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Am Strand der Elbinsel Bargsand entdecken Spaziergänger ein Skelett, das Frida Paulsen und Bjarne Haverkorn von der Kriminalpolizei Itzehoe Rätsel aufgibt. Wer war dieser Mann, der dort vor dreißig Jahren mit gefesselten Händen im Schlick vergraben wurde? Wenig später wird auf einer Nachbarinsel ein Hamburger Bauunternehmer tot aufgefunden - ebenso gefesselt wie das Opfer von Bargsand. Die Spur führt in die damalige DDR - zu vier Jungen und einem Pakt, der Jahre später einen grausamen Plan reifen lässt ...
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Seitenzahl: 485
Veröffentlichungsjahr: 2021
Am Strand der Elbinsel Bargsand entdecken Spaziergänger ein Skelett, das Frida Paulsen und Bjarne Haverkorn von der Kriminalpolizei Itzehoe Rätsel aufgibt. Wer war dieser Mann, der dort vor dreißig Jahren mit gefesselten Händen im Schlick vergraben wurde? Wenig später wird auf einer Nachbarinsel ein Hamburger Bauunternehmer tot aufgefunden – ebenso gefesselt wie das Opfer von Bargsand. Die Spur führt in die damalige DDR – zu vier Jungen und einem Pakt, der Jahre später einen grausamen Plan reifen lässt …
ROMY FÖLCK wurde 1974 in Meißen geboren. Sie studierte Jura, ging in die Wirtschaft und arbeitete zehn Jahre für ein großes Unternehmen in Leipzig. Mit Mitte dreißig entschied sie, ihren großen Traum vom Schreiben zu leben. Sie kündigte Job und Wohnung und zog in den Norden. Mit ihrem Mann lebt sie heute in einem Haus in der Elbmarsch bei Hamburg, wo ihre Romane entstehen. Ihre Affinität zum Norden kommt nicht von ungefähr, verbrachte doch ihr Vater seine ersten Lebensjahre in Ostfriesland. TOTENWEG ist der erste Band ihrer Krimiserie um die beiden Ermittler Frida Paulsen und Bjarne Haverkorn.
ROMY FÖLCK
MORDSAND
KRIMINALROMAN
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Copyright © 2021/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: © Patrick Lienin / Arcangel; © www.buersosued.de
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-0346-8
luebbe.de
lesejury.de
Für Angélique und Andreas.
Auf unsere Freundschaft,
auf die Liebe!
Das Dröhnen eines Schiffshorns ließ sie aufwachen. Es hallte in ihrem Kopf nach, bis sie sich nicht mehr sicher war, ob sie es tatsächlich gehört oder nur geträumt hatte. Ihr Herz raste, und sie wusste nicht, warum sie so unruhig geschlafen hatte. Dann nahm sie das leichte Wellenrauschen wahr und erinnerte sich, dass sie nicht in ihrem Bett lag, sondern in einem Zelt. Es war warm in ihrem Outdoor-Schlafsack, aber sie atmete kalte Luft ein.
Martin schlief neben ihr, als wäre er tot. Sie hörte ihn nicht einmal atmen. Seine wahnwitzige Idee war es gewesen, Mitte Oktober zum Zelten auf eine Elbinsel zu fahren. Er hatte sich nicht davon abbringen lassen. »Im Sommer können das alle! Komm, Lenchen. Lass uns raus auf die Elbe fahren, bevor mein Alter sein Boot einmottet. Wir angeln, essen Fisch und campen eine Nacht auf der Insel. Das ist ein toller Platz, wirst sehen! Den nächsten Ausflug planst dann wieder du.« Sie hatte schließlich nachgegeben. Die Stunden zu zweit auf dem Wasser waren etwas Besonderes gewesen. Der letzte goldene Oktobertag. Ab morgen würde es viel Wind und Regen im Norden geben.
Eine Windböe schlug gegen die Zeltwand, dann war wieder das gleichmäßige Rauschen der Wellen am Strand zu hören. Eine Wildente quakte. Hier draußen gab es nichts, wovor sie sich ängstigen musste. Sie waren allein auf der Insel. Die pure Idylle, wie Martin es ihr versprochen hatte. Es war noch dunkel draußen, und sie versuchte, wieder in den Schlaf zu finden. Aber ihre Gedanken kreisten um das Studium und die anstehenden Klausuren im kommenden Semester. Irgendwann drückte ihre Blase, doch sie wollte nicht raus aus dem warmen Schlafsack. Sie hatten zu viel Wein getrunken gestern. Martin hatte an alles gedacht. Sogar an ihre Lieblingschips. Und ein zusätzliches Kissen.
Ihr Smartphone zeigte 7.32 Uhr an. In ein paar Minuten würde die Sonne aufgehen. Sie drehte sich auf die andere Seite und lauschte den Wellen. Aber es funktionierte nicht. Der Drang ihrer Blase wurde immer stärker.
Leise schälte sie sich aus dem Schlafsack, fand ihren warmen Hoodie und am Eingang die Turnschuhe. Martin schlief weiter, als sie vorsichtig den Reißverschluss öffnete und aus dem Zelt kroch.
Es dämmerte bereits. Der Himmel war dabei, sein Nachtgewand abzustreifen. Wie eine erste Ahnung des neuen Tages bildete sich ein rosafarbener Streifen am Horizont hinter dem Ufer auf der anderen Seite. Drüben im Schilf schnatterten wieder die Enten. Im Sommer hörte man hier sicherlich noch mehr Vogelstimmen, wenn der Tag begann. Aus Rosa wurde Pink, und sie lief die Böschung hinunter auf die Wasserkante zu, wo sich das Farbenspiel des Himmels auf die Wellen übertrug. Zu gern hätte sie Martin geweckt, damit er dieses Naturschauspiel nicht verpasste, aber es war zu spät, um zurückzulaufen.
Sie hockte sich hin und erleichterte ihre Blase, während sie weiter zum Horizont blickte. Das Morgenrot schien den ganzen Himmel in Brand gesteckt zu haben.
Sie zog Slip und Leggins hoch und ging weiter zum Wasser, bis die Wellen ihre Füße fast berührten. Der aufkommende Wind wehte ihr die Haare ins Gesicht. Der Himmel schien zu glühen, und sie breitete ihre Arme aus, dachte an die Filmszene mit Rose und Jack in Titanic.
Minuten später war alles vorbei. Das Farbenspiel wurde vom Tageslicht ausgelöscht. Sie entschied, noch etwas im warmen Schlafsack zu dösen, bis Martin aufwachte.
Als sie sich umdrehte, blieb sie abrupt stehen. Tiefe Augenlöcher starrten sie vom Boden her an. Der menschliche Totenschädel im Sand schien sie anzugrinsen. Zuerst glaubte sie an einen Witz. Dass Martin das Ding mitgebracht und hier deponiert hatte, um sie heute Morgen zu erschrecken. Dann wurde ihr klar, dass dieser Strand in der Nacht vom Hochwasser überspült gewesen war. Sie starrte auf den Schädel, dessen Zähne zwischen den Lücken im Kiefer unheimlich echt aussahen. Winzige Algen hatten sich darauf niedergelassen. Irgendein Getier bewegte sich in der Augenhöhle. Sie wich zurück.
»Lena?«
Sie fuhr herum. Martin stand oben am Zelt. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Die idyllische Insel machte ihr plötzlich Angst. Sie wandte sich ab von dem Todesgrinsen und lief so schnell hinauf zum Zelt, wie es der rutschige Untergrund zuließ. »Du musst sofort mitkommen! Da unten am Strand liegt ein Schädel!«
Ein Graureiher saß am Ufer, stocksteif und mit eingezogenem Hals wie ein wackeliger Greis. Gandalf der Graue, dachte Frida. Sie blieb stehen, um ihn zu betrachten. Die typisch weiße Stirn mit den schwarzen Augenstreifen und den drei Schopffedern, die einen Federbusch bildeten. Der grauweiße Hals ging in ein aschgraues Gefieder mit weißen Bändern über. Sie mochte die Graureiher. Jeden Tag hockten sie in ihrer Altmännerhaltung hier am Ufer und lauerten auf Beute. In ihrer Kindheit hatte sie die Vögel oft mit ihrem Vater beobachtet. Er hatte ihr erzählt, dass der Reiher in China als Glückstier galt, als Symbol für den richtigen Weg. Und dass er in der Antike die Ägypter und Griechen mythologisch inspiriert hatte, sodass sie Geschichten von einem majestätischen Vogel erfanden, der sich selbst verbrannte, um nach dem Tod aus der eigenen Asche aufzuerstehen.
Phönix, der Wiedergeborene.
Langsam ging Frida weiter, um den Grauen nicht zu vertreiben. Aber der Setter rannte bellend ans Ufer und scheuchte im Schilf ein paar Wildgänse auf, die an der Elbe überwinterten. Der Reiher verharrte noch einen Moment, unbeweglich und prüfend, bevor er ein paar Sprünge machte und sich mit weiten Schwingen in die kalte Oktoberluft erhob.
Frida pfiff, und der Hund gehorchte sofort. Er kam zu ihr gelaufen und wartete auf ein neues Kommando. Sein braunes Fell war nass und verdreckt.
