Das Licht in den Birken - Romy Fölck - E-Book

Das Licht in den Birken E-Book

Romy Fölck

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Beschreibung

Dieses Buch ist wie ein heißer, unvergesslicher Sommer – man hofft, es würde niemals enden. Ein alter Hof zwischen Heide und Moor. Das Summen der Bienen, das Rauschen der Birken. Ein heißer Sommer, der für drei Fremde alles verändern wird. Thea wagt mit Mitte fünfzig einen Neuanfang und kehrt nach über zwanzig Jahren im sonnigen Portugal zurück in ihre norddeutsche Heimat. Sie zieht mit ihren beiden Ziegen auf einen idyllischen Hof in die Lüneburger Heide. Hier will sie zur Ruhe kommen und Frieden mit ihrer Vergangenheit schließen. Das Ankommen ist alles andere als einfach – der Hofbesitzer Benno hat ein Händchen für Tiere und Pflanzen, aber anderen Menschen begegnet er schroff. Thea und Benno schaffen es, sich anzunähern als sie einer jungen Frau helfen, die sich beim Wandern den Fuß verletzt hat. Juli bleibt nichts anderes übrig, sie muss ihre Reise aufschieben. Weil es schlecht um den Lebenshof für Tiere steht, werfen Thea und Juli ihre Vorbehalte über Bord und setzen alles daran, Bennos Lebenswerk zu retten.

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Seitenzahl: 420

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Romy Fölck

Das Licht in den Birken

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ein alter Hof zwischen Heide und Moor.

Das Summen der Bienen, das Rauschen der Birken.

Ein heißer Sommer, der für drei Fremde alles verändern wird.

 

Thea wagt mit Mitte fünfzig einen Neuanfang und kehrt nach über zwanzig Jahren im sonnigen Portugal zurück in ihre norddeutsche Heimat. Sie zieht mit ihren beiden Ziegen auf einen idyllischen Hof in der Lüneburger Heide. Hier will sie zur Ruhe kommen und Frieden mit ihrer Vergangenheit schließen. Das Ankommen ist alles andere als einfach – der Hofbesitzer Benno hat ein Händchen für Tiere und Pflanzen, aber anderen Menschen begegnet er schroff.

Thea und Benno schaffen es, sich anzunähern, als sie einer jungen Frau helfen, die sich beim Wandern den Fuß verletzt hat. Juli bleibt nichts anderes übrig, sie muss ihre Reise aufschieben. Weil es schlecht um den Lebenshof für Tiere steht, werfen Thea und Juli ihre Vorbehalte über Bord und setzen alles daran, Bennos Lebenswerk zu retten.

Vita

Romy Fölck wurde 1974 in Meißen geboren. Sie studierte Jura und arbeitete viele Jahre in der Wirtschaft. Mit Mitte 30 entschied sie, ihrem Traum, Schriftstellerin zu sein, eine Chance zu geben. Sie kündigte Job und Wohnung in Leipzig und zog in den Norden. Hier lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann und dem zugelaufenen Huhn Helga und schreibt Romane in einem Haus zwischen Deichen und Apfelbäumen an der Elbe.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Juni 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung und -abbildung Hafen Werbeagentur, Hamburg

ISBN 978-3-644-01765-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Sabine

 

Danke für diese lange,

wunderschöne Freundschaft!

1THEA

Die Stimme der Sängerin streifte sie wie der Hauch des Abendwindes, der vom Meer kommend über die trockenen Wiesen strich. Langsam ließ die sommerliche Hitze nach. Die leichte Brise brachte etwas Abkühlung auf die menschenleere Ebene im Alentejo, auf der sie mit ihren Tieren rastete. Die gesungenen Worte der fadista trafen Thea an ihrer schwachen Stelle.

Nur die Stille höre ich, die deinen Platz eingenommen hat, sang die Sängerin wehmütig. Aber wenigstens hört man den Wind, und wenigstens hört man das Meer.

Thea sog die Luft ein, weil ihre Kehle eng wurde. Ihr war bewusst, dass Menschen wie sie, die einen tiefen Verlust erfahren hatten, bei diesen Zeilen einen Schmerz in der Brust spürten. Ab und an ließ sie ihn zu. Sie hatte gelernt, dass es leichter war, mit ihm zu leben, als ihn immerfort zu verleugnen.

Thea blinzelte die Traurigkeit weg und zog die Strickjacke aus Schafwolle über ihre Schultern. Eine Böe trug den Duft des wilden Thymians mit sich.

Nur nicht melancholisch werden am Vorabend ihrer Abreise. Sie hatte diese Entscheidung nach vielen schlaflosen Nächten getroffen und würde sie nicht mehr infrage stellen.

Lange sah sie hinüber zu den beiden Ziegenhirten, die vor dem kleineren Camper saßen und von denen der Geruch nach gegrilltem Hammel zu ihr herüberzog. Mateus hob den Kopf, als habe er ihren Blick bemerkt.

«Queres comer connosco? Willst du mitessen?», rief er ihr zu.

Sie winkte ihm zu. «Não, obrigado! Nein danke!»

Diesen letzten Abend wollte sie allein verbringen. Nur sie und der vinho tinto. Der köstliche Wein und Amália Rodrigues’ Stimme, die aus dem in die Jahre gekommenen CD-Player rieselte, würden heute Nacht ihre einzigen Begleiter sein. Vermischt mit dem Zirpen der Zikaden, die hinter dem Eukalyptus im Gras hockten, und dem dunklen Klagen der Ziegen, das ab und an den Fado übertönte. Man musste die Wunde säubern, bevor sie verheilen konnte. Und heute Nacht würde sie den alten Schmerz zulassen, um morgen ein ganz neues Leben beginnen zu können.

Es war nie leicht gewesen als imigrante in Portugal. Blauäugig war sie mit Ende zwanzig gewesen. Jung und tief verletzt. Weg hatte sie gewollt, von einem Tag auf den anderen, weg aus Deutschland, weg aus der Heide. Es war ein spontaner Entschluss gewesen, Portugal kam ihr als Erstes in den Sinn. Doch das Leben an der Algarve hatte sie sich leichter vorgestellt, mit mediterranen Nächten, langen Tagen am Meer und entspannten Menschen. Es war ihr nicht schwergefallen, Kontakte zu knüpfen. Doch die hatten ihr erst einmal das Geld aus der Tasche gezogen. Nach einem halben Jahr war ihr Erspartes aufgebraucht gewesen, das anfängliche Urlaubsgefühl verflogen. Die Realität der harten Arbeitswelt Portugals vertrieb die erste Euphorie. Nein, sie hatte nicht klein beigegeben. Zurück nach Hause zu ziehen, war damals nie eine Option gewesen.

Es hatte Jahre gedauert, ein wenig heimisch zu werden und von den mageren Löhnen ihrer wechselnden Aushilfsjobs in der Gastronomie die teure Miete in Lissabon zahlen zu können. Als sie vor gut fünf Jahren einen Aufruf in der Tageszeitung Correio da Manhã las, in dem Wanderhirten für Ziegen gesucht wurden, hatte sie sich spontan gemeldet. Sie kündigte ihre kleine Wohnung, kaufte ein altes Wohnmobil und führte fortan ein Nomadenleben.

Thea liebte Tiere und die Freiheit. Als Kind war sie beinahe jedes Wochenende bei ihrem Onkel auf dem Bauernhof in der Lüneburger Heide gewesen, der eine große Herde von Heidschnucken hielt, eine alte Landschaf-Rasse mit schwarzen Beinen, Schwänzen und Köpfen. Ihre Lieblinge waren jedoch die Ziegen gewesen, die ebenfalls zum Hof gehörten und die anders als die Schafe sogar auf Bäume klettern und Zäune überspringen konnten. Zu gern erinnerte sie sich noch viele Jahre später an die verrückten Streiche der Zicklein, mit deren Milch und Käse Thea aufgewachsen war. Doch als sie sechzehn war, verstarb ihr Onkel, sein Hof mit all seinen Tieren kam in fremde Hände. Ihre Lieblinge sah sie nie wieder.

