Die Rückkehr der Kraniche - Romy Fölck - E-Book
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Die Rückkehr der Kraniche E-Book

Romy Fölck

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Beschreibung

Dieses Buch zu lesen ist, wie in eine warme Scheibe Sauerteigbrot zu beißen, durch taunasses Gras zu laufen und dem Gesang der Vögel zu lauschen. Ein altes Haus inmitten der Elbmarsch, die Kraft der Natur und drei Frauengenerationen, die nach Jahren dort wieder zusammenkommen. Zwei Schwestern mit unterschiedlichen Lebensentwürfen treffen aufeinander, als die Mutter im Sterben liegt. Im alten Reetdachhaus in der Elbmarsch müssen sich die Hansen-Frauen ihrer Vergangenheit stellen, mit all ihren Geheimnissen und Fragen, und lernen, dass ein Ende immer auch ein Anfang sein kann. Nach langer Zeit begegnen sich die Schwestern Grete und Freya in ihrem Elternhaus wieder. Ihre Mutter Wilhelmine hat einen Schwächeanfall erlitten, Freya kommt sofort aus Berlin angereist. Sie will helfen, aber mehr noch ihrem eigenen Leben entfliehen. Ihr Freund hat sie verlassen, und damit die letzte Hoffnung auf die Gründung einer eigenen Familie. Grete ist ebenfalls Single, sie ist ihr Leben lang im kleinen Dorf an der Elbe geblieben, eine frühe Schwangerschaft machte ihre Träume von der weiten Welt zunichte. Sie kümmerte sich erst um ihre Tochter Anne, dann brauchte Wilhelmine mehr und mehr Unterstützung mit Haus und Hof. Gretes Zufluchtsort ist die Natur, der Garten, vor allem aber das Naturschutzgebiet an der Elbe, wo sie als Vogelwartin arbeitet. Als sich jetzt, kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag, eine unerwartete Chance zum Ausbrechen bietet, auf die sie schon lange gehofft hat, braucht sie einmal die Unterstützung ihrer Familie mehr denn je. Auch Anne kommt, um der Großmutter nahe zu sein. Das Verhältnis zu ihrer Mutter Grete ist angespannt – sicherlich auch, weil diese nie verraten hat, wer Annes Vater ist. Und auch Wilhelmine liegt ein Geheimnis auf den Lippen.

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Seitenzahl: 423

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Romy Fölck

Die Rückkehr der Kraniche

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Dem Gesang der Vögel lauschen.

In eine warme Scheibe Sauerteigbrot beißen.

Barfuß durchs taunasse Gras laufen.

Bei Wind und Wetter setzt Grete Hansen mit ihrem Boot über auf die Elbinsel, wo sie als Vogelwartin arbeitet. Die Natur ist ihr Zufluchtsort, in der Marsch kennt sie jeden Vogel, jede Pflanze. Sie ist nie fortgegangen, doch jetzt, kurz vor ihrem fünfzigsten Geburtstag, wird dieser Wunsch in ihr immer lauter. Als ihre Mutter stürzt, gerät ihr Plan ins Wanken. Wilhelmines Zustand ist kritisch. Gretes jüngere Schwester Freya reist überraschend aus Berlin an, und auch ihre Tochter Anne kommt in die Elbmarsch. Das Verhältnis ist angespannt – Grete schweigt beharrlich darüber, wer Annes Vater ist. Und auch Wilhelmine wahrt ein Geheimnis, das sie nicht mit ins Grab nehmen möchte. Dieses Mal können sich die Hansen-Frauen nicht aus dem Weg gehen, und sie erfahren, dass ein Ende auch immer einen Anfang bedeuten kann.

Vita

Romy Fölck wurde 1974 in Meißen geboren. Sie studierte Jura und arbeitete viele Jahre in der Wirtschaft. Mit Mitte 30 entschied sie, ihrem Traum, Schriftstellerin zu sein, eine Chance zu geben. Sie kündigte Job und Wohnung in Leipzig und zog in den Norden. Hier lebt sie gemeinsam mit ihrem Mann und dem zugelaufenen Huhn Helga und schreibt Romane in einem Haus zwischen Deichen und Apfelbäumen an der Elbe.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2022

Copyright © 2022 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Elisabeth J. Herrmann

ISBN 978-3-644-01445-9

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

In Erinnerung an meine Großeltern Herta und Helmut Schröber

1

Grete

Trübes Morgenlicht löste die Dämmerung ab und hob die Wiesen am Fluss aus dem Halbdunkel. Der Wind im Schilfrohr wehte synchron den letzten Dunst des Morgennebels auseinander. Ein Teichhuhn stieß irgendwo am Ufer, wo es sich im Meer der Halme verbarg, ein scharfes ki-reck aus.

Grete bremste das Hollandrad ab und schloss den Reißverschluss ihrer Outdoorjacke bis unter das Kinn, zog die Mütze über die Ohren, bevor sie wieder in die Pedale trat. Die Temperaturen in der Nacht waren ins Einstellige gerutscht, und noch war die Sonne nicht stark genug, um die Kälte zu vertreiben. Die Handschuhe hatte sie in der Schublade gelassen, weil es viel zu früh im Jahr dafür war. Sie fluchte stumm, zog beim Weiterfahren den Saum der Jackenärmel über die Hände.

Grete mochte jede Jahreszeit. Aber wenn der Altweibersommer leise den Herbst ankündigte, wenn die Tage so kurz wurden, dass die Wäsche im Garten bereits am späten Nachmittag Feuchtigkeit zog, spürte sie eine unergründliche Melancholie, die sie erst vertreiben konnte, wenn die Kastanien in den Hof fielen.

Übergänge waren nicht ihre Stärke. Sie mochte klare Grenzen, strikte Brüche und direkte Worte. Wenn ein Gesprächspartner um das Wesentliche herumpalaverte, nicht auf den Punkt kam, wurde sie ungehalten. Fasler waren ihr zuwider. Wie auch dieser Beinaheherbst, der mit einer Art Drohgebärde kalte Nächte vorausschickte, um dann mit milden Tagestemperaturen dem Sommer erneut das Feld zu überlassen.

Nichts Halbes und nichts Ganzes. «Weder Fisch noch Fleisch», wie ihre Mutter immer zu sagen pflegte.

Ihr Hinterrad klackte einen rhythmischen Takt in die Stille am Fluss. Vielleicht war wieder eine Speiche gebrochen und stieß irgendwo an. Langsam wurden das zu viele Reparaturen am Rad. Sie sollte das schwere Monstrum endlich dem Schrott überlassen und sich eines dieser leichtläufigen Modelle besorgen. Die Angewohnheit, Dinge weit über das Verfallsdatum hinaus zu behalten, weil sie «ja noch gut waren», hatte sie von ihrer Mutter übernommen, die als Alleinerziehende jeden Pfennig mehr als einmal hatte herumdrehen müssen, um ihre beiden Töchter nicht spüren zu lassen, dass ihr Gehalt und die Witwenrente kaum bis zum Monatsende reichten. Wenigstens hatte sie das Haus geerbt, das von der Familie ihres verstorbenen Mannes stammte und an das sich ein großer Garten anschloss, der sie mit allem versorgte, was der fruchtbare Marschboden hergab. Grete hatte nie das Gefühl von Mangel gekannt, auch wenn ihre Schulkameraden bessere Klamotten hatten, teures Spielzeug und sogar Taschengeld. Vielleicht war sie deshalb schon früh zur Außenseiterin degradiert worden, die später ihre vier Jahre jüngere Schwester vor den Anfeindungen auf dem Schulhof verteidigt hatte. Dem größten Jungen in ihrer Klasse hatte sie einmal mit einem Schulbuch einen Schneidezahn ausgeschlagen, weil er Freya «Lumpenkind» gerufen hatte. Er hatte sie nie mehr beleidigt, und das war es ihr wert gewesen, dass sie einen Schultadel kassierte und in den Köpfen der Lehrer fortan als gewalttätiges Kind galt. Sie hatte früh gelernt, dass man Ellenbogen benutzen musste, wenn man weder durch seinen Stand noch wenigstens durch ausreichend Geld in der Familie die Türen geöffnet bekam. Auch Freya hatte es schnell begriffen und wie sie selbst stoisch eine Bugwelle von Abneigung und Gehässigkeit vor sich hergeschoben. Sie beide waren für viele ältere Dorfbewohner «dat Lumpenpack van de Hansen», für die meisten Kinder einfach nur die «Lumpenschwestern» gewesen. Je mehr Ablehnung sie erfuhren, desto mehr schweißte sie diese zusammen. Nichts und niemand konnte sie trennen.