»Fein, Bruno!«, lobte sie ihn. »Na los, lauf!« Der Hund stob davon.
Oben auf dem Deichkamm stand ein Mann im Morgendunst und schien sie schon eine Weile zu beobachten. Als sie ihn erkannte und winkte, setzte er sich in Bewegung. Frida hatte Torben nicht geweckt, weil er am Wochenende gern ausschlief, sie jedoch die frühen Stunden mochte, wenn kaum ein Mensch unterwegs war und der Nebel im Schilf und über dem Deich schwebte. Wenn sie allein sein und ihren Gedanken nachhängen konnte. Beinahe jeden Sonntagmorgen, an dem sie freihatte, machte sie mit dem Setter einen langen Spaziergang zur Elbe. Arthur, der alte Hofhund, blieb dann zu Hause. Er war nicht mehr gut zu Fuß, trottete nur noch von einer Ecke des Reetdachhauses zur anderen. Meistens schlief er unter dem Küchentisch und erwachte erst zur nächsten Mahlzeit. Es war gut, dass mit dem jungen Hund neues Leben ins Haus gekommen war.
Torben schloss zu ihr auf. »Traumhaft, hier draußen«, sagte er und blickte zum Ufer, wo der Reiher gesessen hatte. »Ich weiß, warum du hier nicht wegwillst.«
Frida hakte sich bei ihm ein. Seit dem Sommer waren sie ein Paar. Sie hatte den Rechtsmediziner Dr. Torben Kielmann im Rahmen einer Mordermittlung auf dem Hof ihrer Eltern kennengelernt. Es hatte Monate gedauert, bis sie sich danach wiedergesehen hatten und gemeinsam in einem Hotelzimmer in Dänemark gelandet waren, und noch ein paar Monate mehr, bis ihnen klar geworden war, dass sie Gefühle füreinander hatten.
Vor einigen Tagen hatte Torben sie gefragt, ob sie sich vorstellen könnte, zu ihm nach Hamburg zu ziehen. Bis heute war sie ihm eine Antwort schuldig geblieben. Frida liebte das Leben in der Marsch. Erst vor einem Jahr war sie aus Hamburg in ihr Heimatdorf zurückgekehrt und auf dem Obsthof ihrer Eltern in ihr ehemaliges Kinderzimmer gezogen, das sie neu eingerichtet hatte. Sie genoss die Zeit hier draußen auf dem Land. Und die Zeit mit ihrer Familie.
Torben lief neben ihr und hielt ihr Schweigen aus. Er hatte ein gutes Gespür für ihre Gefühlslage. »Schau da! Gänse!«, sagte er plötzlich. »Müssten die nicht längst im Süden sein?«
Frida hielt eine Hand über die Augen, weil sich die Sonne in der Elbe spiegelte. »Das sind Nonnengänse oder auch Weißwangengänse. Wenn der Winter mild ist, überwintern ein paar Tausend hier in der Marsch.« Die Gänse ließen ihr kehliges Schnattern hören und flogen über den Deich auf die Äcker, wo vielleicht noch etwas zu holen war. »In den Sommermonaten können sie eine richtige Plage werden. Die Bauern schimpfen, dass die Gänse ihr Grünfutter und den Getreideaufwuchs fressen.«
Torben beobachtete die V-Formation, bis der Schwarm in der Ferne verschwunden und dessen Rufe verklungen waren.
Bruno kam mit nassem Fell angeflitzt und wartete auf eine Reaktion von Frida. Sie zog einen durchgekauten Tennisball aus der Tasche und warf ihn in weitem Bogen auf den Weg. Der Setter schnellte los.
»Ich bin heute Abend in Hamburg bei Freunden zum Essen eingeladen.«
Torben sah sie fragend an.
»Du übrigens auch. Er arbeitet bei der Wasserschutzpolizei, sie ist Psychologin.«
Torben beobachtete den Hund, der den Ball geschnappt hatte und ihn apportierte. »Ist das das Paar, das im August an der Ostsee geheiratet hat? Wohin du allein gefahren bist?« Er warf ihr einen Blick von der Seite zu.
Frida sah an seinem Gesicht, dass es keine Kritik war. Sie wusste selbst, dass sie übervorsichtig war, was ihre Gefühle anging. Und dass sie damals noch nicht sicher gewesen war, wohin das mit ihnen führte. Vor Torben hatte es in ihrem Leben nur One-Night-Stands und Affären gegeben. »Sie würden dich gern kennenlernen. Kommst du mit?«
Torben nahm den Tennisball, den Bruno vor ihnen abgelegt hatte, und warf ihn wieder auf den Weg. »Klar, gern! Zwei Polizisten, eine Psychologin und ein Rechtsmediziner. Wird bestimmt lustig!«
Frida fiel in sein Lachen ein und zog ihn weiter.
Es war ihr erster freier Sonntag seit Wochen. Die Leiche eines erschlagenen alten Mannes in einer Gartenlaube in Elmshorn hatte die Mordkommission zwei Monate in Atem gehalten. Endlich war der Enkel des Opfers verhaftet worden, weil er sich in seinen Aussagen widersprochen hatte. Gestern hatte er ein umfassendes Geständnis abgelegt. Der Fall war aufgeklärt, und die Ermittlungsakte ging an die Staatsanwaltschaft, die nun die Anklage vorbereiten musste. Ein ruhiges Wochenende wartete auf sie. Nick Wahler, ihr Chef, hatte allen den Sonntag und Montag freigegeben. Nur eine Notbesetzung war im Büro geblieben. Wahler wollte die freien Tage für den Umzug seiner Familie nutzen, die während der ersten Monate, in denen er in Itzehoe die Leitung der Mordkommission übernommen hatte, in Lübeck geblieben war.
Auch Torben hatte sich die zwei Tage an der Uniklinik freigenommen, um sie mit Frida auf dem Hof in der Marsch zu verbringen. Am Abend wollte er für die Familie kochen. Er machte ein großes Geheimnis um das Essen, sagte nur, dass es sich um ein altes Familienrezept der Kielmanns handele. Frida hoffte, dass es ihrem Vater zusagte, der direkt und offen kritisierte, wenn es ihm nicht schmeckte. »Wat de Buer nich kennt, dat frett he nich«, zitierte er seine Vorfahren. Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht. Einer seiner Lieblingssprüche, wenn seine Frau in der Vergangenheit neue Rezepte ausprobiert hatte. Irgendwann hatte Marta sich ergeben und nur noch auf den Tisch gebracht, was ihrem Mann mundete. Ein kleines, aber feines Repertoire an Speisen, die schon die letzte Generation von Paulsens gekannt hatte. Lediglich Birnen, Bohnen und Speck ließ sie aus. Dieses typisch norddeutsche Gericht konnte Fridtjof Paulsen nicht ausstehen.
»Wollen wir zurück?«, fragte Torben nach einigen Minuten, die sie still nebeneinanderher gegangen waren. »Deine Mutter war schon in der Küche, als ich los bin. Ich will keinesfalls ihr Zwiebelomelette verpassen!«
»Sag ihr das bloß nicht, sonst will sie, dass du ihr Schwiegersohn wirst.« Frida mochte sein Lausbubenlachen. Sie pfiff nach dem English Setter, der sie überholte und zurück zum Deich raste. Ein paar Schafe stoben blökend auseinander. Über ihnen tauchte ein Graureiher auf und flog mit ruhigen Flügelschlägen in Richtung Nordsee. Welch einen herrlichen Ausblick musste er über die Binnenelbe und die Marsch haben. Manchmal wünschte Frida sich Flügel.
Der Setter war längst zu Hause, als sie mit Torben durch die Toreinfahrt lief. Die neu eingedeckten Stellen des Reetdaches glänzten golden in der Herbstsonne. Die Winterstürme, die dem Haus jahrelang zugesetzt hatten, würden dem Dach nichts mehr anhaben können.
Frida genoss den Anblick. Ein Teil des Hofes war im Sommer neu gepflastert worden. Die verrosteten Gerätschaften, die Jahre in den Ecken überdauert hatten, waren verschwunden. Ihre Mutter hatte große Einmachtöpfe aus Keramik, in denen sie früher Gurken eingelegt hatte, mit Heidekraut bepflanzt und vor die Haustür gestellt. Neben einer Holzbank standen Milchkannen ihrer Großmutter aus Emaille, die ihr Vater vom Boden geholt und schon auf den Müll geworfen hatte. Marta hatte sie gerettet. Nun blühten gelbe Winterastern darin.
Die Haustür hatte einen neuen Anstrich bekommen. Neben dem Dach waren im Sommer auch alle Fenster aufgearbeitet worden. Das historische Bauernhaus sah aus wie ein in die Jahre gekommener Kavalier, dem man einen neuen Anzug verpasst hatte. Immer noch krumm und schief, aber geschniegelt und herausgeputzt. Kein Vergleich mehr zu dem baufälligen Haus, das hier bis letzten Sommer den mitleidigen Blick der Nachbarn auf sich gezogen hatte.
