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Dunkle Regenwolken treiben über dem kleinen Friedhof in der Marsch, als Kommissarin Frida Paulsen der Beerdigung eines alten Freundes beiwohnt. Am nächsten Tag steht sie erneut vor seinem Grab - Spuren deuten darauf hin, dass es in der Nacht geschändet wurde. Entsetzt blickt sie nun in das Innere des Sargs: Auf dem Leichnam des Verstorbenen liegt ein Mädchen, bekleidet mit einer altmodischen Schürze. Handelt es sich bei der Toten um eine der Zwillingsschwestern, die vor Jahren verschwanden? Ihre Ermittlungen führen Frida und ihren Kollegen Bjarne Haverkorn zu einem Ehepaar, das nach archaischen Regeln auf einem abgelegenen Gehöft lebt und dunkle Geheimnisse zu verbergen scheint ...
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Seitenzahl: 480
Veröffentlichungsjahr: 2023
Auf dem Friedhof einer Marschgemeinde wird nachts ein Grab geschändet. Wurde die Leiche gestohlen? Der Totengräber bittet die ortsansässige Polizistin Frida Paulsen um Hilfe. Sie lässt das Grab exhumieren, und ihr Entsetzen ist groß, als der Sargdeckel geöffnet wird. Auf dem Verstorbenen liegt eine weitere Leiche, ein Mädchen, seltsam gekleidet mit einem Kopftuch und einem altertümlichen Kleid. Handelt es sich bei der Toten um eines der Zwillingsmädchen, die vor Jahren verschwanden? Und wenn ja, wo ist ihre Schwester? Das Leichengewand führt die Polizei schon bald auf die Spur einer Familie, die nach archaischen Regeln in einem abgelegenen Haus lebt, das dunkle Geheimnisse zu verbergen scheint …
ROMY FÖLCK wurde 1974 in Meißen geboren. Sie studierte Jura, ging in die Wirtschaft und arbeitete zehn Jahre für ein großes Unternehmen in Leipzig. Mit Mitte dreißig entschied sie, ihren großen Traum vom Schreiben zu leben. Sie kündigte Job und Wohnung und zog in den Norden. Mit ihrem Mann lebt sie heute in einem Haus in der Elbmarsch bei Hamburg, wo ihre Romane entstehen. Ihre Affinität zum Norden kommt nicht von ungefähr, verbrachte doch ihr Vater seine ersten Lebensjahre in Ostfriesland. TOTENWEG ist der erste Band ihrer Krimiserie um die beiden Ermittler Frida Paulsen und Bjarne Haverkorn.
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Originalausgabe
Copyright © 2023/2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
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Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Einband-/Umschlagmotiv: © mauritius images/Jochen Tack/imageBROKER | © mauritius images/mb4azur | © www.buerosued.de
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-4189-7
luebbe.de
lesejury.de
Für AndreaDanke, dass du immer an mich geglaubt hast.Lassen wir gemeinsam die Kühe fliegen!
Das Mädchen rannte, als wäre der Teufel hinter ihm her. Sie nahm die Abkürzung quer durch das Kornfeld, und die vollen Ähren schlugen ihr beim Laufen gegen die Beine. Sie lief, wie alle Kinder in der Kolonie, barfuß. Ihre Füße würden am Abend wieder schmutzig sein, und sie würde sie im Bottich vor dem Hauseingang schrubben müssen. Sie raffte ihr langes Kleid nach oben, weil sie so mehr Beinfreiheit hatte und schnellere Schritte machen konnte. Mit einer Hand hielt sie die Mütz fest, ihre Haube, damit sie diese nicht noch einmal verlor. Wie kleine Peitschenhiebe fühlten sich die Halme an den nackten Beinen an, aber sie beachtete es nicht.
Schneller!, dachte sie. Lauf schneller!
Ein Hühnerhabicht gab in der Luft einen klagenden Laut von sich, aber er war auf der Jagd nach kleineren Opfern als ihr. Sie sprintete hinter dem Feld den Hügel hinauf und erreichte die Streuobstwiese. Hinter einem knorrigen Apfelbaum hockte sie sich hin und ging in Deckung. War er noch hinter ihr?
Vorsichtig spähte sie zurück, aber sie schien allein zu sein. Niemand war ihr gefolgt. Wie konnte das sein? Ludi war der Schnellste von ihnen. Wenn sie Fangen spielten, gewann er immer.
Immer!
Sie spürte, wie stark ihr Herz pochte, und versuchte, ruhiger zu atmen. Das Kleid war am Saum schmutzig geworden. Mutter würde fuchsteufelswild werden. Vielleicht konnte sie es am Bach waschen, damit es am Abend keine Schelte gab. Mutter war streng, wenn sie beim Spielen nicht auf ihre Sachen achtete.
Hinter ihr knackten Zweige, ihr Kopf fuhr herum. Aber sie sah nichts, was sich bewegte, außer sich im Wind wiegende Grashalme. Die Äpfel auf den Bäumen bekamen schon rote Wangen, bald würde sie der Gemeinschaft bei der Ernte helfen.
Wo war Ludi abgeblieben? Hatte er ihr den Weg abschneiden wollen und war in die falsche Richtung gelaufen?
