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Als der Vater von Staatsanwältin Karla Matthes unerwartet ins Koma fällt, kümmert sie sich um seine laufenden Verbindlichkeiten. Zwischen seinen Unterlagen entdeckt sie zufällig eine notarielle Urkunde aus den siebziger Jahren, die den Kauf eines Hauses in der Elbmarsch bei Hamburg belegt. Warum wusste sie nichts von diesem Landhaus ihres Vaters? Und was hat er Zeit seines Lebens noch verschwiegen? Karla fährt in die Marsch und stellt Nachforschungen an, die weit in die Vergangenheit zurückführen. Ohne es zu ahnen, schwebt sie bald in tödlicher Gefahr. Denn hinter den Mauern des idyllischen Hauses am Deich lauert ein dunkles Geheimnis.
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Romy Fölck
DEICHGRÄBER
Thriller
Ruth spürt ihre Füße nicht mehr. Barfuß läuft sie durch die Nacht, ohne ein Ziel, ohne zurückzuschauen. Nur fort will sie. Fort von ihm. Fort von diesem verfluchten Haus, in dem der Tod lauert. So weit fort, wie die nackten Füße sie tragen können.
Die Lichter des Dorfes hat sie längst hinter sich gelassen. Sie stolpert in der Dunkelheit über Wiesen, treibt blökende Schafherden auseinander, springt durch Bachläufe, tritt sich Zweige und spitze Steine ins Fleisch.
Sie weiß, dass er hinter ihr ist. Irgendwo da draußen in der Dunkelheit.
Die Nachtluft ist schwül und stickig. Donner grollt in der Ferne wie ein lauerndes Tier im Dunkel. Schnell zieht das Unwetter heran, erste Blitze zucken. Platzregen peitscht auf sie ein, durchnässt sie bis auf die Haut.
Ihre Kräfte schwinden, aber sie senkt den Kopf und kämpft gegen das Unwetter an. Erst an der Elbe bleibt sie stehen und sinkt erschöpft auf die Knie. Das Wasser vor ihr ist gepeitscht vom Regen. Eine Weile bleibt sie hocken, starrt auf den Fluss, der von den Blitzen erleuchtet wird. Dann zieht sie ihr Kleid aus und lässt es einfach liegen, als sie frierend die Böschung hinabsteigt.
Ruth spürt ihre Füße nicht mehr. Barfuß läuft sie durch die Nacht, ohne ein Ziel, ohne zurückzuschauen. Nur fort will sie. Fort von ihm. Fort von diesem verfluchten Haus, in dem der Tod lauert. So weit fort, wie die nackten Füße sie tragen können.
Die Lichter des Dorfes hat sie längst hinter sich gelassen. Sie stolpert in der Dunkelheit über Wiesen, treibt blökende Schafherden auseinander, springt durch Bachläufe, tritt sich Zweige und spitze Steine ins Fleisch.
Sie weiß, dass er hinter ihr ist. Irgendwo da draußen in der Dunkelheit.
Die Nachtluft ist schwül und stickig. Donner grollt in der Ferne wie ein lauerndes Tier im Dunkel. Schnell zieht das Unwetter heran, erste Blitze zucken. Platzregen peitscht auf sie ein, durchnässt sie bis auf die Haut.
Ihre Kräfte schwinden, aber sie senkt den Kopf und kämpft gegen das Unwetter an. Erst an der Elbe bleibt sie stehen und sinkt erschöpft auf die Knie. Das Wasser vor ihr ist gepeitscht vom Regen. Eine Weile bleibt sie hocken, starrt auf den Fluss, der von den Blitzen erleuchtet wird. Dann zieht sie ihr Kleid aus und lässt es einfach liegen, als sie frierend die Böschung hinabsteigt.
1.
»Frau Matthes, haben Sie eine Minute für mich?«
Karla drehte sich um. Ihr Vorgesetzter, Oberstaatsanwalt Dr. Kolditz, holte mit harten Schritten zu ihr auf. »Können wir in mein Büro gehen? Ich möchte gern etwas mit Ihnen besprechen.« Als er sie erreicht hatte, legte er ihr für einen kurzen Moment die Hand um die Hüfte.