Frida zahlte den Kredit ab, den sie für die Bauarbeiten aufgenommen hatte. Wenn sie wieder zu Geld gekommen war, würde sie auch ins Innere des Hauses investieren. Küche und Stube konnten einen neuen Anstrich vertragen. Die abgenutzten Dielen- und Fliesenböden im Haus mussten erneuert werden. Das Treppengeländer wackelte, die Stufen waren ausgetreten. Elektrizität und Wasser standen auf ihrer Prioritätenliste ganz oben. Bei Gewitter fiel schon mal der Strom aus, Kerzen lagen in jeder Zimmernische parat. Und wenn die alte Gastherme zu rumpeln begann, kam nur kaltes Wasser aus dem Hahn, und die Zimmer kühlten schneller aus, als sie den Kaminofen in der Stube anheizen konnten. Dann half nur ein Anruf beim Heizungsbauer im Nachbardorf, der dat dore Aas längst herausgerissen hätte. Natürlich würde er gern eine nagelneue Heizung im Haus einbauen, ein entsprechendes Angebot lag sogar schriftlich vor. Aber dafür hatte das Geld nach der Sanierung nicht mehr ausgereicht. Vielleicht nächstes Jahr. Oder im Jahr darauf.
Frida liebte das Reetdachhaus ihrer Familie: jede schiefe Wand, jeden Riss, jede knarrende Stufe. Ihr früheres Kinderzimmer im Obergeschoss war ihr Nest, ihr Rückzugsort. Dort saß sie stundenlang in ihrem Ledersessel, hörte dem Knarren der Balken zu und sah vom Fenster auf die alte Hofkastanie, an der in ihrer Kindheit eine Schaukel aus einem Gummireifen am Seil gehangen hatte. Manchmal wünschte sie sich in melancholischen Momenten die Schaukel zurück. Und ihre Kindheit, in der die Tage nach gemähtem Heu und Pferdemist rochen, nach Himbeerlutschern und Apfelmost schmeckten, an denen jede Schramme und jeder blaue Fleck am Abend mit Stolz vorgezeigt wurde. Sie dachte dann an die Jahre, in denen die Sommer endlos waren, die Winter nie zu grau und das Weihnachtsfest das Ereignis des Jahres. In der die Welt ein friedvoller Ort gewesen war.
Frida wollte die Haustür öffnen, als Torben sie zurückhielt. »Warte mal, da sind Milan und Jo!« Er deutete hinüber zur Scheune, vor der ein VW Bulli mit Hamburger Kennzeichen parkte. Dieser gehörte dem Boxtrainer, der mit ihrer Freundin Jo und Fridtjof ins Gespräch vertieft war. Sie gingen hinüber. Milan Franić, der bullige Kroate mit der schiefen Nase, der als Türsteher auf St. Pauli hätte eine große Karriere machen können, fragte gerade etwas und bemerkte Frida und Torben nicht, während Jo ihnen zum Gruß zunickte. Ihr Gesichtsausdruck drückte Skepsis aus, was auch die vor dem Körper verschränkten Arme unterstrichen.
»… muss noch einiges verändert werden. Aber die Bausubstanz ist gut«, erklärte ihr Vater. »Dahinten im Lager könntet ihr Duschen und Toiletten einbauen. Und in der Ecke …«, er wies zur anderen Seite der Halle, »… eine Kaffeeküche.«
»Morgen!«, grüßte Frida. Sie hatte ganz vergessen, dass Milan und Jo an diesem Sonntagmorgen die leere Halle besichtigen wollten. Das Boxstudio in Hamburg-Altona, in dem Milan, sie und Jo in den letzten Monaten trainiert hatten, war geschlossen worden, weil das Haus saniert und das Loft zu teuren Eigentumswohnungen umgebaut werden sollte. Nun suchte Milan nach geeigneten Räumlichkeiten, um sein eigenes Boxstudio eröffnen zu können. Grundvoraussetzung war, dass es bezahlbar war. Frida hatte ihm den Tipp gegeben, dass ihr Vater einen Mieter für ihre Scheune suchte. Durch die Kooperation mit dem Jungbauern Jesper Ahlsen war Fridtjofs gesamte Technik auf dessen Hof gebracht worden, der größer war und moderne Kühlhallen hatte. Dort bündelten sie seit zwei Monaten ihre Kräfte und lagerten auch den Teil der Apfelernte ein, der nicht sofort verkauft werden konnte.
Fridtjof hatte einen Großteil der Pferdeboxen im Stall vermietet, und zusammen mit dem Mietzins für die Halle würde es reichen, um in einigen Monaten seine Schulden bei Jesper abzuzahlen, der für ihn im Sommer finanziell in die Bresche gesprungen war, um die Insolvenz des Obsthofes abzuwenden.
»Und, was denkt ihr?«, fragte Frida ihre Freundin, während Milan mit den beiden Männern in die Halle getreten war, um die baulichen Veränderungen zu besprechen. Jo, die erst seit einigen Monaten boxte, hatte die Arme verschränkt. Die Skepsis stand ihr ins Gesicht geschrieben. »Die Halle ist perfekt, aber ganz schön weit draußen. Ich weiß nicht, ob die Hamburger aufs Land fahren, um zu trainieren.«
Frida sah auf die Halle. »Man muss ihnen einen Mehrwert schmackhaft machen. Boxcamp auf dem Land, Sport und Erholung. Vielleicht kann ich meine Mutter überreden, für die Boxer ein paar gesunde Eintöpfe zu kochen.«
»Und dazu Smoothies mit Grünkohl, oder was?« Jos dunkles Lachen polterte über den Hof wie der unrund laufende Motor von Milans Bulli. »Ja, die Halle ist schon cool«, gab sie zu. »Allein das Backstein-Design und der große Parkplatz davor. Und dieses hohe Tor, das man im Sommer beim Training öffnen könnte.«
Sie sah zu den Männern im Inneren, die an einer Wand herumklopften. »Dein Vater sagt, hinten im alten Pumpenhaus könnte zusätzlich ein Fitnessraum eingerichtet werden. Der hat natürlich ein geiles Ambiente mit den alten Pumpen und der Empore unter dem Dach.«
»Was sagt Milan dazu?«, fragte Frida.
Jo, die ihre dunklen Haare neuerdings in einer jungenhaft zerzausten Kurzhaarfrisur trug und damit unverschämt gut aussah, nickte. »Ich glaube, er ist begeistert. Wenn dein Vater die Miete im bezahlbaren Rahmen ansetzt, hat er ihn in der Tasche.«
»Du würdest nicht hier rauskommen wollen, um zu trainieren? Bleibst du lieber in Hamburg in einem der Schickimicki-Studios?«
Ihre Freundin setzte ein Pokerface auf. Sie wusste genau, wie viel es Frida bedeutete, dass sie weiterhin zusammen trainierten. Frida lag viel an ihrer Freundschaft, während die Detektivin nicht viel Wert darauf zu legen schien oder es gut verbergen konnte, dass Frida ihr wichtig war. Das gemeinsame Boxtraining war im letzten Jahr zu einer gemeinsamen wöchentlichen Routine geworden, bis das Boxstudio geschlossen worden war und sie sich kaum noch gesehen hatten. Seitdem warteten die losen Enden ihrer Freundschaft darauf, neu verknüpft zu werden. »Das würde komisch aussehen als Teilhaberin.«
Die Überraschung war Jo gelungen. »Du steigst mit ein?«
»Allein kann Milan das Projekt nicht stemmen. Er wird zwar einen kleinen Kredit aufnehmen, aber der reicht nur für die Anfangsinvestition. Ich hab ihm meine Hilfe angeboten, habe etwas Geld übrig. Das letzte Quartal lief ganz gut.« Jo spielte auf ihre Detektei an, in der sie kürzlich einen weiteren Detektiv eingestellt hatte, weil die Auftragslage im Bereich der Ermittlungen für Straf-, Wirtschafts- und Steuerrechtskanzleien sehr einträglich war.
»Das ist der einzige Grund?«, hakte Frida nach.
»Milan ist cool. Und er hat eine Vision. Die hatte ich damals auch, als ich die Detektei gegründet habe. Er wird das Studio hier erfolgreich aufziehen.«
»Und wenn nicht?«
»Wenn man zweifelt, ist man kein Unternehmer. Dann sollte man lieber Beamter werden.«
Frida schluckte. Der Seitenhieb auf ihre Verbeamtung als Polizistin tat weh.
Jo boxte ihr sanft in die Seite. »Seit wann verstehst du keinen Spaß? Du würdest ihm auch helfen, wenn du die Mittel hättest. Na komm, schauen wir mal, was die dadrin bequatschen. Nicht dass die noch einen Bade- und Saunaclub aus dieser Scheune machen wollen.«
Marta stellte die Eisenpfanne mit dem Zwiebelomelette auf den großen Küchentisch, um den sich alle geschart hatten, um zu frühstücken. Sie hatte auch für die Gäste eingedeckt, als diese angekommen waren. Gastfreundschaft war schon immer hochgehalten worden in diesem Haus. Hungrig oder durstig ging hier niemand vom Hof. Bruno, der English Setter, lief aufgeregt zwischen den Tischgästen herum und versuchte, bei jedem Einzelnen sein Hundespielzeug gegen einen Happen vom Tisch zu tauschen. Arthur, der alte Hütehund, lag neben dem Tisch auf einem Läufer und schlief. Manchmal bewegten sich im Schlaf seine Hinterpfoten. Wahrscheinlich träumte er davon, dass er – wie früher – hinter einem Feldhasen oder Fasan herjagte, was er heute aufgrund seines Alters nicht mehr konnte. Er war lethargisch geworden. Ihn interessierte kaum noch, was sich zwischen Schlafplatz und Fressnapf abspielte. Er würde wohl dieses Jahr seine letzte Weihnachtsgans erleben.