Grete ließ das Rad weiterrollen. Ein trompetenartiger Ruf ließ sie aufhorchen. Erst ein tiefer, darauf folgend ein hoher Laut. Ihr Herz begann zu flattern, denn dieser Ruf war unverwechselbar, auch wenn Kraniche hier selten rasteten. Sie entdeckte die zwei Tiere nach ein paar kräftigen Tritten in die Pedale. Ein Männchen und ein Weibchen standen seitlich vom Weg auf der dunstigen Wiese. Ersterer stimmte wieder in den Warnruf ein, seine Partnerin folgte. Graukraniche, die hier im Norden heimisch geworden waren. Erhaben, mit lang gestreckten Hälsen staksten sie über die Wiese. Die ausladende Schleppe, wie ihre Schwanzfedern genannt wurden, erinnerte Grete an die vorn gelüpften Röcke von Cancan-Tänzerinnen. Sie bremste ab und stieg vom Rad, blieb am Wegrand im Schutz eines Hagebuttenstrauchs stehen, dessen Früchte schon Farbe hatten. Andächtig betrachtete sie den schwarz-weiß gemusterten Kopf und Hals der Vögel, den keilförmigen Schnabel, sah die leuchtend rote federlose Platte, als das etwas kräftigere Männchen den Kopf drehte. Der restliche Körper war von grauem Federwuchs in verschiedenen Abstufungen bedeckt, der in Richtung des Schwanzes ins Anthrazitfarbene verlief. Wie graziös und anmutig sich die gut ein Meter zwanzig großen Schreitvögel auf ihren langen Beinen bewegten!

Ihre Brutstätten lagen östlich von hier, im Hansdorfer oder Duvenstedter Brook. Mitte November würden sie weiterziehen in ihre Winterquartiere in Frankreich, Spanien oder Nordafrika. Frühestens im Februar würden sie zurückkehren.

Das Paar streckte Kopf und Hals einige Sekunden bogenförmig in Richtung Elbe, trompetete nochmals im Wechsel. Dann staksten beide ein paar schnelle Schritte, bevor sie sich vom Boden abstießen und mit langem Hals davonflogen.

Es war die Magie dieses Augenblicks, der Gretes Kehle eng werden ließ. Eine alte Wunde riss in ihr auf.

Fliegt, ihr Kraniche! Fliegt!

Wie gern wäre sie mit ihnen gezogen. Fort von hier in wärmere Gefilde, wo das Ohr fremde Sprachen aufnahm, die Nase exotische Gerüche, der Geist nie erahnte Eindrücke. Dorthin, wo sich das Leben nicht in den engen Bahnen des Alltags abnutzte.

In der nächsten Woche stand ihr fünfzigster Geburtstag an, und sie war noch nie groß fortgekommen aus ihrem Dorf an der Binnenelbe, obwohl sie als Achtzehnjährige davon geträumt hatte, Meeresbiologie zu studieren und jedes Land der Welt zu bereisen. Aber auch Träume verschlissen mit der Zeit, wenn sie nur ein idealisiertes Hirngespinst blieben.

Grete sog die kühle Luft ein und stieg aufs Rad. Als die Kraniche am Horizont verschwunden waren, fühlte sie sich plötzlich kraftlos und leer. Es war ihr Kreuz, sich nach fernen Ländern zu sehnen und doch wieder in das in die Jahre gekommene Elternhaus zurückzukehren. So wie jeden Tag in den letzten fünfzig Jahren.

 

Grete stellte das Objektiv scharf, um das Seeadlerpaar beobachten zu können, welches in einer Baumkrone nur zweihundert Meter von ihr entfernt saß und nach Beute spähte. Noch in den Achtzigerjahren hatte es niemand für möglich gehalten, dass es hier in der Elbmarsch einen Seeadlerbestand geben würde. Weit mehr als achtzig Reviere waren mittlerweile im Bereich der Binnenelbe besetzt, seit einigen Jahren mit eigenem Nachwuchs. Eine kleine Sensation.

Grete beobachtete das Männchen mit seinem typisch bulligen Körper und dem kräftigen Fang. Sein überwiegend braunes Gefieder war am oberen Rücken aufgehellt und endete in weißen Schwanzfedern. Der Horst war nicht zu sehen. Er befand sich im hinteren Teil des Baumes. Dort hatte das Paar in diesem Jahr zwei Jungtiere ausgebrütet und durchgebracht.

Ein elektronisches Flirren in ihrer Tasche ließ Grete zusammenfahren. Verdammt! Sie hatte vergessen, ihr Handy auszuschalten. Das Seeadlermännchen stieß ein heiseres akakak aus und schwang sich vom Ast in die Luft, um kurz darauf im Segelflug über der Binnenelbe zu schweben. Das Weibchen folgte ihm nach.

«Ja?» Sie konnte ihre Verärgerung kaum unterdrücken.

«Bringst du vom Laden noch Gelierzucker mit?», fragte ihre Mutter mit dem typisch gerollten «r» der norddeutschen Nachkriegsgeneration.

«Das steht doch schon auf deinem Zettel!» Grete versuchte, ruhig zu bleiben.

«Was für ein Zettel?»

«Du hast mir doch einen Einkaufszettel gegeben. Gestern Abend!»

Schweigen am anderen Ende. Die Erinnerungslücken ihrer Mutter machten den Alltag mit ihr zur Geduldsprobe.

«Na dann! Weißt du ja Bescheid!» Ihre Mutter legte ohne ein Wort des Abschieds auf. So abweisend benahm sie sich schon ihr Leben lang. Nie ein Wort zu viel reden. Wenn alles gesagt war, war das Schnack genug. Es gab Tage, an denen sie nicht ein Wort miteinander wechselten.

Grete stellte das Mobiltelefon auf stumm und ließ es in ihre Jackentasche gleiten. Das Seeadlerpaar war nur noch stecknadelkopfgroß in der Ferne auszumachen. Ihre Chance war vertan. Sie stand auf, klappte das Kamerastativ zusammen und blieb stehen. Der Tag war warm geworden, aber der Wind frischte immer wieder kühl auf. Er spielte in den wehenden Schilfrohrhalmen an der Wasserkante ein uraltes Lied, eine sehnsuchtsvolle Melodie, die vom Zauber der unangetasteten Natur erzählte. Sie hörte es jeden Tag hier am Ufer, ohne dessen überdrüssig zu werden. Das weiche Rauschen der Halme erinnerte sie an ihre Kindheit, weite Streifzüge an der Binnenelbe, blutige Knie und Wilderdbeeren, deren herbe Süße auf der Zunge explodierte. Und an Freya, die ihr nachgelaufen war wie ein Entenjunges der Mutter. Bis sie flügge wurde.

Grete erreichte den kleinen Hafen, der nur aus einem Holzhaus, das dem Sportbootverein gehörte, und ein paar Bootsstegen bestand, und lehnte ihr Hollandrad an eine Laterne. Sie schloss es nicht an, das olle Ding würde eh niemand klauen wollen.

Der Motor des Schlauchbootes sprang sofort an. Grete setzte sich auf die Sitzbank im Heck und zog das Gas hoch, nahm Kurs auf die Insel. Der Fahrtwind zerzauste ihre Haare. Der Geruch der Elbe empfing sie immer wieder wie eine alte Erinnerung, und die kurze Fahrt auf die andere Seite fühlte sich an, als könne sie für eine Zeit alles zurücklassen.

Ein Trampelpfad führte zur Beobachtungshütte.

Dort angekommen, drehte Grete das Gas im Campingkocher an und ließ die Flamme anspringen, stellte eine verbeulte Teekanne auf den Brenner. Handgriffe, die sie im Laufe der Jahre verinnerlicht hatte. Ihr Arbeitgeber, die Naturschutzvereinigung NAVE, hatte die lang gehegten Pläne, Strom hier raus zu legen, bisher noch nicht umgesetzt. Aber gerade diese Ursprünglichkeit, weder Strom noch fließendes Wasser in der Blockhütte zu haben, belebte sie innerlich. Back to nature! So oft wurde es gepredigt, so selten umgesetzt. Lieber schleppte sie Gasflaschen und Wasserkanister, als die Genügsamkeit in der Nähe ihrer Vögel aufzugeben. Ab und an übernachtete sie hier, wenn sie ansässige Vogelarten bei Tagesanbruch beobachten wollte. Oder wenn sie die Einsamkeit suchte.