Der Aufruf, sich als cabreira, als Ziegenhirtin, zu melden, war wie ein Fingerzeig gewesen, eine Reise in ihre glückliche Vergangenheit auf dem Heidschnuckenhof. Sie hatte nach dem Aufruf in der Zeitung nicht lange mit sich ringen müssen. Kurz davor war sie fünfzig geworden, den wechselnden Schichten und der schweren Arbeit in der Gastronomie hatte sie sich nicht mehr gewachsen gefühlt. Also hatte Thea, gemeinsam mit dem Barkeeper Mateus, das Schicksal bei den Hörnern gepackt. Sie schafften mit ihren Ersparnissen eine Ziegenherde mit einhundert Tieren an und gingen auf Wanderschaft. Die Arbeit mit den Ziegen war Teil eines neuen Programms, denn die Tiere waren die perfekten Brandverhüter. Der portugiesische Staat unterstützte die Herden, die, von Wanderhirten geführt, die Wälder von Kleinwuchs, Gesträuch und Unterholz reinigten. Einhundertzwanzig Euro pro Ziege wurden über Fördermittel im ersten Jahr für den vierbeinigen Aufräumtrupp gezahlt.

Die verheerenden Waldbrände 2017 hatten in Portugal ein Umdenken eingeläutet. Damals hatte es mehr als sechzig Todesopfer im Juni, weitere fünfundvierzig im Oktober sowie zahlreiche Verletzte gegeben, riesige Flächen Land waren verbrannt, und seitdem herrschte eine ständige Angst, dass wieder Feuer ausbrechen könnten. Um solche Katastrophen zu verhindern, waren vermehrt Maßnahmen ergriffen worden. Eine davon war das präventive Reinigen der Wälder durch Ziegenherden wie die von Thea und Mateus.

Nach knapp fünf Jahren war ihre Herde auf dreihundert Tiere gewachsen. Ab morgen würden sie alle ihrem Geschäftspartner Mateus gehören, bis auf ihre zwei Lieblingsziegen, die Thea mit der Flasche aufgezogen hatte. Sie zurückzulassen hätte sie nicht über sich gebracht. Clara und Aurélia würden mit ihr nach Deutschland reisen und dort ihren Lebensabend verbringen.

Thea nahm ihr Notizbuch in die Hand, fühlte das Leder, das so alt war wie ihr Auswandererleben. Die letzten Einträge hatte sie vor gut einem Jahr gemacht, als sie eine erste Unsicherheit spürte und die Frage aufkam, ob sie nicht doch wieder nach Deutschland zurückgehen sollte.

Und das Heimweh.

Vor allem diese Sehnsucht nach ihrem Zuhause, die seitdem keine Ruhe mehr gegeben hatte. Es erinnerte sie an die ersten Monate in Portugal, wo das Heimweh sie zerfressen hatte – ein Gefühl, das sich anfühlte wie Liebeskummer. Vielleicht schloss sich jetzt der Kreis, vielleicht war es ein Zeichen, ihr Leben noch einmal komplett zu ändern. Und zu ihren Anfängen zurückzukehren.

Zog es einen im Alter zurück an die Stätte seiner Kindheit? Oder war es die Angst, an einem fernen Ort zu sterben? Sie öffnete das Tagebuch.

Die erste Seite, die sie irgendwann an Silvester zur Jahrtausendwende beschrieben hatte, war angegilbt, die Tinte war mit der Zeit verblichen, aber noch gut lesbar. Fünf Wörter standen dort, fünf Wegweiser, die sie in Zukunft leiten sollten. Für ihr junges Ich waren das die fünf Säulen für ein glückliches Leben gewesen.

Mut stand ganz oben, fein säuberlich in einer Handschrift, die sich mit den Jahren verzogen hatte. Heute schrieb sie knapper, wesentlich unleserlicher.

Es passt noch immer zu mir, dachte Thea. Mut hatte sie immer besessen. Der Mutige wird belohnt, das Credo ihres Lebens. Auch jetzt fand sie, war es mutig von ihr, wieder zurückzugehen, obwohl es dort nichts mehr gab, was sie empfangen würde. Und niemanden, der auf sie wartete.

Leidenschaft, stand darunter. Thea musste lächeln, dass sie diesen Wesenszug an zweiter Stelle aufgelistet hatte. Auch jetzt brannte diese noch in ihr, wenn auch nicht so übermäßig wie vor zwanzig Jahren. Sie war zunehmend stiller geworden.

Hoffnung war das dritte Wort. Die Hoffnung hatte sich ein wenig abgenutzt mit den Jahren. Sie war eine gute Freundin, die da war, wenn man sie brauchte, aber nicht mehr die Peitsche schwang, um sie vorwärtszutreiben.

Das Wort darunter, Erfüllung, war durch einen Wasserfleck auf dem Papier kaum noch zu lesen. Oder war es eine Träne gewesen, die sie über diesem Buch geweint hatte? Thea lehnte sich zurück. Ihr Leben in den letzten Jahren war erfüllt gewesen! Jedoch ganz anders, als sie es damals gedacht hatte. Nein, sie würde keinen Tag missen, keine Entscheidung anders treffen wollen. Auch wenn ihr Lebensweg anders verlief, als sie es sich bei ihrer Auswanderung vorgestellt hatte. Ja, es war immer der richtige gewesen. Dass er einfach sein würde, hatte niemand gesagt.

Sie strich mit dem Finger über das letzte Wort: Liebe. Fünf Buchstaben, die mittlerweile auf sie wirkten wie Hieroglyphen. Für Liebe war nicht viel Platz gewesen in ihrem Leben, jedenfalls nicht für die Zuwendung ihrer eigenen Spezies. Von ihren Tieren hatte sie mehr Liebe bekommen, als sie je wiedergeben konnte.

Mit Schwung warf sie den Lederdeckel zu. Ab morgen würden neue Seiten gefüllt werden müssen. Vielleicht machte sie einen riesigen Fehler. Ließ ihre Ziegenherde in Mateus’ Händen zurück, ihr geliebtes Wohnmobil, wo in jeder Ritze eine Erinnerung steckte. Und die besten Jahre ihres Lebens. Doch es war Zeit, ihre Zelte als cabreira hier in Portugal abzubrechen. Was von einem Urlaubsland zur Wahlheimat und schließlich zu einem Zuhause geworden war. Aber seit einigen Monaten fühlte sie sich doch immer mehr wie die Fremde, die damals aus dem Flieger in Lissabon gestiegen war. Sie war im zugigen Februar angekommen mit ihrem Schmerz, den paar D-Mark-Scheinen in der Tasche und einem ledernen Notizbuch mit ihren Wünschen im Koffer.

Und sie war geblieben. Fünfundzwanzig Jahre.

Nun war sie Mitte fünfzig, und ihre Seele wollte nach Hause.

Morgen würde sie ihren Camper und alles, was sie sich in den Jahren angeschafft hatte, hier zurücklassen. Sie würde wieder dorthin zurückgehen, wo sie mit Ende zwanzig vor den Scherben ihres Glücks gestanden hatte. Der in die Jahre gekommene Transporter, mit dem sie die gut dreitausend Kilometer durch Spanien, Frankreich und Belgien bis nach Norddeutschland fahren würde, war vollgetankt. Ihre beiden Lieblingsziegen waren bereits in ein transportables Holzgatter, das neben ihrem Wohnmobil stand, umgezogen und klagten, dass sie nicht mit den anderen draußen im Gehege die Nacht verbringen durften.