»Dann ist das abgemacht«, sagte Fridas Vater und schnitt eine dicke Scheibe Speck ab, die er sich mit Zwiebeln auf sein Brot legte. Er mochte sie lieber roh als in einem gestockten Eiergericht. »Ihr überlegt euch das mal mit der Halle. Die Umbauten könnten noch im Herbst gemacht werden. Aber rein könnt ihr sofort, wenn ihr wollt. Genug kostenlose Parkplätze habt ihr auf dem Hof. Und das Pumpenhaus könnt ihr als Muckibude nutzen.« Er lachte, während er ein weiteres Stück Speck abschnitt. »Aber wer gern auf die altbewährte Art Muskeln aufbauen will, kann auch gern auf dem Hof Holz hacken. Das gibt es hier kostenlos.«
Milan zeigte seine Grübchen beim Lachen, nahm ebenfalls ein Stück vom Speck und schob es in den Mund. Fridtjof und Milan mochten sich. Das war offensichtlich. Frida sah dem Boxtrainer an, dass ihm der Hof und die Halle gefielen. Er hat Blut geleckt, wollte aber noch einmal darüber schlafen, ob er das Risiko eingehen sollte, sein Boxstudio auf dem Land zu eröffnen. Jo saß schweigsam neben ihm. Sie hatte nur ein wenig Omelette gegessen und mit schwarzem Kaffee heruntergespült.
Fridtjof erzählte, wie er früher mit bloßen Händen die schweren Feldsteine auf den Hänger gewuchtet hatte, als es am Türrahmen klopfte.
»Moin zusammen!«, grüßte eine Stimme von der Tür. »Ich muss euch mal stören.«
Fridas Kollege, Bjarne Haverkorn, stand in der Küchentür. Seit dem Sommer, als er ein Haus hier im Ort gekauft hatte, wohnte er nur ein paar Straßen weiter.
Marta sprang sofort auf. »Morgen, Herr Haverkorn, möchten Sie was mitessen?«
»Nein, danke! Keine Zeit.« Er sah zu Frida. »Wir haben einen neuen Fall.«
Sie stand auf und nahm ihr Brötchen in die Hand, kaute auf dem Weg zur Tür. »Wohin geht’s?«
Haverkorn gab Torben ein Handzeichen. Offenbar wurde auch ein Rechtsmediziner gebraucht.
»Wir müssen mit der Wasserschutzpolizei auf eine Elbinsel. Ein Knochenfund.«
»Welche Insel?«, fragte Frida.
»Bargsand!«
Der Hafen von Deichgraben war ein überschaubares Terrain mit ein paar Schwimmstegen, einem Parkplatz, einem Klubhaus des Sportbootvereins, einem Bootsschuppen und dem Imbiss auf Rädern, dem »Rökerwagen«, der während der Hauptsaison am Wochenende geöffnet war. Im Sommer war der Hafen ein beliebter Treffpunkt für Jung und Alt. Nicht nur die Sportbootinteressierten trafen sich hier, sondern auch Leute aus dem Dorf, die ein Schwätzchen halten wollten, und ein paar Ausflügler, um sich am Imbisswagen ein Fischbrötchen, Kaffee oder Bier zu genehmigen. Und natürlich den Blick auf das Wasser, den man von der Kaimauer hatte, zu genießen. Aber jetzt in der Nebensaison waren schon viele Boote an Land gebracht worden. Der kleine Binnenhafen war abhängig von Ebbe und Flut. Wer ein- und ausfahren wollte, musste mit dem Tidenkalender arbeiten, um nicht eine böse Überraschung zu erleben. Ein paar Geschichten waren überliefert, in denen unerfahrene Bootsführer beim Anlegen im Hafen den Tidenhub nicht beachtet und ihr Boot bei Niedrigwasser freihängend an der Kaimauer wiedergefunden hatten. Zum Gelächter der Einheimischen.
Haverkorn, der von Booten so viel Ahnung hatte wie ein Aal vom Räuchern, stellte den Passat auf dem Parkplatz des Hafens ab, der jetzt im Oktober bis auf einen Transporter der Straßenmeisterei leer war. Der Imbisswagen hatte schon vor Wochen dichtgemacht. Drüben vor dem Klubhaus lehnte ein Fahrrad. Wahrscheinlich war jemand im Büro, um sich um ein paar Angelegenheiten des Vereins zu kümmern.
Haverkorn hatte Frida und Torben auf der Fahrt vom Paulsenhof zum Hafen berichtet, was für ein Einsatz sie erwartete. Ein junges Paar hatte am Morgen am Strand der Insel einen menschlichen Schädel gefunden. Die Wasserschutzpolizei war zuerst vor Ort gewesen und hatte die Kripo benachrichtigt. Der Leiter der Mordkommission, Nick Wahler, war an diesem Sonntagmorgen mit seinem Umzug von Lübeck nach Itzehoe beschäftigt, weshalb Haverkorn zugesagt hatte, sich der Sache anzunehmen. Immerhin lebte er in Deichgraben und konnte schnell mal hinüber nach Bargsand fahren. Ein Fall für die Mordkommission würde es aber erst werden, wenn der Schädel nicht älter als ein Menschenleben war. Nur dann, wenn die Möglichkeit bestand, dass der Täter überhaupt noch lebte, würde es eine Morduntersuchung geben. Es war eine glückliche Fügung, dass Dr. Torben Kielmann bei Frida übernachtet hatte und einen fachkundigen Blick auf den Schädel werfen konnte. Wenn der so alt war, dass er noch vom Schwedisch-Polnischen Krieg stammte, konnten sie anschließend gemütlich den Sonntag ausklingen lassen. Haverkorn war dabei gewesen, die Obstbäume in seinem Garten zu verschneiden, als Wahlers Anruf ihn erreicht hatte. Er wollte gern damit fertig werden, bevor der erste Frost einsetzte.
Drüben an der Kaimauer hatte das Tochterboot der Bürgermeister Weichmann, eines Streifenbootes der Hamburger Wasserschutzpolizei, festgemacht. Das Mutterboot lag weiter draußen vor Anker, weil es die verschlickte Zufahrt zum Hafen nicht passieren konnte. Der Wasserstand war im Moment recht niedrig, sodass sie über die Metallleiter der Kaimauer nach unten aufs Boot klettern mussten.
Der Bootsführer hielt sich nicht lange mit Vorreden auf, als sie auf Deck waren. »Thomsen. Moin, Kollegen!«
Haverkorn drückte ihm die Hand und stellte Frida und Torben vor. »Dr. Kielmann wird sich das Fundstück gleich mal anschauen«, sagte er.
»Sie haben den Rechtsmediziner gleich mitgebracht?« Der Wasserschutzpolizist schien beeindruckt. Er gab einen kurzen Lagebericht. »Wir haben die Fundstelle drüben auf der Insel provisorisch abgesichert. Das junge Paar haben wir erst mal nach Hause geschickt. Die Kontaktdaten kann ich dir schicken.«
Das Boot legte unter den neugierigen Blicken der Kommunalarbeiter ab, die den Parkplatz reinigten. Der Bootsführer orientierte sich an den gesetzten Priggen, die für einen Laien wie Haverkorn aussahen wie im Wasser stehende umgedrehte Hexenbesen. Er erkundigte sich nach den seltsam anmutenden Reisigruten, und Thomsen erklärte ihm, dass die Priggen Fahrwasserkennzeichnungen waren. Hier hatten sie es mit Steuerbordpriggen zu tun, in den Grund gesteckten Stangen, an deren oberen Ende Zweige zusammengebunden worden waren, die unten auseinanderstanden. Umgangssprachlich nannte man sie auch »Tannen«. Sie kennzeichneten flaches Fahrwasser und halfen den Bootsleuten, die Fahrtrinne zu erkennen, um nicht im Schlick zu landen.
Immer wieder bildeten sich im Bereich der Binnenelbe Schlickberge, die in früheren Zeiten zur Landgewinnung durch Stacks, steinerne Leitwälle, gesichert und aufgeschlickt worden waren. Irgendwann war durch eine Landerhöhung ein Bewuchs der Schlickberge erreicht worden. Elbinseln wie Bargsand waren so entstanden und zum Anbau von Korbweiden oder Obstbäumen genutzt worden. Mittlerweile waren die Elbinseln Naturschutzgebiete, die von der Naturschutzvereinigung NAVE überwacht wurden.
Ein paar Minuten später kam Bargsand in Sicht. Ein dichter Schilfgürtel zog sich am Ufer entlang. Weiter nördlich konnten sie einen Sandstrand erkennen, auf den flache Wellen schlugen. Dahinter erhob sich ein dichter Wald.