Grete klappte die Liege hoch, die an der Wand angebracht war, und hängte Haukes Jacke an den Haken neben der Tür. Ihr Kollege Hauke war ein Schludrian, der noch mehr Chaos verursachte, wenn er Ordnung schaffen wollte. Sie sagte nichts und ließ ihn hier an ihrem gemeinsamen Arbeitsplatz sein chaotisches Wesen ausleben. Gefangen in einer unglücklichen Ehe, sollte Hauke nicht auch noch hier von ihr gegängelt werden.

Das Wasser im Kessel begann zu blubbern. Sie drehte den Kocher aus, goss eine Teetasse auf. Der Geruch nach frischer Pfefferminze erfüllte den Raum. Sie steckte den Löffel ins Glas mit dem Wildblütenhonig, den sie vor zwei Wochen geschleudert hatte, schälte die goldgelbe Masse heraus und ließ ihn in die Teetasse gleiten. Zwei Bienenbeuten standen in ihrem Garten. Sie war stolz auf den Ertrag dieses Honigjahres. Sechzig Gläser waren gefüllt und standen im Regal im Keller aufgereiht. Zwei hatte sie mit hierhin in die Hütte gebracht. Sie wusste, dass Hauke ihren Honig liebte. Man brauchte keine Worte, um dem anderen zu sagen, dass man an ihn dachte.

Grete nahm die Tasse und ging hinaus, setzte sich auf die Holzbank und lehnte sich an die sonnenwarme Wand der Hütte. Sie wartete, weil der Tee noch zu heiß war. Über ihr flog ein Schwarm Graugänse rüber zum Festland, um auf den abgeernteten Kornfeldern sein Futterglück zu versuchen. Sie blickte ihnen eine Weile nach. Meistens beobachtete sie hier von der Bank Gänse, nur selten Kraniche. Die Flugbilder waren für Ungeübte schwer zu unterscheiden. Gänseflügel sahen von unten betrachtet eher spitz aus, die der Kraniche dagegen eckig. Die Beine der Kraniche waren länger und ragten auch im Flug über die Schwanzfedern hinaus. Schon ohne gen Himmel schauen zu müssen, hatte Grete die Gänse sofort an ihren schnatternden Rufen erkannt. Auch Kraniche waren bereits von Weitem zu vernehmen, aber sie machten auf sich durch ein erhabenes und selbstbewusstes Trompeten aufmerksam.

Grete trank und schloss die Augen. Die Geräusche um sie herum wurden zu einer Symphonie, die das Orchester Natur für sie spielte: das unregelmäßige Wellenschlagen an der Uferkante, getragen vom sanften Rauschen des Reetgrases. Nach der Ouvertüre setzte das Solo eines Schilfrohrsängers ein. Hier war ihr Seelenort, an dem sie niemandem Rechenschaft schuldig war, wo die Zeit einem ewig fließenden Gewässer glich, in dem ein Menschenleben nur ein Wimpernschlag war. Wenn sie doch nur hier draußen leben könnte. Dann wäre die Last, ihr Leben lang an einem Ort festzuhängen, besser zu schultern.

Sie stellte die Tasse auf die Bank neben sich, wo ein Kaffeering zeigte, dass Hauke kürzlich hier gesessen hatte. Vorsichtig legte sie ihre Fingerspitzen auf die Stelle. Abrupt zog sie die Hand zurück, als hätte sie etwas Verbotenes getan. Hauke und sie kannten sich schon lange, doch einmal, vor etwa einem Jahr, hatten sie die Klappliege und den warmen Schlafsack geteilt. Über jene gemeinsame Nacht hatten sie nie wieder gesprochen. Unausgesprochene Geständnisse wogen oft schwerer, weil sie nicht zurückgenommen werden konnten. Wenn Hauke und sie sich begegneten, standen die unterdrückten Gefühle zwischen ihnen wie ein Bollwerk. Grete hatte nicht vor, es jemals einzureißen. Denn tiefe Gefühle waren für sie gleichbedeutend mit Verlust. Diese heimliche Schwärmerei musste endlich aufhören! Hauke war ihr Kollege, nicht mehr. Wenn jemand gar nicht zu ihr passte, dann ganz sicher er!

Ihr Blick wanderte hinaus auf den Fluss. Dorthin, wo der Himmel dem Wasser am nächsten war. Wer würde denn schon zu ihr passen? Sie war fast fünfzig, für die meisten Männer damit unsichtbar. Sie lebte mit ihrer wackeligen Mutter zusammen, die jeden Fremden zum Teufel jagen würde.

 

Der kürzere Tag dirigierte den Nachmittagsschatten zur Bank, ließ sie frösteln. Sie hatte gar nicht so lange hier sitzen wollen, musste noch zum Supermarkt fahren und den Einkaufszettel ihrer Mutter abarbeiten. Sonst würde diese wieder den ganzen Abend mit tiefen Mundfalten ihre Enttäuschung zur Schau tragen, dass Grete sie vergessen hatte.

Sie holte ihren Rucksack, schloss die Hütte ab und klemmte den Schlüssel an die geheime Stelle hinter der Regenrinne, wo Hauke ihn finden würde.

Das Schlauchboot am Steg wogte auf den Wellen, die ein mit bunten Containern beladenes Handelsschiff zur Insel geschickt hatte. Grete blieb auf den Holzplanken stehen und wartete, bis die Wasseroberfläche sich beruhigt hatte, sah hinüber zum Festland. Würde die Welt da drüben sie vermissen, wenn sie hier bei ihren Vögeln bliebe? Brauchte sie dort drüben jemand? Oder waren die eingefahrenen Strukturen ihres Lebens ein Halt, den sie selbst beanspruchte, um sich sicher zu fühlen? Die Wellen liefen aus. Grete löste das Tau, stieg ins Boot und brachte den Motor zum Laufen. Über Freiheit nachzudenken, war leicht. Sie zu wählen, oft nur eine Träumerei.

2

Freya

Er war gerade gegangen. Hatte dem Raum den Rest Wärme entzogen, mit dem die Mittagssonne diesen Glaspalast am Gendarmenmarkt aufgeladen hatte. «Also dann …», waren seine letzten Worte gewesen. Sie musste lächeln, obwohl diese nichtssagende Floskel mehr schmerzte als die Vorwürfe, die er vorher bei ihr abgeladen hatte, um sich von jeglicher Schuld zu befreien. Nicht zu Hause hatte er die Aussprache gesucht, sondern hier in ihrem Büro, für jeden der Mitarbeiter hinter den Glaswänden sichtbar, wenn auch nicht zu verstehen. Weil er gewusst hatte, dass sie vor ihren Leuten die Haltung bewahren und ihn nicht anschreien oder rausschmeißen würde.

So war er immer gewesen, zuerst den Weg des geringsten Widerstandes ausloten und diesen dann einschlagen. Sie dagegen ging ihr Leben lang mit erhobenem Haupt und durchgedrückten Schultern durch den Sturm, auch wenn das Schiff bereits unterging. Und ihr Beziehungsschiff war gerade leckgeschlagen und sank mit Mann und Maus auf den Meeresboden.

Er hatte viel gesagt. Das meiste war bei ihr nur durchgerauscht, weil sie ihre Wut unter Kontrolle halten musste. Wenigstens schaffte sie es, ihm erhaben ins Gesicht zu lächeln. Aber einige der dolchscharfen Vorwürfe wiederholte ihr Erinnerungsvermögen wie in Endlosschleife: gefühlskalt, unnahbar, egoistisch, freudlos, nicht familientauglich. Dass er ihr die Fähigkeit abgesprochen hatte, eine Familie gründen zu können, war das Schlimmste gewesen. Immerhin hatten sie versucht, ein Kind zu bekommen.

Freya lockerte ihren verkrampften Körper und lächelte den Mitarbeitern zu, die ihr durch die Scheibe verhaltene Blicke zuwarfen. Sie fror plötzlich und zog den Blazer über.

