Der Jemen Deal - Hans Bischoff - E-Book

Der Jemen Deal E-Book

Hans Bischoff

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Beschreibung

Fulminante Thriller-Spannung vor dem aktuellen Hintergrund des Krieges im Jemen Mit der »Operation Decisive Storm«, der Militärintervention einer von Saudi-Arabien geführten Militärallianz begann im März 2015 der aktuelle Krieg im Jemen. Vor diesem realistischen Hintergrund handelt der Politthriller »Der Jemen Deal«. Ein Toter in Lappland löst Ermittlungen aus, die den geheimen Waffendeal einer Gruppe innerhalb deutscher Behörden mit einem jemenitischen Warlord stören, in den auch BND und CIA verwickelt sind. Skrupellose Partner, die vor nichts zurückschrecken. Auch nicht davor, ihr Ziel mit Terror zu erreichen. Marc Möller, Kriminalkommissar beim LKA Hamburg, verfolgt von den Dämonen einer persönlichen Schuld, trifft dabei auf deren Grund: Einen eiskalten Mörder und Terroristen. Möller gerät mit den Ermittlungen immer tiefer zwischen die tödlichen Fronten des Deals bis er sich zwischen seiner Liebe und der persönlichen Rache entscheiden muss, die ihn vom dunkelsten Ort seiner Karriere an die eigenen Grenzen stoßen lässt …

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Seitenzahl: 507

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Hans Bischoff

Der Jemen Deal

Hans Bischoff

DER JEMEN DEAL

Politthriller

© 2023 Hans Bischoff

ISBN Softcover: 978-3-347-86792-5

ISBN Hardcover: 978-3-347-86793-2

ISBN E-Book: 978-3-347-86794-9

Druck und Distribution im Auftrag des Autors:

tredition GmbH

An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Umschlagsdesign und Satz: artwork49

Umschlagmotiv: Mario Jiminez, pixabay.com

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.

Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich.

Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.

Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter:

tredition GmbH, Abteilung „Impressumservice“,

An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Der Autor

Hans Bischoff lebt mit seiner Frau in Überlingen am Bodensee. Er wurde im Mai 1949 in Stuttgart geboren, wo er auch aufwuchs. Er arbeitete rund 40 Jahre lang erfolgreich in der Werbung, davon führte er 27 Jahre lang bis 2014 seine eigene, international tätige Werbeagentur. Nach dem Ausscheiden aus dem operativen Geschäft entdeckte er seine Lust am Schreiben von Kriminalromanen sowie originellen Kurzgeschichten und begann 2015 seinen ersten Kriminalroman zu schreiben: »Im Bann der Rache«. Ein Jahr später folgte mit »Das tödliche Bild« der zweite Roman einer Serie um den Protagonisten Peter Förster. Das in 2019 entstandene, und hier neu aufgelegte dritte Werk »Der Jemen Deal« brachte als Politthriller ein neues Genre ins Spiel und wich in Stil, Handlung und Schauplätzen von den beiden ersten Romanen völlig ab. Hierbei führte der aktuelle Krieg im Jemen zur Romanidee und bildete den Hintergrund des Romans. Als dritter Band der Peter-Förster-Reihe kam im Juli 2020 »Das letzte Opfer« dazu. Ende 2020 erschien der Bodenseekrimi »Zündstoff«. Alle fünf sind im Selfpublishing veröffentlicht. Neben dem Schreiben befasst sich Hans Bischoff aktiv mit den Themen Fotografie, Video und Grafik.

Leseproben, mehr zum Autor sowie weitere Titel von ihm gibt es auf der Autorenwebseite www.hans-bischoff.de

Hamburg. Dezember 2015

»Seb!« Nichts. »Seb?«

Er beugt den Kopf leicht zur Seite und flüstert in das winzige Mikrofon an seinem Hemdkragen. »Seb, verdammt noch mal, melde dich!«

Es knistert nur in seinem kleinen Knopf im Ohr. Sonst ist es still. Er versucht, sich in der totalen Schwärze der heruntergekommenen Industriehalle zu orientieren. Plötzlich sind da die Stimmen. Kehlige Laute. Arabisch? Er ist sich sicher, das sind sie.

Jetzt, Geräusche wie Schläge zerreißen die Stille. Stöhnen. Ein Schrei. Er umklammert die P8 Combat, seine gegen alle Ausstattungsvorschriften verteidigte Dienstwaffe. Er hält sie mit beiden Händen im Angriffsmodus nach vorne gestreckt und schleicht vorsichtig zwischen herumliegenden Schrottteilen in Richtung der angrenzenden zweiten Halle. Die weichen dicken Gummisohlen seiner Turnschuhe dämpfen die Trittgeräusche.

Er riecht es. Benzin. Und dann dieser entsetzliche Schrei, das grelle Licht, das hinter dem Durchgang in der Nebenhalle aufleuchtet. Sebastian. Der erste Schrei geht in ein markerschütterndes Wehklagen über. Unmenschlich. Er stolpert, rennt dann aber auf den schmalen Durchgang zu. Beißender Qualm und der Gestank nach verbranntem Fleisch schlagen ihm entgegen. Dann sieht er ihn.

Sebastian, sein Kollege und Freund, wälzt sich in einem Feuerball. Er ist an Händen und Füßen gefesselt. Drei schwarze Gestalten, die nur leicht vom flackernden Licht der Flammen getroffen werden, laufen soeben weg. Schüsse schlagen neben ihm in die abgebröckelte Mauer ein.

Er geht in Deckung und brüllt in seiner Verzweiflung los, dennoch greifen die instinktiven Mechanismen seiner Ausbildung. Er schießt sofort, leert fast das komplette Magazin. Der Schrei eines Getroffenen geht im Wahnsinn der lodernden Flammen und des noch immer schreienden Sebastian unter.

Dann ist nur noch das Feuer zu hören, die letzten züngelnden Flammen knistern, Seb ist ruhig. Er versucht ihn umzudrehen, dabei übergibt er sich in fürchterlichen Krämpfen. Das verbrannte Fleisch, der Gestank, die toten Augen, die ihn aus dem verkohlten Gesicht anstarren. Er schreit seinen Schmerz und seine Wut hinaus, der Schrei …

Er schreckt hoch, panisch, ist schweißgebadet, nass. Das Herz rast, er atmet stoßweise. Die Brust zieht sich zusammen. Er schaut orientierungslos um sich und braucht ein paar Sekunden, um wieder einigermaßen klar zu werden. Der Radiowecker zeigt 06: 18 Uhr am 20. März 2016. Der Alptraum war in dieser Nacht so realistisch wie selten. Der Film läuft auch jetzt noch ganz klar und deutlich in seinem Kopf ab. Der pure Horror. Das Feuer. Die Schreie, die schwarzen Gestalten. Dieser Film seines Versagens, seiner Schuld. Die Bilder jener Aktion, die sich so furchtbar zur Katastrophe entwickelte. Die er zu verantworten hat. Sein Fehler. Seine Schuld.

Er liegt bewegungslos auf dem Rücken, starrt auf die Lichtreflexe der Jalousie, die sich zuckend auf der Zimmerdecke bewegen. Mühsam wälzt er sich aus dem verschwitzten Bett, die Bettdecke rutscht auf den Fußboden, er tritt achtlos darauf.

Marc Möller, Kriminalkommissar beim Landeskriminalamt Hamburg, erreicht gerade noch das Bad und kotzt sich die Seele aus dem Leib. Wieder mal. Wie schon öfter in den letzten Wochen. Er ist ein Wrack. Aber er weiß, er wird das Schwein kriegen. Achmed al Hamiri. Den Jordanier. Sebastian Kurz‘ Mörder.

Irgendwann.

Tornio, Finnland. 16. März 2016

»Mika«, ruft die junge Frau dem kleinen Jungen zu, der einige Meter vor ihr her hüpft. »Mika, nimm Joki an die Leine!«

Aber Joki, ein bulliger Golden Retriever, denkt überhaupt nicht daran, angeleint zu werden und rast bellend auf den Fußgängersteg zur Flussinsel Pikisaari zu. Dort bleibt er schwanzwedelnd stehen und hört nicht mehr auf, zu kläffen.

»Joki, hier«, ruft die Frau jetzt missmutig, ohne Erfolg. Dann erreicht sie zusammen mit Mika den Hund und erstarrt. Was da im niedrigen Buschwerk am Ufer des Tornionjoki, dem Fluss an dem die Kleinstadt Tornio liegt, herausragt, gehört da nicht hin.

Die aufgedunsene und völlig zerschrammte Leiche zwischen den grauen Schneeresten ist nackt.

Die Frau reißt den Hund an sich, bindet ihn an die Leine, schnappt sich das Kind und rennt panisch einige Meter weg. Dort bleibt sie zitternd stehen und hält sich die Hand vor den Mund. Ihr Gesicht wirkt kalkweiß. Sie blickt mit weit aufgerissenen Augen zurück zum Fluss, auf dem die letzten Eisschollen des Winters gemächlich südwärts treiben.

Es ist der 16. März und der Fluss ist hier, kurz vor seiner Mündung in die Ostsee, weitgehend eisfrei. Jetzt sieht die Frau ein älteres Paar aus der Gegenrichtung kommen und ruft und winkt.

»Hey, holen Sie die Polizei! Schnell, hier liegt ein Toter!«

»Was sagen Sie? Was soll hier liegen?«, fragt der Mann überrascht zurück.

»Ein Toter! Rufen Sie doch endlich an!«

Das Kind weint, der Hund zerrt an der Leine und bellt noch immer, als nur wenige Minuten nach dem Anruf des älteren Mannes die Polizeistreife eintrifft. Erst da erholt sich die junge Frau langsam von ihrem Schock.

Tornio ist eine ruhige Kleinstadt im nördlichen Finnland, unmittelbar am Grenzfluss zu Schweden am Bottnischen Meerbusen gelegen. Nur wenige Kilometer weiter mündet der über 400 Kilometer lange, frei fließende Fluss in einem Delta in das Nordende der Ostsee. Tornio gilt als älteste Stadt Lapplands und ist durch Industrie geprägt.