»Früher sah das hier nicht so verwildert aus«, erklärte Thomsen. »Ich war ein paarmal mit meinen Kumpels in der Kneipe bei der alten Zieherin. Die hat uns das Geld aus der Tasche gezogen, deshalb hat alle Welt sie so genannt. Bei ihr konntest du nur Bier aus Flaschen trinken. Die Gläser waren so dreckig, da konntest du nicht mehr durchgucken.« Er lachte, und die Falten um seine Augen wurden tiefer. »Ich weiß nicht, wie wir hier weggekommen sind. Wir hatten alle mächtig die Lampen am Brennen.«
»Wie lange gab es diese Kneipe auf Bargsand?«, fragte Haverkorn.
»Bis Anfang der Zweitausender, denke ich«, antwortete Frida. »Mein Vater hat sie auch regelmäßig frequentiert, als er jung war. Die Geschichten, die er erzählt, willst du nicht hören. Dass hier draußen niemand im Suff ertrunken ist, ist nicht zu fassen. Die sind ja alle mit ihren Booten rübergekommen.«
†
Frida stand an der Reling des Polizeibootes und sah die Insel näher kommen. Ein etwa zweihundert Hektar großes Stück Land, das dem Wasser abgerungen worden war, um es urbar zu machen. Der Obstanbau nach dem Krieg war nicht einfach gewesen. Sie hatte Geschichten von ihrem Vater gehört, wie mühsam es gewesen war, den Boden auf der Insel zu bestellen. Anfangs mit bloßen Händen, später mit einem Pferd, das von Frühjahr bis Herbst auf der Insel lebte, bevor ein kleiner Dieseltraktor dessen Job bei der Ernte übernahm.
Der Fahrtwind war kalt, aber er trieb den Rest Müdigkeit aus ihren Knochen. Torben lehnte neben ihr und hing seinen Gedanken nach. Das Boot scheuchte ein paar Stockenten auf, die schnatternd gen Festland flogen. Wassertropfen wurden vom Boot hochgeschleudert und klatschten Frida ins Gesicht. Sie schmeckten salzig.
Wann war sie zum letzten Mal auf Bargsand gewesen? Ewig her! Mit ihren zwei besten Freunden war sie in einem Sommer heimlich hier herübergerudert, obwohl ihre Eltern es ihnen verboten hatten. Doch der Reiz des Verbotenen war stärker gewesen. Sie hatten das Ruderboot vom alten Hinrich genommen, das kieloben am Deich gelegen hatte, und waren losgefahren. Wie alt waren sie da gewesen? Vielleicht zehn oder elf? Anfangs waren sie euphorisch gewesen, aber in der Mitte der Binnenelbe war die Strömung so stark, dass sie nicht mehr hatten gegenhalten können. Sie waren abgetrieben und am nördlichsten Landzipfel von Bargsand angelandet. Es war ihnen egal, Hauptsache, sie waren angekommen. Den ganzen Tag hatten sie im Wald der Insel Indianer gespielt. Sie hatten eine Hütte aus Ästen und Farn gebaut und Friedenspfeifen aus Holunderholz geschnitzt. Wo Biber an einem der Priele einen Stamm gefällt hatten, bauten sie ein Wehr und stauten das Wasser. Dort hatten sie einen jungen Hecht geangelt und am Lagerfeuer gegrillt. Das war ihr Reich gewesen, das sie gegen die Bleichgesichter verteidigt hatten, bis es dunkel wurde. Die Fahrt zurück war so lang wie gefährlich gewesen. Sie hatten kein Licht am Boot gehabt, waren wie die Blindfische in der Dunkelheit über den Strom gerudert und irgendwo an Land gekommen. Weitab von der Stelle, wo Hinrichs Boot gelegen hatte. Sie hatten zu Fuß ewig nach Hause gebraucht, wo es ein riesiges Donnerwetter gab. Um zwei Uhr nachts tauchten sie plötzlich auf und drucksten herum, wo sie gewesen waren. Nass und verdreckt, aber mit einem Grinsen im Gesicht. Fridtjof hatte Frida schließlich in die Wanne und ins Bett geschickt. Eine Woche Hausarrest hatte sie bekommen.
Immer, wenn sie später Hinrich im Dorf gesehen hatte, war sie kurz davor gewesen, ihm zu erzählen, warum sein Boot drei Kilometer stromabwärts gelegen hatte, als er es nach langer Suche endlich wiederfand. Aber irgendwann war er gestorben, und mit seinem Tod waren die Erinnerungen an dieses Inselabenteuer verblasst.
Als Jugendliche war sie nicht mehr auf Bargsand gewesen, war nie in der Kneipe auf der Insel eingekehrt. Es war ein seltsames Gefühl, nach so vielen Jahren wieder hierherzukommen.
Am Strand knatterte ein im Quadrat gespannter Streifen Flatterband im Wind. Sie waren am Fundort des Schädels angekommen.
»Wir können da drüben anlanden«, sagte Thomsen. Er zeigte auf eine Schneise im Schilf, von der aus sie offenbar gut an Land gehen konnten. Sie legten an und warfen die Planke aus. Frida folgte Torben und sprang in den Sand. Haverkorn verlor am Ende der Planke das Gleichgewicht und versuchte, mit einem großen Schritt an Land zu kommen, der jedoch zu kurz geriet. Er landete mit den Hosenbeinen im kalten Wasser, und Thomsen musste ihm mit Ersatzsocken und Gummistiefeln aushelfen, bevor sie weiterkonnten.
Hinter dem Schilfgürtel führte ein Trampelpfad zum Strand, wo ein Wasserschutzpolizist auf einem Anglerstuhl saß, um ein Auge auf das brisante Fundstück zu haben. Der Schädel steckte im Schlick fest. Ein Totenschädel hatte immer etwas Bedrohliches an sich. Die leeren Augenhöhlen, der Kiefer mit den grinsenden Zähnen.
Frida dachte an das junge Paar, das ihn hier gefunden hatte. Sicherlich keine angenehme Erfahrung. Ihr Blick ging zum Stirnbein, wanderte weiter zum Kiefer. Kein Überbiss, stellte sie fest. War das ein Mann oder eine Frau gewesen? War er oder sie hier auf der Insel gestorben? Wie lange war das her? Unbewusst rieb sie ihre Arme. Eine Welle rollte heran. Ihre Gischtfinger griffen nach dem Schädel, als wollten sie ihn mit sich ins Wasser ziehen, berührten ihn, zogen sich wieder zurück.
»Beeilt euch!«, riet Thomsen. »Das Wasser steigt weiter. Der Strand liegt bald wieder unter Wasser.« Er ließ ein paar große Trittplatten auslegen, damit der Rechtsmediziner an die menschlichen Überreste gelangen konnte. Torben hatte sich einen Overall angezogen, und Frida half ihm, die Latexhandschuhe überzustreifen. Er stellte sich neben den Schädel, dessen totes Grinsen immer wieder von anrollenden Wellen ausgelöscht wurde.
Torben machte zuerst mit seinem Smartphone ein paar Fotos von dem Schädel, bevor er sich hinhockte und ihn genauer betrachtete. Frida stand auf der Trittplatte hinter ihm. Sie blickte in die dunklen Augenhöhlen, den frei liegenden Kiefer, die Krater der fehlenden Zähne. Die Haare auf ihren Armen stellten sich auf. Seit wann lag der Schädel hier auf der Insel?
Torben legte vorsichtig mit den Händen den Schlick unterhalb des Schädels frei. Helle Halswirbel wurden sichtbar.
Frida starrte darauf. Noch mehr Knochen, nicht nur der Schädel?
Der Rechtsmediziner stand auf und zeigte nach unten.
Sie nickte zum Zeichen, dass sie es ebenfalls gesehen hatte.
Torben drehte sich in Richtung der Männer, die am Strand geblieben waren. »Hier liegt mehr im Schlick als lediglich der Schädel«, rief er ihnen zu. »Vielleicht das gesamte Skelett. Ich brauche Ausrüstung und einen meiner Kollegen, um alles freizulegen.«
Haverkorn balancierte mit Thomsen über die Trittplatten. Überraschte Gesichter.
»Wir sichern die Fundstelle, weil das Hochwasser den Strand überspülen wird«, sagte Thomsen. »Ihr könnt ihn frühestens heute Abend bei ablaufendem Wasser bergen.«
Torben stimmte zu und sah sich um. »Da, oberhalb der Grasnarbe, würde ich ein Zelt aufstellen. Wir werden Scheinwerfer brauchen.«
»Das organisieren wir.« Haverkorn blickte auf den Totenschädel. »Mann oder Frau?«, fragte er. »Kannst du schon was sagen?«
Torben wandte sich wieder dem Schädel zu, ging in die Hocke, sah einige Sekunden auf das Fundstück. »Die Stirn ist eher fliehend, ausgeprägte Augenwülste, kräftiger Unterkiefer, großer Warzenfortsatz. Sieht recht eindeutig nach einem Mann aus.«
»Wie alt war er?«, fragte Frida.