Noch heute Morgen war sie voller Enthusiasmus gewesen, als sie mit dem CFO die Halbjahresbilanz durchgegangen war. Beim Jour fixe mit ihren Mitarbeitern, bei dem sie Champagner und ein veganes Catering spendiert hatte, hatte sie die Mannschaft nochmals eingeschworen, weil sie seit dem Launch der grünen Kollektion geradezu überrannt wurden. Sie hatte es nicht kommen sehen. Als er unerwartet ins Büro kam, dachte sie zunächst, er würde sie zu einem spontanen Lunch einladen. Und nun, kaum zwei Stunden später, fühlte sie sich kalt und zerbrechlich.

Warum hatte sie ihn nicht einfach aus ihrem Büro geschmissen?

Das Smartphone auf dem Schreibtisch vibrierte und führte ratternde Selbstgespräche auf der Marmorplatte. Sie reagierte nicht. Jede Bewegung wäre eine Kapitulation gewesen. Als es still wurde, löste sie ihre Fingernägel aus dem Handballen. Sie wollte jetzt allein sein. Ein heißes Bad, eine Flasche Wein, Musik von Zaz. Warum sollte sie nicht einfach durch diese Tür gehen und den Tag blaumachen? Sie war die CEO der Firma. Niemand konnte sie aufhalten!

Freya sah auf die modernen Gebäude gegenüber. Protzige Architektur, die nichts Wärmendes zu bieten hatte. Nichts, was sie hätte aufmuntern können. Sie wollte in den Arm genommen werden.

Das Klopfen war erst zögerlich, als sie sich nicht umdrehte, immer fordernder.

Freya schloss die Augen, fand schließlich die Kraft, mit einem Nicken zu signalisieren, dass sie bereit für ein Gespräch war.

«Frau Hansen. Lars Becker ist in der Leitung. Es scheint dringend zu sein!»

Es war immer dringend, wenn ihr Community Manager etwas von ihr wollte. «Stellen Sie ihn durch!»

Sekunden später flötete ihr Festnetz das Pianomotiv von «Clocks» in den Raum. Sie riss den Hörer herunter. «Lars?» Unnötige Härte in ihrer Stimme.

Er zögerte einen Atemzug. «Freya, wir haben ein Problem!»

Warum verstand niemand, dass auch sie nur eine begrenzte Kapazität für Probleme hatte? «Worum geht’s?», fragte sie und klang tatsächlich interessiert. Wie gut sie es verinnerlicht hatte zu improvisieren. Schon als zehnjähriges Kind, als sie ihre Mitschüler glauben ließ, dass sie Gedanken lesen konnte, nachdem sie zwei von ihnen in der Pause auf dem Schulklo belauscht hatte. Die Klasse hatte sie danach geschnitten, weil jemand sie beobachtet und verpetzt hatte. Freya hatte die Ignoranz der anderen an sich abperlen lassen und einfach bessere Noten geschrieben als sie.

«Wir werden seit gestern im Netz mit Hass-Kommentaren überrannt. Es fing damit an, dass jemand behauptete, die neue Textilfaser sei aus Erdöl produziert worden. Totaler Bullshit, aber die Follower glauben das! Jetzt behaupten noch mehr von ihnen, dass lediglich ein minimaler Anteil aus Algen besteht.»

Das Netz der Besserwisser! Sie hasste das Internet, weil dort immer noch Anarchie herrschte. «Wir wissen, dass das nicht stimmt! Morgen schießen sie sich auf was anderes ein.»

«Du verstehst es nicht! Es sind nicht nur unsere Seiten in den sozialen Netzwerken betroffen, auch die Presse hat Blut geleckt, schreibt bereits von Greenwashing!»

Freya blinzelte. «Ich kümmere mich darum! Du schaltest erst mal alle Kommentarfunktionen aus!»

«Aber was, wenn …»

Sie schnitt ihm das Wort ab, indem sie den Hörer aufknallte. In der Suchmaschine fand sie die ersten Online-Schlagzeilen zum Thema, die tatsächlich besorgniserregend waren, weil die Medien sich auf das Gutachten einer Studentengruppe bezogen, die sich selbst Green Watch nannte und die vegane Algenfaser, die Freyas Firma entwickelt hatte, als Greenwashing-Produkt einstufte. Wie auch einige andere grüne Produkte, von denen Freya noch nie gehört hatte. Sie waren der große Fisch an der Angel, die anderen nur ein Nebenschauplatz. Sie ahnte, welcher ihrer Konkurrenten die Studenten auf sie angesetzt und sicherlich auch bezahlt hatte. «Scheiße!»

Ahnungsvoll checkte sie die verpasste Nummer auf ihrem Smartphone. Dr. Nils Mehring hatte versucht, sie zu erreichen. Der Firmenanwalt rief nie ohne Grund bei ihr an. Sie tippte auf Wahlwiederholung, bekam ihn sofort an den Apparat.

«Freya! Gut, dass du zurückrufst. Wir müssen uns treffen. Bei uns ist gerade ein Schreiben der Kanzlei eures Großkunden eingegangen. Ihr sollt die Produktion stoppen!»

 

Natürlich hatte er seine Sachen schon gepackt, als sie nach Hause kam. Freya ging durch jeden der vier Räume ihrer Altbauwohnung. Es schien, als wäre er nie hier gewesen. Seine Fächer waren leer, seine Seite des Bettes abgezogen. Sogar seinen Müll hatte er mitgenommen. Endreinigung ihrer Liebe, bevor er sie beide wieder auf den Markt warf. Schon immer war er so perfektionistisch gewesen, was es ihr leichtgemacht hatte, ihn um sich zu haben. Er war ein Ästhetikliebhaber, einer der wenigen Männer, der keine alten Socken, Wäsche oder benutzte Teebeutel herumliegen ließ. Sie war erschöpft, aber vielmehr verstört darüber, was geschehen war, sodass sie dem Impuls folgte, der schreienden Leere der Räume zu entfliehen. Sie kramte Jeans und einen Hoodie ganz unten aus dem Kleiderschrank, ließ ihren Tesla in der Tiefgarage stehen und fuhr mit dem Taxi nach Kreuzberg, weil sie das mondäne und übersättigte Publikum in Berlin-Mitte zu sehr an die ausschweifenden Kultur- und Restaurantbesuche mit ihm erinnerte. Sie wollte sich in den wogenden Strudel der Großstadt werfen, wo sie eine unter vielen war. In den belebten Straßen kehrte ihre Courage zurück. Warum hatte diese sie in der Aussprache im Stich gelassen? Weil die Trennung sie kalt erwischt hatte? So hilflos war sie einer Situation das letzte Mal ausgesetzt gewesen, als sie einen Mann verlassen hatte. Mit seinen Tränen hatte sie nicht umgehen können.

Aus einer Kneipe tröpfelte Livemusik in die Nacht. Die melancholische Stimme der Sängerin, die von einem tiefen Verlust sang, trieb sie weiter. Freya wusste nicht, wohin sie ging. Aber solange sie sich bewegte, blieb der Schmerz nicht an ihr haften. Der Teufel kackt immer auf den größten Haufen, hatte ihre Schwester ihr eingebläut. Und die Haufen in ihrem Leben waren groß gewesen. Sie wusste, wovon sie sprach. Wie lange hatte sie Grete nicht mehr gesprochen? Sechs Monate? Länger? Wahrscheinlich zuletzt an Weihnachten, als sie früher als sonst abgereist war, weil sie vorgab, arbeiten zu müssen. Eine glatte Lüge, die Grete längst durchschaut, aber nie kommentiert hatte.

Plötzlich spürte sie eine so tiefe Sehnsucht nach ihrer Schwester, dass sie taumelte. Ein Mann fing sie auf, weil sie eine Bordsteinkante übersehen hatte. Sie dankte ihm und riss sich wieder los, damit er ihre Tränen nicht sah.

Die Firma würde diesen Skandal überstehen. Ihr Anwalt kommunizierte mit der Kanzlei ihres Großkunden. Wenn sie Glück hatten, würden sie am Ende lediglich eine deftige Kostennote bekommen. Im schlimmsten Fall den Vertrag mit ihrem Großkunden verlieren. Die ersten Feuer waren aber vorerst gelöscht.