Das Mädchen stand auf, sah sich um. Sollte sie wieder zurückgehen zum Bach, wo sie losgerannt war? Oder würde er zu Hause auf sie warten? Ihr bester Freund saß wahrscheinlich schon im Speisesaal beim Abendbrot.
Sie entschied, direkt nach Hause zu laufen. Das Kleid war ruiniert, würde in die große Wäsche müssen. Und sie würde morgen Ludis Hausarbeiten zusätzlich zu ihren übertragen bekommen. Vielleicht war das von Anfang an seine Idee gewesen. Er hatte Fangen vorgeschlagen, damit sie zu spät zum Abendessen kam. Vielleicht hatte er sie losrennen lassen und war ihr gar nicht gefolgt, nachdem er bis zehn gezählt hatte, wie er es immer tat. Er war einfach grinsend nach Hause getrottet, dieser Idiot!
Sie lief los. Hinter der Streuobstwiese musste sie an der Koppel der Rinder entlang, dann ein Stück am Feldrand laufen und schon würde sie die Gemeinschaftsgebäude sehen.
Wieder knackte ein Zweig. Ihr Herz begann heftig zu schlagen. Dieses Mal war der Schreck berechtigt, denn der Mann, der plötzlich zwischen den Obstbäumen stand, beunruhigte sie. War er einer der Erntehelfer, die der Gemeinschaft bei der Getreideernte zur Hand gingen? Er sah sie aufmerksam an, den schwarzen Hut so tief ins Gesicht gezogen, dass die Augen beschattet waren. Dann setzte er sich in Bewegung, und an seiner Haltung erkannte sie, dass er nichts Gutes im Sinn hatte.
Sie lief los. Noch schneller, als sie es beim Fangenspiel tat. Mühelos schaffte sie es zum Ende der Wiese, aber dann bekam sie Seitenstechen. Sie versuchte, den Schmerz zu ignorieren, wurde langsamer, weil sie kaum atmen konnte, lief erneut los. Er war hinter ihr, sie konnte seine schnellen Schritte hören. Noch vor der Koppel holte er sie ein, packte sie an den Haaren und drückte ihr eine Hand auf den Mund, um sie am Schreien zu hindern. Sie strampelte. Es half nichts. Beinahe mühelos schleppte er sie hinüber zum Ziehbrunnen neben der Viehtränke. Sie versuchte, sich zu wehren, aber er war stärker. Drückte ihr so stark die Luft ab, dass ihr schwarz vor Augen wurde. Als sie wieder zu sich kam, hatte er sie auf den Rand des Brunnens gelegt.
Sie versuchte, sich an den Steinen festzuklammern, aber ihre Hände rutschten ab. Langsam legte er einen Finger auf den Mund. Nun konnte sie sein Gesicht sehen und wusste, dass er sie an jemanden aus ihrer Vergangenheit erinnerte. An jemanden, der mit in der Gemeinschaft gelebt und dann mit ihr gebrochen hatte. Der Mann packte ihre Beine und hob sie hoch. Sie schrie laut, als er sie losließ und sie über dem Brunnenrand das Gleichgewicht verlor. In diesem Moment fiel ihr ein, wer er war. Und warum er zurückgekommen war.
Die Blätter der Pappeln hinter der Natursteinmauer des Friedhofs raunten im auflandigen Wind ein einsames Lied. Es klang beinahe wie ein Mantra. Frida blickte nach oben, als sie die Kapelle verließ. Schwere Regenwolken trieben über ihnen wie eine unheilvolle Ahnung. Die Trauergesellschaft stellte sich links und rechts der Tür auf, ein Spalier von Menschen mit ernsten Gesichtern. Als die Glocken der nahen Kirche zu läuten begannen, die im Dorf und weit in der Marsch zu hören waren, wurde der Sarg von Trägern aus der Kapelle hinausgetragen. Behutsam geführt, im Gleichschritt der vier Männer, trat der Tote sein letztes Geleit an, nachdem der Pfarrer in der Kapelle den Sarg mit Weihwasser besprengt und mit Bibelzitaten, Gebeten sowie Erlösungsbitten dieser Gemeinde bedacht hatte. Der Trauerzug reihte sich hinter dem Sarg ein.
Ganz vorn, gebeugt vor Kummer, die Eltern des Verstorbenen. Die Mutter schien sich kaum auf den Beinen halten zu können, wurde vom Vater gestützt, der ganz offensichtlich selbst Halt brauchte. Dahinter die Geschwister, die die Witwe in die Mitte genommen hatten, gefolgt von weiteren Verwandten, Freunden und Nachbarn, zwischen denen Frida mit ihren Eltern ging. Eine Windböe ließ Jacken, Haare und den Talar des Pfarrers flattern, als die Trauergemeinde hinter dem Sarg am vorbereiteten Grab stehen blieb, das am Morgen ausgehoben worden war. Der kleine Bagger stand am Zaun, ein gelbes Ungetüm mit Greifarm zwischen dem Grün der Sträucher, etwas pietätlos im Sichtbereich der Trauergemeinde abgestellt.
Erste Tropfen kündigten einen Schauer an. Frida stand neben ihren Eltern und versuchte, den Druck in ihrer Kehle wegzuatmen, den sie schon in der Kapelle gespürt hatte. Die Rose mit einer schwarzen Schleife in der Hand schien immer schwerer zu werden. Björn Janssen war gerade zwei Jahre älter als sie selbst gewesen, zwei Klassen über ihr in der Schule, damals ein pausbäckiger Witzbold, der jeden Streich mitgemacht hatte und immer über seine eigenen Füße gestolpert war. Vor knapp einem Jahr hatte sie ihn im Hofladen getroffen und kaum wiedererkannt. Erwachsen, einen halben Kopf größer als sie, schlank und mit angegrauten Geheimratsecken. Sie hatten geflachst, sich auf ein Bier verabredet, das sie nie getrunken hatten, weil der Alltag sie beide wieder vereinnahmt hatte und ihre Verabredung in Vergessenheit geraten war. Und nun lag sein toter Körper in diesem Sarg, vom Krebs besiegt. Frida schluckte, die Chance war vertan. Ach, Björn, dachte sie und wischte sich die Augen. Ihr Vater Fridtjof hatte ihre Mutter untergehakt. Marta drückte immer wieder ein Taschentuch an die Augen. Schon in der Kapelle hatte sie sich kaum beruhigen können, hatte fest Fridas Hand gedrückt, als wolle sie sich vergewissern, dass ihre Tochter wohlauf neben ihr stand.
Der Regen legte zu, ein paar Regenschirme wurden aufgespannt, alle schwarz, nur ein bunter stach hervor. Frida stellte sich auf die Zehenspitzen, um zu sehen, wem er gehörte, und erkannte ihren ehemaligen Kollegen Haverkorn, mit dem sie bis zum Frühjahr in der Mordkommission gearbeitet hatte und der sich jetzt erst der Trauergemeinschaft angeschlossen hatte. Während der Regen auf Hüte, Tücher und Schirme fiel, sprach der Pfarrer ein paar Geleitworte für Björn Janssen. Die vier Träger hatten Mühe, den Sarg im Gleichgewicht zu halten, als sie ihn neben der ausgehobenen Grube absetzten. Kurz sah es so aus, als würde er dem Ältesten von ihnen entgleiten, erschrockene Gesichter, aber alles ging gut. Die Stimme des Pfarrers wirkte beruhigend, während der Sarg an Seilen in die Grube hinabgelassen wurde. Endlich stand er am Boden, der mit grünem Filz ausgelegt worden war.
»Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub!«
Eine Frau schluchzte laut auf, Björns Witwe. Sie drückte sich an ihre Schwägerin, deren Tränen stumm flossen.
Frida wandte den Blick ab, als ihr Handy in der Tasche ihres Blazers zu vibrieren begann. Sie zog es nur so weit heraus, dass sie sehen konnte, wer sie anrief. Torben, sie würde sich später bei ihm melden. Seit ein paar Wochen war er in Süddeutschland, um die erste deutsche Body Farm im Bayerischen Wald innerhalb eines hochkarätigen Teams von Fachleuten mit aufzubauen. Ein Gelände, auf dem der Wissenschaft zur Verfügung gestellte menschliche Leichen ausgelegt wurden, um an ihnen den Verwesungsprozess zu studieren.
Sie telefonierten meist abends. Warum rief er jetzt an? Wahrscheinlich hatte er vergessen, dass sie auf der Beerdigung war, von der sie ihm erzählt hatte.
Sie ließ das Handy vibrieren und wieder in die Tasche gleiten. Kurz darauf verstummte es.
In diesem Moment kam Bewegung in die Trauernden. Mit einer Schaufel warfen die Eltern Erde auf den Sarg, Björns Mutter schluchzte auf. Der Vater führte sie an den Weg zum Ausgang, wo sie stehen bleiben und die Beileidsbekundungen entgegennehmen würden. Als Frida an der Reihe war, warf sie die weiße Rose hinein und sagte Björn stumm, wie leid es ihr täte, dass sie das Treffen mit ihm nicht eingefordert hatte. Es gab viele vertane Gelegenheiten im Leben. Diese eine würde nicht mehr wiederkommen.
Als sie zum Weg zurückging, lief Haverkorn neben ihr. »Blöder Stau!«, raunte er.
Seit er beim LKA Kiel in der Cold Case Unit arbeitete, sahen sie sich nur selten. Aber sie telefonierten ab und zu, hatten sich für das Wochenende zum Frühstück verabredet.
»Kannst du bleiben, oder musst du wieder zurück?«, fragte sie ihn, wandte sich um, wähnte ihre Eltern hinter sich.
»Bin bis zum Wochenende im Homeoffice«, sagte er und klappte seinen bunten Schirm ein, weil der Regenschauer nachließ.
»Ist der von Sonja?«, fragte sie und musste ein Schmunzeln unterdrücken, als sie die kleinen Blumen darauf wahrnahm. Sonja, eine Ermittlerin der Mordkommission Flensburg, war gleichzeitig mit Haverkorn zum LKA gegangen, um die neue Cold Case Unit zu unterstützen, in der neben aktiven Polizeibeamten auch Pensionäre eingesetzt werden sollten. Der Leiter der Einheit hatte Haverkorn dazugeholt und ihm die administrative Aufgabe übertragen, diese neue Einheit aufzubauen und zu einer schlagkräftigen Truppe zusammenzufügen. Sonja war eine der ersten aktiven Beamtinnen gewesen. Frida wusste, dass da mehr war zwischen der attraktiven Mittfünfzigerin und Haverkorn. Offen ausgesprochen hatten es beide noch nicht.
»Von Henni«, sagte er und kämpfte mit dem Verschluss, weil der Schirm immer wieder aufklappen wollte.
»Wo ist sie heute?«
»Sie macht doch seit Anfang Mai in Hamburg diese Fortbildung. Da konnte sie nicht gleich freinehmen.«
»Stimmt!« Haverkorns Tochter war im Begriff, nach ihrer Lebertransplantation und der langen Rehabilitationsphase endlich wieder beruflich durchzustarten. Als ehemalige Krankenschwester hatte Henni einen kompletten Neuanfang hinlegen wollen und machte nun eine Fortbildung zur Rettungssanitäterin. »Kommst du noch mit zur Trauerfeier im Marschhus?«, fragte Frida.
Haverkorn erwiderte ihren Blick. »Natürlich, ich muss unbedingt was essen.«
Vor dem Ausgang des Friedhofs standen Björns Eltern, drückten Hände, ließen sich umarmen und versuchten mit letzter Anstrengung, die Haltung zu bewahren. Als Frida ihre Beileidsbekundung stammelte und seine Mutter in den Arm nahm, schluchzte diese auf. »Er war doch noch so jung, Frida! Hatte sein Leben noch vor sich. Warum?«
†
Haverkorn nahm sich zwei belegte Brötchen, eines mit Bierschinken, das andere mit Heringssalat. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, war mittags aus der Teamsitzung gelaufen und sofort losgefahren, um pünktlich auf der Beerdigung zu sein. Der Stau auf der A 7 hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht. Immerhin war er so spät gewesen, um nicht in die Zeremonie in der Kapelle platzen zu müssen. Er hatte Björn Janssen nicht persönlich gekannt, aber seine Eltern, die zwei Häuser von ihm entfernt wohnten. Nette Leute, von denen er sich nach seinem Umzug von Itzehoe aufs Dorf den Rasenmäher geborgt hatte, bevor er selbst einen angeschafft hatte. In den nächsten Tagen würde er mal rübergehen und fragen, ob sie etwas brauchten. Das war das Mindeste unter Nachbarn.
Er setzte sich mit dem Teller neben Frida und ihre Eltern, die stumm einen Kaffee tranken. Marta drückte sich verstohlen ein Taschentuch an die Augen. Ihr Mann legte seine Hand auf ihren Arm.
»Wollt ihr was vom Büfett? Es gibt auch Kuchen.«
Synchrones Kopfschütteln am Tisch. Haverkorn kam sich mit seinem gefüllten Teller schändlich vor, aber er musste endlich etwas essen. Frida blinzelte ihm aufmunternd zu. Iss schon, hieß das wohl. Das gehört zu einem Leichenschmaus dazu.
Heintje Kuhn, der Gastwirt, brachte eine weitere Servierplatte herein und stellte sie auf das Büfett. Als er am Tisch vorbeiging, nickte er ihnen zu und blieb kurz stehen. »Am Wochenende gibt’s Scholle satt. Kommt doch mal wieder rum!« Er ging weiter, ohne ihre Antwort abzuwarten.
»Wie läuft’s denn in Kiel?«, fragte Fridtjof, wahrscheinlich, um die Stimmung am Tisch vor dem Nullpunkt zu retten.
Haverkorn hatte gerade in die Stulle mit Heringssalat gebissen und rieb sich die Soße vom Kinn, während er schluckte.
»Lass Bjarne doch erst mal essen«, mahnte Marta.
Frida wollte ihm mit Blicken etwas signalisieren. »Da, auf deinem Hemd«, flüsterte sie.
Er wischte mit der Serviette die Soße ab. »Wirklich gut! Ich habe eine schöne Wohnung am Stadtrand gefunden, die Arbeit ist herausfordernd, aber sie liegt mir. Eine runde Sache, würde ich sagen.«
»Und wie kommt Henrikje damit klar?«, fragte Marta. »Sie ist jetzt so viel allein im Haus.«
»Henni ist erwachsen«, sagte er und biss nun in das Wurstbrötchen. »Ich glaube, sie genießt es, die halbe Woche sturmfrei zu haben.« Er kaute, schluckte. »Sie macht ja auch eine Weiterbildung in Hamburg. Da geht die Woche schneller rum, als man denkt.«
»Vielleicht lernt sie dort mal einen netten Mann kennen?« Marta blühte im Gespräch endlich auf, die Tränen waren versiegt.
»Mama!« Haverkorn sah, dass Frida ihrer Mutter in die Seite stieß.
»Ja, wer weiß?«, sagte er und wischte die Hände an der Serviette ab. »Seit ihrer Scheidung sind ja ein paar Jahre vergangen, die Wunden sind verheilt.« Er sah Frida an, die abwesend auf ihrem Handy tippte. »Wann kommt Torben mal auf Heimaturlaub?«
Sie sah ertappt auf, steckte das Smartphone weg. »Ich fahre nächste Woche ein paar Tage zu ihm. Er will mir das Areal für die Body Farm zeigen.«
Haverkorn wollte gerade fragen, ob schon die ersten toten Körper ausgelegt worden waren, hielt sich dann aber zurück, da ihm der Anlass einfiel, weshalb sie hier zusammensaßen. »Grüß ihn von mir. Und wenn du zurück bist aus Bayern, erzählst du mir alles.«
Er aß stumm, das Gespräch hatte sich erschöpft.
Die ersten Trauergäste brachen auf. Auch Fridas Eltern erhoben sich und Fridtjof half Marta in ihren Mantel. Haverkorn würde sich anschließen und am Nachmittag im Homeoffice die nächsten Bewerbungen für die neue Cold Case Unit durchgehen. Bisher gab es ein paar aussichtsreiche Kandidaten, aber er wollte nicht überstürzt vorgehen. Es ging nicht nur um Fachwissen und eine saubere Personalakte, auch zwischenmenschlich sollte es passen. Nächste Woche standen in Kiel die ersten Bewerbungsgespräche an, denen auch Andreas Vollmer, sein Vorgesetzter, beiwohnen würde. Er vertraute ihm, würde lediglich eingreifen, wenn er mit einem der Bewerber nicht einverstanden war.
»Bjarne?« Frida sah ihn fragend an.
»Wo bist du denn gerade?«
»Entschuldigung, was hast du gefragt?«
»Kann ich mit dir mitfahren?«
»Ja klar.« Haverkorn erhob sich und schloss das Jackett, damit man den Heringssalatfleck nicht sah. Und den neuen Wohlfühlbauch, den er sich in Kiel zugelegt hatte.
Frida stieg in seinen Dienstwagen und wirkte beeindruckt. »Tolle Karre! Brauchst du nicht noch eine rechte Hand in der Unit? Ich würde mich glatt bewerben!«
Haverkorn legte den Gurt um und startete den Motor. »Du bist genau richtig in der Mordkommission. Wahler köpft mich, wenn ich dich abwerbe.«
»Wen interessiert schon, was Wahler will?« Ihr Ton war angeraut, und er hörte Zynismus darin, den er von Frida nicht kannte.
»Was ist los?«, fragte er, als er den Wagen aus der Parklücke lenkte. »Hast du Stress mit ihm?«
Frida starrte ein paar Sekunden durch die Windschutzscheibe. »Ganz im Gegenteil. Er fügt sich mehr und mehr ins Team ein.«
»Aber?«
»Aber die spannenden Aufgaben bekommt Bootz. Ich bekomme die Trostpreise. Das nervt einfach!«
Haverkorn verstand, was in ihr vorging. Sie war der Youngster im Team der Mordkommission Itzehoe, hatte im ersten Jahr schon an außergewöhnlichen Fällen mitgewirkt und war von Haverkorn protegiert worden. Seit er weg war, zog der Leiter der Mordkommission, Nick Wahler, seinen ehemaligen Kollegen und Freund Leonard Bootz vor. Die beiden hatten eine Vergangenheit beim KDD, Kriminaldauerdienst, in Lübeck. Aber vor allem, Bootz forderte Aufmerksamkeit, damit er sich nicht anderweitig bewarb. Frida erwartete eine faire und kollegiale Behandlung. Wer da auf der Strecke blieb, konnte Haverkorn sich denken.
»Leonard ist dein neuer Partner. Und es kam mir nicht so vor, dass er unfair spielt.«
»Nein, es geht um Wahler! Er fällt wieder in die alten Muster, nimmt mich nicht richtig ernst, seit du weg bist. Ich habe doch im letzten Jahr gezeigt, was ich kann. Gut, Leo ist länger bei der Kripo, hat mehr Erfahrung als ich. Aber trotzdem muss Wahler mich nicht kaltstellen!«
Haverkorn betätigte den Blinker und lenkte den Pkw auf die Hauptstraße. »Du musst Wahler das genau so sagen. Bitte ihn um ein persönliches Gespräch.«
Schweigen auf dem Nachbarsitz. Frida starrte nachdenklich durch die Seitenscheibe.
»Du hältst mit deiner Meinung doch sonst nicht hinter dem Berg! Sag Wahler, wie du dir die Zusammenarbeit vorstellst. Du kannst auch Leonard zum Gespräch dazuholen.«
»Hast du keinen Job für mich in Kiel?« Sie lachte ihn von der Seite an.
Haverkorn fuhr auf den Paulsenhof und hielt vor dem alten Reetdachhaus von Fridas Familie. »Frag in fünf Jahren noch mal nach.«
»Dann bist du längst in Pension!«
Er neigte schweigend den Kopf. Genau das meine ich, sollte das heißen.
Kurz nach sieben ging Frida die ausgetretenen Holzstufen hinunter ins Erdgeschoss. Der Regen hatte in der Nacht nachgelassen. Sie öffnete die Haustür und trat hinaus auf den Hof, um im Stall nach Hetfield, ihrem Hengst, und seinem Freund, dem Esel Cobain, zu schauen. Sie gab ihnen Futter und ein paar Streicheleinheiten, würde sie später auf den graslosen, umzäunten Paddock stellen. Die Wiese auf der Koppel war viel zu gehaltvoll für Hetfield, dessen Hufrehe zwar besser geworden war. Dennoch mussten sie achtgeben, dass er nicht zu viel frisches Grün fraß.
Cat, die Ausreißerin, die im letzten Herbst bei ihnen auf dem Hof gestrandet war, musste pünktlich in der Berufsschule sein, weshalb Frida unter der Woche die Tiere versorgte. Am Wochenende würde das Mädchen, das auf eigenen Wunsch in einen aufgemöbelten Wohnwagen neben der Pferdekoppel eingezogen war, sich wieder die ganze Zeit im Stall herumtreiben. Und Frida mit ihrem neu gelernten Wissen über den Obstanbau in den Ohren liegen. Cat, ihr Mündel, war in den letzten Wochen ganz schön erwachsen geworden. Ging ihrem Vater zur Hand, wenn er in die Obstanlagen fuhr, mistete den Stall, half ihrer Mutter in der Küche. Sie war längst ein Familienmitglied im Hause Paulsen.
Ihre Eltern und Cat frühstückten bereits, als Frida in die Wohnküche kam. Der Setter bestürmte sie, bis sie sich hinhockte und ihn begrüßte. »Bruno, ist ja gut!« Er ließ sich ausgiebig kraulen, begab sich dann auf seine Decke neben der Sitzbank und legte den Kopf auf die Pfoten.
Marta stand auf, um Frida Kaffee einzugießen.
»Mama, das kann ich doch selbst machen. Du musst mich nicht bedienen!« Sie nahm die Tasse entgegen und ging zum Tisch, wo Fridtjof mit dem angebissenen Brötchen in der Hand die Morgenzeitung las. Cat wischte abwesend auf ihrem Smartphone herum.
»Wie lange willst du eigentlich noch in deinem alten Kinderzimmer wohnen?«, fragte ihr Vater und wandte sich ihr zu. »Brauchst du nicht endlich was Eigenes?«
»Fridtjof!« Martas entrüsteter Blick wies ihn zurecht, als sie sich setzte.
Jetzt war auch Cats Interesse geweckt, sie legte das Handy weg.
»Was denn?«, wehrte sich Fridas Vater. »Wenn Torben wieder zurückkommt, können die beiden unmöglich noch länger in diesem kleinen Zimmer hausen!« Seine Mundwinkel kräuselten sich, er hatte ganz offensichtlich etwas im Kopf, was heute endlich auf den Tisch sollte.
»Ich kann mich ja mal nach einer Wohnung umhören. Vielleicht vermietet jemand was in der Nähe«, sagte Frida.
»Wir haben hier mehr als genug Platz«, erwiderte Marta entrüstet.
»Ihr könnt euch doch auch einen alten Bauwagen ausbauen«, tönte der Naseweis.
Frida atmete langsam ein und aus.
Fridtjof schob die Zeitung zur Seite. »Mein altes Büro oben brauche ich nicht mehr. Wie wäre es, wenn ihr euch die obere Etage als Wohnung ausbauen lasst? Mein Vorschlag ist, wir überschreiben dir jetzt schon das Haus.« Ein fragender Blick zu Marta, die nicht abweisend wirkte. »Uns räumst du ein lebenslanges Wohnrecht ein. Was sagst du dazu?«
Es wurde still am Tisch. Cat warf Frida begeisterte Blicke zu. Ihre Mutter schien von dieser Idee zum ersten Mal zu hören, nickte aber zufrieden.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll!« Fridas Gedanken überschlugen sich. Was würde Torben von diesem Vorschlag halten? Sie waren seit beinahe einem Jahr ein Paar. Durch Torbens Unfall im Herbst war ihre Partnerschaft auf eine harte Probe gestellt worden. Sie hatten bisher weder über ihre Zukunft noch über Hochzeit oder Kinder gesprochen. Würde er sich überfahren fühlen, wenn sie das Angebot ihrer Eltern annahm und damit deutlich machte, dass ihr Lebensmittelpunkt hier auf diesem Hof in der Marsch bleiben würde? Torben hatte vor seiner Abreise nach Bayern viele Wochen hier mit ihr gewohnt, hatte sich sichtlich wohlgefühlt, aber er besaß noch eine Eigentumswohnung in Hamburg, die er nicht ohne Weiteres aufgeben würde. Dort, im Rechtsmedizinischen Institut, hatte er lange Jahre als Rechtsmediziner gearbeitet, bis seine Hände beim Einsturz einer Betondecke schwer verletzt worden waren. Bisher war nicht klar, ob er je wieder ein Skalpell führen und in seinen Brotberuf würde zurückkehren können. Als er von seinem ehemaligen Doktorvater ins Expertenteam zum Aufbau der ersten deutschen Body Farm eingeladen wurde, war er diesem Ruf sofort gefolgt. Torben würde Monate fort sein. Und was passierte, wenn er zurückkam?
»Die Idee ist wirklich toll, aber …«, sagte Frida und brach ab.
»Du musst natürlich mit Torben darüber sprechen. Das ist doch klar!« Fridtjof nahm die Zeitung wieder auf. »Lass es dir durch den Kopf gehen. Wir sind alt, das Haus ist viel zu groß für uns allein.« Er sah Marta an, die nickte.
»Wir wären sehr froh, wenn ihr hier im Haus bleibt. Dein Vater hat recht, dein Kinderzimmer hat längst ausgedient und ist für eine Familiengründung zu klein.«
»Der Ausbau kostet Geld. Und ich habe noch den Kredit laufen für die Sanierung des Dachs«, merkte Frida an, der jedoch der Gedanke einer eigenen Wohnung im Haus mehr und mehr gefiel. So würden sie endlich eine Privatsphäre haben und doch den Familienanschluss, den sowohl sie als auch Torben so liebten. Und ihre Freunde aus Hamburg wären gleich nebenan. In der alten Technikhalle auf dem Hof hatten Jo und Milan ein Boxstudio eröffnet, wo Frida regelmäßig trainierte und, seit Torben abgereist war, oft ihren Feierabend verbrachte. Warum wegziehen, wenn hier alles war, was sie und Torben brauchten?
»Darüber können wir nachdenken, wenn es so weit ist«, sagte ihr Vater und nahm einen Schluck Kaffee. Dabei schaute er zufrieden, denn er wusste, dass er die Frauen am Tisch längst auf seiner Seite hatte. Nun hieß es nur noch, seinen Schwiegersohn in spe vom Landleben zu überzeugen.
»Ich helfe euch beim Ausbauen!«, sagte Cat. »Dafür lässt du als neue Eigentümerin meinen Bauwagen bei euch stehen.«
»Du bleibst hier, solange du willst. Ist doch klar!« Frida lehnte sich zurück und biss ins Brötchen. Noch hatten die Paulsens immer erreicht, was sie sich vorgenommen hatten. Torben würde es schwer haben gegen die Vehemenz dieser Familie, die ihn wie einen Sohn aufgenommen hatte.
»Arme hoch, bleib in der Deckung!« Milan hielt die Boxpratze hoch, das Schlagpolster, das ihn vor Fridas Schlägen schützte. Ihre Geraden waren perfekt ausgeführt, aber weil Milan passiv blieb und sie nicht angriff, fielen ihre Arme immer wieder herunter. In einem Fight hätte der Gegner ihren Fehler sofort für einen Treffer ausgenutzt.
Jo hatte sich vom Büro zu ihnen gesellt, stützte die Arme auf dem Seil ab und sah zu. Sie boxte nicht mal ein Jahr, war aber mittlerweile viel besser als Frida, deren Training in Intervallen verlief, je nach ihrem Dienstplan.
»Du brauchst mal wieder ein richtiges Sparring!«, rief Jo. »Am Wochenende?« Sie hob beide Arme.
»Weiß noch nicht …« Fridas Faust knallte hart auf das Schlagpolster, hinter dem Milan ihre in den Jab gelegte Körperkraft abfederte. »Ich hab Dienst!« Sie tänzelte zurück, erinnerte sich an die Arme, zog sie in die Deckung. »In zwei Wochen habe ich Urlaub und fahre zu Torben.«
»Okay! Genug für heute.« Milan ließ die Pratze sinken und kletterte durch die Seile. »Ihr wollt ja lieber ein Schwätzchen halten!« Die Trainingsstunde war beendet.
Frida nahm die Arme herunter. Die Oberarmmuskeln feuerten, das würde morgen richtig Muskelkater geben. Sie verließ ebenfalls den Boxring, ließ sich von Jo beim Ausziehen der Handschuhe helfen. Dann nahm sie das Handtuch vom Seil und wischte sich den Schweiß von Gesicht und Dekolleté.
»Woran arbeitest du gerade? Habt ihr einen neuen Fall?«, fragte ihre Freundin, die in Hamburg eine Privatdetektei führte, als Partnerin von Milan im Boxstudio jedoch immer öfter hier im Büro arbeitete.
»Momentan nicht. Wir archivieren und scannen die Akten der Altfälle.«
»Damit Bjarne in der Cold Case Unit was zu tun hat?« Jos Mundwinkel zuckten. Sie wusste, dass nur ausgewählte Fälle ans LKA gingen, die meisten der Altfälle jedoch in den Mordkommissionen verblieben.
Frida musste nun auch lachen. Es schmerzte sie immer noch, dass ihr Kollege sich von der Mordkommission nach Kiel zum LKA hatte versetzen lassen. Er hatte mit ihr ein Büro geteilt, war Mentor und Freund gleichermaßen gewesen. Nun gut, Letzteres war er geblieben, auch wenn ihre berufliche Ausrichtung sich auseinanderdividiert hatte. Und mittlerweile verstand sie auch, dass er vor seiner im nächsten Jahr anstehenden Pensionierung noch einmal eine neue Herausforderung gebraucht hatte, nach mehr als dreißig Jahren bei der Kripo.
»Kommt ihr?« Milan hatte an der Bar einen Smoothie für sie gemixt. Zwei junge Frauen in Sportoutfits lümmelten daneben in den Sitzsäcken. Sie hatten sicherlich die nächste Trainingseinheit bei Milan gebucht. An den Geräten standen zwei muskelbepackte Jungs und fachsimpelten über Gewichte und Wiederholungen. Ansonsten war es ruhig. So früh am Morgen war es hier noch leer. Erst am Nachmittag würde sich das Boxstudio füllen. Selbst Haverkorn kam abends vorbei, wenn er nicht in Kiel, sondern zu Hause übernachtete, um auf dem Crosstrainer oder Rudergerät etwas Cardio zu machen und an den Geräten ein von Milan erstelltes Trainingsprogramm für seinen Rücken zu absolvieren.
Frida stellte sich zu Milan und Jo an die Bar und trank den grünen Smoothie. Sie schmeckte Gurke, Apfel und Ingwer. Die grüne Farbe stammte höchstwahrscheinlich von frischem Spinat.
Als das Rolltor zur Halle geöffnet wurde, ließ sie das Glas sinken. Den Mann, der hereinkam, hatte sie gestern auf der Beerdigung gesehen. Enno Dahlsen war einer der vier Sargträger gewesen. Nicht nur das. Er arbeitete auf dem Friedhof als Totengräber. Schon als Kinder hatten sie einen großen Bogen um den Mann gemacht, den sie Leichenfänger genannt hatten. Er musste mittlerweile über sechzig sein. Seinem Körper sah man das Alter nicht an, er wirkte drahtig und durchtrainiert. Nur sein Gesicht war wettergegerbt und von Falten durchzogen. Die Arbeit mit dem Tod hatte sich darin eingegraben.
»Frida?« Enno Dahlsen trat näher, drehte unschlüssig seine Baskenmütze in der Hand. »Ihre Eltern haben mir gesagt, dass Sie hier sind. Tut mir leid, wenn ich störe …«
»Ich bin gerade fertig mit dem Training.« In ihrem verschwitzten Trainingsoutfit fühlte sie sich unwohl. Sie hätte gern geduscht, bevor sie mit ihm sprach. Aber sie sah ihm an, dass sein Anliegen keinen Aufschub duldete. »Was ist denn?« Sie ging auf ihn zu.
Er wirkte unschlüssig. »Könnten Sie mit zum Friedhof kommen?«
Frida warf Milan und Jo einen Blick zu, die ebenso überfragt wirkten.
»Ist was passiert?«
Enno schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Weiß ich nicht genau. Ich habe an einem Grab etwas entdeckt.« Er schien nicht zu wissen, was er vor den Zuhörern im Studio erzählen konnte. »Sie müssen es sich selbst ansehen. Es wäre gut, wenn jemand von der Polizei dabei ist, wenn wir das Grab wieder öffnen.«
»Welches Grab wollen Sie öffnen?«, fragte sie.
»Das von Björn Janssen.« Enno straffte seine Schultern. Frida brauchte einen Moment, um die Nachricht zu verdauen. Ihre Blicke trafen sich.
»Jemand hat in der Nacht die Erde aus dem Grab ausgehoben und es dann wieder zugeschüttet«, fuhr Enno fort.
Frida sah ihn an, als spräche er eine andere Sprache. »Was?«, fragte sie entgeistert. »Warum sollte jemand das tun?«
Er zögerte, konnte ihr nicht in die Augen sehen. »Es könnte sein, dass jemand die Leiche stehlen wollte!«
†
Haverkorn betrat das Areal des Friedhofs und klappte beim Laufen den bunten Schirm auf. Er entdeckte mehrere Personen, die ihm erwartungsvoll entgegenblickten. Schnellen Schrittes ging er näher, erkannte Frida und Jo, zusammen unter einem Schirm. Daneben einen Mann mit Regenjacke und Baskenmütze, der sich auf einen Spaten stützte.
Die Grabstätte von gestern war geschlossen worden, Kränze und Blumen lagen darauf. Noch fehlte der Grabstein, der erst gesetzt würde, wenn das Grab sich abgesenkt hatte. Ein Holzkreuz mit den Initialen von Björn Janssen stand bis dahin hier. Haverkorn verstand noch immer nicht, warum Frida ihn gebeten hatte herzukommen. Sie hatte am Telefon nichts erklären wollen, sondern nur gesagt, er solle sich selbst ein Bild machen. Wovon eigentlich?
Der Regen hatte am Morgen wieder zugelegt. Die üppig grüne Natur saugte ihn auf, um ihn für die kommenden Sommermonate abzuspeichern. Warum regnete es immer, wenn er Friedhöfe betrat? Weil ein solcher Platz nicht mit sonnigem Wetter vereinbar war? »Moin!«, grüßte er die Wartenden.
Frida nickte ihm zu. »Bjarne! Danke, dass du gleich hergekommen bist.« Sie wandte sich an den Mann neben ihr. »Enno, erzählen Sie Herrn Haverkorn, was Sie vermuten?«
Jetzt erkannte er einen der Sargträger von gestern wieder. Dieser begann von seinem Verdacht zu berichten, dass das Grab in der Nacht geöffnet und der Erdaufwurf ausgegraben worden war. »Die Kränze und Blumen sind anders angeordnet. Das ist mir heute Morgen sofort aufgefallen. Die Gebinde der Familie werden immer in die Mitte gelegt, die anderen drumrum drapiert, aber heute liegen sie am Rand. Außerdem sind die Schleifen eingeklemmt, sehen Sie? