden. Keine Sorge, es wird garantiert nichts passieren, ich bin da sicher. Nur jetzt gerade besteht eine gewisse Liquiditätslücke. Im nächsten Jahr haben wir das gelöst. Ich brauche natürlich Dein Verständnis. Von den meisten anderen Anlegern habe ich schon die Zusicherung, dass sie keine Gelder abziehen, das passt alles. Ich hoffe, Du siehst das ebenso.«

Ich war ziemlich vor den Kopf gestoßen wegen dieser plötzlichen Situation. »Ja bist Du sicher, dass Du das wieder hinkriegst, oder kommt da noch was nach?«

»Sei unbesorgt, alles in Ordnung, nur eben jetzt kommt nichts, es ist aber nichts verloren, nur dieses Jahr nichts gewonnen.«

Wenn man es so sah, hatte er sogar recht.

»Unseren Trip durchs Stuttgarter Nachtleben machen wir im September trotzdem, Du bist natürlich eingeladen. Ich muss jetzt aber schnell wieder raus, der nächste Besuch liegt an, bei einem etwas schwierigen Kunden. Aber, das gehört eben auch dazu, weißt Du ja selber. Tschüs, ich melde mich.«

Und weg war er. Damit sollte mein letztes persönliches und freundschaftliches Gespräch mit Edgar beendet und meine baldige Pleite besiegelt sein. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich das allerdings noch nicht mal ahnen.

Freitag, 19. September 2014, Stuttgart

Edgar managte in den letzten Jahre nicht nur meine Finanzanlagen, sondern auch meine gesamte Buchhaltung. Ich war ein leichtsinniger Idiot und interessierte mich praktisch überhaupt nicht mehr für meine geschäftlichen Finanzen. Ich kalkulierte zwar meine Jobs, Edgar schrieb und zahlte jedoch die Rechnungen, kümmerte sich um Steuern und Abgaben, er war für alles rund ums Geld verantwortlich. Für mich war das Ganze herrlich bequem, ich brauchte mich nicht damit zu belasten. Unterschriften auf Dokumente leistete ich fast unbesehen, wenn er sie mir vorlegte. Was auch Edgar am liebsten war. Aus heutiger Sicht logisch. Er hatte mich praktisch vollständig in der Hand, in die ich mich freiwillig hinein begeben hatte.

Und dann vernichtete er mich in diesem Spätsommer 2014 auf einen Schlag. Er hatte jetzt seine Rache, seine späte Genugtuung für das, was ich ihm aus seiner Sicht angetan hatte. Damals im Sommer 2001. Als ich ihn zuerst »sitzen« ließ mit seinem Finanzproblem und ihn dann auch noch bei Brigitte wegen seiner sexuellen Eskapaden »verpfiff«, wie er mir vorgeworfen hatte. Mit der miserablen Entwicklung seiner Fonds, den daraus resultierenden Verlusten sowie der Betrugsmöglichkeit im Rahmen seiner Buchhaltertätigkeit für mich, konnte er sich jetzt endlich rächen. Von wegen »nur« kurzfristiges Liquiditätsproblem! Meine Einlagen in drei seiner Fonds waren von heute auf morgen nichts mehr wert, als sich durch einen Zufall und die Recherche einer Wirtschaftsjournalistin ergeben hatte, dass das Ladenzentrum in Chemnitz wegen Erfolglosigkeit voraussichtlich geschlossen würde und statt des Projektes in Posen lediglich werbewirksam gestaltete Bauplakate in der polnischen Pampa standen. Dass die Verträge mit der Erfurter Klinik nicht verlängert werden würden, weil der Großteil der Mieter pleite war. Mit der Pleite der beiden kleinen GmbHs, die vertraglich die Mietgarantie für alle Fonds von Edgar sichern sollten, war die gesamte Geschichte gegessen. Die Kredite waren nicht mehr korrekt zu bedienen, weshalb die Objekte später an die kreditgebenden Banken gehen würden. Die Anteile der Gesellschafter waren weitgehend futsch. Gerade mal zwei seiner Fonds liefen einigermaßen. Es stellte sich dazu noch heraus, dass Edgar von Anfang an falsche Angaben zum Verhältnis von Eigen- und Fremdkapital gemacht hatte. Die laufenden »weichen« Kosten hatte er mit mannigfaltigen Manipulationen in die Höhe getrieben und so die Gewinne der Fondsobjekte systematisch geschmälert. Auch über Geschäftsführergehälter und Provisionen hatte er die Fondsgesellschafter gnadenlos abgezockt. Darüber hinaus machte mir ein Anruf des Finanzamtes klar, dass Edgar für meine Firma bereits seit neun Monaten keine Umsatzsteuer mehr abgeführt hatte. Das Geld war zwar weg, jedoch nicht bei Vater Staat, sondern auf van Dammes Geheimkonten gelandet. Er hatte uns Anleger und mich persönlich schlicht und einfach betrogen, ausgenommen wie Weihnachtsgänse. Zudem war der Kredit für die »geile, absolut sichere Anlage« fällig, was mir das Genick endgültig brach. Auch eine große Zahl anderer Fondsgesellschafter schaute plötzlich in die Röhre, bei manchen war ein Großteil der Altersversorgung weg, denen ging es nicht besser als mir. Edgar war nicht zu erreichen, Anrufe landeten auf der Mailbox, Mails wurden nicht beantwortet, Anrufer von der Sekretärin vertröstet. Die ersten enttäuschten Anleger waren auf dem Weg zu Anwälten, ein Kontakt mit Edgar war nicht möglich. Er war augenscheinlich abgetaucht. Edgar weg, Geld weg, der SL weg, meine Firma und ich auf direktem Weg in die Pleite. Gehts noch tiefer? Ja, nur das war mir in diesem Moment noch nicht klar, als ich beim Amtsgericht Insolvenz für meine Firma anmeldete. Ein Scheißgefühl, man kommt sich so erniedrigt vor. Ich musste erkennen, dass ich ein Versager war.