Aber wer kümmerte sich um sie? Freya blieb mitten auf dem Bürgersteig stehen, öffnete das Display des Smartphones, wischte die Namen von oben nach unten. Geschäftspartner, Mitarbeiter, Freunde von ihm. Aber keine Person, die ihr so nahegestanden hätte, dass sie ihr von ihrer Lebenskrise erzählen würde. Jemand stieß sie beiseite, das Smartphone fiel zu Boden. Sie schrie ihm ein paar Kraftausdrücke nach, hob es auf. Kein Kratzer, aber auch wenn es kaputtgeschlagen wäre, es hätte keinen Unterschied gemacht. Es gab keinen Freund, den sie hätte anrufen können. Niemand kannte die verzweifelte Freya. Schwäche stand ihr nicht zu Gesicht.

Grete, dachte sie erneut und suchte nach der Nummer. Ihre Schwester war damals ihr schwarzer Ritter gewesen, hatte sie immer beschützt und getröstet. Ihr Finger schwebte über dem Hörersymbol, aber sie wischte den Kontakt weg und ließ das Gerät in die Tasche gleiten. Wenn sie Grete anrief, würde das bedeuten, dass sie in ihrem eigenen Leben gescheitert war. Das war keine Option!

Freya betrat eine Kneipe, bestellte eine Flasche Bier und dazu eine Bulette und Pommes. Fettdunst lag in der Luft, die Besucher drängten sich, der Lautsprecher dudelte einen längst vergessenen Song. Es war warm und laut. Sie musste unwillkürlich auflachen, denn sie sah ihn vor sich, seine gewellten Stirnfalten, die er immer gezeigt hatte, wenn sie sich nicht kultiviert genug benahm. Peer war Weinliebhaber gewesen, bevorzugte Bars mit leise klimpernder Klaviermusik. Er hätte hier keinen Fuß reingesetzt. Bier hatte sie selten und nur heimlich bestellt, wenn er ihr nicht vorhalten konnte, dass es das Getränk der billigen Plätze war. Ein ewiger Seitenhieb auf ihre Herkunft.

Sie trank durstig und ließ sich den Schaum übers Kinn laufen. Und dann die Tränen, weil sie in der Anonymität dieser Eckkneipe niemand interessierte. Der attraktive Bärtige, der sich später neben sie setzte, erinnerte sie an Sten, ihre erste große Liebe. Sie stürzte in seine kastanienbraunen Augen und ließ ihn von Köln erzählen, wo er als Stuntman arbeitete. Es war ihr egal, ob es stimmte. Sie sagte ihm einen falschen Namen und schwieg bei der Frage nach ihrem Alter. Er zog sie irgendwann an sich, und Freya vergaß für ein paar geliehene Stunden, in denen sie eine andere sein konnte, ihren Verlust.

3

Grete

Sie stellte die Einkaufstüte in der Küche ihrer Mutter auf den Tisch. Der große Aluminiumtopf zum Einwecken stand auf dem Herd. Den hatte Mutter wieder allein aus dem Keller gewuchtet, obwohl Grete ihr immer wieder vorbetete, dass sie so schwere Dinge nicht mehr heben sollte. Wilhelmine war störrischer als ein Esel.

Wo war sie überhaupt?

Die Terrassentür klapperte, ihre Mutter schleppte einen Korb Äpfel herein. Grete nahm ihn ihr ab und hob ihn auf die Arbeitsplatte, wohin ihre Mutter ihn wies. «Ich habe dir doch gesagt, ich bringe dir die Äpfel!»

«Du warst nicht da!» Wilhelmine trat zur Spüle und schüttete die Äpfel hinein.

«Die Einkäufe stehen hier», erklärte Grete. «Der Gelierzucker, den du wolltest, war aus. Ich habe einen anderen genommen.»

Ihre Mutter drehte sich um und ging zum Tisch, packte mit versteinertem Gesicht die Einkäufe aus, wog skeptisch eine der Zuckertüten in der Hand. «Zwei zu eins? Wie soll das denn schmecken? Die Brombeeren sind quietschsauer dieses Jahr! Wer will saures Brombeergelee essen?»

«Es gab aber nur den», erklärte sich Grete. «Und der ist süß genug für die Beeren!»

«Warum bist du nicht einen Ort weiter in den großen Supermarkt gefahren? Für deine alte Mutter war dir der Umweg wieder mal zu weit!»

«Ich war mit dem Fahrrad unterwegs! Das Auto stand hier zu Hause.»

Wilhelmine schüttelte verbissen den Kopf. Sie packte die Gelierzuckertüten zurück in den Einkaufsbeutel. «Kannst du wieder mitnehmen!»

Grete probierte es mit einem Themenwechsel. «Ich habe frischen Räucherfisch bekommen, möchtest du ein Stück? Lachsforelle oder Aal?»

Ihre Mutter stand an der Spüle und wässerte die Äpfel, würdigte sie weder eines Blickes noch einer Antwort. So war es immer. Grete hatte einen Fehler gemacht, Wilhelmine strafte sie mit Schweigen.

«Ich bin dann oben!» Sie nahm den Einkaufsbeutel mit dem Gelierzucker und ließ ihre Mutter schmollen. Das konnte sie tagelang aushalten, je nach Schwere der Verfehlung. Grete summte ein Lied, während sie hinauf in ihre Wohnung stieg. Diesen Nachmittag würde sie sich von der Laune ihrer Mutter ganz sicher nicht verderben lassen!

 

Der Brotteig war zu feucht und zu klebrig. Grete gab noch etwas Roggenmehl dazu, fuhr mit beiden Händen in die weiche Masse und faltete sie mehrfach auf dem Brett, gab wieder Mehl dazu, bis der Teig sich geschmeidig anfühlte. Sie formte einen runden Laib und legte ein Tuch darüber. Eine Stunde würde sie ihn reifen lassen. Ein gutes Brot brauchte Zeit. Sauerteig noch mehr als der aus Hefe. Sie genoss es, mit den Händen zu arbeiten, nahm die langen Ruhezeiten des Gärprozesses mit stoischer Gelassenheit in Kauf, weil ein selbst gebackenes Brot Tradition hatte. Brot zu backen, war im Hause der Hansens von Generation zu Generation weitergegeben worden. Sie buken seit jeher auf einer Steinplatte im alten Küchenofen, den schon Gretes Urgroßmutter angefeuert hatte. Das Gefühl, ihren Geist noch in dieser Küche zu spüren, war erhebend. Grete hob das Gärkörbchen vom Brett, gab Mehl darauf und verteilte es, indem sie das Körbchen drehte. Den Mehlrest kippte sie auf das Teigbrett.

Unten im Haus polterte es, Grete lauschte. Kurz darauf hörte sie Metall scheppern. Seit den Morgenstunden werkelte ihre Mutter in der Küche. Sie wollte heute die Großvaterbirnen einkochen, kegelförmige und wohlschmeckende Sommerbirnen, die recht untypisch für die norddeutsche Region waren. Woher der Baum im Garten stammte, hatte ihr niemand sagen können. Aber er trug reichlich Früchte wie schon in den letzten fünfzig Jahren. Freya hatte diese Birnen geliebt und bereits quietschgrün gegessen, bis sie Bauchweh bekam. Grete wischte den Gedanken an ihre Schwester beiseite.

Wilhelmine hantierte jetzt so laut mit Töpfen, Schälwerkzeugen und Weckgläsern, dass ihre Tochter durch die Zimmerdecke hören konnte, womit sie im Erdgeschoss gerade zugange war. Ein Konglomerat aus Klängen, das typisch für dieses Haus war. Und für ihr Zusammenleben.

Nun war Zeit für einen Tee. Sie setzte Wasser auf die gusseiserne Platte des Holzofens, der bereits knackte und knisterte. Es würde länger dauern als im Wasserkocher, aber selbst das Teekochen war eine meditative Abfolge von Handgriffen, die für sie zum Brotbacken dazugehörte.

Unten hörte sie ihre Mutter rufen. Grete lauschte, aber Wilhelmine schimpfte nur mit dem Kater, der wahrscheinlich wieder auf den Tisch gesprungen war, um seinen Kopf in die Töpfe zu stecken. Da hörte sie schon sein Tippeln auf den Treppenstufen, kurz darauf strich er ihr um die Beine. Sie setzte sich auf den Küchenstuhl. Sofort sprang er auf ihren Schoß und begann zu schnurren. Der Kater war seit Jahren das einzige Geschöpf, dem sie körperlich nah war. Bis auf die eine Nacht mit Hauke, die ihr beinahe schon unwirklich erschien. In ihrem Leben gab es keine Berührungen, nicht einmal ihre Tochter nahm sie in den Arm, wenn sie doch mal nach Hause kam. Sie verkümmerte, wenn sie nicht bald etwas dagegen unternahm.