»Das ist nicht ganz so einfach.« Vorsichtig öffnete Torben die Kiefer und sah sich den Zahnstatus an. »Die Zahnentwicklung der verbliebenen Zähne deutet auf einen Erwachsenen hin. Auch wenn einige Zähne fehlen, war er noch kein Greis. Sie sind an der Kaufläche nur mäßig abgenutzt.« Er klappte die Kiefer wieder zusammen. »Und hier! Seht ihr? Die Fontanelle, also die Wachstumsfuge des Schädels, ist noch nicht endgültig verknöchert, dann hatte er das vierzigste Lebensjahr noch nicht überschritten. Reicht dir das erst mal?«
»Wenn du mir noch sagst, wie lange er hier im Schlick gelegen hat?«
Der Rechtsmediziner wirkte nachdenklich. »Die Liegezeit zu bestimmen hängt von einer Menge Faktoren ab. Es kommt auf die Bodenverhältnisse an und wie sehr die Knochen dem Wasser ausgesetzt waren. Je feuchter der Boden ist, desto länger dauert die Skelettierung. Das kann unter Umständen Jahrzehnte dauern. Was dich wahrscheinlich interessiert: Massive Kariesdefekte habe ich an den verbliebenen Zähnen nicht gesehen. Historisch ist der Fund also höchstwahrscheinlich nicht. Auf einen konkreten Zeitraum eingrenzen kann ich das alles erst, wenn ich die Knochen ausgegraben und in Hamburg auf dem Tisch habe.« Er schien zu merken, dass Haverkorn sich mehr erhofft hatte. »Geht schon mal davon aus, dass ihr eine neue Fallakte anlegen könnt.«
Frida ließ sich vom Wasserschutzboot am Hafen absetzen, von wo aus sie zum Hof ihrer Eltern fuhr, um wasserfeste Schuhe und Kleidung anzuziehen. Dass sie stundenlang in der nassen Kälte von Bargsand herumlaufen würden, darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Für ihre Schuhgröße gab es an Bord des Bootes der Wasserschutzpolizei keine Gummistiefel. Nur einen Regenmantel in Übergröße und einen verschlissenen Südwester. Sie hatte dankend abgelehnt.
Haverkorn hatte ihr den Job übertragen, sich um ein Notstromaggregat und die Versorgung der Mannschaft mit heißen Getränken und Essen zu kümmern. Wieder am Hafen parkte sie ihren altersschwachen Jeep vor dem Hafengebäude, das auf hohen Eichenpfählen erbaut worden war, um der Überflutung zu entgehen. Die in die Jahre gekommene Baracke, die Wind und Wetter getrotzt und auch einige Überschwemmungen erlebt hatte, diente als Büro-, Verwaltungs- und Lagerfläche für den Sportbootverein. An der Außenwand lehnte noch immer das Fahrrad. In einem der Räume brannte Licht. Peter Luers, der Vorsitzende des Vereins, saß in seinem Büro über ein paar Unterlagen gebeugt. Sie hatte ihn lange nicht mehr gesehen. Seine Haare am Hinterkopf waren noch lichter geworden, der Vollbart leicht ergraut.
»Moin, Peter!« Sie klopfte an den Türrahmen und ging hinein.
»Frida! Komm rein und mach die Tür zu, damit die Kälte nicht reinzieht.« Er stand auf und nahm einen Becher von einem Regal. Die Teekanne stand vor ihm auf einem Stövchen. Er goss ihr Tee ein und drückte ihr den Becher in die Hand.
Frida setzte sich an seinen Schreibtisch und nahm einen Schluck. »Danke dir. Ich merke jetzt erst, wie durchgefroren ich bin.«
»Was ist denn los da drüben auf Bargsand?« Er zupfte an seinem gestutzten Vollbart. »Die Jungs der Wasserschutzpolizei pendeln schon den ganzen Morgen vom Hafen nach drüben. Was’n da passiert?«
»Das muss erst mal unter uns bleiben.«
Luers nickte. Auf ihn war Verlass, das wusste Frida. Er würde keine Gerüchte im Dorf streuen.
»Am Strand wurde ein menschlicher Schädel gefunden.«
Peter Luers trank nachdenklich von seinem Tee. »Ein Schädel? Echt jetzt? Weiß man denn, seit wann er dort liegt?«
»Kann der Rechtsmediziner noch nicht sagen.« Frida behielt bewusst die Information zurück, dass sie es wahrscheinlich mit einem ganzen Skelett zu tun hatten. So genau musste es Luers nicht wissen. »Der Schädel wird heute Abend bei Niedrigwasser ausgegraben und danach in die Rechtsmedizin nach Hamburg gebracht. Da wird er untersucht.« Sie sah sich im Büro um, das aufgeräumt wirkte. An der Wand hing eine große Karte der Binnenelbe mit den Fahrtrouten der Gewässer. Bargsand war eine der größten Elbinseln, neben Füürsand, wo der gleichnamige Leuchtturm stand. »Ich hab eine Bitte.«
»Schieß los!«
»Wir brauchen ein starkes Notstromaggregat.«
Der Vereinsvorsitzende dachte nach. »Wie stark?«
»Stark genug für eine Pumpe und ein paar Scheinwerfer.«
Luers nickte nachdenklich, lehnte sich zurück und überkreuzte die Arme im Nacken. »Kriegen wir hin. Ich schick es euch mit dem Schlickrutscher rüber, sobald es hier ist.«
Frida wusste, dass der Schlickrutscher ein extraflaches Heck hatte. Dieses Boot konnte auch bei Niedrigwasser genutzt werden. Die verschlickten Priele im Bereich der Unterelbe waren nicht ungefährlich, schnell konnte sich ein zu tief liegendes Boot dort festfahren und musste auf das auflaufende Wasser warten.
»Die Kosten werden von unserer Dienststelle übernommen.«
»Okay!« Luers stand auf und nahm eine Telefonliste von einer Pinnwand. »Ich denke, das lässt sich einrichten. Ich rufe gleich Klaus an, das ist unser Kassenwart. Er hat ein Notstromaggregat zu Hause. Ich frag ihn mal.«
»Danke!« Frida trank den letzten Schluck Tee, ging nach draußen und sah hinaus aufs Wasser. Gern wäre sie bei der Ausgrabung dabei gewesen, aber ihr Job hier auf dem Festland hatte Priorität. Sie stieg in den Jeep, um sich um die Versorgung der Mannschaft zu kümmern. Ihre Mutter kochte gerade eine deftige Linsensuppe und machte belegte Brote fertig, die Frida später mit dem Pendelboot der Wasserschutzpolizei zur Insel bringen würde. Der Bäcker stellte eine Thermoskanne Tee und Kaffee zur Verfügung. Wenn in der Marsch Hilfe gebraucht wurde, musste man nicht lange fragen. Vor allem nicht, wenn man die Tochter von Fridtjof Paulsen war.
†
Haverkorn koordinierte den Einsatz auf Bargsand. Der Tatortfotograf, der mittlerweile eingetroffen war, nahm die ausführliche Dokumentation der Fundsituation vor. Horst Lüttje, der Leiter der Kriminaltechnik, und seine Männer untersuchten den Fundort nach verwertbaren Spuren. Sie arbeiteten auf Hochtouren, aber Lüttje schien unzufrieden, da fließendes Wasser neben Feuer der sicherste Spurenvernichter war. Erst am späten Nachmittag konnte Torben mit der Ausgrabung des Skeletts beginnen. Starke Scheinwerfer waren aufgestellt worden, was knifflig war, weil das Wasser irgendwann wieder steigen würde. Um den Fundort hatten Lüttjes Männer eine Verschalung gebaut, aus der eine keuchende Pumpe das Wasser absaugte. Dennoch standen Torben und seine Kollegin die ganze Zeit im Matsch und arbeiteten gegen Kälte und Regen an.
Mehrmals rief ihr Chef, Nick Wahler, an, der zwischen Umzugskartons und Kindergeschrei versuchte, die Nerven zu behalten.
»Wir haben alles im Griff«, beruhigte ihn Haverkorn. »Hier wird alles dokumentiert, und morgen im Büro setze ich dich umfassend in Kenntnis.«
»Danke! Ich komme hier nicht weg«, rief Wahler, um das Geräusch eines Akkuschraubers zu übertönen, »wenn wir heute Nacht nicht auf dem Boden schlafen wollen.«
Sie verabschiedeten sich, und Haverkorn steckte das Handy in die Tasche. Er trug noch immer die Socken und Gummistiefel des Wasserschutzpolizisten.
Lüttje hatte Torben das hölzerne Grab, in dem der Tote lag, überlassen. Der Rechtsmediziner arbeitete trotz der schwierigen Verhältnisse akribisch, unterstützt von einer jungen Kollegin aus dem Rechtsmedizinischen Institut. Er fotografierte, legte Knochen um Knochen frei, sicherte jeden von ihnen auf einer Plane und sprach seine Erkenntnisse ins Diktiergerät. In der Zwischenzeit bauten die Männer von der KTU tragbare Scheinwerfer und ein Zelt an einer Stelle oberhalb des Strandes auf, die von der Flut nicht betroffen war. Nicht nur das Wasser war eine Bedrohung, sondern auch Wind und Regen konnten ihnen zu schaffen machen.