Karla lief schneller, um sich seiner Berührung zu entziehen und sah demonstrativ auf ihre Armbanduhr. Sie hatte gehofft, Dr. Kolditz heute nicht mehr über den Weg zu laufen. Der Oberstaatsanwalt war verheiratet. Aber je mehr sie ihn ignorierte, desto eindringlicher wurden seine Annäherungsversuche. Sie folgte ihm in sein Büro und schloss auf seine Bitte hin die Tür.
Kolditz legte seine Aktentasche auf den Schreibtisch und trat ans Fenster. Stumm blickte er eine Weile hinunter auf die Straße, als habe er sie vergessen. Pure Wichtigtuerei.
»Worum geht es, Dr. Kolditz? Ich habe noch einen Termin.«
Der Oberstaatsanwalt drehte sich um und fixierte sie. »Sie haben nächste Woche Urlaub, Frau Matthes?«, fragte er schließlich.
Die Staatsanwältin hatte alles erwartet, aber nicht, dass er mit ihr über ihren Urlaub sprechen würde. »Ja, ab Montag für drei Wochen.«
Er nickte. »Ich möchte, dass Sie die Anklage des Heinemann-Falles übernehmen.«
»Heinemann? Der Vater, der seine zwei Kinder ertränkt hat? Aber den Fall hat Anja Weber auf dem Tisch.«
»Frau Weber ist noch neu und als Staatsanwältin unerfahren. Einen Fall dieses Ausmaßes wüsste ich gern in einer sachkundigen Hand. Sie haben den Schlepper-Prozess beendet. Meinen Glückwünsch übrigens, ausgezeichnete Prozessführung!«
Karla nickte. Sie hatte den Marathon von über dreißig Prozesstagen hinter sich gebracht. Es war ein beinahe aussichtsloses Verfahren für die Seite der Anklage gewesen, dennoch hatte sie trotz einer recht dünnen Beweislage gegen den Kopf einer Schlepperbande, die minderjährige osteuropäische Frauen in EU-Bordelle schleuste, einen Schuldspruch erwirkt. Das Urteil war ein großer Erfolg für sie und die Dresdner Staatsanwaltschaft. »Danke, Dr. Kolditz. Es war harte Arbeit.«
»Und sie hat sich gelohnt! Aus diesem Grund möchte ich Ihnen den Fall Heinemann anvertrauen.« Er setzte sich hinter den Schreibtisch und sah ihr direkt in die Augen. Sein graublauer Blick wirkte einschüchternd. Aber Karla wich ihm nicht aus. »Ihnen ist klar, dass der Prozess schon im September beginnt?«
»Und?«
»Ich habe ab nächste Woche drei Wochen Urlaub. Ich kann mich in der kurzen Zeit unmöglich mit einem so umfangreichen Fall vertraut machen, um die Anklage zu führen.«
»Dann verschieben Sie Ihren Urlaub auf die Zeit nach diesem Prozess, Frau Matthes.«
In diesem Moment wusste sie, dass Kolditz Wind von ihrer Beförderung bekommen hatte. Ihm ging es gar nicht um den Fall Heinemann. Viele Jahre hatte sie auf die Beförderung zur Oberstaatsanwältin hingearbeitet, und als die ersten Gerüchte aufkamen, dass einer der Oberstaatsanwälte ins Ministerium wechseln würde, hatte sie sich für die Stelle beworben. Die Vorbereitung des Schlepper-Prozesses hatte sie sehr beansprucht und so war die Beförderung erst einmal in den Hintergrund getreten. Die Stelle sollte schon im September neu besetzt werden und Gerüchten zufolge war einer ihrer Kollegen längst vom Ministerium für den frei werdenden Posten vorgesehen. Deshalb war sie heute Morgen überrascht gewesen, dass der leitende Oberstaatsanwalt Dr. Marx sie zu sich bestellt hatte. Im Ministerium sei die Wahl auf sie gefallen, hatte er ohne große Einleitung gesagt. Und er hatte sie gebeten, so schnell als möglich in das neue Büro umzuziehen und sich einzuarbeiten. Karla hatte sich einen Tag Bedenkzeit erbeten, um die Beförderung mit ihrem Mann zu besprechen. Offensichtlich hatte Kolditz schon davon erfahren.
Karla setzte ein Lächeln auf. »Ich denke, das wird nicht möglich sein.«
Kolditz starrte sie feindselig an. »Wie bitte?«
»Bitte besprechen Sie das mit Dr. Marx. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, Dr. Kolditz, ich bin spät dran.« Als die Bürotür hinter ihr ins Schloss fiel, wusste Karla, dass ihre Feindschaft damit besiegelt war.