Ich schrieb noch einige Mails an ehemalige und bestehende Kunden, drückte mein Bedauern über die Situation aus und gab Edgar als Rechteinhaber für verschiedene Softwarelösungen an. Wie die begonnenen Projekte weiter oder zu Ende geführt werden sollten, konnte ich nicht erläutern, ich wusste es selbst nicht. Nur eines war klar, ich war draußen. Mit Edgar, falls der wieder auftauchen sollte, konnte ich nicht arbeiten, wobei das auch für ihn keine Option war. Aus die Maus, vorbei, erledigt. Ich schaltete zum letzten Mal den Rechner aus, strich wehmütig über die glatte Oberfläche des Screens, sagte meinen zwei Pflanzen Lebewohl, packte noch einzelne private Gegenstände in einen Pappkarton, zog die Jacke an und ging. Ohne mich noch einmal umzudrehen.

Mittwoch, 9. August 2006, Stuttgart

Er hatte den Termin bereits in der vergangenen Woche vereinbart. Edgar van Damme war ein Mann mit klaren Strukturen. Egal, ob Kundentermin, Treffen mit Geschäftspartnern, Charity-Event, zu dem ihn seine Frau mitschleppte oder wie heute der Besuch bei einer Prostituierten, er hatte stets alles perfekt organisiert. Das war schließlich seine Stärke, das Organisieren. Heute Abend hatte er noch zwei Telefonate zu führen, zu Hause hatte er sich abgemeldet – »ich habe ein Geschäftsessen, warte nicht auf mich«, – dann konnte es losgehen. Edgar war schon heiß auf die Neue, es juckte in der Hose.

»Frischfleisch, ist erst seit einer Woche da. Kommt aus Rumänien, macht Dir alles, was Du willst« hatte ihm Wolle, der Barkeeper im Club zugesteckt.

Edgar hätte sich jederzeit teure Edel-Callgirls leisten können. Er liebte es aber, in die eher niedrigeren, schmutzigen Gefilde der Sexbranche im Rotlichtmilieu hinab zu steigen, um dort seine Fantasien real und ungebremst auszuleben. Da fiel es auch nicht weiter auf, wenn »so ne Tussi« danach mal mit blauem Auge, Fesselspuren oder Striemen am Hals und auf dem Rücken rumlief. Die war dann eben wenn‘s hart auf hart ging von ihrem Zuhälter verprügelt worden. Niemand würde darüber reden. Direkt nach den beiden erfolgreichen Gesprächen mit gutgläubigen Anlegern, die ihr Schwarzgeld loswerden mussten, was er sofort mit feiner Nase witterte, schlüpfte er in seinen Fünfhunderteuro-Sakko, schnappte sich den Autoschlüssel, schloss sorgfältig das Büro ab und fuhr mit dem Lift in die Tiefgarage. Testosteron geladen sprang er in seinen schwarzen E-Klasse-Mercedes und schoss mit durchdrehenden Rädern aus der Parkbucht. »Das wird lustig werden, heute Abend« dachte er, malte sich aus, wie er seine Vorlieben ausleben würde und grinste dabei genüsslich. Knapp zehn Minuten später parkte er den schweren Wagen zwei Häuser vor der Wohnung der Nutte, man musste ja nicht sofort entdeckt werden. Wobei ihm das ziemlich egal war.

»Ihr verklemmten Arschlöcher, ihr wollt doch so gerne selber ran, aber traut Euch nicht« pflegte er zu denken und manchmal auch laut im Kreise der Kumpels von sich zu geben.