»Bjarne!«, rief Torben. »Das musst du dir ansehen!«
Haverkorn stapfte über die Trittplatten, hockte sich neben ihn hin. Torben Kielmann hatte bereits Brustbein und Rippen des liegenden Skeletts freigelegt, die Beckenknochen waren nun sichtbar. Soeben hatte er das Kreuzbein vom Schlick befreit. Mit einem Spatel schob er vorsichtig den Schlick in der Höhe der Kniegelenke zur Seite, dann stieß er das Werkzeug tief ins Erdreich, wo Schien- und Wadenbeine liegen mussten. Haverkorn hielt die Luft an, aber er hörte kein knackendes Geräusch. Er stieß die Luft aus.
Torben lächelte, weil er seine Reaktion wohl erwartet hatte. »Verrückt, oder?«
»Keine Unterschenkelknochen?«
Der Rechtsmediziner runzelte die Stirn. »Entweder nicht da oder …«, sagte er, während er begann, unterhalb des Kniegelenkes Schlick aus dem Boden zu heben, »… unser Knochenmann sitzt.« Er suchte den Schlick mit den Fingern ab und nickte. »Schien- und Wadenbeine stecken senkrecht im Schlick, wahrscheinlich auch die Füße.«
Der Kriminalhauptkommissar war überrascht. Ein sitzendes Skelett? In den meisten Fällen fanden sie Skelette liegend vor, eine sitzende Haltung war ungewöhnlich. Was bedeutete das für den Fall? War der Mann hier eingeschlafen und vom Wasser überrascht worden? »Was ist mit seiner Kleidung?«
»Bisher nichts gefunden!«
Haverkorn dachte nach. »Hast du schon Hinweise auf ein Fremdverschulden?«
Torben wies auf eine Stelle. Haverkorn konnte nicht erkennen, was der Rechtsmediziner ihm zeigte. Er stieg über den Rahmen der hölzernen Umrandung der Fundstelle, hockte sich neben Torben und sah auf die Armknochen, die über dem Schoß zusammenliefen. Die Handknochen waren überkreuzt.
Torben nahm eine Stablampe und leuchtete auf dunkle, beinahe schwarze Fasern. »Siehst du das?«
Haverkorn kniff die Augen zusammen, zog seine Lesebrille aus der Jackentasche und fixierte die Stelle, auf die Torben wies. »Was ist das?«
»Ich schätze, das war mal ein Hanf- oder Juteseil, das dem Toten um die Hände geschlungen war. Naturfasern.«
Haverkorn beugte sich vor und erkannte einzelne Fasern, die er mit viel Fantasie für ein Seil halten konnte.
Er setzte die Brille wieder ab und sah nachdenklich hinaus aufs Wasser. »Dann ist er hier im Schlick mit gefesselten Händen vergraben worden. Ich rufe Wahler an.«
Der Wasserhahn tropfte, erzeugte ein monotones Ploppen im Becken, während ihm die Kälte von den Füßen bis in den Oberkörper stieg. Er hatte es nicht mehr geschafft, seine Hausschuhe zu angeln, als der Erzieher »Rechte Seite raus!« geschrien hatte. Sie hatten während der Nachtruhe getuschelt und waren dafür bestraft worden. Vier Jungen, die im rechten Flügel des Schlafsaales untergebracht waren. Nun standen sie auf dem Flur nebeneinander, froren in ihren vergilbten Unterhemden.
Nach jeder Wäsche gab es andere abgetragene Kleidung, auch die Unterwäsche wechselte stetig. Er ekelte sich davor, aber jetzt wünschte er sich nichts so sehr wie Stoffhose und Oberhemd, vor allem aber Strümpfe und Schuhe. Er konzentrierte sich auf das Tropfen des Wasserhahns im Toilettenraum neben ihm, ignorierte die anderen drei Jungen.
Hier fror jeder für sich allein.
Die anderen trugen ihre Hausschuhe. Sie waren schnell genug gewesen, diese anzuziehen, nachdem sie aus den Betten gesprungen waren. Wie er sie darum beneidete! Er trat von einem Fuß auf den anderen, schlang die nackten Arme um seinen Körper und rieb die Hände über die Oberarme, um warm zu werden. Die Nacht konnte lang werden hier draußen in dem langen, düsteren Flur, das wusste er. Sie hatten sich vor der Toilette aufstellen müssen, weit weg vom Schlafsaal. Erst wenn der Erzieher sie wieder ins Bett schickte, durften sie sich von der Stelle bewegen und den fünfzig Meter langen Flur zurücklaufen. Aber schon um sechs Uhr würde die Trillerpfeife den gesamten Schlafsaal aufwecken. Morgen würde er kaum die Augen offen halten können, um dem Unterricht zu folgen. Wenn er müde oder unaufmerksam war, würde das weitere Strafmaßnahmen nach sich ziehen.
Der Hahn tropfte und tropfte. Die Kälte war unbarmherzig, schien ihm in jede Pore zu kriechen. Sein Körper fühlte sich steif an, beinahe bis zum Hals. Seine Zähne klapperten. Jetzt bloß kein Geräusch machen, das den Erzieher auf den Plan rief. Dann würde er den Rest der Nacht mit einer Zahnbürste den Lokus putzen.
Einmal hatte er das machen müssen. Vor Ekel hatte er die dünne Suppe vom Abendessen auf den geputzten Boden erbrochen. Auch den hatte er dann geschrubbt. Nie wieder wollte er das tun. Dann lieber hier in der Kälte stehen und frieren, bis sich der Erzieher erbarmte und sie endlich ins Bett schickte.
Die Füße und Beine spürte er kaum noch. Er bewegte sich vorsichtig, hüpfte zweimal auf und ab.
»Stillgestanden!«, brüllte eine schneidende Stimme neben ihm. Der Erzieher schien nur darauf gewartet zu haben, dass er aus der Reihe tanzte. »Mitkommen!« Er schrie auf, als er hart am Ohr gepackt und in den Toilettenraum gezerrt wurde. Er stolperte über seine eigenen Füße, fiel hin. »Hoch mit dir!«, schrie der Mann über ihm und schleifte ihn am Ohr weiter. Seine Schmerzensschreie gellten durch den nächtlichen Gang. Aber niemand würde ihm zu Hilfe kommen.
Haverkorn öffnete die Gartentür in der Hecke aus Kirschlorbeer. Das Gebäude, auf das er zuging, war in beiden Etagen erleuchtet. Es war ein modernes Haus mit rot geklinkerten Wänden, Spitzdach und Doppelgarage in einer ruhigen Sackgassenlage. Wahler hatte es als langweilig, aber familientauglich beschrieben.
Der Kriminalhauptkommissar klingelte und hörte hinter der Tür einen Hund kläffen. Es dauerte einen Moment, und er schlug den Mantel zusammen. So durchgefroren wie an diesem Abend war er lange nicht mehr gewesen. Nach den eisigen Stunden auf der Elbinsel hatte auch die höchste Stufe der Sitzheizung ihn nicht aufwärmen können. Nick Wahler öffnete. Eine französische Dogge huschte ihm durch die Beine und bellte, bis der Leiter der Mordkommission den Hund am Halsband packte und in einen Raum neben der Diele sperrte.
»Komm rein und sieh dich nicht um!« Wahler machte eine einladende Handbewegung. Er war in Jeans und Pullover, und der Schlafmangel eines Umzugs mit zwei Kindern stand ihm im Gesicht. So leger hatte Haverkorn seinen Chef, der im Büro immer Hemd und Anzug trug, noch nie gesehen.
»Willst du ein Bier?«, fragte Wahler.
»Tee wäre mir lieber.«
»Muss mal schauen, ob Ellen den schon ausgepackt hat.« Sein Chef schob mit dem Fuß eine Umzugskiste aus dem Weg und führte seinen Kollegen in einen Raum am Ende des Flurs. Eine nackte Glühbirne erhellte die Küche, die nach Wandfarbe roch. Die Möbel waren schon aufgebaut. »Ist alles noch sehr provisorisch, aber wir mussten in Lübeck aus der Wohnung raus, und der Vorbesitzer des Hauses hier hat einige Schäden hinterlassen. Die mussten erst beseitigt werden. Die Handwerker sind gestern fertig geworden, quasi fliegender Wechsel.« Er durchwühlte ein paar Kartons, die sich in einer Ecke stapelten, und fand schließlich eine Teepackung. »Kamille, was anderes kann ich dir nicht anbieten.«
»Nehme ich!« Haverkorn legte den Mantel ab und warf ihn über einen Kistenstapel. Dann hockte er sich auf einen der Barhocker vor dem Küchentresen, während sein Chef den Wasserkocher in Gang brachte und nach Tassen suchte. »Ich bleibe beim Bier, wenn das okay für dich ist?«
Haverkorn hatte Wahler bisher nur Kaffee und Wasser trinken sehen. Dieser Abend hielt einige Überraschungen für ihn bereit.
»Nick?« Eine Frau stand plötzlich in der Tür. Sie sah müde und blass aus. Ihre dunklen Haare waren mit schnellen Handgriffen zu einem Knoten gebunden worden. Das Karohemd, das sie über den Jeans trug, hatte sie auf der Hüfte verknotet, weil es ihr zu groß war. Dennoch wirkte sie strahlend schön in ihrer Natürlichkeit. Überrascht sah sie Haverkorn an. »Oh, ich wusste gar nicht, dass wir Besuch haben.«
»Das ist Bjarne Haverkorn, ein Kollege.« Wahler zog die Frau zu sich und legte einen Arm um ihre Schultern. »Das ist Ellen, meine Frau. Und der Grund, warum ich dieses Haus gekauft habe.«
Sie lachte, und der Raum erstrahlte. Erfreut gab sie Haverkorn die Hand. »Du übertreibst. Die Kinder brauchen Platz und einen Garten. Und du das Gefühl, dass du ohne schlechtes Gewissen Überstunden machen kannst. Nur deshalb hast du dieses Haus gekauft.«
Haverkorn fiel in ihr Lachen ein, und Ellen Wahler nahm sich eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank. »Ich will euch nicht stören, bin total platt. Die Kinder schlafen endlich. Ich nehme Emmi mit nach oben.« Sie gab Haverkorn die Hand und ging mit der Wasserflasche in die Diele. Bevor sie nach oben ging, erlöste sie den winselnden Hund aus dem Zimmer neben der Haustür.
Wahler trank einen Schluck Bier und setzte sich neben ihn auf einen Barhocker. »Also, was hast du für mich?«
Haverkorn zeigte ihm zuerst die Fotos, die er selbst mit seinem Smartphone vom Fundort des Skeletts auf Bargsand gemacht hatte. Er zoomte die überkreuzten Hände heran, deutete auf die zerfallenen Fasern. »Er war gefesselt. Das Seil muss laut Dr. Kielmann eine Naturfaser gewesen sein. Freiwillig ist der nicht im Schlick gelandet.«
Wahler wischte durch die Fotos auf dem Smartphone. »Wie lange liegt er schon da?«
»Das ist laut Kielmann wohl am schwersten zu beantworten. Grobe Schätzung zwischen zwanzig und dreißig Jahre.« Haverkorn wärmte seine Hände an der Teetasse, während er sprach. »Sie hatten den ›Knochenmann‹ …«, er senkte die Stimme, »O-Ton Lüttje … fast völlig aus dem Schlick, als ich gegangen bin.«
Wahler nickte nachdenklich. »Haben sie alles, was sie brauchen?«
»Frida hat ein Notstromaggregat, heiße Getränke und was zu essen organisiert. Ich denke, es fehlt an nichts.«
»Gut.« Wahler gähnte verhalten. »Die weitere Vorgehensweise klären wir morgen bei der Teambesprechung.«
»Da ist noch was.« Haverkorn zog einen Asservatenbeutel aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.
Wahler starrte auf ein ovales Metallblättchen mit einem Loch, das korrodiert war. »Was ist das?«
»Hm, ein Stück Aluminium. Sieht aus, als wäre es platt gewalzt und danach ein Loch reingestanzt worden, bevor es mit dem Wasser in Berührung kam. Die KTU schickt es ins Labor. Das Ding hatte der Tote in der Hand, als er auf der Insel vergraben wurde.«
†
Der Paulsenhof lag im Dunklen, als Frida von der Hauptstraße in die Toreinfahrt abbog. »Ich bin jetzt zu Hause«, sagte sie ins Smartphone, während sie den Jeep vor dem Wohnhaus ausrollen ließ. Sie stellte den Motor aus. »Ich bin hundemüde. Wie lange müsst ihr noch?«
Torben war noch auf Bargsand und verpackte das Skelett, um es mit der Wasserschutzpolizei nach Hamburg zu verschicken. »Geh ins Bett! Ich komme später nach.« Er klang angespannt. Die vielen Stunden im Dreck in gebückter Haltung setzten ihm zu. Frida hatte es geschafft, dass am Nachmittag eine mobile Gasheizung auf die Insel geschafft werden konnte, die zeitweise im Technikzelt betrieben wurde. Die Arbeit im feuchtkalten Wind auf der Insel war für Torben und seine Kollegin zunehmend zum Problem geworden. Zwar hatten sie sich gleich am Anfang der Arbeit mit Isolierdecken eingewickelt, um warm zu bleiben. Aber die Kälte war unbarmherzig. Mit klammen Fingern ließ sich kein Skelett ausgraben. In dem beheizten Zelt konnten sie sich wenigstens kurzzeitig aufwärmen. Aber das auflaufende Wasser ließ keine langen Pausen zu.
»Dauert hier noch etwas«, sagte Torben und gähnte verhalten. Seine Stimme klang fremd durch die Müdigkeit.
»Okay, ruf mich an, wenn ich dich später am Hafen abholen soll.«
»Ach was, geh ins Bett! Einer der Kriminaltechniker nimmt mich mit. Sein Wagen steht am Hafen.«
»Okay!« Sie unterdrückte ein Gähnen. »Der Haustürschlüssel hängt im Versteck.«
Sie verabschiedeten sich, Frida steckte das Smartphone ein und stieg aus. Der Hof lag in völliger Dunkelheit. Eine steife Brise wehte ihr ein Kastanienblatt ins Gesicht. Im nächsten Moment setzte ein Schauer ein, und Frida lief los. Sie ahnte die Eingangstür mehr, als dass sie sie sah. Schon seit dem Sommer wollte sie hier Bewegungsmelder anbringen. Ihre Eltern sollten nicht im Dunklen über den Hof laufen, auch wenn beide behaupteten, sie könnten in der Nacht auf dem Hof nur mit der funzeligen Lampe bestens sehen. Nur weil sie es ihr Leben lang nicht anders gekannt hatten.
Frida ging zur Haustür, legte die Hand auf die Klinke, blieb jedoch stehen. Hetfield, ihr Hengst, wieherte unruhig im Stall. Kurz darauf schrie der Esel. Hatten die beiden sie gehört? Seit zwei Wallache in den Mietboxen neben ihm standen, war Cobain, ihr Esel, noch nervöser als sonst. Er musste sich erst an die Neuen im Stall gewöhnen.
Frida lief durch den Regen hinüber, tauchte in die Dunkelheit ein. Auch sie bewegte sich völlig sicher hier draußen. Wenn die Augen nichts sahen, waren die anderen Sinne viel schärfer. Den Geruch nach Leder und Stroh nahm sie schon auf der Hälfte des Weges wahr. Diesen kannte sie seit ihrer Kindheit, fünfundzwanzig Schritte vom Wohnhaus bis zur Stalltür. Zielsicher fand sie den Riegel, gleich rechts war der Lichtschalter. Noch bevor sie die Hand darauflegen konnte, spürte sie einen Lufthauch und einen festen Schlag gegen den Oberkörper. Sie knallte gegen die Stallwand. Jemand hatte sie grob zur Seite gestoßen.
Sofort stand sie in Grundstellung. Mit ihren Armen und Fäusten sicherte sie den Kopf. Jede Faser ihres Körpers war angespannt, reagierte instinktiv auf den Angriff.
Ihre Nerven vibrierten. Hetfield wieherte und schabte an der Wand. Die Wallache scheuten in der Box. Pferde waren Fluchttiere. Sie spürten es, wenn Gefahr drohte. Und es war jemand im Stall, der nicht hierhergehörte.
Scheiße! Was nun? Sollte sie um Hilfe rufen? Das würde ihm verraten, wo sie sich befand.
Nichts passierte, hinter ihr knarrte die offene Tür. War er längst herausgelaufen? Sie suchte in der Dunkelheit nach dem Schalter, und das Licht flammte auf. Im Stall war der Eindringling nicht.
Sie lief auf den Hof und horchte. »Wo bist du?«, rief sie und blieb stehen, konzentrierte sich. Aber sie hörte nichts außer dem Prasseln des fallenden Regens auf dem Stalldach. Vielleicht hatte er sich irgendwo in der Dunkelheit versteckt. Aber wenn sie ins Haus ging, um eine Taschenlampe zu holen, würde er verschwinden. Sie atmete tief durch und gab die Verfolgung auf. So schnell würde er sicher nicht zurückkommen.
Frida ging wieder in den Stall und lehnte sich an die Wand. Ihr Herz pumpte, die Hände zitterten. Sie atmete tief durch, immer auf der Hut, dass der Angreifer doch wieder zurückkam. Hetfield wieherte unruhig. Frida ging zu ihrem Hengst in die Box, lehnte sich an seinen warmen Körper. Er beruhigte sie, ihr Adrenalinspiegel sank. Danach ging sie zu den beiden Wallachen. Sie redete mit ihnen und gab ihnen etwas Kraftfutter. Auch Cobain schrie nach ihrer Aufmerksamkeit. Sie ging hinüber, kraulte den Esel hinter den Ohren. Er bekam ein Extraleckerli. Seine gelben Zähne zermahlten das Futter. Endlich war es ruhig im Stall.
Was hatte der Typ hier gemacht? Hatte er eines der Pferde stehlen wollen? Sie nahm sich vor, morgen mit ihrem Vater nicht nur ein paar Bewegungsmelder auf dem Hof zu installieren, sondern auch ein einbruchsicheres Schloss am Stall anzubringen.
Frida schrak auf, als ihr Vater hinter ihr im Pyjama durch die Stalltür geschlurft kam. »Was ist denn los?«, fragte er verschlafen. »Ich habe dich auf dem Hof rufen gehört.«