Die Polizeistation in Tornio ist momentan unterbesetzt. Zwei Beamte sind aufgrund falscher Planung gleichzeitig auf einem Lehrgang, einer feiert krank. Deshalb ruft der Diensthabende das Revier in der Nachbarstadt Kemi an und bittet dort die Kripo um Übernahme des Falles und Amtshilfe.

Sara Virtanen hat vor vier Tagen ihren neunundzwanzigsten Geburtstag gefeiert und ist erst seit kurzem Kommissarin. Sie kümmert sich gerade um die Klärung einer Kette von Ladendiebstählen, als ihr Chef sie aus seinem Glaskasten zu sich her winkt. »Sara, bist du noch an den Diebstählen?«

Sie nickt. »Ja!«

»Ok, dann leg die Geschichte weg und mach dich auf die Socken nach Tornio. Dort ist eine Leiche angeschwemmt worden und die haben mal wieder keine Leute. Oder keine Lust«, fügt er hinzu.

Sara versucht, dazwischen zu fragen, doch der Chef winkt ab. »Du nimmst den Dienstwagen, schaust die Sache mal an und übernimmst. Es sieht so aus, als ob der Tote schon länger unterwegs war, sagt zumindest der Kollege in Tornio. Es gibt eine Zeugin, die ihn gefunden hat. Also los, und mach‘s gut! Und bereite Dich darauf vor, dass es kein schöner Anblick wird!«

Damit ist sie entlassen. Sie schließt ganz zaghaft hinter sich die Glastür zum Chefbüro und geht langsam über den Flur. Sie übersieht sogar den Kollegen, der ihr entgegen kommt.

»Hey Sara!«

»Äh, … sorry!«

An ihrem Schreibtisch lässt sie sich auf den harten Bürostuhl fallen, wird sich aber im gleichen Moment bewusst, dass Matti Nurminen, ihr Boss, sie durch die Glaswände beobachtet. Sie fühlt sich ertappt.

Es ist ihr erster richtiger Fall, sieht man mal davon ab, dass sie bei einem Tötungsdelikt vor einem Vierteljahr als Assistentin eingesetzt war. Jetzt hat sie ihren ersten eigenen Toten. Ihre Nerven flattern nach wie vor, als sie in den warmen Parka mit der Pelzkapuze schlüpft, ihre Tasche umhängt und mit einer fahrigen Bewegung den Schlüssel des Dienstvolvos vom Haken neben der Tür zerrt. Dass Nurminen hinter ihr her grinst, bemerkt sie nicht mehr.

Sara ist eine hübsche junge Frau, keine makellose Modelschönheit. Sie pflegt ihre sportlich schlanke Figur, die langen blonden Haare trägt sie meist locker zusammengeknotet als Pferdeschwanz oder hochgesteckt. Aus hellblauen Augen strahlt Offenheit, Freundlichkeit. Sie lächelt gern, ist ein bisschen schüchtern.

»Du musst dein Selbstbewusstsein stärken!«, meckert Nurminen öfter mal. »Du kannst es doch! Du bist gut.«

Dreißig Minuten später erreicht sie den Fundort der Leiche am Fluss. Die beiden Kollegen aus Tornio sind froh, dass sie den Fall los sind. Sie informieren Sara kurz über die Umstände des Funds und über die in einem nur wenige hundert Meter entfernten Café wartenden Zeugen. Dann bremsen sie die Schaulust der inzwischen mit den Smartphones filmenden Gaffer. Beim Wegfahren hatte Sara bereits die Spurensicherung angerufen, die jetzt auch aus Kemi eintrifft und den Fundort samt dem Toten in Augenschein nimmt.

Es ist gut, dass die Kollegen die Zeugen nicht in der Kälte warten ließen, denkt Sara Virtanen und betritt das kleine Café in der Pitkäkatu, einer schmalen Straße, die am Park entlang führt.

Das ältere Paar und die junge Frau sitzen abwartend an einem runden Tisch, das Kind spielt mit dem Hund auf dem Fußboden.

»Hey, ich bin Sara Virtanen, die ermittelnde Kommissarin. Würden Sie mir bitte Ihre Namen sagen, oder besser, die Ausweise zeigen.«

Der Mann schaut sie fragend und etwas abschätzend an. So, als traue er dieser jungen Frau keine erfolgversprechende Polizeiarbeit zu.

»Sie sind nicht von hier, ich kenne die Polizei in Tornio.«

Sara schüttelt den Kopf. »Nein, ich komme aus Kemi und unterstütze die Kollegen hier. Aber nun zu Ihnen.«

Sie ärgert sich über den Alten und seinen Blick, dann wendet sie sich an die junge Frau, dreht ihren Ausweis in der Hand und liest.

»Elsa Häkinen. Elsa, Sie haben den Toten gefunden? Schildern Sie mir bitte kurz die Umstände.«

»Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich war mit Mika und dem Hund im Park am Fluss spazieren, wissen Sie, der muss halt raus, auch wenn das Wetter nicht dazu reizt.«

Sara nickt verstehend, die Frau zieht das Kind am Jackenärmel vom nassen Fußboden hoch.

»Und dann lief Joki«, dabei deutet sie auf den Hund, »plötzlich auf den Steg zu und hörte nicht mehr auf mich. Ich bin dann hingelaufen, da sah ich ihn liegen. Es war furchtbar.« Dabei verzieht sie angeekelt den Mund. »Und dann kamen Gott sei dank die Saaronens und haben die Polizei gerufen. Das ist alles.«

Sara bedankt sich, dann fällt ihr noch etwas ein. »Sie haben nichts angefasst?«

»Um Himmels Willen! Nein, nein! Ich bin gar nicht näher hingelaufen«

Die junge Frau leidet noch immer unter dem Schrecken, Sara beruhigt sie und ist sich im Klaren darüber, dass eine weitere Befragung nichts bringen wird. Sie wendet sich an das Paar.

«Sie sind dazu gekommen? Habe ich das richtig verstanden? Ihr Name ist Saaronen?«

Die Frau schaut teilnahmslos, der Mann nickt. »Ja, aber wir haben die Leiche gar nicht angeschaut, nicht mal von Weitem. Wir haben uns gleich um Elsa hier gekümmert und die Polizei geru…«

»Ich danke Ihnen für Ihre Aussagen und ihr Verständnis, dass es etwas gedauert hat. Ich übernehme die Rechnung hier.«

»Das lasse ich mir gefallen, vielleicht finde ich mal wieder eine Leiche«, ruft der ältere Mann, merkt dann aber sofort, dass er daneben gegriffen hat. »Sollte ein Witz sein.«

»Schon gut! Können Sie noch etwas Sinnvolles dazu ergänzen?«

Der Alte schüttelt den Kopf. Sara denkt Blödmann, dämlicher Witz, bezahlt an der Theke drei Kaffee und verlässt das Café.

Die Spurensicherer sind inzwischen mit ihrer Arbeit fertig, ebenso der Gerichtsmediziner, der Leichenwagen wartet bereits.

»Habt ihr was gefunden oder etwas Besonderes an dem Leichnam entdeckt?«

Der ältere der beiden in Schutzanzüge gehüllten Kollegen verneint. »Der wurde ganz einfach hier angeschwemmt und ist an dem niedrigen Buschwerk hängen geblieben. Rund um den Fundort nur ein paar Spuren von dem Hund, sonst nichts. Und an dem Typ selber ist nicht mehr viel heil geblieben, wir denken, der kommt von weit oben her den Fluss runter. Gefühlt ist der schon über viele Klippen gegangen. Also geschwommen.«

Der jüngere lacht. »Mit ein wenig Glück wäre er an uns vorbei getrieben. Dann hätten wir ihn los.«

Virtanen verdreht die Augen.

Der Gerichtsmediziner, Sara schätzt ihn auf etwa sechzig, hat eine erste Begutachtung der Leiche vorgenommen.

»Ihre Jungs haben das schon gut formuliert. Rundherum Hämatome, von was kann ich Ihnen vielleicht mit Glück nach der Obduktion sagen. Und ich denke, der arme Mann ist schon recht lange unterwegs, vielleicht schon ein, zwei Wochen. Oder sogar länger. Aber das kann ich auch …«

»Danke, ich weiß«, unterbricht ihn Sara Virtanen.

»Ok«, er wendet sich an die Leichenträger, »bringt ihn in die Gerichtsmedizin!«

Er nickt Sara zu, »meine heiligen Hallen«, und verlässt den Fundort.

»Und Doktor, Ihren Bericht bitte schnell. Danke!«, ruft sie ihm freundlich nach.

Die beiden schwarz gekleideten Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts packen den Toten in einen Kunststoffsack, ziehen den Reißverschluss zu und laden ihn auf einer Trage in den Kombi. Wie nennt man diese Männer eigentlich genau, fragt sich Sara. Leichenträger?

Kurz darauf steht sie alleine auf dem Steg und schaut grübelnd den treibenden Eisstücken nach. Ein leichter Wind aus dem Süden kommt auf. Es wird Frühling, denkt sie.

»Wo kommst du her?«, fragt sie laut. Der Fluss gibt keine Antwort.

Dann fährt sie zurück ins Revier nach Kemi, schreibt ihren ersten eigenverantwortlichen Bericht über einen ungeklärten Todesfall und schickt das Foto des Toten, das sie selbst geschossen hat, an die üblichen Stellen: Polizeireviere und Presse der Region.

Hamburg, 20. März 2016

Seit zehn Minuten steht Marc unter der Dusche, die Glasscheiben der Duschkabine sind bereits völlig beschlagen. Der heiße Wasserstrahl brennt auf der Haut, langsam kommt er wieder zu sich, die Realität dieses beschissenen Morgens holt ihn ein. Die Bilder des nächtlichen Traums verblassen. Ganz gehen sie nie weg, er sieht sie immer vor sich, straft sich selbst damit.