Erschöpft schloss sie die Augen und lehnte sich zurück, genoss das wohlige Schnurren des Katers und die Wärme seines Körpers.

Als sie hochschreckte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war. Der Kater war fort, die Sonne stand auf der anderen Seite des Hauses. War sie eingenickt? Grete stand auf und spürte ihren Rücken, zog die Schultern nach hinten und ertrug das Ziehen der verspannten Muskeln. Sie trat zum Backbrett. Der Brotlaib war riesig geworden. An der Oberfläche hatte der Teig viele feine Gärrisse gebildet, er roch säuerlich. Sie faltete ihn nochmals und gab ihn ins Gärkörbchen. Das Feuer im Holzofen war längst erloschen. Das Wasser in der Kanne wieder abgekühlt.

Sie sah sich in der Küche um, etwas irritierte sie. Aber sie kam nicht darauf, was es war. Hinter ihr tickte leise die Wanduhr. Dann wusste sie, was seltsam war. Unten war es totenstill. Ungewöhnlich, da ihre Mutter immer im Haus hantierte, seit sie nicht mehr so gut zu Fuß war. Sie lief die Treppe nach unten, durch die Diele, in der es süß nach den gekochten Früchten roch.

Ihre Mutter lag neben dem Herd, bewegte sich nicht. Erschrocken rannte Grete die letzten Schritte, kniete sich neben sie, berührte ihre Hände, die warm waren. Sie griff einen Löffel, hielt Wilhelmine das blanke Metall vor Nase und Mund, das sofort beschlug. Sie legte den Löffel zur Seite.

Vorsichtig strich sie Wilhelmine über die Wange. «Mutter! Hörst du mich?» Sie stand auf, nahm ein Küchentuch und hielt es unter den Wasserhahn. Dann kniete sie sich wieder neben die Bewusstlose, tupfte ihr Schläfen und Wangen ab.

Die Augenlider flatterten, ihre Mutter holte tief Luft, öffnete die Augen. Ein kaum hörbares Stöhnen kam aus ihrem Mund.

«Wo …»

«Du bist umgekippt!», sagte Grete. «Tut dir etwas weh?»

Wilhelmine konnte ihren Blick nicht erwidern. Grete nahm ein Kissen von der Bank und schob es ihr unter den Kopf. Dann deckte sie sie mit einer Wolldecke zu. «Ich rufe jetzt den Notarzt an. Du bleibst einfach liegen. In Ordnung?»

Ein zustimmendes Blinzeln reichte ihr, um ihre Mutter kurz allein zu lassen und zum Telefon zu laufen.

Freya

Sie saßen seit Stunden in diesem Konferenzraum. Die drei Männer redeten zu viel, sie nur wenig. Der Geschäftsführer der Werbeagentur war mit dem Creative Director ihrer Einladung gefolgt, um mit einer gezielten Strategie die Krise der Firma abzuwenden. Er wollte eine großflächige Plakataktion in den wichtigsten Großstädten. Freya wollte, dass er endlich aufhörte zu schwafeln. Sie war müde und hatte klopfende Kopfschmerzen. Riesige Werbeplakate würden das Image der Firma nicht aufpolieren. Sie mussten endlich neu denken. Vielleicht eine Guerilla-Kampagne, die niemand von ihnen erwartete. Graffiti-Sprayer in den Klamotten ihres Labels, welche Wände mit einem Slogan taggten, der zu ihnen führte. Ihr war klar, dass ihre Geschäftspartner viel konservativer dachten, und schlug sich die Idee unausgesprochen aus dem Kopf. Jetzt waren sie bei einem Werbetrailer im Spätprogramm eines Nischensenders angekommen, der völlig überteuert war und an ihrer Zielgruppe komplett vorbeilief.

«Freya, was denkst du?», fragte Mark, ihre rechte Hand, der ihre Mimik am besten deuten konnte.

Sie antwortete nicht, nutzte das Vibrieren ihres Smartphones, um sich zu entschuldigen. «Macht einfach weiter!» Erleichtert stand sie auf und ging nach draußen. Erst hier sah sie, dass Grete anrief. Was konnte ihre Schwester von ihr wollen? Sie telefonierten kaum, lediglich an Geburts- und Feiertagen.

«Du, ich bin in einem Meeting, habe nicht viel Zeit!» Sie fühlte sich selbst mies bei dieser Ansprache.

«Mutter liegt im Krankenhaus!» Auch Grete hatte keine Zeit für eine rührselige Begrüßung.

Sie brauchte einen Moment, um die Nachricht zu verdauen. «Was ist denn passiert?»

«Sie hatte einen Schwächeanfall, wird gerade durchgecheckt.»

Freya blickte durch die gläserne Wand in den Konferenzraum, wo offenbar hitzig diskutiert wurde. Das Testosteron schien sogar durch die Glaswände zu sickern. «Bist du bei ihr?», fragte sie leise.

«Was denkst du denn?» Grete atmete aus. «Sie ist sehr wackelig in letzter Zeit und vergesslich. Heute Nachmittag lag sie bewusstlos auf dem Küchenboden.»

Freya lief über den Gang zu ihrem Büro. «Soll ich kommen?»

Schweigen. Ein dissonantes Klappern und Stimmen im Hintergrund. Krankenhaussoundtrack.

«Ist es ernst?», hakte sie nach.

«Das kann noch niemand sagen.» Grete räusperte sich. Das tat sie immer, wenn sie verärgert war. «Freya, du musst selbst wissen, ob es dir ausreicht, dass deine Mutter im Krankenhaus liegt, um nach Hause zu kommen.» Ihre Schwester drückte sie weg, kam ihr zuvor. Denn es war eigentlich Freyas typischer Abgang, bei schwierigen Telefonaten einfach aufzulegen. Sie holte Luft durch die Nase, ließ sie durch den Mund entweichen, Nase, Mund, Nase, Mund. Yogaatem, der sie sonst immer beruhigte. Heute wirkte keine Atemtechnik mehr. Sie schloss die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen, öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse. Ihr Leben war kompliziert genug, musste sich wirklich noch eine weitere Katastrophe einreihen?

Der Teufel kackt immer auf den größten Haufen.

Dennoch war es schön gewesen, Gretes Stimme zu hören. Wohltuend, der Klang einer anderen Welt. Vor ihrem geistigen Auge erschien das geduckte Elternhaus im Dorf am Elbestrom, die von Regen und Wind malträtierten Backsteinwände, das vom Moos überwucherte Reetdach. Sie schien den uralten Wind zu spüren, der in der norddeutschen Weite nur kurz nachließ, aber nie gänzlich nachgab, hörte die schnatternden Rufe der Gänseschwärme über dem Haus, roch den Rauch des Holzfeuers vom alten Küchenofen. Und das Brot, das darin gebacken wurde. Tief in ihr drin hatte sie, als sie damals fortgegangen war, die Sehnsucht nach ihrer Heimat eingeschlossen und den Schlüssel weggeworfen. Aber die Geächtete rumorte in ihr wie ein Sträfling, der bis zu seinem Tod nach Freiheit strebte.

Freya hörte Schritte auf dem Gang, es wurde geklopft. Sie gab die Tür frei. Mark war immer büroblass, heute wirkte er wie eine Gipsstatue. «Freya, wir brauchen dich. Wir müssen zu einer Entscheidung kommen.»

In diesem Moment traf sie eine ganz andere Entscheidung. «Übernimm du das. Ich muss sofort los. Meine Mutter liegt im Krankenhaus.»

Er wirkte zerknirscht, hob die Hände. «Ich finde keinen seiner Vorschläge gut!»

«Dann sag ihm das und suche eine andere Werbefirma, die noch Ideen hat, die was taugen.» Freya nahm ihren Trenchcoat, steckte das Smartphone in die Handtasche und ging zum Fahrstuhl. Noch nie war sie so erleichtert gewesen, aus diesem unterkühlten Glaspalast herauszukommen.