Thea stand auf, spürte bei der abrupten Bewegung den Schmerz im Unterleib und verharrte einen Moment, bis das Ziehen nachließ. Dann nahm sie die Stufe ins Wohnmobil, um sich zu vergewissern, dass alle Papiere in ihrer Reisemappe lagen. Der Arztbrief, ihr Reisepass, die Fahrzeugpapiere des Transporters, die tierärztlichen Dokumente der Ziegen und ihre Geldkarte. Ein Bündel Euronoten lag obenauf. Die Ablösesumme, die Mateus ihr gezahlt hatte und die für die nächsten Monate ihre Existenz sichern sollte, bis sie Fuß gefasst, einen Job und eine passende Wohnung gefunden hatte. Ihr Koffer, jener, den sie schon in Deutschland besessen hatte, stand gepackt auf der Küchenanrichte, weil der Gang im Camper so schmal war. Mateus würde sie morgen früh noch verabschieden und dann hier einziehen. Keinem anderen hätte sie ihr kleines gemütliches Nest auf Rädern übergeben. Dieser Junge, der sie vor fünfzehn Jahren in einer Lissaboner Hafenbar aufgegabelt und sicher nach Hause gebracht hatte, war seitdem ein treuer Begleiter. Und so wie es aussah, in diesem Land ihr einziger Freund. Er hatte mit ihr das Abenteuer gewagt, auf Wanderschaft zu gehen. Er war vierunddreißig Jahre alt, hätte ihr Sohn sein können. Mateus Pereira, der Ziegenhirte mit dem Herzen und dem Starrsinn eines ausgewachsenenStieres. Sie atmete tief durch. Ihn bald nicht mehr in ihrem Alltag zu wissen, war die schwerste Bürde. Natürlich, sie konnten telefonieren und sich am Leben des anderen beteiligen. Wahrscheinlich würde sie anfangs täglich nachfragen, wie die Arbeit lief, wie es der Herde ging und wo sie gerade eingesetzt wurden. Aber würde Mateus noch an sie denken, wenn sie ein paar Monate fort war? In einem Land, das er nie gesehen hatte? Er war jung, bald würde er hoffentlich seine eigene Familie gründen. Seine Freundin Luisa war nicht nur hübsch, sondern auch ein tolles Mädchen, das ihn glücklich machen konnte. Eine Schwiegertochter wie sie hätte sie sich gewünscht.

Sie riss sich aus den Gedanken und schnitt eine Scheibe vom Weißbrot ab, beträufelte es mit Olivenöl, rieb eine Knoblauchzehe darüber und belegte das Brot mit Tomatenscheiben. Ein schlichtes Abendessen, aber sie liebte die einfachen Lebensmittel. Bald würde sie nicht mehr diese in der Sonne Portugals gereiften Tomaten essen können. Wenigstens hatte sie eine Kiste mit Sardinenbüchsen im Transporter, bestes kaltgepresstes Olivenöl und einige Flaschen ihres Lieblingsweins. Mateus konnte ihr Nachschub schicken, sobald die Vorräte aufgebraucht waren. Aber er konnte nicht mit ihr kommen. Diesen Weg musste sie allein antreten.

Sie ging wieder hinaus, setzte sich auf den Klappstuhl, den sie als einziges Möbelstück mitnehmen würde, und sah lange in die dunklen Umrisse der Korkeichen. Die fadista klagte mit Inbrunst ihren Schmerz.

Es war Nacht, es war Nacht. Es wurde nie wieder Tag.

Für Thea brach die letzte Nacht im Alentejo an, sie konnte sich nicht lösen von den Geräuschen der Nacht, von der Nähe zu ihrer Herde, dem Singsang der Zikaden. Erst spät fiel sie in einen leichten Schlaf.

Mateus weckte sie. Schiefergrau war der Himmel vor Sonnenaufgang. Thea rappelte sich schlaftrunken in ihrem Klappstuhl vor dem Camper auf.

Der cabreiro hielt ihr eine Tasse hin. «Um café?»

Sie richtete sich auf und nahm den Espresso, trank ihn in zwei kleinen Schlucken.

«Deverias ir embora agora. Caso contrário, vai ficar muito quente. Du solltest jetzt losfahren. Sonst wird es zu heiß.» Er wandte sich um zum Transporter. Die Kisten mit den Ziegen hatten er und die anderen Ziegenhirten bereits verladen. Sie meckerten unleidig durch die geöffneten Türen.

«Tens razão! Du hast recht!» Thea richtete sich auf und spürte den Schmerz im Rücken. Vielleicht war es gut, dass er den anderen Schmerz überlagerte, der sie die dreitausend Kilometer bis nach Deutschland begleiten würde. Thea stieg in den Camper, holte ihren Koffer und die Mappe. «Adeus, Mateus!» Sie küsste ihn auf beide Wangen.

«Tchau, Thea! Até breve!» Bis bald, sagte er, obwohl sie beide wussten, dass sie sich eine lange Zeit nicht mehr sehen würden. Eine süße Lüge, die sie dankend annahm, um nicht noch in Tränen auszubrechen.

2BENNO

Die Nacht verlor spürbar an Kraft. Der neue Tag schickte ein schwaches Lichtband voraus. Benno trug den Kaffee in der verbeulten Blechtasse in seinen Garten, wo sich die Baumwipfel in einer leichten Brise wiegten. Einsam sang eine Amsel neben ihm im Haselnussstrauch. Blaue Stunde. Er liebte diese Zeit vor der Morgendämmerung. In einer guten halben Stunde würde über der Heide die Sonne aufgehen. Wie jeden Tag hatte ihn seine innere Uhr um vier Uhr dreißig geweckt. Er hatte noch nie verschlafen. Nicht einmal im Winter, als er mit einer schweren Grippe im Bett gelegen hatte.

Mit kleinen Schlucken trank er, spürte das Brennen des Chilipulvers, das er zum Kaffeepulver gab, auf der Zunge. Der ultimative Muntermacher. Er stellte die leere Tasse auf den Terrassenboden, ging die Holzstufen hinab und über den Pfad aus Feldsteinen, die er bald vom Gras befreien musste, damit sie nicht ganz darunter verschwanden. Am Gartenzaun blieb er stehen, blickte hinaus aufs Moor, wo es merklich heller wurde. Eine Weile lauschte er dem Trompeten der Kraniche, die dort draußen nisteten, fernab der Wege und Stege, wo sie sich mit ihren Jungen sicher fühlten.

Einatmen, ausatmen. Die Augen geschlossen halten. Dabei eine Hand auf den Brustkorb legen.

Jeden Morgen bereitete er sich in diesen stillen Minuten auf die Aufgaben des Tages vor. Der laute Ruf des Kuckucks holte ihn zurück.

Benno blinzelte, ließ den Arm sinken. Diese Momente, wenn er bei Sonnenaufgang hier am Zaun stand, und das Wissen, dass da draußen die Natur noch in Ordnung war, entschädigten ihn für den Druck, dem er ausgesetzt war. Seine Koppeln grenzten ans Reservat, schienen beinahe ein Teil von ihm zu sein. Die Pferde, Kühe, Esel, Schweine, Schafe und Alpakas konnten inmitten der Natur leben. Die Hühner, Laufenten und Gänse bevölkerten eine riesige Wiese mit Teich, in dem die ganze Nacht die Frösche quakten. Kein Wunder, dass viele Wanderer einfach durch das Türchen traten, weil sie dachten, sie könnten den Hof besichtigen wie das Moor, das für die Öffentlichkeit auf ausgewiesenen Wegen zugänglich war.

Plötzlich war die Krähe da. Sie saß vor ihm auf dem Zaunpfahl, forderte mit heiseren Krächzlauten ihre morgendliche Wegzehrung. Er griff in seine Hosentasche, holte etwas trockenes Katzenfutter hervor. Die Saatkrähe sprang auf seine Schulter, um die getrockneten Brocken aus seiner Hand zu fressen. Er konnte ihr tiefschwarzes Gefieder streicheln. Sie bedankte sich krächzend und flog davon. Benno sah ihr nach, bis sie hinter den Bäumen verschwand.