Bereits nach dem zweiten Klingeln öffnete eine hellhäutige Blondine vorsichtig die Wohnungstür. »Komm rein« hauchte sie und trat zur Seite.

Es roch nach einer Kombination aus billigem Parfüm und abgestandener Zimmerluft, aber das gefiel ihm. Je mieser, desto besser.

»Musst Du zuerst bezahlen, haben wir gesagt, zweihundert für alles« quetschte sie radebrechend durch die Zähne.

»Ich muss überhaupt nichts, Du blöde Tussi, aber ich tu‘s« blaffte er sie an, zog zwei Scheine aus der Brieftasche, warf sie aufs Bett und zog den Sakko aus.

Sie steckte die beiden Hunderter in eine unscheinbare Geldkassette auf dem Nachttisch.

»Und zick hier nur nicht weiter rum« bellte er sie an.

So hässlich, wie er im ersten Moment gedacht hatte, war sie gar nicht. Die Brüste waren garantiert nicht echt, aber wenigstens riesengroß. Und wie sie da so vor ihm stand, in ihrem schwarzen, knallengen Mini, dem transparenten BH und den hohen Lackstiefeln, fing sie an, ihm zu gefallen. Sie versprach einiges.

»Gute Wahl«, sagte er sich und zeigte ihr sein falsches Lächeln. Er war einfach ein durch und durch falscher Hund, er gefiel sich in dieser Rolle. Sie fingerte an ihm herum, begann seinen Hosengürtel aufzuziehen, doch er schob sie von sich weg.

»Langsam, Mädchen, wie heißt Du denn eigentlich?«

»Rosana«.

»Rosana, aha. Aus Rumänien kommst Du in unser schönes Land. Hast Du Handschellen hier?«, fragte er sie unvermittelt.

»Hab‘ ich, aha, willst Du so, bind‘ ich Dich fest. Soll ich auch bisschen schlagen vor ficken?«, sagte sie lächelnd, während sie in die Schublade des kleinen altersschwachen Nachtkästchens griff, eine silbern glänzende Handfessel entnahm und vor seinem Gesicht hin und her schwenkte. »Hast Du Spaß daran?«

Edgar nickte und deutete auf die kleine Garderobe im Flur. »Zieh den Plastikmantel an! Sieht geil aus.«

Rosana schaute ihn nur kurz verwundert an, zog sich dann aber den transparenten Regenmantel über. »Gut so? Stehst Du drauf?«

Edgar reagierte nicht. Dann riss er ihr völlig überraschend die Fessel aus der Hand und stieß sie heftig auf das mit einem glänzenden, leicht fleckigen Laken bedeckte Bett.

»Hey, was soll das, das war nicht ausgemacht! Kostet hundert extra«, konnte sie gerade noch herausquetschen, während Edgar schon über ihr kniete und ihre Arme über den Kopf nach oben drückte.

»Wehr Dich nur, das macht mich umso schärfer.«

Das versuchte sie nun auch, aber Edgar hatte das linke Handgelenk bereits in der Handschelle drin, zog die Fessel hinter dem Metallrahmen des Betts hindurch, drückte den anderen Arm brutal ebenfalls in die Fessel rein und klickte sie zu. Sie zog und rüttelte mit ihren Armen, aber es war zu spät. Edgar glitt vom Bett.

»Das kannst Du nicht mit mir machen, das will ich nicht. Lass mich sofort raus, ich schreie sonst.«

»Halt die Schnauze, sonst stopfe ich sie Dir« knurrte Edgar, während er sich seiner Schuhe, der Hose und seines Slips entledigte. Die Socken ließ er an, es sah zwar einzigartig komisch aus, was ihn jedoch nicht störte. Edgar hasste kalte Füße. Breitbeinig stand er dann vor ihr, sie maulte vor sich hin.

»Ist scheiße so, Du Wichser, mag ich nicht.«

Edgar kümmerte sich nicht um die Motzerei, sondern suchte im Regal an der gegenüber liegenden Wand nach einem Strick oder einer Kette.

»Hast Du keine Stricke für Deine devoten Besucher« fegte er sie an.

Sie gab jedoch keine Antwort, sondern zerrte weiterhin an ihrer Fessel und keifte unverständliche Schimpfworte. Edgar ging in den Flur und schnappte sich triumphierend einen endlos langen Seidenschal, der an der Garderobe hing.

»Was willst Du damit« wimmerte sie und bäumte sich wieder auf, erfolglos allerdings. Edgar genoss ihren entgeisterten Blick und ließ mit einer provozierenden Geste den feinen Stoff durch die Finger gleiten. Blitzschnell packte er nun ihr linkes, nach wie vor im kniehohen Lackstiefel steckendes Bein, zog es trotz ihrer Gegenwehr an das Metallgestell an der Fußseite des Bettes, band es fest. Sie schrie jetzt und versuchte, mit dem rechten, noch freien Bein nach Edgar zu treten.

»Verdammt, hör jetzt auf, Du widerliches Arschloch. Mach mich los!«

Edgar lachte, griff nach ihrem rechten Bein, drückte es gegen den anderen Bettpfosten, straffte den langen Schal und zog auch hier mit einem festen Knoten die Schlinge zu. Rosana lag jetzt hilflos mit gespreizten Beinen vor ihm.

»So siehst Du gut aus, Du geiles Miststück« rief er laut lachend und kniete sich rittlings über sie. Die weiche transparente Plastikfolie des Regenmantels klebte auf ihrer Haut und törnte ihn wahnsinnig an. Er fuhr mit beiden Händen die Kontur ihrer Figur und ihrer Brüste nach, das Material raschelte leise. Ihr schien es überraschend auch wieder zu gefallen, sie drängte sich ihm entgegen. Mit einem kräftigen Ruck zog er den Mantel auf, riss ihr den BH runter und brüllte »Blas mir einen, mach‘s aber gut!«

Sie atmete schwer. »Kann ich nicht, kriege ich keine Luft, mach mich los!« Sie krächzte und war nur schlecht zu verstehen.

»Red keinen Scheiß und mach schon. Du kriegst sonst gleich noch weniger Luft« sagte Edgar und drückte mit der Hand auf ihr Gesicht.

»Kann ich nicht, lass mich, bitte« brachte sie nur ganz leise zwischen Wimmern und hektischem Schnaufen heraus.

Edgar kam jetzt so richtig in Fahrt, griff nach dem BH, quetschte ihn zusammen und drückte in ihr als Knebel auf den weit aufgerissenen Mund. Er konnte sich doch schließlich von so einer blöden Nutte nicht verarschen lassen. Nicht er, nicht Edgar van Damme, so nicht.

»Dann besorg ich‘s Dir anders« brüllte er, schob den ohnehin extrem kurzen Rock hinauf, sie trug keinen Slip, und versuchte, brutal in sie einzudringen. Sie drehte und wendete sich dabei andauernd, so blieb es beim Versuch, was ihn noch wütender machte. Er schlug ihr mit der flachen Hand links und rechts ins Gesicht und quetschte dabei ihren Körper mit den Beinen ein. Als sie versuchte, den Knebel raus zu würgen, drückte er dagegen. Sie drehte sich unter ihm und bäumte sich auf. Edgar presste inzwischen wie ein Wahnsinniger den Knebel auf das Gesicht und drückte mit seinem Unterarm auf ihren Hals. Sie schnappte rasselnd nach Luft. Ihr Gesicht lief immer stärker rot an, aus dem Hals drangen gurgelnde Geräusche. Arme und Beine fochten einen erfolglosen Kampf mit den Fesseln aus. Edgar tobte. Er war völlig außer sich, war wie von Sinnen, rastete total aus, hatte keine Kontrolle mehr, alles eskalierte. Und plötzlich war Stille. Eine unheimliche Stille. Nur Edgars hektische Atemstöße, das Quietschen seiner Beine am Plastikmantel und den Lackstiefeln und das leise Ticken des Weckers auf dem Nachttisch waren noch zu hören.

»He, was ist los? Komm schon, lass den Scheiß!«, keuchte er. Nichts.

Edgar glotzte verständnislos direkt in die toten Augen der Nutte.

»Was ...?« Er sprach nicht mehr weiter. In diesem Moment war ihm bewusst, was passiert war. In seiner ersten Panik riss er ihr den Büstenhalter vom Gesicht, schlug ihr erneut rechts und links auf die Wangen, ihr Kopf wurde hin und her geworfen, aber nichts geschah. Wieder und wieder rüttelte und schlug er sie, bis es ihm langsam dämmerte, sie war tot. Sie lag da, unbeweglich, den Mund schief geöffnet, die Augen schreckhaft aufgerissen.

»Scheiße, Scheiße, Scheiße« murmelte er und richtete sich auf. »Du dämliche Nutte, was ist das für ne Scheiße, was hab‘ ich gemacht?«

Er begriff jetzt langsam, was los war. Dass hier eine Tote vor ihm lag, die er umgebracht hatte. Ein Schüttelfrost bäumte seinen Körper auf. Sein Herz raste. Er wollte das doch gar nicht, nur ein wenig besonderen Spaß haben, für den er viel bezahlte. Es war ein Unfall. Was musste die auch so zickig tun, die hätte doch nur mitmachen müssen. Warum? Er band zitternd ihre Beine los, kramte im Nachtkästchen nach dem Schlüssel und öffnete die Handschellen, stieg vom Bett, raffte hastig seine Klamotten zusammen und zog sich wieder an. Inzwischen war ihm jeder Gedanke an Sex abhandengekommen. Er wurde langsam wieder der klar und strukturiert denkende Macher. Was muss jetzt passieren, fragte er sich.

»Ich darf nie hier gewesen sein!«

In den folgenden Minuten machte er sich daran die, seiner Meinung nach, wenigen Fingerabdrücke zu entfernen. Am Bett, am Regal, der Garderobe, am Nachtkästchen, an ihren Stiefeln. Er drehte die Tote um und zog ihr den Plastikmantel aus, der mit Sicherheit über und über mit seinen Abdrücken gespickt war. Er wickelte ihn zu einem kleinen Paket zusammen. Er war nicht zum Schuss gekommen, weshalb sie kein Sperma von ihm finden konnten. Und DNA-Spuren waren sicher genügend von anderen Freiern da. Er suchte nach Haaren auf ihrem schwarzen Mini, packte die Handschellen in seine Sakkotasche, klemmte den Regenmantel unter den Arm, den Schal legte er sich um. Ihm fielen noch die beiden Geldscheine ein, die er wieder an sich nahm.

»Wenigstens hats nichts gekostet« murmelte er vor sich hin. Und dann wurde ihm bewusst, dass die Tussi ja garantiert irgendwo seinen Termin mit Namen notiert hatte. Taschenkalender war keiner zu finden, auch keine losen Zettel. Deshalb steckte er ihr Handy ein und nahm sicherheitshalber den alten Laptop mit, der im Regal lag. Vielleicht hat sie damit gearbeitet, redete er sich ein.

Ein letzter Rundblick, Gläser standen auch nicht herum, sie hatte ja noch gar nichts anbieten können, so schnell war er über sie hergefallen. Nach einem Blick durch den Türspion drückte er leise die Wohnungstür auf, seine Hand mit einem Papiertaschentuch geschützt. Er wischte noch den Klingelknopf und die Türklinke ab, schlüpfte hinaus, zog die Tür zu und stieg vorsichtig die altertümliche Treppe hinab.

Plötzlich öffnete sich leise quietschend die Haustür im Erdgeschoss, das automatische Treppenhauslicht ging an, allerdings leuchtete es das Treppenhaus nur unzureichend aus. Er konnte hören, dass ein Mensch hereingekommen war, der ihm auf der Treppe wahrscheinlich begegnen würde. Van Damme sah keine Alternativen, als zügig weiter nach unten zu steigen. Im ersten Stock begegnete er dem Mann, vielleicht gut zwanzig Jahre alt, in altmodischen Klamotten, dunkler, slawischer Typ. Ihre Blicke kreuzten sich im Dämmerlicht nur ganz kurz, dann war er vorbei und schlich unten zur Haustür raus. Gott sei dank hatte er den Wagen um die Ecke abgestellt. Aus anderem Grund, aber Vorsicht war nie falsch. Er drehte noch einige Runden durch verschiedene Bars, quatschte mit unbekannten Leuten, vielleicht könnte das als Alibi reichen, falls er eines brauchen sollte. Wäre dieser junge Kerl ihm nicht im Treppenhaus begegnet, wäre alles perfekt gewesen. Aber der würde ihn sicher nicht wieder erkennen, redete er sich zumindest ein. Er hoffte jedoch, dass das nicht schon der nächste Freier gewesen sein könnte, der die Nutte gleich finden würde.

»Na, wenn schon, mir kann keiner was«, sagte er leise zu sich selbst.

Der junge Mann war sich sicher, das war soeben der letzte Freier seiner jüngeren Schwester. Sie waren zusammen nach Deutschland gekommen, aus ihrem kleinen rumänischen Dorf nahe der Grenze zu Moldawien. Dort, wo es weder Arbeit noch Zukunft gab. Im gelobten Land wollten sie leben und arbeiten. Nun, es hatte ja auch geklappt, allerdings anders, als gedacht. Sie landeten beide in der Illegalität, ihr blieb nichts anderes als der Strich, er endete in einer Gang von Kleinkriminellen. Das letzte Jahr hatte sie in Mannheim zugebracht, erst seit wenigen Wochen war sie wieder in Stuttgart tätig. Zurück in seiner Nähe. Sechs Monate Knast hatte er gerade vor zwei Wochen hinter sich gebracht, jetzt brauchte er dringend Kohle. Deshalb der Besuch bei der Schwester. Er liebte sie zwar abgöttisch, hatte jedoch keine Skrupel, bei ihr zwischendurch mal Kohle einzustreichen. Für ihn war das ganz logisch, er war der Mann im Haus. Er drückte auf den Klingelknopf, einmal, zweimal, keine Reaktion. Vielleicht ist sie unter der Dusche, dachte er, zog seinen Schlüsselbund aus der Hosentasche und schloss die Wohnungstür auf.

»Ich bin's« rief er in Richtung Badezimmer und trat in das winzige Wohnzimmer. Gerade mal ein altes Sofa und ein in die Jahre gekommener Tisch mit zwei Stühlen schafften kaum besondere Gemütlichkeit. Er wunderte sich, dass sie nicht geantwortet hatte und auch keine Geräusche aus dem Bad zu hören waren. Er verließ das kleine Zimmer, schaute ins Badezimmer rein, nichts.

»Hier stimmt was nicht« hörte er sich sagen. Inzwischen hatte sich seine berufsbedingte Wachsamkeit eingestellt und er öffnete vorsichtig die Schlafzimmertür. Sie lag ganz gerade auf dem breiten Bett, beide Arme nach oben in Richtung zum Metallrahmen an der Kopfseite gestreckt. Ihr toter Blick drückte Unfassbarkeit aus, er war im Moment des größten Schreckens erstarrt. Ihm war sofort klar, seine Schwester lebte nicht mehr. Er wollte sie im ersten Entsetzen an sich drücken, zuckte dann aber zurück. Gänsehaut, ihn fror. Nach einigen Sekunden des Schocks gewannen jedoch seine eingeübten Reflexe wieder die Oberhand. Er hatte den Mörder gesehen, denn dass sie sich nicht selbst umgebracht hatte, war unzweifelhaft zu erkennen. Der Mann war ihm auf der Treppe begegnet. Er versuchte jetzt, sich ganz konzentriert an den Mann zu erinnern. Was war ihm aufgefallen? Mittelgroß, kräftige Figur, elegante Klamotten, Typ Geschäftsmann. Das Gesicht? Er wusste, dass er sich daran erinnern würde, auch nach langer Zeit. Der eine kurze Moment, als sich ihre Blicke trafen, genügte ihm. Er hatte schon immer ein phänomenales, fast fotografisches Personengedächtnis.

»Ich werde ihn finden, irgendwann. Das schwöre ich Dir, meine kleine Schwester. Ich habe nicht auf Dich aufgepasst. Ich habe Dich im Stich gelassen. Das wird unsere Mutter umbringen. Aber ich werde Dich rächen, das verspreche ich Dir.«

Als er doch noch vorsichtig ihre Augen schloss, überkamen ihn Traurigkeit und Hass zugleich. Er wollte rausschreien, »dieses Schwein hat sie umgebracht! Mein Gott, warum?« Aber es ging nicht. Die Polizei einzuschalten war nicht möglich, er konnte die Sache nur selbst verfolgen. Seine Augen wurden feucht, er wischte mit der Hand darüber. Mit einem letzten langen und unsäglich traurigen Blick auf die Tote verließ er das Zimmer. Er wusste, wo sie ihre Tageseinnahmen aufbewahrte und nahm die sechs Scheine mit. Er schaute sich noch einmal in der kleinen schäbigen Wohnung um und trat dann vorsichtig ins Treppenhaus, stieg die drei Treppen nach unten, öffnete die Haustüre und verschwand ungesehen im nächtlichen Nieselregen. Und dann fiel ihm plötzlich die Sponsoraufschrift am Hemdkragen des Mannes wieder ein: Zwei zusammenlaufende Großbuchstaben. Es sah aus wie ein V und ein D, wie er glaubte, sich zu entsinnen.

»Jetzt habe ich Dich, ich werde Dich finden.« Er brüllte diesen Satz hasserfüllt, jedoch fast euphorisch in die Nacht.

Fünfzehn Minuten später, exakt um 21.54 Uhr, ging bei der Notrufzentrale der Polizei in Stuttgart ein anonymer, nicht nachverfolgbarer Anruf aus einer öffentlichen Telefonzelle ein.