Er hat diesen Einsatz damals, vor gut drei Monaten im letzten Dezember, gegen alle Regeln initiiert. Er wollte ihn, egal wie. Hat nicht auf Verstärkung gewartet in dieser frostigen Winternacht, gegen sämtliche Dienstvorschriften verstoßen und seinen Kollegen und besten Freund Sebastian mit hinein gezogen.

Marc Möller war zu diesem Zeitpunkt mit knapp 30 bereits Hauptkommissar, einer der Vorzeigepolizisten im LKA Hamburg. Protegiert durch seinen Chef und Mentor, Kriminalrat Alexander Becker. Warum, und wo er herkam, fragten sich nicht wenige Kollegen in der Mordkommission. Aber Möller schwieg und genoss seinen Erfolgstrip, zeigte sich extrem ehrgeizig und fühlte sich unschlagbar. Der harte, kompromisslose Bulle im Kampf gegen das Böse.

Gemeinsam mit der Drogenfahndung waren er und Sebastian Kurz einer arabischen Gang auf der Spur, die mit unfassbarer Brutalität versuchte, große Teile des Drogenumschlags in und um Hamburg von den Albanern zu übernehmen.

Sebastian und er bildeten das perfekte Team. Guter Bulle, böser Bulle. Der freundliche Polizist, der sachlich und korrekt vorging, überlegte, bevor er handelte. Und der coole Cop, der gerne kräftig zupackte, bevor er mit einem möglichen Kriminellen redete. Marc Möller war der Böse, der Impulsive, im Team der Dominierende und Dienstgradhöhere.

Über seinen Informanten, einem Flüchtlingsjungen aus Syrien, den er wegen dessen Drogengeschäften unter Druck setzte, hatte Marc von einem möglichen Treffen zwischen den Arabern und den albanischen Drogenhändlern erfahren.

»Wir nehmen die hoch«, sagte er zu Sebastian, der wenig von diesem unkoordinierten Alleingang hielt, aber dabei blieb. Und dann liefen sie den Gangstern genau in die Falle. Anfängerfehler. Sie hatten sich vor der abrissreifen Halle auf dem Areal einer Baustoffhandlung am Müggenburger Kanal im Hafengebiet getrennt.

»Nur mal aus der Ferne observieren«, hatte Marc dem Chef mitgeteilt. Der verbot ihnen ausdrücklich jede konkrete Maßnahme. Doch zuvor hatte Marc das Gespräch auf seinem iPhone schon weggedrückt.

»Chef, ich verstehe Sie nicht mehr, schlechter Empfang!«

Und plötzlich war Sebastian Kurz weg, er antwortete nicht. Sie hatten ihn unvorbereitet erwischt, brutal zusammengeschlagen, gefesselt und mit Messern gefoltert. Er hatte keine Chance. Obwohl Möller höchstens zehn Minuten später von der gegenüberliegenden Seite in die weitläufige Halle eindrang, war es zu spät. Sie hatten ihn mit Benzin übergossen, sie wollten ein Exempel statuieren: »Ihr Scheißbullen, bleibt uns vom Leib!«

Der Kollege brannte lichterloh, er hatte keine Überlebenschance. Er war eine lebende Fackel. Und Möller plagte neben der Trauer um seinen Freund und der entsetzlichen Wut auf sich selbst ein Riesenproblem. Der Einsatz wurde ihm als Dienstvergehen angelastet. Die Interne ermittelte gegen ihn. Allerdings konnte ihm, außer der offensichtlichen Zuwiderhandlung gegen die Anweisung des Dezernatsleiters kein fachliches Versagen nachgewiesen werden. Also eine Disziplinarstrafe. Zuerst suspendiert, wurde er abschließend zum Kommissar degradiert, mit wenig Aussicht auf zukünftige Beförderung.

Marc interessiert das alles nicht, er zieht sich völlig in sein Schneckenhaus zurück, schiebt lustlos Dienst. Aus dem aktiven Bullen wird eine lahme Ente. Becker lässt ihn nicht mehr nach draußen. Innendienst. Marc sträubt sich nicht dagegen. Er spult seine Stunden ab und vergräbt sich danach in seiner Wohnung. Niemand kommt an ihn ran. Bis heute holen ihn die Alpträume ein, sieht er die Bilder vor sich.

»Der pflegt sein Trauma«, kommentieren die Kollegen in der Abteilung, von denen der größte Teil ihm die Schuld an Sebastians Tod zuschiebt. Er war vorher aus Neid über seine unkonventionelle Ermittlungsarbeit, seine Erfolge, sein oft fragwürdiges Vorgehen und dessen Deckung durch ganz oben schon nicht übermäßig beliebt, jetzt mobben sie ihn, wo es geht. Selbst Becker, sein väterlicher Förderer, geht ihm weitgehend aus dem Weg und beschäftigt ihn mit unwichtigen Fällen.

Idiotenarbeit denkt Marc. Es macht ihm nichts aus. Erfolg, Karriere, Spaß an der Arbeit bewegen ihn nicht. Er hat in diesem Leben zur Zeit nur noch ein Ziel: Den Mann, der Sebastian töten ließ, zur Strecke zu bringen. Den Mann, der ihm den Freund nahm. Den Mann, der ihn zum Schuldigen machte. Den Boss der arabischen Gang: Achmed al Hamiri. Der Jordanier.

Marc will nur noch Rache. Er zieht sich zurück, wird zum Gespenst in seiner Umwelt, er lebt seinen Hass Tag für Tag.

Muonio, Finnland. 27. Februar 2016

Nur wenige Minuten nach ihrem Eintreffen stehen bereits die Gläser mit Koskenkorva, dem finnischem Wodka mit dem legendären Ruf vor den sechs Männern an der Hotelbar, nahe dem kleinen Grenzort Muonio im finnischen Lappland.

Gegen sechzehn Uhr ist die Gruppe von ihrem zweitägigen Trip mit dem Motorschlitten durch die tief verschneite, inzwischen nächtliche Tundra ins Hotel zurückgekommen, hat sich ihrer Helme, Thermoanzüge und -stiefel entledigt und sofort auf den Weg in die warme Hotelbar gemacht. Ronnie, der finnische Guide und seine fünf Gäste. Drei hohe Beamte aus dem Berliner Wirtschaftsministerium und zwei Vertreter des Verbands der Waffenindustrie in Deutschland, gleichzeitig leitende Mitarbeiter eines baden-württembergischen Waffenherstellers.

Offiziell sind sie nicht hier, in der eisigen Winterlandschaft nördlich des Polarkreises. Alle fünf haben sich lediglich für ein paar Tage Urlaub abgemeldet. »Mal kurz ausspannen.«

Ein Ausflug mit Schlittenhunden gehört ebenso zu dem Treffen wie der Zweitagestrip mit den schnellen Snowmobilen. Mit voller Power topfebene Eisflächen zu überqueren oder auf kurvigen Spuren durch die niedrigen Kiefernwälder zu cruisen verbindet genauso wie die Abende am Kamin und an der Bar. Wodka hilft dabei besonders gut, sich kennen, verstehen und sich vor allem gegenseitig vertrauen zu lernen.

»120 waren das mindestens!«

Die Gruppe übertrifft sich mit erreichten Höchstgeschwindigkeiten und persönlichen Abenteuern. Sie fühlen sich sicher. Der Guide bestellt die nächste Runde »Kossu« und verabschiedet sich.

Jetzt sind die Männer wieder unter sich und kommen auf ihr eigentliches Thema zurück.

»Wie soll das funktionieren? Wir kriegen das Zeug bei uns nicht raus.«

»Verdammt, genau das ist die Antwort, die wir finden müssen!«

Die Diskussion entbrennt. Den kleinen, etwas fülligen und unscheinbaren Mann, der an einem Tischchen nahe des Eingangs zur Bar sitzt beachtet keiner der fünf. Sie sind mit sich selbst beschäftigt.

Der Mann wirkt in dem grauen, für die Region und das sportliche Hotel atypischen Anzug wie ein Vertreter, der eine Pause macht. Er sitzt vor einer Tasse Kaffee und scheint sich für nichts zu interessieren. Auch das Abendessen im Hotelrestaurant nimmt er alleine an einem Einzeltisch ein.

Einer aus der Gruppe der fünf Männer ist jedoch aufmerksam geworden. Er weist seinen Sitznachbarn, von den anderen unbemerkt, auf den eigentümlichen Gast hin.

»Der Typ, schau nicht hin, scheint uns zu beobachten. Mir ist er vorgestern schon aufgefallen, ich habe mir jedoch nichts dabei gedacht.«

Sein Gesprächspartner dreht sich um, als wolle er nach der Bedienung rufen, sein Blick streift kurz den Mann. »Kann es sein, dass uns die Wagner …?«

Der andere zuckt mit der Schulter. »Keine Ahnung, aber lass uns vorsichtig sein!«

Keinem der anderen aus der Gruppe fällt der leicht übergewichtige Mann auf. Auch nicht, als er nach einem Anruf auf seinem Smartphone plötzlich verschwunden ist und nicht mehr zurück kommt.

Nach den vier abenteuerlichen Tagen fliegen alle Teilnehmer der Gruppe am nächsten Vormittag vom nahen Flughafen Kittilä aus ohne konkretes Ergebnis und mit unterschiedlichen Zielen über Helsinki zurück nach Deutschland. Die Teilnehmer haben noch keine sicheren Lösungen gefunden, wie ihr Deal unerkannt realisiert werden könnte. Die logistischen Voraussetzungen erscheinen der kleinen Gruppe einfach zu groß. Der mögliche Beobachter gerät in Vergessenheit.

Weder im Ministerium, im Verband noch bei dem Unternehmen am Rande des Schwarzwaldes ist das Treffen bekannt geworden. Ein Mann weiß davon.

»Ich denke, es lässt sich so nicht durchführen, wir müssen anders vorgehen«, erläutert Dr. Weber-Strittmatter, Unterstaatssekretär im Ministerium für Wirtschaft und Technik, nach seiner Rückkehr vom Treffen in Lappland seinem Gesprächspartner Sebastian Fuhrmann am Handy.

»Sie wissen schon, was wir alle an der Sache verdienen könnten? Ich lasse mir diese Chance nicht rausgehen, es muss doch einen Weg geben«, antwortet Fuhrmann, der vom Fenster seiner großzügigen Penthousewohnung in Berlin auf die Welt unter ihm blickt. »Dann muss ich mir wohl oder übel etwas Entscheidendes einfallen lassen.«

Weber-Strittmatter will noch etwas entgegnen, aber das Gespräch ist bereits beendet.

Vor zwei Wochen hatte sich der BND-Chef für den arabischen Raum bei ihm gemeldet und um ein vertrauliches Gespräch gebeten. Sie trafen sich in einer verschwiegenen Bar in Berlin Mitte. Fuhrmann redete nicht lange um den heißen Brei, sondern kam sehr schnell zum Thema. »Herr Weber-Strittmatter, haben Sie Interesse an einer halben Million?«

Der Mann vom Ministerium reagierte unerwartet cool. »Ich denke, prinzipiell schon.«

Sebastian Fuhrmann ließ sich die Überraschung nicht anmerken und breitete vor seinem Gegenüber einen ungeheuerlichen Plan aus.

»Sie müssen den Deal durchziehen. Ich bleibe im Hintergrund und koordiniere das Ganze mit den beiden Partnern in Arabien.«

Nur eine Stunde später waren sie sich einig. Weber-Strittmatter sagte zu, sich »zeitnah« um die nötigen Partner zu kümmern. »Wobei das nicht einfach wird.«

»Sie wissen, was es bedeuten würde, sollten wir auffliegen! Also keine Fehler!«, hatte ihm Fuhrmann klar gemacht.

Zwei Stunden nach ihrem Telefonat meldet sich Fuhrmann noch einmal. »Ich habe die Lösung. Wir machen den Deal halboffiziell!«

Weber-Strittmatter kapiert nicht sofort. »Wie?«

»Wir versuchen nicht, das Ganze alleine durchzuziehen, dazu fehlen uns die Leute. Wir deklarieren, natürlich nur intern, den Deal als halboffiziellen Wunsch der CIA an den Bundesnachrichtendienst, eine Saudi-Arabien freundlich gesinnte Rebellengruppe mit Waffen zu unterstützen. Im Interesse der Schwächung der iranischen Aktivitäten im Jemen. Der Deal bleibt trotzdem absolut geheim, kriegt aber einen offizielleren Touch! So dass wir die zusätzlich benötigten Leute besser einschalten können. Keiner der Beteiligten weiß von unserem alleinigen ursprünglichen Plan. Wir zahlen denen allen eine kleine Provision und locken mit der Karrieretreppe. So wird unser Deal zu einem streng geheimen Job des Dienstes.«

Berln. 4. März 2016

Die kleine Runde an dem etwas abseits gelegenen Tisch im Restaurant Sissi im Stadtteil Lichterfelde besteht aus vier Personen, drei Männern und einer Frau.

Vom Wirtschaftsministerium sitzen Unterstaatssekretär Klaus Weber-Strittmatter sowie sein Mitarbeiter Max Novitzky am Tisch. Die beiden Gesprächspartner, eine junge, gut aussehende, elegante Dame und ihr Begleiter kommen vom BND, dem Bundesnachrichtendienst, der hier fast um die Ecke sein zweites Domizil neben dem Hauptsitz Pullach unterhält.

Nadine Wagner ist mit 37 Jahren bereits Regierungsamtsrätin und stellvertretende Leiterin der Abteilung für regionale Aufklärung und Beschaffung, zuständig für die arabischen Länder.

Ihr ähnlich alter Begleiter hat sich nicht namentlich vorgestellt, es scheint keinen der Vier zu stören. Nadine Wagner ist sich ihres Aussehens und der Wirkung vor allem auf männliche Gesprächspartner bewusst, sie setzt es, wenn nötig, konsequent ein: Strahlende blaue Augen, brünette, streng zusammengebundene Haare, groß gewachsen, lächelt sie die beiden Abgesandten des Ministeriums gewinnend an.

»Lieber Herr Weber-Strittmatter, wie ist es gelaufen? Ist ja schon ein paar Tage her. Hatten Sie einen schön erfrischenden Aufenthalt nördlich des Polarkreises?«

Der Angesprochene nickt und will gerade antworten, da kommt sie ihm zuvor. »War das Gespräch fruchtbar und wann sind Sie endlich soweit?«

»Frau Wagner …«

»Nennen Sie mich doch Nadine«, überrascht sie ihn.

»Gerne, also Nadine, wir haben unsere gemeinsamen Möglichkeiten geklärt. Der Umfang sollte kein unlösbares Problem werden, die saubere Bezahlung mal vorausgesetzt. Und dazu sollte ich jetzt mal langsam Informationen haben. Die genauen Kosten haben Sie ja. Die Bereitstellung und auch der Transport lassen sich regeln, eine absolute Diskretion auch bei den anderen Partnern mal vorausgesetzt.«

»Das ist unser Bier, wir kümmern uns um die Beteiligten.« Nadine Wagner legt Weber-Strittmatter vertraulich die Hand auf den Arm, die rot lackierten, perfekt manikürten Fingernägel leuchten auf seinem dunklen Anzug. Sie lächelt ihn gewinnend an. »Schauen Sie einfach zu, dass Sie mit dem Lieferanten bald klar kommen und halten Sie den Kreis der Mitwisser klein. Wichtig ist, dass von Ihrer Seite aus nicht doch noch Probleme entstehen.«

Weber-Strittmatter nickt.

Sie zieht die Hand wieder weg. »Wir haben leider noch einige bei unseren Partnern.«

Der Unterstaatssekretär schaut überrascht, etwas pikiert, er wirkt besorgt. »Sie sagten, alles wäre in Ordnung, Sie hätten es im Griff? Was ist los?«

»Unsere Abnehmer haben noch einige finanzielle Probleme aus der Welt zu schaffen, aber das wird gelöst, machen Sie sich deswegen keine Sorgen!«

Genau in diesem Moment serviert der Kellner die Vorspeisen, Nadine lächelt ihm freundlich zu, er wünscht guten Appetit.

»Was heißt das?«, meldet sich der Ministeriumsbeamte sofort.

Nadine beruhigt ihn mit einer kleinen Geste. »Ich sagte, das ist kein Thema.«

»Das Ministerium wird sich finanziell nicht an der Aktion beteiligen können. Niemals! Das darf nicht ansatzweise angedacht werden. Wir können keine versteckten Etats für …«

»Langsam, Herr Doktor Weber!«, sagt Nadine und lässt den zweiten Namen Strittmatter weg. »Reden Sie keinen Quatsch! Das wissen wir auch und …«, sie macht eine kurze Pause, »kümmern uns darum. Wir sind da mit den Amis im Gespräch über einen möglichen Einstieg.«

Jetzt meldet sich Max Novitzky ganz vorsichtig. »Die Amis? Aber ich dachte, dass die nicht offiziell dabei sind …«

»Sind sie auch nicht, aber das braucht Sie nicht zu belasten«, unterbricht ihn Nadine Wagner. Ihre aufgesetzte Freundlichkeit ist in diesem Moment einem geschäftsmäßigen Ernst gewichen. Wobei sie weiß, dass sie wegen dieser finanziellen Schwierigkeiten, wie sie es nannte, ein möglicherweise größeres Problem bekommen würde. Aber das geht diesen Schreibtischtäter aus dem Wirtschaftsministerium im Moment nichts an.

Weber-Strittmatter wirkt plötzlich verunsichert.

»Sie sind sich wirklich sicher, dass da nichts passieren wird? Das läuft doch alles über diesen Jordanier? Sie wissen, wir …«, damit deutet er auf seinen Begleiter Novitzky, »wir lehnen uns verdammt weit aus dem Fenster wegen der Geschichte. Schon das Treffen in Lappland geheim zu halten, war schwierig.«

Er schaut beleidigt, denkt Nadine Wagner, diese Pfeife, lächelt ihn dennoch freundlich an. »Wir schätzen, was Sie für uns tun, keine Angst. Die Sache ist safe. Und ja wirklich nicht zu Ihrem Nachteil. Denken Sie doch bitte an die schöne Prov…«

»Ja, ja, ist schon ok!«, wirft Weber-Strittmatter ein, bevor Novitzky etwas sagen kann.

Nadine schaut ihren bisher stummen Begleiter an. »Fred, fassen Sie doch bitte noch einmal den weiteren Ablauf zusammen.«

Der namenlose BND-Mann streicht über sein Tablet, öffnet eine Datei und liest ab.

»Voraussichtlich nächste Woche wird die Finanzierung stehen, dann können Sie die »echten« Papiere fertig machen.« Er betont das Wort »echten«. »Wenn Sie es dann schaffen, die Genehmigungen unerkannt durch das Bundesamt zu schleusen, oder am besten daran vorbei, kann die Lieferung aus unserer Sicht Ende April noch raus gehen. Vorausgesetzt, Sie haben die Lieferanten im Griff.«

Er blickt kurz von seinem Tablet in die Runde und fährt fort, nachdem niemand reagiert.

»Die Zahlung erfolgt über die vereinbarten Wege Beirut und Zürich in zwei Raten. Eine bei nachgewiesenem Abgang der Ware, eine bei Eintreffen in …«

»Danke«, unterbricht ihn Nadine, »das passt so alles. Noch Fragen, meine Herrn?«

Die beiden aus dem Ministerium schütteln gleichzeitig den Kopf.

»Nein, das ist so in Ordnung. Wollen wir hoffen, dass auch alles so läuft«, sagt Novitzky und ergänzt, »für uns!«

Wagner lächelt und übernimmt die Rechnung. Nach einem Espresso verlassen sie das Restaurant und verabschieden sich. Die beiden Ministeriumsbeamten nehmen ein Taxi, Wagner und ihr Kollege gehen die paar Meter zum Büro zu Fuß.