Es war an der Zeit. Die Sonne ging hinter den hohen Birken am Wohnhaus auf, sendete ihm ihren rotorangen Gruß. Benno lief auf dem Steinpfad zurück zum Schuppen, um das Vogelfutter zu holen. Auch bei den Gefiederten musste er in den Sommermonaten zufüttern, um die Elternpaare mit ihren Jungtieren zu unterstützen. Obwohl er neben einem Moorgebiet lebte, gab es seit Jahren zu wenig Insekten. Erst anschließend waren die Vierbeiner dran. Sie bekamen das Futter morgens noch im Stall. Knarzend öffnete sich in diesem Moment die Klappe am Hühnerstall. Er hatte den Riegel mit einer Schaltuhr versehen, die sich nach dem Sonnenaufgang richtete. Ein paar Sekunden war Ruhe, dann turnte das bunte Federvolk palavernd auf der Stiege nach unten in den Hühnergarten. Der Hahn schmetterte seinen Gutenmorgengruß gen Moor. Der Kuckuck grüßte zurück. Der Soundtrack des Hofmorgens.

Benno hielt inne, blickte über seine Schulter zum Nebengebäude, das bisher leer gestanden hatte. Bald würde diese Idylle auf dem Hof vorbei sein. Dort drüben hatte er zwei Wohnungen ausgebaut und zur Vermietung ins Netz gestellt. Ein letzter Versuch, den Hof am Leben zu erhalten. Die Spenden waren durch Pandemie und Energiekrise nahezu versiegt. Benno hatte andere Einkommensquellen suchen müssen. Und bevor er hier einen Streichelzoo eröffnete, vermietete er lieber die leer stehenden Wohnungen. Auch wenn er gern allein hier lebte, nahe an Wald und Moor, schaden würde ihm ein wenig Gesellschaft nebenan sicherlich nicht.

Wenigstens hielt eine Ligusterhecke die Neuankömmlinge von seinem Backsteinhäuschen ab. Die Terrasse ging nach hinten heraus zum Moor. Dort war er nach wie vor ungestört, wenn er Ruhe haben wollte. Aber der Garten war offen. Die Beete, das Gewächshaus und der Kräutergarten sollten ebenfalls von den neuen Mietern mitgenutzt werden können. Ein weiterer Anreiz, hier raus in die Einöde zu kommen.

Den Schlüssel musste er gleich noch in die Schlüsselbox hängen, so konnte die Mieterin, die sich mit zwei Haustieren angekündigt hatte, selbst einchecken. Die Miete für drei Monate war bereits auf seinem Konto eingegangen. Das Geld war zum richtigen Zeitpunkt gekommen, um den Futterlieferanten zu zahlen, der bereits damit gedroht hatte, nichts mehr anzuliefern. Zu viele Rechnungen waren noch offen. Hoffentlich tat sich die neue Mieterin selbst einen Gefallen und ließ ihn einfach in Ruhe. Sie würden hier gut miteinander auskommen, in friedlicher Koexistenz, wenn er die Dame mit ihren Schoßhündchen möglichst wenig zu Gesicht bekam.

Er nahm einen Schlüssel vom Nagel und öffnete den Schuppen, schaufelte Vogelfutter in einen Eimer. Das Sommerfutter, kleinteilig, mit dem die Federlinge ihre Jungen füttern konnten, ohne dass sie erstickten. Er warf ein paar Schaufeln ins Vogelhaus und füllte die Vogelbäder im Garten mit frischem Wasser auf, danach die Insektentränken. Am Mittag sollte das Thermometer wieder auf dreißig Grad klettern. Hatte es so heiße Junitage früher schon gegeben? In seiner Jugend hatte es viel geregnet im Juni. Diese heißen und trockenen, beinahe mediterranen Phasen traten vermehrt seit den letzten Jahren auf.

Benno füllte die Gießkannen für das abendliche Bewässern der Hochbeete und Kübelpflanzen an der Pumpe und ging hinüber zum Stall. Bevor er sein Frühstück machte, würde er die Vierbeiner füttern. Die zwei Alpakas, die erst seit letzter Woche bei ihm waren, bekamen zuletzt ihr Futter.

Vom Deckel der Regentonne sprang der schwarz-weiße Kater, schmiegte sich an sein Bein. Benno nahm ihn hoch, kraulte seine Ohren, bis das Schnurren einsetzte. Er war einer von fünf Katzen gewesen, die nach dem Tod des greisen Besitzers aus einer zugemüllten Einraumwohnung befreit worden waren. Abgemagert und dehydriert nach einer monatelangen Tortur, die sich niemand ausmalen konnte und wollte. Benno hatte die Tiere nach den Tagen in der Tierklinik auf den Hof genommen und liebevoll aufgepäppelt. So wie alle Tiere auf seinem Lebenshof, den er seit Jahren mit Ach und Krach am Leben erhielt. Einige kamen zu neuen Besitzern, die meisten blieben jedoch hier.

Er setzte den Kater ab und betrat den Stall. Die Tiere begrüßten ihn hungrig. Das dunkle Muhen der Braunen klang beinahe zärtlich. Er kraulte ihren Kopf, spürte ihre warme Zunge auf seinem Arm. Dann begannen die Esel zu schreien. Benno hob die Arme und dirigierte das Konzert im Stall. Erst als das Futter in den Trögen war, wurde es ruhiger. Er blieb stehen und genoss diese Zeit mit seinen Tieren, bevor er sie hinaus auf die Koppel trieb. Jeden Tag aufs Neue. Es war die Sicherheit immer gleicher Abläufe, die Routine, die er brauchte, um durch den Tag zu kommen.

 

Zum zweiten Frühstück briet er sich Spiegeleier mit Zwiebelringen und Tomaten. Dazu zwei Scheiben Roggenbrot mit Butter. Er strich sie dünner auf als sonst. Seit die Lebensmittel so teuer geworden waren, musste er sich einschränken. Er sparte lieber bei sich als bei den Tieren. Das Gemüse bezog er aus seinem Garten, das Brot backte er selbst. In der Espressokanne zischte der Wasserdampf durch die winzigen Düsen. Das Kaffeepulver schickte ihm ein Freund aus Südtirol. Im Gegenzug bekam Giovanni zweimal im Jahr Bennos Bio-Heidehonig, wenn er geschleudert hatte.

Er sah auf die Uhr über dem Herd, stellte ihn aus. Das Zischen der Eier würde gleich übertönt werden. Kurz nach zehn begann der tägliche Terror. Einmal tief durchatmen und ausharren, bis der Spuk vorbei war. Die Türklingel wurde lange und stürmisch gedrückt, als er sich mit den Eiern an den Tisch gesetzt hatte. Warum er sie nicht abklemmte, wusste er selbst nicht. Vielleicht hatte er sich schon zu sehr an diesen morgendlichen Klingellärm gewöhnt. Er hob seine Blechtasse in Richtung der Eingangstür. «Moin!», grüßte er und schob sich die Gabel mit dem ersten Bissen in den Mund.

Plötzlich war Ruhe.

Benno vergaß zu kauen, legte die Gabel ab und lauschte. Die Postfrau hatte heute viel schneller aufgegeben als sonst. Sollte er nachsehen, was da los war?

Bevor er aufstehen konnte, erschien ein Gesicht am Küchenfenster. Agnes musste mitten im Rosmarinbusch stehen, um zu ihm hereinsehen zu können.

«Benno, Schluss mit diesen Faxen. Mach die Tür auf!» Hartnäckig klopfte sie an die Scheibe. «Auch wenn der Briefkasten voll ist, bekommst du das Einschreiben!» Sie presste einen Umschlag an die Scheibe. «Einwurfeinschreiben! Ist hiermit zugestellt! Du musst den Erhalt nicht einmal unterschreiben.» Der Umschlag verschwand von der Scheibe. Agnes zog ein Tablet aus der Tasche und schrieb etwas darauf.

Benno seufzte und stand auf. Hatte sie also doch noch ihren Willen bekommen. Das Fenster ließ sich nur schwer öffnen. Agnes’ gerötetes Gesicht sah zufrieden aus, als er ihr zunickte. Wie damals in der Schule, wenn sie bessere Noten geschrieben hatte. Sie war danach zur Post gegangen, er zur Bahn. Sie trug noch immer die Briefe aus. Er hatte von einem Tag auf den anderen nicht mehr in seinem Beruf als Lokführer arbeiten können. Nach einem Unfall im Winter vor zwanzig Jahren, dem ein langer Klinikaufenthalt folgte, war er nicht mehr zur Bahn zurückgekehrt. Er war nur auf diesem einsamen Hof zurechtgekommen.

«Hier!» Agnes in ihrem schwarz-gelben Poloshirt lag ein überlegenes Lächeln auf den Lippen. Sie presste ihm den Umschlag an die Brust. «Und leere endlich den Briefkasten! Du machst nur uns beiden das Leben schwer. Den Gerichtsvollzieher interessiert es nicht, ob die Rechnungen und Inkassoschreiben nie von dir gelesen wurden.»

Benno fingerte nach dem Umschlag. «Willst du einen Kaffee?», fragte er höflich.

«Keine Zeit!» Agnes kämpfte sich aus dem Rosmarinstrauch und überquerte mit langen Schritten die Terrasse. «Willst du dir nicht endlich wieder einen Hund zulegen?», rief sie über die Schulter. «Das Trauerjahr ist doch längst vorbei!»

Er winkte ihr zu und schloss das Fenster, drückte das verzogene Holz in den Rahmen. Dann setzte er sich an den Frühstückstisch und schob den Teller zur Seite. Der Appetit war ihm vergangen. Er warf den Umschlag neben sich auf den Tisch, wusste ja eh, was darin stand. Wenn er nicht bald Geld für die offenen Rechnungen auftrieb, würde er seinen Hof verlieren. Das war ihm auch ohne diese Drohkulisse in Papierform bewusst.

Das Handy fand er in einer Jackentasche. Er drückte die Kurzwahltaste eins. «Hannes? Kannst du kommen? Ich brauche dich heute.»

Benno nahm den Teller mit den Spiegeleiern und stellte ihn in der Diele auf den Fliesenboden. Sofort stürmten zwei Katzen heran und machten sich über den Rest seines Frühstücks her. Benno sah ihnen zu. Er musste endlich mehr Geld verdienen und damit den Lebenshof für Tiere retten. Wie, wusste er nicht. Zur Not würde er in der Nacht Zeitungen austragen oder Regale im Supermarkt einräumen. Er nahm sich den Briefkastenschlüssel, um die aufgelaufene Post zu holen. Agnes hatte recht. Sie konnte nichts für seine Schulden. Und ihr tägliches Klingelkonzert war sicherlich kein Geräusch, das ihm fehlen würde.

3THEA

An der Grenze nach Spanien spürte Thea ein letztes Mal einen schmerzenden Zweifel, ob es richtig war, was sie da tat. Mit Mitte fünfzig noch einmal neu anzufangen, ohne Hilfe und ohne einen richtigen Plan, war mehr als verrückt. Es war leichtsinnig. In Portugal hätte sie noch ein paar Jahre mit Mateus und den Ziegen durchs Land ziehen und dann für das Wohnmobil einen festen Stellplatz am Atlantik suchen können. Auf ihre alten Tage das Surfen lernen, vielleicht ein paar Dates wagen und doch noch jemanden kennenlernen, der mit ihr aufs Meer schauen wollte.

Was zog sie in das kalte Deutschland? Warum dieser Einschnitt in ihrem gewohnten Leben? Sie konnte noch immer nicht sagen, woher dieser innere Drang kam, nach Hause zu gehen.

Die Müdigkeit setzte ein, und sie holte sich in einer Bar drei café cortado. Einen trank sie sofort, die anderen füllte sie in ihren Reisebecher. Für die Ziegen kaufte sie an einem Straßenstand ausnahmsweise Maiskolben und etwas Salat. Aber sie meckerten unleidig und mochten nichts fressen. Das Geschaukel war ihnen wahrscheinlich auf den Magen geschlagen.

Als sie dem weißen Band der Straße folgte und beinahe achthundert Kilometer quer durch Spanien fuhr, immer wieder nach Rastplätzen Ausschau hielt, wo sie ihren Ziegen etwas Ruhe und Wasser gab, schüttelte sie die letzte Unsicherheit ab. Sie hatte sich entschieden. Es gab kein Zurück. Ihr neues Leben hatte begonnen, und wie sie leben würde, lag allein in ihrer Hand. Wenn sie scheiterte, konnte sie jederzeit zurückgehen und wieder bei Mateus als cabreira anfangen. Er war dagegen gewesen, dass sie ihn und die Herde verließ, hatte kein Verständnis dafür gehabt, dass ihr altes Herz nach Hause wollte. Sie hatte ihm in all den gemeinsamen Wanderjahren nicht von Deutschland erzählt. Woher sollte er auch Heimweh kennen? Er war noch nie fort gewesen, kannte nicht einmal das Nachbarland Spanien. Nein, dachte sie, während sie mit einhundertzwanzig Stundenkilometern über den Asphalt rollte, umkehren würde sie nicht mehr. Mateus führte ab jetzt sein eigenes Geschäft mit den Ziegen, lebte sein Leben. Schon bei ihrer Auswanderung war das Scheitern keine Option für Thea gewesen. Letztendlich war es nur eine Frage der Sichtweise, wann aus einem Plan ein Drama und daraus ein Desaster wurde. Noch war sie jung genug, um aus eigener Kraft einen Neustart zu schaffen.

In der Nähe von Bilbao aß sie etwas Weißbrot und Serranoschinken mit Oliven, gleich auf dem Parkplatz eines Supermarkts. Erschöpft schlief sie kurz nach Mitternacht auf der dünnen Matratze im Transportraum neben den Ziegen ein, die die Hitze besser auszuhalten schienen als sie selbst. Gegen vier Uhr stand sie auf, wusch sich notdürftig in der Toilette der Raststätte und überquerte bald darauf die Grenze nach Frankreich. Immer noch lagen fast anderthalbtausend Kilometer vor ihr. Zwei weitere Tage in diesem Blechungetüm und zu kurze Ruhezeiten auf der unbequemen Matratze. Dennoch fielen mit jeder Stunde die anfänglichen Zweifel von ihr ab, sie konnte die sich verändernde Umgebung, die an ihr vorbeizog, genießen und sang Lieder im Radio mit.

Als sie Paris hinter sich ließ und auf Belgien zuhielt, stellte sich eine eigenartige Ruhe in ihr ein. Auch die Ziegen schliefen im Heu, als hätten sie sich an die Fahrerei gewöhnt. Sie rastete am Abend ein paar Stunden neben einem Truck, der spanische Orangen geladen hatte. Der Fahrer schob ihr eine Kiste der Früchte in den Laderaum. Dafür überließ sie ihm ein paar Sardinenbüchsen. An einem wackeligen Klapptisch zelebrierten sie ein kleines Abendessen, während die Ziegen neben ihnen angepflockt grasten. Der Trucker erzählte ihr bei einem alkoholfreien Bier Geschichten von seinen Jahren auf der Straße. Thea nickte neben ihm ein. Noch vor Morgengrauen fuhr sie weiter, hob die Hand zum Gruß, als sie seinen Lkw hinter sich ließ.

Wie einsam mochte das Leben für ihn auf der Straße sein? Seine Geschichten waren bunt und abenteuerlich, aber war er hier draußen glücklich? Oder wenigstens zufrieden? Tausende von Kilometern zurückzulegen, die Familie nur alle paar Wochen zu sehen, was war das für ein Leben? Ein Seefahrer der Straße.

Die Landschaft wurde grüner, die Rastplätze erschienen ihr sauberer. Der Kaffee hingegen war nur noch fade, schmeckte wie heißes Wischwasser. In Belgien regnete es sogar ein paar Stunden. Die Ziegen genossen das saftige Grün auf einer Wiese, wo sie die beiden herumtollen ließ. Sie selbst lief barfuß durch das nasse Gras, von dem der Regen perlte. Die Luft roch hier anders, nach Kiefernwald und geschnittenem Holz. Als sie zum Transporter ging, bemerkte sie den einzigartigen Duft von Regen auf Asphalt. Sie blieb stehen, bekam eine Gänsehaut. Wie lange hatte sie diesen speziellen Geruch nicht mehr so intensiv wahrgenommen?

Nur noch ein paar Stunden, bis sie ihr Ziel erreichte. Eine Rast würde sie noch einlegen müssen, um die Tiere nicht zu überfordern. Dann war sie wieder in der Heide. Was würde so sein wie damals, als sie gegangen war? Was würde sich verändert haben? Wie hatten die Jahre in Portugal sie selbst verändert? Sie spürte, dass sie aufgeregt war, ein flatteriges Gefühl machte sich in ihr breit.

Thea ließ die Ziegen in den Laderaum springen und nahm einen tiefen Atemzug. In zwei Stunden würde sie die Grenze nach Deutschland überqueren. Und plötzlich fielen ihr Namen von Freunden ein, die sie längst vergessen zu haben schien. Ein Name drängte sich in ihre Gedanken, den sie hatte vergessen wollen. Aber wenn sie im Norden Deutschlands einen Neuanfang beginnen wollte, musste sie sich mit ihm auseinandersetzen.

Artur. Der Mann, mit dem sie glücklich gewesen war. Und der ihr das Glück von einem Tag auf den anderen wie den Boden unter den Füßen weggerissen hatte. Seinetwegen hatte sie mit Ende zwanzig Deutschland verlassen.

 

Es war weit nach Mitternacht, als das Navi Thea von der Autobahn herunterleitete. Vor knapp einer Stunde hatte sie Hannover passiert, wo ein Gewitter niedergegangen war. Nun fuhr sie bei offenem Fenster, genoss die regenfeuchte Nachtluft und die Aussicht, bald anzukommen. Dichter Nadelwald flog an ihr vorbei. Die Lüneburger Heide, die eine Größe von über zwanzigtausend Hektar einnahm. Die größte Heidelandschaft in Mitteleuropa, mit Wäldern, Wiesen, Mooren und Feldern. Viel grüner als der Alentejo. Waldbrandgefahr bestand im Sommer auch hier, aber sicherlich nicht so immens wie bei den staubtrockenen Flächen in der glühenden Hitze Portugals.

In zwei Kilometern haben Sie ihr Ziel erreicht, meldete die künstliche Stimme des Navis ohne jede Emotion. Sie war beinahe dreitausend Kilometer gefahren, war übermüdet, durchgeschwitzt und durstig. Ihr Rücken schmerzte, und sie wollte endlich in einem richtigen Bett schlafen. Ihre Ziegen hatten es aufgegeben, gegen das Gatter zu poltern. Sie ergaben sich ihrem Schicksal.

Thea ließ ein kleines Dorf hinter sich. Um zwei Uhr morgens war kein Fenster erleuchtet, aber sie erfreute sich an den sanierten Fachwerkbauten unter Reet und erkannte einen Gasthof wieder, in dem sie Familienfeiern erlebt hatte und der auf einer Tafel seine Spargelkarte anbot. Das Ortsschild verschwand hinter ihr in der Dunkelheit, und sie folgte der Landstraße, die von Birken gesäumt war. Das Licht der Scheinwerfer reflektierte die helle Borke der Stämme mit den auffällig dunklen Streifen. Beinahe magisch, wie diese schlanken Stämme auf sie zuflogen, ein stummes Empfangskomitee mit wehenden Zweigen. Ihr wurde plötzlich bewusst, wie lange sie keine Birken mehr gesehen hatte.

Das Navi schickte sie schließlich in einen schmalen Feldweg, neben dem hellgrün die Gerste stand. Von dort ging es in eine Sackgasse zwischen einem Waldstück und wuchernden Brombeerhecken. Am Ende war ein riesiges Tor aus Baumstämmen gezimmert worden, das einladend geöffnet war. Sie ließ den Transporter auf dem Hof des Grundstückes ausrollen, der Motor erstarb, das Licht wurde gedimmt. Hier würde sie in den nächsten Wochen die ersten zaghaften Schritte in ihre Zukunft tun. In der Anzeige hatte gestanden, dass Haustiere ausdrücklich erwünscht waren und ein Garten mitgenutzt werden konnte. Die Miete war bezahlbar, die Wohnung mit einer kleinen Küche ausgestattet. Nach den Jahren im Wohnmobil hatte Thea keine großen Ansprüche. Hauptsache, ihre Ziegen konnten bei ihr bleiben.

Der Vermieter hatte ihr in der Vermietungs-App mitgeteilt, dass ihre Wohnung im rechten der beiden Wohngebäude lag. Zum Glück hatte er den Schlüssel in einer Schlüsselbox hinterlassen. Sonst hätte sie ihn zu dieser frühen Stunde aus dem Bett klingeln müssen.

Thea stieg aus, sog die kühle Nachtluft ein, hörte den Ruf eines Waldkauzes. Ein Gruß des Waldes, auch wenn er ein wenig gespenstisch wirkte zwischen den dunklen Wipfeln, die den Hof umgaben.

Sobald die Ziegen merkten, dass der Wagen stillstand, setzte ungeduldiges Meckern ein. Thea öffnete die Türen des Transporters und überlegte, ob sie Clara und Aurélia in der Nacht auf dem Fahrzeug lassen sollte. Aber die beiden rammelten an der Box, wollten endlich ins Freie. Aurélia sprang sofort herunter, leckte ihre Hand. Sie schien zu spüren, dass die Reise hier ein Ende nahm. Clara äugte ängstlich zu ihr herunter. Thea musste hochsteigen und sie erst einmal beruhigen, dass ihr nichts Schlimmes bevorstand.

Als beide Ziegen im Garten standen, sah sich Thea um und entschied, sie hier neben dem Haus anzupflocken. Der Garten gehörte ja zum Mietobjekt dazu, das konnte kein Problem darstellen. Morgen würde sie dem Vermieter ihre Haustiere vorstellen. Vielleicht gab es in einem der Nebengebäude einen überdachten Stall für die beiden. Sie lauschte. Hatte sie gerade ein Blöken gehört? Gab es weitere Tiere hier?

Als ihre Ziegen festgemacht und versorgt waren, inspizierte Thea das Haus. An der Eingangstür fand sie den Schlüssel in der Box, die sie mit dem mitgeteilten Code öffnen konnte. Das Schloss knackte, und sie war drin. Im Flur roch es etwas muffig, aber die Wohnräume waren durchgelüftet und machten einen sauberen Eindruck. Die Küche, in der eine einfache Küchenzeile mit Spüle, Herd und einem Kühlschrank standen, roch nach frischer Farbe. Die Dielen waren abgezogen und geölt. Ein Spiegel hing im Flur, ansonsten war die Wohnung unmöbliert. Thea holte ihren Koffer und die Mappe mit den Papieren. Zuletzt hievte sie die Matratze aus dem Wagen und legte sie in das leere Schlafzimmer auf den Boden. Nach einer Katzenwäsche im Bad legte sie sich erschöpft hin, starrte an die Decke. Zu ihrer Verwunderung fiel in diesem Moment alles Schwere von ihr ab. Sie war gut dreitausend Kilometer von Mateus und der Ziegenherde entfernt, zurück in ihrer Heimat. Was auch immer der morgige Tag für sie bereithielt, sie würde es schaffen. Durch das geöffnete Fenster, das die samtige Kühle der Nacht hereinließ, hörte sie erneut den zaghaften Ruf des Waldkauzes. Ein Klang wie aus einer fernen Zeit.

4BENNO

Der Morgen war windiger als gestern. In der Nacht hatte sich ein Gewitter über der Heide entladen, war nach ein paar Blitzen und einem leichten Grollen weitergezogen, hatte einem leichten Schauer das Feld überlassen. Benno kontrollierte die Regentonne. Nicht mal halb voll. Das Wasser würde kaum ausreichen, um in den nächsten Tagen Garten und Rasen zu wässern. Gut, dass er einen eigenen Brunnen für das Grundstück hatte.

Seine Blechtasse mit dem Chilikaffee in der Hand, ging er weiter auf dem schmalen Pflasterweg durch den Garten. Der Tag würde nicht so heiß werden, etwas Abkühlung tat Menschen und Tieren gut. Er würde gleich das Haus lüften, um die sommerliche Hitze der letzten Tage herauszutreiben. Und er musste auch die Stalltüren öffnen.

Die Tiere waren bereits gefüttert und auf der Koppel. Sein Magen meldete sich. Zeit für sein zweites Frühstück. Er trank einen Schluck, blieb plötzlich stehen. Ein seltsames Geräusch ließ ihn aufhorchen. War es das Meckern einer Ziege, das hinter dem Liguster zu hören war? Die Koppel lag auf der anderen Seite. War Rudolf, der Ziegenbock, wieder ausgebüxt?

Eindeutig ein Meckern! Er setzte die Tasse auf einer Steinmauer ab und ging durch das kleine Holztürchen in der Hecke, die sein Haus von dem Nebengebäude trennte. Dort hatte er den Kräutergarten angelegt, in dem sich gerade zwei fremde Ziegen an seinem Basilikum die Bäuche vollschlugen.

«He! Weg da!» Benno ging näher und hob die Arme. Den beiden Ziegen schien er Respekt einzuflößen, sie liefen rückwärts und meckerten aufgebracht, kauten jedoch genüsslich die zarten Blätter weiter. Hatte in der Nacht wieder jemand ganz heimlich ein paar ausgesonderte Tiere bei ihm hinterlassen? Die Leute wussten, dass er hier einen Lebenshof für Tiere führte. Aber konnten sie nicht wenigstens mit ihm abstimmen, wenn sie ein paar neue Bewohner auf den Hof brachten? Wie sollte er es finanziell stemmen, wenn sie die Alten und Schwachen einfach wortlos hierließen?

Er trat näher. Die Ziegen äugten neugierig, aber sie wichen an ihren Leinen, die direkt in seinem Kräutergarten festgemacht worden waren, langsam zurück.

«He!», rief eine aufgebrachte Stimme.

Benno zuckte zusammen und drehte sich um, sah eine Frau durch den Kräutergarten stürmen. Sie hatte dunkle Haare, die in einen wilden Knoten gedreht waren, einen südeuropäischen Teint und … er musste zweimal hinsehen … Tomatenscheiben im Gesicht. Benno starrte sie an.

Die Fremde mit dem Gemüse im Gesicht blieb stehen und starrte zurück, stemmte provokativ die Hände in die Hüften.

«Wer sind Sie?», fragte er schließlich.

Sie zog eine Augenbraue hoch, eine der Tomatenscheiben klappte nach vorn und fiel ab. «Thea Lorenz. Und Sie sind …?»

Benno starrte auf die zweite Tomate im Gesicht seines Gegenübers. Er atmete in den Bauch, blieb jedoch erstaunlich ruhig. Dann sah er im Augenwinkel das fremde Fahrzeug im Hof stehen.

«Sind das Ihre Ziegen? Sie fressen meine Kräuter», sagte er langsam wie zu einem Kind und spürte, dass er gleich laut wurde.

Die Frau überkreuzte die Arme und schien ihn einer Prüfung zu unterziehen. Sie trug eine kurze Jeanshose, die ihre langen braunen Beine zeigte. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Wahrscheinlich irgendwas in den Fünfzigern wie er selbst. Auch wenn sie sehr schlank war, wirkte sie drahtig und als könne sie richtig zupacken. Die grauen Strähnen in ihrem Haar passten zum dunklen Teint ihrer Haut.

«Das sind Aurélia und Clara!», sagte sie und fasste sich ins Gesicht, zog die zweite Tomatenscheibe herunter. «Und ich bin die neue Mieterin. Und Sie sind?»

Bei ihm fiel langsam der Groschen. «Benno Findeisen! Ich …»

«Ah, dann sind Sie ja mein Vermieter!», kam sie ihm zuvor. Sie warf das tote Gemüse in den Kräutergarten und wischte ihre Hand an der Hose ab. Dann kam sie auf ihn zu. «Wir haben geschrieben.»

Die neue Mieterin. Auch das noch. Ihr Händedruck war so fest, dass er sie länger festhielt, als er wollte. «Also sind das Ihre Ziegen?» Er sah zu den Tieren, die sich in aller Seelenruhe wieder seinem Basilikum zugewandt hatten.

«Aurélia, Clara! Vão embora! Weg da!» Sie lief los und scheuchte die Ziegen aus dem Kräuterbeet. «Com licença! Entschuldigung! Die müssen sich in der Nacht losgerissen haben.»

Benno ging ein Licht auf. «Das sind die beiden Haustiere, die Sie angekündigt haben?»

«Ja, so war die Wohnung doch ausgeschrieben! Mit Gartenanteil, Haustiere ausdrücklich erwünscht!», zitierte sie das Inserat im Netz und zerrte die Tiere weg vom Basilikum in Richtung eines Grasstreifens.

«Haustiere sind Hunde oder Katzen!» Benno konnte es nicht glauben. «Von mir aus auch Kanarienvögel. Aber Ziegen?»

Die neue Mieterin warf ihm einen verärgerten Blick zu. «Dann schreiben Sie es das nächste Mal rein. Hunde und Katzen erlaubt, keine Ziegen!» Ihr Ton war kühl, als sie die Tiere anpflockte.

Benno schüttelte den Kopf. Aber wo sie recht hatte, hatte sie recht. «Passt es mit der Wohnung?»

Sie kam zu ihm zurück, strich sich die letzten Krümel ihrer Maske aus dem Gesicht. «Haben Sie vielleicht noch irgendwo einen Tisch rumstehen?»

«Einen Tisch?»

«Ich bin in der Nacht angekommen, muss mich hier erst einmal einrichten. Einen Stuhl habe ich dabei, aber ein Tisch wäre hilfreich.»

Benno sah zu dem in die Jahre gekommenen Transporter, der neben dem Wohngebäude parkte. Er erkannte jetzt, dass das Kennzeichen aus Portugal stammte. Wie lange war sie wohl mit dieser Klapperkiste und den Ziegen unterwegs gewesen? Mehrere Tage? Er merkte, wie er sich entspannte. Er war hier der Vermieter, sie hatte ihn im Voraus bezahlt. Vielleicht konnte er dann wenigstens etwas freundlicher sein, wenn er sie nicht sofort vergraulen wollte. Hatte er seine Etikette an der Garderobe vergessen? «Haben Sie schon was zu essen im Haus? Wie wäre es mit einem Frühstück?»

Thea Lorenz fixierte ihn. Wahrscheinlich fragte sie sich, ob sie schon bereit war, in der Küche dieses ungehobelten Klotzes zu sitzen.

Er zeigte auf sein Haus. «Danach können wir auf dem Dachboden nachschauen. Da stehen noch ein paar Möbel meiner Großeltern. Ich denke, da war ein Tisch dabei.»

Die neue Mieterin sah ihn an, ein tiefer prüfender Blick. Braune Augen, die eine Antwort abzuwägen schienen. «Warum nicht! Mögen Sie Sardinen?»

Benno stockte. Fisch zum Frühstück? Dennoch nickte er. «Klar, gern!»

Thea ging zu dem Fahrzeug, zog die Seitentür auf und holte ein paar Sardinendosen, Tomaten und Orangen aus einer Kiste, die sie mit den Armen an den Körper drückte. «Ich hoffe, Sie haben einen starken Kaffee im Haus!»

«Keine Sorge!» Benno warf einen Blick zu den Ziegen, die friedlich grasten und fest angeleint waren. «Die beiden können in der Nacht dort in eine Box.» Dann blickte er hinüber zum Stallgebäude, dessen Reet eine grüne Moosschicht trug. Thea folgte seinem Blick, schien sich zu dem in die Jahre gekommenen Backsteinbau ihre eigenen Gedanken zu machen. Sah sie, dass das Dach am Giebel leicht durchhing? Dass ein paar Steine neben dem Fenster locker saßen und dass hier seit Jahren immer nur geflickt statt saniert worden war? Sie nickte wohlwollend, das war wohl ein Zeichen, dass sie nichts davon bemerkt hatte. Er ging voraus und warf Thea einen Blick zu. War das eben ein Lächeln in ihrem Gesicht gewesen?

Benno erklärte ein paar Sachen zum Hof, ließ sie vor ihm durch die blaue Haustür eintreten. Er ärgerte sich, nicht geputzt zu haben. Aber das tat er erst am Wochenende.

«Und Sie leben hier allein?», fragte sie, als sie ihm die Lebensmittel in der Küche auf die Anrichte legte.

«Na ja, die Tiere und ich!»

«Sie haben auch Haustiere?», fragte sie und entdeckte eine der Katzen, die auf dem Küchenstuhl schlief. «Ah!»

Er ließ sich nicht in die Karten schauen. Die anderen Hofbewohner würde sie noch früh genug kennenlernen. Man musste das Ass nicht sofort ausspielen, auch wenn das Blatt gut war. «Das ist Klärchen! Bitte.» Er wies auf die Holzbank am Tisch, stellte das Brett mit dem Brot vor sie hin, gab ihr das Brotmesser. «Nicht so dicke Scheiben!»

«Claro!» Ein freches Aufblitzen in ihren Augen.

Er deckte den Tisch für zwei, stellte Aufschnitt, Käse und Butter neben die Sardinendosen, schnitt Tomaten auf, warf ihr einen strengen Blick zu.

Sie zog eine Grimasse. «Keine Angst, die bleiben auf dem Teller. Tomaten sind super Feuchtigkeitsspender, wussten Sie das nicht?»

«Ich dachte, man nimmt Gurkenscheiben.» Er holte ein frisches Glas der Erdbeerkonfitüre aus dem Vorratsraum.

«Was man halt dahat.» Sie schnitt eine weitere Scheibe vom Laib.

Als er sich zu ihr setzte, wurde ihm bewusst, wie lange es her war, dass hier eine Frau mit ihm gesessen hatte. Er kannte diese Fremde gar nicht, hatte lediglich ein paar Sätze mit ihr gewechselt. Warum lud er sie in sein Haus ein? Weil Menschen sich erkannten, die den Tieren mehr zugewandt waren als ihren eigenen Artgenossen? Er stellte ihr einen Espresso hin. Sie nippte daran. «Oh, der ist gut!»

«Aus Partschins!», sagte er und setzte sich. «Ein Freund in Südtirol hat eine Kaffeerösterei. Alles andere ist regional.»

«Fast so gut wie der café in Portugal. Und das Brot?» Sie schob sich eine Scheibe ohne Belag in den Mund. «Sauerteig! Habe ich ewig nicht gegessen.»

Er sah sie an, wägte ab. «Ich backe immer sonntags. Wenn Sie Brot wollen, sagen Sie Bescheid.»

Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie sich Butter und Käse auftat. «Gerne!» Sie lehnte sich entspannt zurück. «Ich habe Öl und Rotwein mitgebracht. Dann bringe ich Ihnen später etwas davon vorbei.»

«Warum sprechen Sie so gut Deutsch? Haben Sie deutsche Wurzeln?», fragte er geradeheraus.

«Ich bin in Bispingen geboren.» Ein kaum merkliches Seufzen. «War aber über zwanzig Jahre nicht mehr da. Lange Geschichte. Zu lang für ein Frühstück.»

Er nickte und bohrte nicht weiter. Aber sie interessierte ihn, mehr als er zugeben wollte.

«Wenn wir schon so eng zusammenleben, wollen wir nicht dieses leidige ‹Sie› lassen?» Seine Mieterin sah ihn an, reichte ihm über den Tisch die Hand. «Thea!»

Er zögerte nicht, schlug sofort ein. «Benno!»

«Die Ziegen heißen Aurélia und Clara. Ich denke, das geht klar, dass du sie duzen kannst.» Sie lachte. «Das ging mir in Portugal auf die Nerven, dass sich alle dort so lange siezen. Aber das ist wohl das Einzige, was ich nicht vermissen werde.»

 

Benno rollte den Maschendrahtzaun ein Stück ab und schnitt ihn mit einer Drahtschere in die richtige Länge. An dieser Stelle war der Zaun am Hühnergarten nicht mehr dicht. Einige seiner Hühner und Enten hatten ein paar Ausflüge ins Moor unternommen, was ihm einen bösen Anruf vom Amt eingebracht hatte. Während er das Zaunstück fixierte, wurde er beobachtet. Der immer etwas skeptische Blick der Hühner schien ihn kontrollieren zu wollen, während sie in seiner Nähe unter den Johannisbeerbüschen scharrten. Der Hahn, dem ein Stück seines Kammes fehlte, stolzierte in seiner Wachhabendermanier zwischen ihnen herum. Die Enten waren lieber auf dem Teich geblieben und suchten zwischen den Wasserlinsen nach Mückenlarven.

Benno zog das Zaunstück hoch, hielt es vor den alten Zaun und dachte an den Morgen und das Frühstück mit Thea. Er musste zugeben, dass ihre Gesellschaft kurzweilig gewesen war, gefüllt mit ihren Geschichten aus diesem Land, das ihr fünfundzwanzig Jahre ein Gefühl von Heimat gegeben hatte und welches er selbst nur von Dokumentationen im Fernsehen kannte. Aber er hatte auch gemerkt, dass sie das hitzige Temperament der Portugiesen angenommen hatte, was sich schwer mit seiner kühlen nordischen Art kombinieren ließ. Er hatte sie gefragt, was sie jetzt vorhabe, und sie hatte offen gesagt, dass sie es noch nicht wüsste. Nie wäre er in ein anderes Land gezogen, ohne einen konkreten Plan zu haben, wie und wovon er leben würde. Sie hatte wohl etwas Geld gespart, finanziell schien sie keine Not zu haben, aber er konnte sich partout nicht vorstellen, einfach einem Gefühl zu folgen, dann in den Tag hineinzuleben und zu warten, was er bringen würde.

Gut, sie wollte ihre neue Wohnung einrichten. Nach dem Frühstück waren sie gemeinsam auf den Dachboden gestiegen und hatten einen alten Esstisch heruntergeschafft, der zwar kippelte, aber noch gut erhalten war. Zwei verstaubte Korbstühle hatte sie noch mitgenommen, eine Stehlampe, von der niemand wusste, ob sie funktionierte, und ein Bett mit Lattenrost, das quietschte, wenn man sich draufsetzte. Außerdem war da oben noch allerlei Krempel und Gedöns wie alte Koffer, kleine Kommoden und uralte Küchenutensilien, die sie sich nach und nach abholen wollte. Nun gut, dann wurde der Dachboden mal entmüllt. Hauptsache, sie nahm den Kram dann auch mit, wenn sie irgendwann weiterzog.