2.
Wie sollte sie ihrem Mann beibringen, dass sie ihren seit Monaten geplanten Urlaub in der Toskana auf unbestimmte Zeit verschieben musste? Sie waren ausgebrannt, brauchten beide diese Auszeit. Aber die Chance, das Amt der Oberstaatsanwältin zu übernehmen, würde sich ihr in ihrer Karriere nicht so schnell wieder bieten, das stand außer Zweifel.
Sie hatte in den letzten Monaten viel zu wenig Zeit mit Lars verbracht. Er war Souschef bei einem Nobelitaliener in der Dresdner Altstadt. Dort hatten sie sich vor zehn Jahren auch kennengelernt. Aber ihre unterschiedlichen Arbeitszeiten machten ihnen ein Privatleben nicht einfach. Lars arbeitete meist dann, wenn sie am Abend endlich zu Hause war, die Wochenenden inbegriffen. Ihre Ehe bestand fast nur noch aus alten Erinnerungen. Ihr Urlaub wäre eine Chance gewesen, endlich einmal mehr Zeit miteinander zu verbringen und wieder so etwas wie Nähe aufkommen zu lassen. Wie sollte sie ihrem Mann beibringen, dass sie ihr Privatleben nun für ihre Beförderung zurückstellen musste?
Im Auto rief sie ihren Vater an, um ihn um Rat zu fragen. Er war pensioniert, hatte aber Zeit seines Lebens viel gearbeitet. Friedrich Teltow war als Journalist in der ganzen Welt gereist und hatte - bis zum Tod ihrer Mutter vor fünf Jahren - eine überaus glückliche Ehe geführt. Ihr Verhältnis war durch den gemeinsamen Verlust noch enger geworden. Ihr Vater war von Hamburg nach Dresden gezogen, um in der Nähe seiner Tochter zu sein. Manchmal dachte sie, dass er mehr von ihr wusste, als ihr eigener Mann. »Papa?«
»Karla! Wie schön, dass du anrufst. Wo steckst du?«
»Ich bin im Auto und du?«
»Ich bin gerade von Brüssel zurückgekommen. Hannes ist ebenfalls in Dresden, er kommt gleich zum Essen. Er würde sich sicherlich freuen, dich zu sehen. Wollt ihr vorbei kommen? Ich habe genug Steaks gekauft.«
Sie hätte Hannes, den ältesten Freund ihres Vaters, gern wiedergesehen. Aber nicht heute. »Seid mir nicht böse, aber wir brauchen den Abend für uns. Hannes wird das verstehen.« Sie stellte das Radio leiser. »Papa, ich muss Lars etwas beichten und brauche deinen Rat!«
Friedrich Teltow lachte. »Hast du einen Liebhaber? Da kann ich dir nur den einen Tipp geben: Schweig und genieße!«
Sie lächelte. Typisch ihr Vater! »Nein, das ist es nicht. Das Ministerium trägt mir die Position einer Oberstaatsanwältin an. Nur müsste ich am Montag mit der Einarbeitung beginnen.«
»Und euer Urlaub fällt ins Wasser«, bemerkte er. »Karla, das ist doch großartig! Ich gratuliere dir, mein Kind! Du hast dir die Beförderung hart erarbeitet und Lars wird das verstehen. Er stand deiner Karriere nie im Weg, so wie du seine immer unterstützt hast. Wovor hast du Angst?«
Lars‘ Koffer stand fertig gepackt im Flur, wie ein Mahnmal ihres schlechten Gewissens. Sie stellte ihre Aktentasche daneben und verharrte vor der Tür zum Wohnzimmer. Was sie in einem überfüllten Verhandlungssaal nicht kannte, befiel sie nun: Lampenfieber.
Karla betrat den großen Wohnraum mit Blick auf die Elbe, der einer der Gründe gewesen war, dass sie sich dieses teure Haus in Blasewitz angeschafft hatten. Die offene Küche war unbenutzt. Sie war enttäuscht, dass Lars nichts für sie gekocht hatte, was er oft tat, wenn sie einen der wenigen Abende zusammen verbrachten. Ein gemütliches Essen hätte es ihr leichter gemacht, ihm die neue Stelle schmackhaft zu machen und die Absage ihrer Reise zu beichten.