»Wir werden beobachtet«, raunt Nadine Wagner ihrem Begleiter zu. »Hamiri hat wieder seine persönliche Arabertruppe geschickt. Die beiden in dem dunkelblauen BMW, der dritte sitzt im Wartehäuschen an der Bushaltestelle, jetzt geht er schräg hinter uns auf die andere Straßenseite. Der verdammte Araber ist neugierig und traut uns nicht.«

Fred ohne Nachnamen schaut verständnislos, Nadine muss lachen. »Der will, dass wir die Jungs bemerken, das sind alles Mittelklasseganoven, die er da einsetzt.«

Sie dreht sich zur Seite und winkt den beiden im BMW freundlich zu. »Achmed will uns zeigen, dass er uns im Griff hat. Nun denn, wenn er meint.«

Wenige Minuten später erreichen sie die Dienststelle und trennen sich. Fred hat Bereitschaft, Nadine steigt in ihren schwarzen SUV, sie liebt die noble Marke aus Stuttgart, und fährt nach Hause. Sie weiß, sie muss den Deal zum Laufen kriegen, sonst kann sie sich auf Probleme gefasst machen. Probleme, die sie im Moment überhaupt nicht brauchen kann.

»No Risk, no fun!«, sagt sie sich jedoch schon seit ihrem ersten Tag beim Nachrichtendienst. Und vor allem seit vor drei Tagen ihr Chef Sebastian Fuhrmann sie alleine außerhalb des Dienstes sprechen wollte. Fuhrmann, Nadine schätzt ihn auf gut fünfzig, wirkt bei seiner Größe von über einsneunzig wie ein Magersüchtiger. Nur Haut und Knochen. Sein Credo ist »Dynamik«. Auch für sehr sportliche Mitarbeiter ist es schwierig, ihm zu folgen. Er geht nicht, er rennt. Er fährt nie mit dem Aufzug, weder in sein Penthouse noch ins Büro. Fuhrmann verkörpert den Nimbus des Agenten. Irgendwie ist der immer auf der Flucht, fast unsichtbar, denkt sie sich.

Sie trafen sich in einem Bistro nahe des Brandenburger Tores, dabei war auch ein Unterstaatssekretär aus dem Wirtschaftsministerium, ein Dr. Weber-Strittmatter.

Fuhrmann tippte ganz kurz auf Nadine Wagners Arm.

»Frau Wagner, ich brauche Sie für eine Aktion, die wir, sagen wir mal so, im Interesse unserer amerikanischen Freunde und Kollegen sehr vertraulich und vor allem unbemerkt von anderen Abteilungen, anderen Behörden und von ganz oben, durchführen sollten. Und diese Aktion betrifft Ihr Regionalgebiet. Und …«, er schaute sie eindringlich an, »und sie bietet die Riesenchance für Sie, viel schneller als üblich zwei Schritte weiter zu kommen. Sie verstehen? Sind Sie dabei?«

Nadine Wagner hat damals nicht lange überlegt, die Einbeziehung in eine solche verdeckte Aktion schmeichelte nicht nur ihrem Ego und ihrem Konto. Sondern sie befand sich plötzlich im innersten Kreis, im »Inner Circle« der Macht. Seitdem war sie dabei und für die gesamte Durchführung der Aktion verantwortlich.

Über die CIA in Riad wäre der Wunsch, eigentlich eher die unmissverständliche Forderung, direkt an Fuhrmann herangetragen worden, eine Rebellengruppe im Jemen mit einer umfangreichen Waffenlieferung zu unterstützen. Die USA wollten dort im Gebiet der Huthi nicht direkt eingreifen, sondern die Aktivitäten des Iran, der diese immer mächtiger werdenden Rebellen protegieren würde, vor Ort bremsen. Anscheinend wäre auch die CIA-Führung in Langley nicht in den Deal involviert.

Nadine ist überzeugt, dass Fuhrmann eine Leiche im Keller liegen hat, und er unter Druck steht. Sie nimmt ihm die Story nicht ab. Aber sie hat ja gesagt und spielt mit. Jetzt kann sie das Ganze ausbaden.

Salalah, Oman. 18. März 2016

Es ist kurz vor 18 Uhr, als die beiden von Staub bedeckten Range Rover in die Zufahrt zum Salalah-Rotana-Resort einbiegen. Das Hotel liegt inmitten einer riesigen, künstlich angelegten Freizeitanlage, wenige Kilometer außerhalb der ganz im Süden des Sultanats Oman gelegenen Stadt Salalah, am Strand des Arabischen Meeres.

Nicht mal ganz einhundert Kilometer sind es von hier bis zur Grenze des Jemen. Diesem, von seit Jahrhunderten währenden Bürgerkriegen geschüttelten Staat am Roten Meer.

Vor einer Stunde haben sie die Grenze zum Oman überquert, unkontrolliert. Die beiden schweren Wagen mit ihren geschwärzten Seitenscheiben steuern jetzt über eine schmale Brücke und halten vor einer der von leuchtend grünem, laufend bewässertem Rasen umgebenen Villen. Zwei schwarz gekleidete Posten bewachen den Eingang, die AK 47 einsatzbereit im Anschlag. Auf der Stufe vor der türkis getönten Glastür wartet ein jüngerer Mann, Europäer, im grauen Anzug. Er wirkt in dieser Szenerie fast irreal.

Aus dem hinteren der beiden Wagen springen zwei Begleiter und sichern den Raum um die Fahrzeuge. Kurz darauf öffnet sich die Fondtür des ersten Wagens und ein älterer Mann steigt langsam aus. Er lächelt unergründlich.

Scheich Hamad bin Raschid al Akbar ist ein groß gewachsener, schlanker Mann mit silbernem Vollbart. In seinem weißen Djellab, dem traditionellen Kaftan der arabischen Halbinsel, den Kopf mit der Ghutra bedeckt, dem dreieckig gefalteten Tuch, festgehalten durch zwei schwarze Ringe, ist er eine beeindruckende Erscheinung. Diese unterstreicht zudem der handgeschmiedete, prächtig verzierte jemenitische Krummdolch, den er auf der Hüfte trägt.

Er geht betont aufrecht und entspannt auf den ihn Erwartenden zu. Sein Gesichtsausdruck lässt keine Rückschlüsse auf seine Stimmung zu. Die dunklen Augen sind zu Schlitzen zusammengezogen.

»Salam aleikum.«

»Merhaba, guten Tag«, antwortet der Europäer. »Willkommen in unserem bescheidenen Haus.«

Sie begrüßen sich mit Handschlag und treten nebeneinander durch die Glastür. Die Begleiter des Scheichs bleiben wartend bei den Fahrzeugen zurück. In der Vorhalle wird der Scheich von zwei Arabern, wie er in den Djellab gekleidet, herzlich begrüßt, dann begeben sie sich gemeinsam in ein kleines Besprechungszimmer und nehmen an einem in der Raummitte stehenden, niedrigen runden Tisch Platz.

Der Europäer stellt sich vor. »Daniel Frampton, Sir, Doha Commercial Bank.«

Scheich Hamad nickt ihm nur ausdruckslos zu. Dann beginnt nach einigen Smalltalk-Floskeln die Verhandlung. Der Scheich braucht dringend Waffen, da er mal wieder die Seiten in diesem seit Jahren tobenden Konflikt im Jemen wechseln möchte und deshalb Zusagen machen muss. Er benötigt dafür eine Finanzierung über rund fünfzehn Millionen Dollar. Das Gerät soll aus Deutschland kommen, Topqualität.

Seit Beginn des aktuellen Krieges im Jemen, Ende 2014, ist die humanitäre Lage dort so schlecht wie nie. Vor allem seit dem am 26. März des Vorjahres begonnenen Militärschlag »Operation Decisive Storm« der von Saudi-Arabien geführten Militärallianz sowie der einseitigen Verhängung der Sanktionen des UN-Sicherheitsrates gegen die Huthirebellen vegetieren hunderttausende Flüchtlinge in den verschiedenen Lagern des Landes. Große Teile der Bevölkerung leiden Hunger. Ausländische Hilfsgelder, die für den Kampf gegen die Hungerkrise fließen, landen bei zweifelhaften lokalen Warlords, zu denen auch Hamad bin Raschid gehört. Dennoch hat er in seiner Provinz Sa‘dah die volle Unterstützung der leidenden Bevölkerung.

Hauptakteure des Krieges sind die Huthis, eine Rebellengruppe aus dem Nordjemen, auf der einen, Präsident Abd Rabbu Mansur Hadi mit seiner Regierung auf der anderen Seite. Die Huthis kämpfen seit zwei Jahren in einer Allianz mit dem 2011 gestürzten Präsidenten Ali Abdullah Saleh und kontrollieren seit September 2014 die Hauptstadt Sanaa. Die nach wie vor international anerkannte Regierung Hadi wird von einer durch Saudi-Arabien geführten Koalition politisch und militärisch unterstützt. Das militärische Eingreifen der Koalition ist durch den UN-Sicherheitsrat legitimiert, der den Rückzug der Huthis aus allen Gebieten, vor allem auch der Hauptstadt Sanaa, fordert.

Hintergrund der seit Jahrhunderten schwelenden Konflikte im Jemen ist die starke Aufspaltung der Bevölkerung in stets rivalisierende Stämme, die immer wieder, je nach Interessenlage, für wechselnde Seiten eintreten. Vor allem im Nordjemen speist sich die Zustimmung oder Ablehnung der Huthirebellen sowohl aus historisch loyalen Stämmen, als auch oft nur temporär aus lokalen Interessen mächtiger Stammesführer. Wie Hamad bin Raschid.

Wobei dabei die geopolitische Dimension des Konflikts nicht vergessen werden darf. Zum einen stellvertretend für die Rivalität des sunnitischen Saudi-Arabien und des schiitisch geprägten Irans, aber auch wegen der strategisch besonders wichtigen Lage des Jemen am Golf von Aden für die weltweite Erdölversorgung.

Hat er in den vergangenen Jahren mit unterschiedlichem Engagement die Huthirebellen unterstützt, sieht der Scheich seit einiger Zeit wieder bessere wirtschaftliche Zukunftschancen in einer stärkeren Zuwendung an Saudi-Arabien. Als »Mitgift« in diese neue Ehe bietet er »offiziell« die Versorgung mehrerer regionaler Rebellengruppen, die zumindest teilweise unter seiner Führung operieren, mit modernen Waffen an. Die Saudis nehmen die aufgefrischte Zusammenarbeit gerne an, um die Huthis, und damit den iranischen Einfluss, zu schwächen. Finanzieren muss Hamad die Waffenlieferung jedoch aus eigener Tasche. Wobei er selbstverständlich die aus der neuen Kooperation entstehende Rendite sehr genau hochgerechnet hat. Und im Übrigen keinerlei Absicht hat, die Waffen an irgendwelche »dahergelaufenen Rebellen«, wie er sie bezeichnet, billig abzugeben, um sie zu unterstützen. Seine Abnehmer zahlen gut.

Regulär hat der Scheich keine Chance, Kriegswaffen aus Deutschland zu bekommen, da steht die deutsche Gesetzgebung mit dem Kriegswaffenausfuhrgesetz im Wege. Um dennoch zu versuchen, an die gewünschten Waffen des deutschen Herstellers zu gelangen, lässt er seine enge Verbindung zu John F. Walker spielen, dem Chef der CIA-Basis im saudischen Riad. Dort stößt er bei seinem Anruf auf breites Interesse.

»Mein Freund, was führt dich zu mir? Wechselst du gerade wieder die Seiten?« Walker lacht dröhnend.

»Ich versuche, nur das Beste für mein bedrohtes Land zu tun«, antwortet Hamad bin Raschid betont ernst. »Deshalb rufe ich dich auch an, mein amerikanischer Freund.«

»Also?«

Der Scheich erläutert in wenigen Sätzen den Grund seines Anrufes. »Ich muss den Herren in Riad etwas liefern, um wieder richtig ins Geschäft zu kommen. Und wenn es gegen die Huthis geht, müsste euch das doch gefallen.«

»Die CIA findet alles gut und hilfreich, was die Aktivitäten des Iran im Jemen schwächt«, bestätigt ihm Walker lachend.

»Und was deinen Geldbeutel stärken könnte«, deutet Hamad amüsiert an. »Ich hätte da einen Vorschlag!«

»Wenn ich dir helfen kann, bin ich gerne zu Diensten. Aber willst du unbedingt das Material von diesen verdammten Germans?«

Walker ist ein alter Haudegen im Spionagegeschäft. Exmitglied bei den Navy-SEALS, dieser gefürchteten Spezialeinheit der US-Marine, aufgestellt während des Vietnamkriegs für unkonventionelle Kriegsführung. Ein bulliger Kerl. Einer, der hinlangen kann. Seit drei Jahren wieder Single, nachdem ihn seine zweite Frau mit einem Geschäftsmann aus Katar betrogen und er sie aus der gemeinsamen Wohnung geschmissen hat. Von der US-Navy gelangte er direkt zur CIA. Nach vielen Einsatzjahren als Special Agent, überwiegend im arabischen und asiatischen Raum, übernahm er vor fünf Jahren die Leitung der Basis in Riad. John F. Walker ist involviert in die Entwicklung der Strategie zur Liquidierung von Terroristen durch Drohnen. Zudem leistet er dem Königshaus Saud bei innenpolitischen Problemen mit salafistischen Gruppen Hilfe.

»Wenn die mal putschen sollten, dann müssten unsere amerikanischen Jungs gegen von uns gelieferte US-Waffen und gegen die ebenfalls von uns ausgebildeten Saudipiloten kämpfen. Ist doch total schizophren!«, machte er erst vor einer Woche dem zu Besuch weilenden amerikanischen Außenminister klar.

Walker liefert darüber hinaus mit seinen Mitarbeitern die nachrichtendienstliche Aufklärung für die Einsätze der saudischen Luftwaffe im Jemenkrieg und verantwortet die logistische Unterstützung, wie die Auftankung der Jagdbomber in der Luft durch US-Maschinen.

Seine Position, seine nützlichen Verbindungen nach ganz oben und sein legendärer Ruf als harter Hund erlauben ihm reichlich Freiheiten, die er nur zu gerne nutzt. Was sich immer mal wieder positiv auf sein Bankkonto in Lichtenstein auswirkt. Bisher ist es ihm stets erfolgreich gelungen, Untersuchungen gegen ihn im Keim zu ersticken oder im Sande der arabischen Wüste verlaufen zu lassen.

»Mein Freund, ich werde eine Lösung für dich …«, Walker lacht, »und für mich finden. Warte ab, ich melde mich!«

»Es ist doch immer wertvoll, gute Freundschaften zu pflegen«, antwortet Scheich Hamad nur.

Walker lässt nach dem Gespräch mit dem Scheich keine Zeit verstreichen und braucht nur ein Telefonat über eine, vor allem vor den eigenen Leuten sichere Leitung, um Sebastian Fuhrmann zu überzeugen. Er nutzt einerseits sein Wissen über dessen »Leichen im Keller« aus, andererseits wehrt sich der Deutsche nicht lange gegen die Chance auf eine hohe sechsstellige Summe. Dem Chef der Abteilung für regionale Aufklärung und Beschaffung, Bereich Arabien, im Bundesnachrichtendienst lässt die knappe Million gar nichts anderes übrig, als mitzuspielen.

Als Vierten im Bunde bringt Scheich bin Raschid den Jordanier Achmed al Hamiri ins Spiel. Er arbeitet bereits mehrere Jahre auf unterschiedlichen Märkten – Drogen, Waffen, Entführungen und andere gut dotierte »Dienstleistungen« – mit dem Scheich zusammen und ist sofort dabei. Er soll als Mittelsmann zwischen Fuhrmann und dem Scheich fungieren und sich um die Logistik kümmern.

Und so sitzt sechs Wochen vor dem heutigen Treffen mit den Bankern, Anfang Februar, nur fünf Tage nachdem Hamad bin Raschid mit dem CIA-Mann gesprochen hat, am selben Ort wie heute ein Quartett entschlossener Männer zusammen. Der Scheich, John F. Walker, Sebastian Fuhrmann und Hamiri. Sie alle eint ein Ziel: Mit bestem Waffenmaterial aus deutscher Produktion unerkannt und unbemerkt sehr viel Geld zu verdienen.

»Wir helfen mit dieser Lösung dem Frieden in der Region!«, bemerkt John F. Walker am Schluss der Sitzung feixend.

»Kann ein Mensch so zynisch sein?«, wirft Fuhrmann ein, schlägt dabei jedoch Walker begeistert auf die Schulter. »Wir werden das Ding durchziehen!«

»Das hoffe ich«, ergänzt der Scheich und fixiert seine drei Gesprächspartner mit einem stechenden Blick. »Das hoffe ich!«

Nur Achmed, der Jordanier, bleibt stumm.

Der Plan für den Deal steht, jetzt benötigt der Scheich nur noch das Geld dafür. Das Problem für seine Finanzpartner dabei ist allerdings die derzeitige, völlig unklare politische und wirtschaftliche Situation im Jemen, was dem Konsortium aus Doha-Bank und privaten saudischen Unterstützern großes Kopfzerbrechen bereitet. Zumal die saudische Luftwaffe mit Unterstützung der Emirate und anderer arabischer Staaten auch jetzt noch immer wieder Luftangriffe auf Städte im Jemen fliegt.

»Ein wenig mehr Sicherheit sollte man doch haben«, fordern die Banker und Investoren, »wenn man in ein Kriegsgebiet investiert.« Sie meinen damit einen besonders hohen Zins und sichere Bürgschaften.

Der Scheich herrscht von der Kleinstadt Sa‘dah aus über die gleichnamige, an Saudi-Arabien grenzende Provinz im bergigen Nordwesten des Jemen. Hamad bin Raschid ist Stammesfürst, Waffen- und Drogenhändler sowie Terrorist in einer Person. Schon lange vor dem endgültigen Ausbruch der Kämpfe im Jemen vor über einem Jahr war er erfolgreich in die ständigen Scharmützel zwischen den verschiedenen rivalisierenden Stämmen involviert. Je mehr Waffen gebraucht wurden, desto besser verdiente er.

Viele Jahre lang sympathisierte der Scheich mit den schiitischen Huthi-Rebellen im Nordjemen und unterstützte diese mit einer eigenen kleinen Truppe, bestehend aus vierzig gut ausgebildeten Kämpfern. Er verantwortete zwei erbarmungslose Anschläge in Sanaa, dieser einzigartigen historischen Stadt, als sie von den Huthis eingenommen wurde.

Hamad gehörte auch zu der elitären Schicht von Gefolgsleuten, die vom Wechsel des 2012 gestürzten Machthabers Ali Abdullah Saleh auf die Seite der Huthi-Rebellen profitierten. Sie hatten gegen kleine »Geschenke« weitgehend freie Hand bei Ölexporten und Lebensmittelimporten.

Seit Ende letzten Jahres hat der Scheich die Seiten gewechselt, die Saudis sind für ihn wirtschaftlich interessanter, als die dem Iran zugewandten Huthis. Seine Kämpfermannschaft hat er auf fünfzig Mann aufgestockt. Sein Domizil in Sa‘dah ist besser geschützt und die Wachmannschaft schlagkräftiger bewaffnet.

Auch für seinen Drogenvertrieb ist Sa‘dah, nur gut hundert Kilometer von der saudiarabischen Grenze entfernt, kein schlechter Ausgangspunkt. Hamad ist sowohl mit kolumbianischen Kartellen als auch mit afghanischen Händlern gut im Geschäft.

Darüber hinaus ist er nach wie vor immer mal wieder in der Entführungsbranche tätig. Der ein oder andere unerfahrene Besucher des Jemen landet eine Zeitlang im »Sommerhaus« des Scheichs, tief in den Bergen der Provinz Sa‘dah versteckt.

Eine Stunde später verabschieden sich die beiden Parteien. Der Scheich hat noch keine Zusage der Banker und Investoren.

»Ja, man sei interessiert …, nur die Rahmenbedingungen …, sehr schwierig …«. Klare Aussagen fehlen.

Hamad lässt seine zwar vorhandene Freundschaft mit Saudi-Arabien und seine Bereitschaft, auf dessen Seite gegen die verhassten Huthis zu kämpfen, durchblicken. Macht aber auch deutlich, dass Freundschaften nicht auf ewig in Stein gemeißelt sein müssen. Sein Gesichtsausdruck, als er die Villa verlässt, lässt nicht auf das Verhandlungsergebnis deuten.

Wenige Minuten später sind die beiden Geländewagen wieder auf dem langen, nicht ungefährlichen Rückweg in und durch den Jemen. Der Scheich wählt eine in den Kontakten seines Smartphones gespeicherte Telefonnummer.

»Wir brauchen eine andere Lösung. Mache dir Gedanken, gute Gedanken! Und vor allem recht schnell!«

Dann drückt er ohne Verabschiedung das Gespräch weg.

Tornio, Finnland. 18. März 2016

Nur zwei Tage nach dem Auffinden der Leiche am Fluss ruft das Polizeirevier in Tornio Kommissarin Sara Virtanen in Kemi an.

»Wir haben hier einen Typen. Er behauptet, den Toten im Februar gesehen zu haben. Komm doch bitte rüber, wir bestellen ihn heute noch einmal ein, würde es dir um 16 Uhr passen?«

Kurz vor vier sitzt Sara Virtanen im Vernehmungszimmer des Reviers in Tornio und wartet auf den Zeugen. Punkt 16 Uhr führt eine Kollegin den jungen Mann herein.

Sara mustert ihn. Typischer Hipster, Frisur, der lange Vollbart, kariertes Hemd, sämtliche Klischees treffen zu. Sara bietet ihm einen Stuhl an.

»Setz dich doch bitte. Ich bin Sara Virtanen aus Kemi und ermittle im Fall des …«, sie macht eine kurze Pause, »bis jetzt noch unbekannten Toten. Und wer bist du?«

Sie schaut ihn dabei bewusst freundlich an, er wirkt unsicher, bleibt absolut ernst und verkrampft.

»Ich bin Erik Svensson. Aus Haparanda.«

Haparanda auf der schwedischen Seite des Flusses und Tornio bilden praktisch eine Doppelstadt. Der junge Mann schiebt ungefragt seinen Personalausweis zu Sara über den Tisch.

»Erik, wie kannst du uns helfen? Du kennst den Toten?«

Svensson schüttelt den Kopf und bewegt gleichzeitig den Zeigefinger hin und her. »Nein«, sagt er, »ich kenne ihn nicht, ich habe ihn nur gesehen. In Muonio.«

Sara schaltet das Smartphone ein, das sie auf den Tisch gelegt hat. Sie schaut dabei ihr Gegenüber fragend an, der nickt nur leicht.

»Jetzt erzähle einfach mal der Reihe nach.«

Der junge Mann lehnt sich nun etwas entspannter in seinem Stuhl zurück. »Ok, ich habe das Bild von der Leiche im Haparandabladet gesehen, das ist …«

»Ich kenne eure Zeitung«, wirft Sara ein.

»Ok, der sah zwar echt beschissen aus, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das der Typ war, den ich im Hotel in Muonio gesehen habe. Der ist mir gleich aufgefallen.«

»Warum, was war besonders an ihm«, fragt die Kommissarin.

»Der passte da einfach nicht hin. Sämtliche Gäste liefen in Freizeitklamotten rum, der hatte immer einen Anzug an und ging fast nie raus. Ich habe mich halt gefragt, warum fährt der Typ nach Lappland. Und auch noch im Winter, das ist doch gaga!«

Sara mustert Svensson interessiert, aber von dem kommt nichts mehr. »Hattest du das Gefühl, dass er zu jemand näheren Kontakt hatte, war er allein oder mit einer Frau oder einem anderen Mann da.«

»Ich habe ihn immer nur allein gesehen, an der Bar …« er stockt kurz, »nein, auch einmal beim Abendessen. Da saß er in der Nähe von drei oder vier Männern. Ich glaube, die sprachen deutsch, bin aber nicht sicher.« Er schaut kurz an die Zimmerdecke und denkt nach. »Wenn ich es mir allerdings richtig überlege …«

Sara blickt ihn auffordernd an.

»Es sah fast so aus, als würde er die Männer beobachten.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, der hockte eben da und hat so getan, als schaute er nie auf die Männer, aber … komisch eben.«

Virtanen nickt. »Wie lange und wann warst du eigentlich im Hotel, übrigens, wie heißt das? Und wie lange hast du den Mann gesehen?«

Erik Svensson grübelt ganz kurz. »Das Hotel heißt, äh, Snow- World Resort. Liegt direkt am Fluss, ein paar Kilometer außerhalb von Muonio. Super. Ich war mit meiner Freundin dort, fünf Tage, vom 24. Februar bis zum 1. März. Wir waren zwei davon mit Huskies unterwegs. Den Typen habe ich, warte mal, zwei Mal gesehen. Als wir von unserer Rundfahrt zurückkamen, am Abend und noch mal am nächsten Tag.«

»Er muss dann also mindestens zwei Tage da gewesen sein, vom 26. bis zum 27.«, rechnet Sara aus.

Erik zuckt mit den Schultern. »Wenn du das sagst, ich denke aber, das stimmt. Gibts sonst noch was? Ich sollte lang…«

Sara unterbricht ihn. »Nein danke, das genügt mir jetzt mal vorerst. Oder halt, kannst du die Männer beschreiben? Habt Ihr mitgekriegt, was die unternommen haben?«

Der junge Mann schüttelt den Kopf. »Die waren alle so mittelalt, vierzig vielleicht. Uns haben die nicht interessiert.« Er zuckt mit den Schultern.

»Vielen Dank für deine Aussage, gib mir bitte noch deine Adresse und E-Mail, dann kann ich dir das Protokoll schicken. Du sendest es mir einfach wieder zurück, wenn es für dich in Ordnung ist.«

Sie schiebt Svensson einen Schreibblock über den Tisch, er notiert die gewünschten Angaben, dann stehen beide gleichzeitig auf.

»Vielen Dank noch einmal, du findest raus?«

Svensson nickt und verlässt den Raum. Ohne Handschlag.

Auch recht, denkt Sara. »Jetzt haben wir zumindest mal einen konkreten Ansatzpunkt«, sagt sie zu sich selbst, ganz zufrieden fürs Erste.

Zurück im Büro in Kemi checkt sie im Internet das Hotel und schickt eine Mail an den Polizeiposten in Muonio im tiefsten Lappland, direkt am Grenzfluss zu Schweden, mit der Bitte, im Hotel zum einen das Foto des Toten vorzulegen, die Gästeliste der in Frage kommenden Tage einzusehen und nach Gruppen und deutschen Gästen zu suchen.

Falls er im Hotel getötet wurde, ist der Tote über 200 Kilometer vom reißenden Fluss bis hier her getrieben worden. Unter der Eisdecke, die verhindert hat, dass der Leichnam irgendwo vorher angeschwemmt wurde. Sara kann es kaum glauben. Dann macht sie Feierabend. Einkaufen, Friseur, dann gemütlich auf die Couch. Sie ist nicht der Typ, der allzu viel in der Szene unterwegs ist. Sie braucht ihre Ruhe.

»Läuft doch«, ruft sie ihrem Kollegen beim Rausgehen zu.

Kemi, Finnland. 19. März 2016

Bereits am nächsten Tag gegen späten Nachmittag kommt die Antwort mit den Informationen aus Muonio. Sara Virtanen bedankt sich telefonisch bei dem Kollegen und überfliegt die Gästeliste.

Sie konzentriert sich dabei auf deutsche Namen, 19 Personen insgesamt, die an den drei in Frage kommenden Tagen zwischen dem 24. und 27. Februar eingecheckt waren. Zehn davon gehören einem IT-Unternehmen aus Düsseldorf an, bis auf zwei Männer alles Frauen. Drei bilden eine Familie aus Freiburg, sechs einzelne Männer bleiben übrig, mit denen sie sich näher beschäftigt.

Drei davon haben den selben Wohnort: Berlin. Zwei kommen aus einer Kleinstadt in Baden-Württemberg: Andelfingen am Neckar. Einer ist aus Hamburg angereist. Sie notiert die sechs auf einem Schreibblock.

Dann öffnet sie die zweite Anlage in der Mail und schaut ungläubig. Der Tote, als Manfred Müller aus Cuxhaven angemeldet, ist dem Hotel in schlechter Erinnerung geblieben: Er hat drei Nächte dort verbracht, mit Vollpension, dann war er plötzlich verschwunden, am Nachmittag des 27. Februar, ohne zu bezahlen. Das Hotel hatte zwar sofort Anzeige erstattet, aber der Gast war nicht mehr zu ermitteln. Weder am Flugplatz in Kittilä, noch beim lokalen Busunternehmen, noch bei einem Autovermieter. Er war spurlos verschwunden. Auch ein Handy war nicht zu finden. Lediglich sein Koffer lag noch im Zimmer, er brachte jedoch keine nennenswerten Erkenntnisse zur Person.

»Kein Wunder«, ruft Sara aus, »er war ja schließlich auf dem Weg nach Tornio, im Fluss.«

Ihr Kollege schaut von seinem Bildschirm hoch. »Was ist los?«

»Nichts Besonderes, ich bin nur einen guten Schritt weiter!«

»Bei deiner Wasserleiche?«

Sara nickt nur. Dann bereitet sie eine Anfrage nach Deutschland vor: Informationen zu den fünf Männern aus Berlin und aus dem Schwabenland sowie zu dem Toten. Die Anfrage geht den üblichen Dienstweg über Europol und trifft beim Bundeskriminalamt ein. Von dort geht sie zum zuständigen LKA in Hamburg, weil zumindest der Tote von dort herkommt.

Kurz darauf hält sie den Bericht des Gerichtsmediziners in Händen. Der Tod ist vor etwa zwei bis drei Wochen eingetreten, näher lässt sich der Zeitpunkt nicht eingrenzen. Dem Mann wurde mit brachialer Gewalt das Genick gebrochen. Er muss sofort tot gewesen sein und ist nicht ertrunken. Mögliche Abwehrspuren oder fremde DNA sind aufgrund der schweren Verletzungen, die durch die lange Zeit im reißenden Fluss entstanden sind, nicht festzustellen. Es ist unklar, ob ein Kampf erfolgte. Sicher ist nur, dass der Mörder sein Handwerk versteht, er ist Profi.

Warum ist das geschehen, was war da los, und warum war der eigentlich nackt, fragt sich Sara Virtanen.

Hamburg, 20. März 2016

Claudia Peters winkt Möller durch die Glasscheibe ihres Büros zu sich her. »Guten Morgen, Marc. Nicht gut geschlafen, ich sehe es Ihnen an.«

»Moin«, antwortet Möller, »sehe ich so scheiße aus, dass man es gleich sieht?«

Peters nickt. »Leider. Kaffee?«

Marc zieht die Schultern hoch. »Danke, gern. Aber was gibt‘s?«

Claudia Peters kennt Möller, seit er in die Abteilung LKA 4, Kapitaldelikte gekommen ist. Sie nennt ihn beim Vornamen, sie sind jedoch nach wie vor per Sie. Für ihn bleibt sie Frau Peters.

Bei der letzten Weihnachtsfeier hatten sich zwei Kollegen darüber lustig gemacht, aber für die beiden ist es eine Art Wertschätzung und sie belassen es dabei.

»Sie sollen zum Chef rein, er telefoniert nur gerade noch. Trinken Sie in Ruhe Ihren Kaffee.« Sie lacht. »Dann schauen Sie nicht mehr ganz so zerknittert aus!«

Marc ringt sich zu einem Lächeln durch. »Danke für die Fürsorge, Miss Moneypenny!«

Sie hat einfach was, wie ihr echtes Vorbild im Film. Wenn es ihm besser ginge, könnte er sich wie James Bond fühlen.

»Er hat aufgelegt, gehen Sie rein.«

Marc klopft nur kurz, öffnet die Tür und steht schon fast vor Alexander Beckers Schreibtisch.

Becker ist ein einflussreicher Mann im Landeskriminalamt Hamburg, hat aber das kleinste Büro. »Das ist ein Hasenstall, da müsste eigentlich der Tierschutzverein einschreiten!«, beschwert er sich immer mal wieder lachend. »Aber das Zimmerchen ist so gemütlich, ich habe einen schönen Ausblick und ich bin ganz nahe an meinen Leuten!«

Er blickt sofort von einer Akte hoch. »Moin, setz dich! Du siehst beschissen aus, mein Lieber. Tu was für deine Fitness und häng nicht nur ab!«

Becker ist sauer auf ihn, das weiß Marc. Er ist sicher der unmotivierteste Mitarbeiter in der Abteilung. Dass ihn Becker noch nicht rausgeschmissen hat, wundert ihn selber. Er sagt nichts und schaut Becker nur fragend an.

»Wir haben übers BKA eine Anfrage aus Finnland, irgendwo im Norden.« Er blättert kurz durch die Akte. »Aus Kemi, oder wie das Kaff heißt. Die haben eine angeschwemmte Leiche in der Ostsee gefunden. Die Leiche, also der Typ, war ein paar Wochen zuvor in einem Hotel in Lappland und ist dann plötzlich verschwunden, ohne zu zahlen. Aber …«

»Kümmern wir uns jetzt schon um Zechpreller?«, fragt Möller.

»Rede keinen Scheiß hier, hör mir besser zu! Irgendjemand muss ihn ja schließlich in den Fluss gebracht haben, falls er nicht selber rein gehopst ist. Da waren einige Deutsche, über die will die Kollegin in Kemi etwas wissen. Also, lies alles mal ordentlich durch und dann kümmerst du dich darum! Wenn du nur noch für den Innendienst zu gebrauchen bist, mach wenigstens das richtig. Kapiert?«

Möller nickt. »Kapiert!«

Becker verzieht genervt das Gesicht. »Raus!«

Marc trinkt bei Claudia Peters noch schnell den inzwischen kalten Rest Kaffee aus und begibt sich in sein Büro. Die hübsche Praktikantin, er weiß nicht mal ihren Namen, grüßt freundlich. Er ignoriert sie, wirft die Akte auf seinen Schreibtisch und schaut zum Fenster raus. Durch die noch kahlen Bäume hindurch sieht er die Hindenburgstraße, die von einer schmalen Grünanlage getrennt am imposanten Rundbau mit seinen zehn sternförmig nach außen ragenden Gebäudeteilen vorbei führt. Nur wenige Fahrzeuge sind heute morgen unterwegs.

Dann dreht sich Marc um, stiert noch mal die Praktikantin an, die sie ihm reingesetzt haben, begibt sich an seinen Schreibtisch und schlägt die Akte auf.

Sara Virtanen heißt die Kommissarin, von der die Anfrage stammt. Schöner Name, denkt Möller, klingt jung. Warum, keine Ahnung.

Ein Toter, der gut zwei Wochen, bevor er aus dem Fluss gefischt wird, in einem Hotel in Lappland war – spannend. Was soll ich da machen, fragt er sich.

Er nimmt die Gästeliste aus der Akte, eine IT-Firma. Toller Betriebsausflug, denkt er. Familie mit Kind, sicher sportliche Leute, die haben garantiert nichts mit der Leiche zu tun. Drei einzelne Männer aus Berlin? Zwei aus Baden-Württemberg. Bad Andelfingen? Da klickt‘s bei ihm. Waffenhersteller. Probieren die Sturmgewehre an Elchen aus? Wohl kaum.

Und dann der Tote, Zechpreller. Er tippt Manfred Müller, Cuxhaven, in das Suchregister ein. Ein Ergebnis: Neunzigjähriger obdachloser Ladendieb. Also war die Leiche unter falschem Namen im hohen Norden unterwegs.

Dann gibt er die Namen der drei aus Berlin ein, siehe da, das halbe Ministerium war da auf Reisen. Klaus Weber-Strittmatter, Unterstaatssekretär, Max Novitzky, Abteilungsleiter und ein Klaus-Peter Obermüller, der hat anscheinend keinen Titel. Alle drei aus dem Wirtschaftsministerium.

Haben die sich mit Politikern aus Finnland getroffen? Er blättert in der Akte. Da steht nichts davon. Er nimmt sich die beiden aus dem Schwabenland vor und wird plötzlich stutzig.

Markus Schwarz und Walter Grabowsky, beide für einen führenden Waffenhersteller sowie den Bundesverband der Deutschen Waffenindustrie tätig.

»Wenn das Zufall ist, fress‘ ich einen Besen!«, murmelt Möller vor sich hin.

»Was meinen Sie?«, fragt seine Praktikantin ganz schüchtern.

Möller blickt auf und grinst. »Ich habe nur etwas gefunden, was interessant werden könnte.«

Wie heißt die denn, fragt er sich wieder. »Sorry, klingt jetzt blöd, aber ich habe deinen Namen vergessen.« Die versteckte Frage ist ihm verdammt peinlich, aber sie muss raus.

Die junge Frau fängt an zu kichern. »Sandra. Sandra Mertens. Ich bin ja auch erst einen Tag hier!« Sie schaut ihn belustigt an, Marc Möller kann in dieser Situation auch nur lachen.

»Sandra, ich bin Marc! Und entschuldige meine Blödheit! Ok?«

Sie steht von ihrem Bürostuhl auf und dreht sich mit einem ironischen Lächeln Möller entgegen. »Hallo! Schön, dass du mich schon zur Kenntnis nimmst!«

Marc steht auf und geht auf sie zu, sie schütteln sich die Hände.

»Willkommen im Team. Tut mir leid, du hast dir allerdings nicht den vorteilhaftesten Kollegen ausgesucht, Pech gehabt.«

»Ich weiß, man hat mich schon gewarnt, als klar war, dass ich mit dir arbeiten sollte.« Sandra lächelt. »Aber vielleicht ist es ja doch nicht so schlimm. Auf gute Zusammenarbeit!«

Marc nickt ihr zu. »Richtig! Was einen nicht umbringt, macht einen nur härter! Aber ich freue mich. Und jetzt leg mal gleich los! Oder, an was bist du gerade dran?«

»Kein Problem, das ist nur die Zusammenfassung der Hausdurchsuchung bei diesem Clubbetreiber in St. Pauli, ich denke, das kann kurz liegen bleiben.«

In der folgenden halben Stunde weist Marc die Praktikantin in den Fall ein und delegiert verschiedene Aufgaben. Sie soll nach Manfred Müllers im ähnlichen Alter wie der Tote suchen, die vielleicht vermisst würden. Sie soll Näheres über die fünf Männer herausfinden und in Finnland nachhaken, ob es weitere Informationen gibt.

Möller ruft im Wirtschaftsministerium in Berlin an und wird mit der Sekretärin des Unterstaatssekretärs verbunden. Sie vereinbaren einen Gesprächstermin auf Dienstag, 24. März um 14 Uhr im Ministerium, auch mit den Herren Novitzky und Obermüller. Um was es denn gehen würde, fragt die Sekretärin nach.

»Um eine mögliche Zeugenaussage wegen einer Vermisstensuche in Finnland«, antwortet Möller knapp.

Sollen die sich ruhig mal Gedanken machen, denkt er sich.

Berlin. 24. März 2016

Ralf Möller streckt sich in seinem Sitz im ICE von Hamburg nach Berlin. Er hat noch knapp zwei Stunden Bahnfahrt vor sich und blättert in der Lapplandakte, wie er sie nennt. Waffenindustrie und Wirtschaftsministerium gemeinsam im hintersten Lappland? War das nur ein Spaßtrip oder wollten die aus anderen Gründen unter sich sein? Dass keiner was davon merkt?

Aber warum? Marc kommt nicht recht weiter mit seinen Gedanken. Interpretiere ich da etwas rein, fragt er sich. Mal hören, was die drei zu sagen haben. Oder auch nicht, denkt er.