Grete

Der Wind schickte lose Blätter über die Straße. Grete gähnte und öffnete das Fenster ein Stück, um frischen Sauerstoff gegen die Müdigkeit einzuatmen. Die Lichtbänder der Scheinwerfer schoben die gestrichelten Straßenlinien vor sich her. Sprühnebel zerstob im Licht. Hin und wieder kam ihr ein Fahrzeug entgegen. Aber hier, auf dieser dunklen Landstraße im Nirgendwo, war so spät kaum noch jemand unterwegs. Das gelbe Ortsschild flog vorbei, die Lichtinseln der wankenden Straßenlaternen geleiteten sie zu ihrem Haus, das am Ortsende in vollkommener Dunkelheit lag.

Grete stellte den alten Peugeot an seinen Platz und machte die Zündung aus. Finsternis legte sich über sie, und sie blieb im Wagen sitzen, wollte nicht ins Haus gehen, weil dort niemand auf sie wartete. Wie würde sich das Heimkommen anfühlen, wenn ihre Mutter nicht mehr war? Würde sie allein in diesem Haus ein zufriedenes Leben führen können? Anfangs war sie wegen Anne hiergeblieben, und als ihre Tochter aus dem Haus war, hatte ihre Mutter Unterstützung nötig. Was würde sein, wenn sie hier niemand mehr brauchte? Gedankenverloren starrte sie in die Nacht. Ein paar Zweige bewegten sich schemenhaft im Nordwestwind.

Grete stieg aus und klickte auf den Autoschlüssel. Der Peugeot blinkte auf, verriegelte die Türen. Sie hatte beim Gehen vergessen, das Hoflicht einzuschalten, tappte halbblind zur Haustür, als sie einen dumpfen Aufprall neben sich hörte. Aber sie kannte dieses Geräusch. Der Kater hatte auf sie gewartet und war vom Fensterbrett gesprungen. Er klagte ein Lied über Verlassensein und Hunger. Der Schlüssel rutschte endlich ins Schloss, aber sie hätte nur die Klinke aufdrücken müssen. In der Aufregung um ihre Mutter hatte sie vergessen, die Tür abzuschließen. Der Kater huschte durch ihre Beine in Mutters Küche, als das Deckenlicht aufflammte.

Sie ging ihm nach, schüttete Katzenfutter in seinen Napf und sah sich im Raum um. Der große Einwecktopf stand noch auf dem Herd, das lange Aluminiumthermometer steckte in einem Loch am Deckel, den sie anhob. Ein Duftschwall von gekochten Birnen, Nelke und Zimt erhob sich in die Luft. Grete prüfte die eingeweckten Gläser. Sie waren alle fest verschlossen, die Gummis hielten das Vakuum.

Sie hob die Gläser aus dem Kessel, räumte das Eingeweckte in die Kammer, in der Wilhelmine schon Platz dafür geschaffen hatte. Dann brachte sie die Schälabfälle auf den Kompost hinter dem Haus, bevor es hier von Obstfliegen wimmelte. Der Kater schlief den Schlaf der Gerechten auf der Küchenbank, als sie Tisch, Herd und Boden scheuerte.

Die Bewegungen beruhigten sie und ordneten ihre Gedanken. Wilhelmine blieb erst einmal im Krankenhaus, bis geklärt war, warum sie heute ohnmächtig geworden war. Grete dachte an das Telefonat mit Freya. Sie hatte fremd geklungen. Abweisend, als würde sie beide nichts mehr verbinden. Deshalb hatte sie ihre Schwester einfach weggedrückt. Es schmerzte immer noch, dass ihr kleines Entenküken sie in der Großstadt nicht vermisste.

Grete scheuerte die Flächen, bis ihre Hände rot waren. Sie spürte keinen Hunger und keine Müdigkeit. Kurz vor Mitternacht schrillte die Klingel in die Stille. Sie schrak hoch, hatte plötzlich Angst, dass jemand ihr eine schlechte Nachricht von ihrer Mutter überbringen wollte. Aber das Krankenhaus hätte sicherlich angerufen, wenn Probleme mit Wilhelmine aufgetreten wären.

Grete wischte die Hände trocken, merkte plötzlich, wie erschöpft sie war. Bevor sie die Haustür öffnete, hängte sie die Kette ein, brauchte einen Moment, um zu verarbeiten, wen sie durch den Türspalt sah.

Freya. Neben ihr ein Rollkoffer.

Sie löste die Kette, zog die Tür auf. Kalte Luft strömte herein und mit ihr der Duft nach einem schweren Parfüm, das stärker wurde, als Freya ins Haus trat. Grete betrachtete sie mit Sorge. Sie hatte Augenringe und tiefe Krähenfüße, die auch ihr Make-up nicht verdeckten. Jeans und Sweatshirt, die sie trug, waren sicherlich nicht ihre Ausgehuniform in der Großstadt.

«Ich hatte gehofft, dass du hier bist», sagte sie, um sich um eine Begrüßung zu drücken. «Wie geht’s Mutter?»

«Sie haben sie noch nicht entlassen.» Grete erkannte ihre eigene Stimme kaum, die sich abgenutzt hatte bei den vielen Gesprächen mit Ärzten und Schwestern. «Sie bleibt erst mal drin, bis sie mehr wissen.» Sie fühlte sich unwohl in ihren verschwitzten Klamotten mit den ungewaschenen Haaren, die sie am Morgen nur in einen Knoten gedreht hatte. Hätte sie gewusst, dass ihre Schwester heute noch nach Hause kam, hätte sie sich wenigstens umgezogen. Ihr so schäbig unter die Augen zu treten, beschämte sie. Sie war die Lumpenschwester von damals geblieben.

Freya sah sich um, schob die Hände in ihre Hosentaschen. «Kann ich das Gästezimmer haben?»

Grete nickte. «Natürlich.» Sie ging wieder in die Küche, weil sie zu müde war, um mit ihrer Schwester über etwas anderes als ihre Mutter zu reden. «Hast du Hunger?», fragte sie schließlich.

Freya war ihr gefolgt, griff sich eine Großvaterbirne aus dem Eimer, biss hinein. Nahm sich noch eine. «Das reicht mir! Ich gehe gleich schlafen. Gute Nacht!»

«Nacht!» Grete nahm den Wischeimer, um ihn auszugießen, hörte ihre Schwester schon die Treppe hochgehen. Der Rollkoffer polterte hinter ihr her.

4

Freya

Der Krawall der Spatzen weckte Freya. Sie blieb mit geschlossenen Augen liegen, atmete den Weichspülerduft der Bettwäsche ein und lauschte dem Spektakel vor dem geöffneten Fenster. Nun zeterte auch noch eine Amsel, abgehackt und aufgeregt, das Gefahrsonar des Gartens. Die Schwarzdrosseln tixten, wenn Gretes Kater im Garten herumstromerte und auf Beute aus war. Sie hatte ihn immer gern beobachtet, wie er sich einen Spaß daraus gemacht hatte, die Vögel aufzuscheuchen, bevor er sich auf der Küchenbank in die Sonne gelegt hatte. Dies war einer seiner Lieblingsplätze, wie sie wusste. Viel verändert schien sich im Haus seit ihrem letzten Besuch nicht zu haben. Ihre Erinnerungsmechanismen hatten bereits reagiert, als Grete in der Nacht die Haustür geöffnet hatte. Es war nicht der typische Holzfeuer-Brot-Duft des Hauses gewesen, sondern der nach gekochter Süße. Die reifen Großvaterbirnen in Mutters Küche hatten ihre Vermutung bestätigt. Mutter hatte eingeweckt! Auch wenn die Gläser längst verräumt waren und die Küche verlassen wirkte, sie hatte es sofort registriert.

Freya lauschte, aber das Haus schien noch zu schlafen. Was seltsam war, denn Grete stand immer mit den Vögeln auf. Vielleicht war sie schon unterwegs und hatte sie schlafen lassen. Ein Blick auf das Smartphone, es gab keine verpassten Anrufe. Keine Hilferufe aus der Firma.

Auch Peer hatte sich nicht noch einmal gemeldet nach ihrer Aussprache. Hatte sie das wirklich erwartet? Es war alles gesagt, die Beziehung hatte er aufgegeben, die Ecken gründlich ausgefegt. Sie war frei. Weiße Seiten in ihrem Leben, die neu gefüllt werden konnten. Oder leer bleiben würden, wer wusste das schon so genau.

Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie das letzte Mal so lange im Bett gelegen hatte. Peer war Frühaufsteher gewesen. Ausschlafen hieß für ihn, selbst am Wochenende, den Wecker auf acht zu stellen. Freya hatte sich angepasst, weil ihr die Grabenkämpfe im Job reichten. In ihrem Privatleben ließ sie es gern zu, geführt zu werden. Sie musste daran denken, dass er ihr auch das vorgeworfen hatte. Dass alle Entscheidungen, was ihr Zusammenleben anging, von ihm getroffen worden waren. Nun drehte er ihr daraus einen Strick, denn er hatte es immer gemocht, den Ton angeben zu können. Mehr noch, es war ein Grundpfeiler ihrer Harmonie gewesen.

Sie zog die Bettdecke über den Kopf, weil es wehtat, an ihn zu denken und daran, dass sie nie mehr gemeinsam aufstehen würden. Der Morgensex war gut gewesen, wenn auch in letzter Zeit etwas flüchtig und fantasielos. Der Verdacht stieg aus ihrem Inneren auf, unbeirrbar wie eine Luftblase an die Wasseroberfläche. Hatte er schon längst etwas mit einer anderen angefangen? Vielleicht mit seiner Kollegin, die ihm immer so tief in die Augen geschaut hatte, auch wenn Freya danebenstand? Peer war kein Mann, der gern allein war. Hatte er schon den neuen Liebesfahrplan in der Tasche, als er sie aufs Abstellgleis rangiert hatte?

Dieser Gedanke traf sie tief, war nicht zu ertragen. Sie schlug die Decke zur Seite, setzte sich auf und blickte lange aus dem Fenster, wo die Blätter einer Linde im Wind tanzten. Ein letztes freudiges Flattern, bevor der Baum sie abwerfen würde, um in den Wintermodus zu treten. Alles Überflüssige wurde in der Natur gnadenlos entsorgt. So wie er sie abgestoßen hatte, weil sie für ihn überflüssig geworden war. Sie schluckte. Weil sie nicht schwanger geworden war? Weil sie nicht das nützliche Weibchen für seinen Fortpflanzungsplan gewesen war?

Peer hatte sie im Beisein anderer immer «meine Frau» genannt, obwohl er nie hatte heiraten wollen. Sie dachte, sie hätten es beide ernst gemeint. Sie hatte mit ihm alt werden wollen.

Freya blickte hinauf in die ziehenden Wolkenbäusche. Vermisste sie tatsächlich ihn? Oder vermisste sie eher das Gefühl, das sie zusammen mit ihm gehabt hatte? Das Wir-Gefühl, das hieß, nie allein Urlaub buchen zu müssen, nachts nebeneinander zu liegen, zusammen aufzustehen, sich ein perfektes Frühstücksei kochen zu lassen. Über ein gemeinsames Kind zu sprechen.

Sie atmete konzentriert, bis der Schmerz nachließ, weil ihr in diesem Moment bewusst wurde, was ihr am meisten schmerzte: dass mit der Trennung ihre letzte Chance auf ein Kind vertan war. Er hatte nicht nur ihre Zweisamkeit verraten. Er hatte sie in die Gruppe der Kinderlosen abgeschoben.

Sie hatte ihn nicht gebeten zu bleiben. Er war gegangen, sie war ihm nicht nachgelaufen. Sie hatte noch nicht mal versucht, ihn anzurufen und zum Zurückkommen zu bewegen. Gab man einen Menschen, den man ehrlich liebte, kampflos auf? Musste sie sich jetzt fragen: War das wirklich Liebe gewesen? Tiefe, bedingungslose Liebe?

Sten, ihre erste Liebe, war damals nach Berlin gekommen, um sie zurückzuholen. Er hatte ein paar Tage in einem Hostel übernachtet und erst aufgegeben, als sie ihm einen Mann in ihrer Wohnung präsentiert hatte. Seinen verletzten Blick würde sie nie vergessen. Sie waren blutjung gewesen und so verliebt. Freya wollte ein Leben voller Abenteuer, ein Leben der Selbstbestimmung. Mit jeder Woche, in der damals ihr Schulabschluss näher rückte, spürte sie mehr und mehr die Sehnsucht aufzubrechen, das Dorf und seine überholte moralische Instanz hinter sich zu lassen. Sten wollte bleiben. Drei Monate später war sie nach Berlin gegangen. Was wäre aus dem Mädchen im Strickpulli, das versteckt auf Bäumen Bücher las, geworden, wenn sie geblieben wäre?

Freya setzte sich auf, spürte die in die Jahre gekommene Federkernmatratze, streckte ihren Rücken, bis es knackte.

Von ihrem Kinderzimmer war kaum noch etwas übrig geblieben. Grete hatte hier ein Gästezimmer eingerichtet. Natürlich hatte Freya zugestimmt. Sie hatte nie vorgehabt zurückzukommen.

Sie betrachtete die Dachschräge, an der nun eine maritime Streifentapete klebte. Damals hatte sie dort ihre Poster von A-ha und Duran Duran angepinnt. Der schiefe Kleiderschrank stand noch an Ort und Stelle, aber er war aufgearbeitet und weiß gestrichen worden, war wahrscheinlich längst eine Antiquität. Ihr Kinderbett war durch ein Doppelbett aus Walnussholz ersetzt worden. Daneben eine passende Kommode, über der kleine Bilderrahmen hingen. Freya stand auf, stellte sich davor. Kinderbilder von zwei Schwestern, zwischen die kein Blatt Papier gepasst hatte. In ihr zog sich etwas zusammen, als sie die Zahnlücken und lachenden Schnuten sah. Ein anderes Leben.

Barfuß und im Schlafanzug tapste sie über die Dielen, ging in Gretes Küche, in der es nach Gebackenem roch. Auf dem Holzofen ihrer Großmutter stand ein Wasserkessel, er war noch warm. Den Ofen hatte ihre Schwester sich hier oben in ihren Räumen einsetzen lassen, als Wilhelmine ihn im Erdgeschoss hatte rausreißen lassen. Ihre Mutter hatte das alte Monstrum durch einen modernen Ceranfeldherd ersetzen lassen. Grete hatte interveniert und den großmütterlichen Ofen und die Tradition der Hansens gerettet. Wie lange war das jetzt her? Zwanzig Jahre?

Freya sah, dass ihre Schwester eine Thermoskanne mit Tee auf den Tisch gestellt hatte. Daneben lag ein Zettel. Bin mittags wieder da.

Der Tee war noch heiß. Freya ließ ein pflaumenkerngroßes Stück Kandis hineinfallen. Nur hier nahm sie Zucker zum Tee. Ihr ungesüßtes Leben in Berlin war ein Teil des Abnabelungsprozesses gewesen. Sie nippte, genoss den Heimatgeschmack auf ihrer Zunge. Herb, süß, vertraut. Kindheitserinnerungen blätterten auf. Sie sah, wie Grete mit geflochtenen Zöpfen die Kekse in den Tee tauchte und kichernd das weiche Teigmus einsaugte. Sie hatte es ihrer großen Schwester nachgemacht, sich gekugelt vor Lachen, bis ihre Mutter hereinkam und sie beide aus dem Haus wetterte.

Auf dem Brett neben der Teekanne lag, unter einem Tuch, ein angeschnittenes Krustenbrot, das Grete heute Morgen gebacken haben musste. Sie beugte sich nach vorn, schnitt eine Scheibe herunter, biss hungrig hinein. Weich und warm mit einer Kruste, die beim Kauen knirschte. Sie ging zum Kühlschrank, holte die Butterschale und strich sich eine dicke Schicht auf die Stulle. Butterige Cremigkeit auf frischem Brot. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie sehr sie diesen Geschmack vermisst hatte. Kein Sternerestaurant in der Hauptstadt konnte dieses pure Wohlgefühl beim Essen erzeugen. Freya zog die nackten Füße auf den Stuhl, griff nach einem Apfel von strohgelber Farbe in der Schale. Die Kornäpfel waren die früheste Sorte im Garten. Spritzig, leicht säuerlich. Fehlte noch eine Tasse Dinkelkaffee zum Landfrauenfrühstück. Der Druck der letzten Tage schien von ihr abzufallen. Simsalabim. Bescheidenheit macht glücklich.