Lars saß auf der Couch. Er hatte eine Flasche Weißwein geöffnet, wirkte abwesend und reagierte kaum auf ihren flüchtigen Kuss. Sie setzte sich zu ihm. »Du hast schon gepackt?«
»Möchtest du auch ein Glas Chablis?«, fragte er statt einer Antwort.
»Ja, gern!« Sie beobachtete, wie er ihr den Wein eingoss. Sein Haar war im letzten Jahr grau geworden, die Falten auf seiner Stirn tiefer. Dunkle Schatten lagen unter seinen Augen. Er sah müde und überarbeitet aus. Karla fühlte sich schrecklich, dass sie ihn um seinen Urlaub bringen würde, nahm das Glas und trank sich Mut an. Wie gern hätte sie sich jetzt an ihn gelehnt und seine Wärme genossen. Er saß direkt neben ihr und doch sehnte sie sich nach seiner Nähe. Eine absurde Situation. Sie waren Fremde auf der eigenen Couch. Karla fragte sich plötzlich, wann sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten. Sie wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher, als morgen mit ihm in einem kleinen Hotel in der Toskana aufzuwachen.
»Ich ziehe aus«, sagte er plötzlich.
Sie erstarrte, ließ dann die Worte auf sich wirken. Aber sie begriff sie nicht. »Was?«
Er stellte sein Glas auf den Tisch. »Ich habe gepackt, weil ich dich verlasse, Karla.«
Sie sah an seinen Augen, dass er es ernst meinte. Karla trank den Wein und merkte, dass ihr der Alkohol bereits zu Kopf stieg. Sie hatte seit dem Morgen nichts gegessen. Dennoch trank sie weiter, nur um etwas zu tun. Ein tiefer Schmerz breitete sich in ihrem Körper aus. Lars sprach aus, was sie lange gespürt hatte. Dass ihre Ehe am Ende war.
»Es tut mir leid, aber ich kann mit dir nicht mehr wegfahren.«
»Warum?«, flüsterte sie. »Ich weiß, dass wir zuletzt wenig Zeit für uns hatten. Aber wir können das schaffen!« Sie glaubte selbst nicht, was sie sagte. Ein letztes verzweifeltes Aufbäumen.
Lars nahm ihre kalten Hände in seine. »Ich will dir nichts vormachen, Karla. Ich habe mich neu verliebt.«
Tränen traten in ihre Augen. Sie wischte sie fort, wollte ihm ihren Schmerz nicht zeigen. Aber was hatte sie in dieser Situation noch zu verlieren? Ihren Stolz? »Es gibt eine andere?«
Er schüttelte langsam den Kopf. Sie saßen eine Weile schweigend nebeneinander, er knetete ihre Hände. »Es ist keine Frau, Karla. Ich habe mich in einen Mann verliebt.«
Sie hatte das Gefühl zu fallen. »In einen Mann?« Sie zog ihre Hände weg. »Du bist …« Sie brachte das Wort nicht über die Lippen. »Kenne ich ihn?«
Lars stand auf und trat an die offene Terrassentür. »Es ist Georgio.«
»Dein Chef?«
»Es ist einfach so passiert. Ich hätte selbst nie gedacht, dass ich Gefühle für einen Mann haben könnte.« Lars drehte sich zu ihr um. »Unsere Ehe ist schon seit Monaten nur noch eine Zweckgemeinschaft. Auch dieser Urlaub hätte sie nicht mehr retten können. Ich habe dich sehr geliebt, Karla. Aber das letzte Jahr … Es hat nicht gereicht für ein ganzes Leben.«
»Ich hätte eh nicht mit dir wegfahren können«, flüsterte sie.
»Warum nicht?«
Ihre Stimme zitterte. »Ich werde zur Oberstaatsanwältin befördert. Ab Montag werde ich eingearbeitet.«
Er sah sie lange an, ohne etwas zu sagen. Als er sprach, konnte sie hören, wie verärgert er war. »Du hättest unseren Urlaub abgesagt, um noch eine Stufe höher zu klettern?«
Karla fühlte sich mies, obwohl er es war, der sie eben verlassen hatte. Sie antwortete nicht. Was sollte sie erklären? Es war alles gesagt.
»Genau das ist es doch!« Er hatte die Stimme gehoben.