»In Karlstraße 18, drittes Stock, ist junge Frau ermordet, tot! Du kommen!«

Der Mann sprach in gebrochenem Deutsch und wahrscheinlich verstellter Stimme, wie die diensthabende Beamtin, die den Anruf entgegengenommen hatte, später aussagte. Und dann begann die Routine der Mordkommission anzulaufen. Ein Fall, wie viele andere. Wieder mal eine Nutte. Keine vorrangige Bedeutung, es wurde dennoch umfassend ermittelt, »business as usual«. Man ging die diversen Karteien durch nach Sexualtätern, nach auffällig gewordenen Freiern, man befragte die Nachbarschaft, verhörte Zuhälter, man mischte die Halbwelt auf, nichts. Wolle, der Barkeeper wurde nicht befragt, er hätte aber auch niemals etwas gewusst. Diskretion war sein Geschäft. Zwei, drei andere Mädels kannten die Tote zwar, konnten oder wollten aber auch keine weiteren Auskünfte geben. Ganz sicher trauten sie sich nicht. Amtshilfe aus Rumänien war schwierig bis unmöglich. Eine Kundenkartei, Handy oder ein PC waren nicht zu finden, ebenso wenig ein Taschenkalender. Die Suche nach fremder DNA hatte nicht viel Konkretes ergeben, die gefundenen Haare, Spermaflecken und Fingerabdrücke gehörten allem Anschein nach ganz unterschiedlichen Freiern. Ob da der Täter darunter war, ließ sich trotz intensiven Datenabgleichs nicht abschließend feststellen. Nach drei Monaten wanderten die Akten immer weiter nach unten, bis sie irgendwann bei den zwar offenen, aber ungelösten Fällen landeten. Neue Morde hatten Vorrang.

Montag, 22. September 2014, Stuttgart

Jahrelang war alles gut gegangen, warum lief das jetzt plötzlich in die falsche Richtung? Van Damme brütete über den aktuellsten Zahlen zwei seiner Immobilienfonds. Er saß in seinem luxuriös ausgestatteten Büro im fünften Stock eines der noblen, erst vor einem Jahr fertiggestellten Verwaltungsgebäude im neuen Europaviertel. Dem Stadtquartier, das auf dem ehemaligen Gelände des Stuttgarter Hauptbahnhofs im Entstehen war. Ein Großteil der exklusiven Gebäude war fertiggestellt, seines lag ganz prominent schräg gegenüber der neuen Stadtbibliothek.

Wer mit dem gläsernen Lift nach oben kam und durch die Tür mit der Aufschrift »VD INVESTMENTS« trat, landete zuerst in einem ganz dezent eingerichteten Empfangsbereich, bevor er von der Sekretärin ins Allerheiligste geleitet wurde, in sein Arbeitszimmer. Edgar nannte es nie Büro, das war für ihn einfach zu banal. Durch die raumhohe Verglasung schaute er Richtung Killesberg, dorthin, wo seine Villa stand. Sein Schreibtisch bestach sowohl durch die Ausmaße als auch durch das edle Mahagoniholz. In puncto Einrichtung war Edgar konservativ. Besprechungen hielt er stets an einem runden Tisch ab, der von einem großen Wandbildschirm überragt wurde, auf dem sich Van Dammes Erfolgszahlen optisch überzeugend darstellen ließen.

Daneben gab es nur noch ein prachtvolles Ledersofa und einen kleinen Beistellwagen mit diversen Digestifs. Keine Aktenschränke. Was er direkt benötigte, war auf seinem Laptop und im Schreibtisch eingeschlossen, den in seinen Augen unwichtigen Rest betreute die Sekretärin, Frau Hinze. Eine elegante, diskrete Fünfzigerin, die niemals fragte. Genau das, was er für seine Kunden brauchte. Klar, eine scharfe blonde Braut wäre ihm lieber gewesen, aber abgesehen davon, dass er der immer mal wieder an die Wäsche gehen könnte, wären diese jungen Weiber viel zu blöd für den Job. Er brauchte ein Aushängeschild, und das war die alte Hinze nun mal. Seriös, professionell, freundlich und vor allem nicht neugierig.

Tiefer weicher Teppichboden dämpfte nicht nur Schritte, sondern auch Gespräche, die selbst seine Sekretärin im Vorzimmer nicht hören sollte. Der gesamte Raum strahlte Seriosität und Erfolg aus, genau das, was seine Anleger überzeugte. Durch das Mammutprojekt Stuttgart 21 war ein elitärer neuer Stadtteil aus dem Boden gestampft worden, mit einer architektonisch reizvollen Bibliothek, hochwertiger Gastronomie, Ladenzeilen, Bürogebäuden und eleganten Appartements. Und mitten drin er, Edgar van Damme, erfolgreicher Finanzdienstleister.

Er hatte es geschafft. Bisher zumindest erfolgreich für sich selbst. Dummerweise merkten das langsam auch die ersten seiner Kunden, die verschiedenen Anleger, die auf ihn und seine Fonds gesetzt hatten. Van Damme war 48 und ein absoluter Selfmademan. Nach einer Banklehre arbeitete er von 1987 bis 1993 bei der Sparkasse in Heidelberg. 1993 wechselte er zur kleinen Privatbank Feldmann & Partner in Stuttgart, wurde dort Anlageberater, durchlief eine steile Karriere und hatte 2001 die große Chance auf einen Platz im Vorstand. Nach undurchsichtigen Geschäften, für die er verantwortlich zeichnete und aus denen ich ihm nicht heraus half, trennten sich nach einer Schlammschlacht die Wege Van Dammes und der Bank, er machte sich als Anlageberater selbstständig. 2007 und 2008 legte er seine ersten beiden geschlossenen Fonds auf, die er erfolgreich verkaufte. 2009 konnte er die Villa am Killesberg erwerben, er war nun endgültig »jemand«. Er gehörte zum Establishment, war im Golfklub und in diversen Wirtschaftsverbänden gerne gesehen. Zumal Brigitte ganz in ihrer Rolle als »vorzeigbare, repräsentative Trophy Woman« aufging. Sie war seine Trophäe, sein persönliches Ausstellungsstück.

»Verdammt, wie komme ich da jetzt raus, was kann ich auf die Schnelle machen?«, murmelte er halblaut vor sich hin. Von Förster erwartete er keine größeren Probleme, der war ohnehin am Boden und noch nie besonders mutig gewesen. Der kannte auch wie die meisten anderen Gesellschafter keine Zusammenhänge. Aber einige der Typen fingen an, Schwierigkeiten zu machen. Vor allem der alte Obermüller, der dazu noch Anwalt war, tat blöd. Er gab zwar keine richtigen Drohungen von sich, wollte aber kurzfristig aussteigen, und das ging im Moment auf keinen Fall, das Geld dafür war nicht verfügbar. Edgar hatte in den vergangenen Jahren bei seinen bisherigen fünf Fonds nie mit offenen Karten gespielt. Er war genau den Weg gegangen, den erfolgreiche Betrüger schon vor ihm eingeschlagen hatten. Als eigentliche Fondsgesellschaft hatte er jeweils eine GmbH oder Ltd. mit gerade mal 25.000 Euro Kapital gegründet. Er hatte sich selbst nie an seinen Fonds beteiligt. Die weichen Kosten für Planung, Projektierung und Geldbeschaffung rund um das jeweilige Projekt waren künstlich extrem überhöht worden und total verschleiert, sodass sie kaum ein Interessent nachverfolgen konnte. Bei allen Maßnahmen landeten höchstmögliche Provisionen bei ihm, seine diversen Geschäftsführergehälter waren so hoch bemessen, dass die einzelnen GmbHs früher oder später pleite gehen mussten. Die Mietgarantie bestand nur im Prospekt für die Interessenten. Und sobald der Fonds voll war, hatte Edgar jegliches Interesse an seinen Fondsobjekten verloren. Einerseits hatte er sich in heruntergekommene, billige Immobilien eingekauft, diese aber als Topobjekte dargestellt, natürlich mit gefälschten Zahlen und völlig irrationalen Prognosen zu Wertsteigerung und Gewinnen. So kam zwar schnell viel Geld von den Anlegern rein, aber auf Dauer wurden die Erträge aus den Objekten zu niedrig, um die laufenden Renditen zu erwirtschaften und auszuschütten. Bis jetzt hatte er dieses Problem durch neue Einlagen, die er laufend akquiriert hatte, problemlos ausgleichen können.

Dies waren in letzter Zeit überwiegend Fondseinlagen auf sein neues Großprojekt in Polen, eine betreute Seniorenwohnanlage auf dem Land in der Nähe von Posen, herrlich an einem naturnahen Flüsschen gelegen. Allerdings nur auf den Fotos der Hochglanzbroschüre, die er für teures Geld bei einem verschwiegenen Grafiker bestellt hatte. Mit Photoshop und diversen 3D-Programmen konnte man nicht nur Models schlanker machen oder Oberweiten vergrößern, sondern auch nicht existierende Gebäude und fröhliche Bewohner naturgetreu und dreidimensional in Landschaften einbauen. In Wirklichkeit stand auf dem Gelände am Fluss nur eine ursprünglich bunte, inzwischen verwitterte, ausgebleichte Bautafel. Die Baustelle hatte noch nie Bauarbeiter gesehen. Ein Großteil der für dieses und die bestehenden Projekte eingegangenen Anlegergelder lag bereits sicher und anonym auf seinen beiden Konten und Depots auf Grand Cayman und in Panama. Bei kleinen unbekannten Banken, verschwiegen, diskret. Insgesamt mehr als vier Millionen Euro. Ein kleiner Teil war als »Spende« für einige Bauamtsmitarbeiter in Posen draufgegangen. Das ärgerte ihn zwar, aber es war unumgänglich. Der größte Teil der noch verfügbaren 200.000 seines Schwiegervaters war sicher in Lichtenstein angelegt. Ein bisschen was brauchte man schließlich »vor Ort«, schnell mal greifbar.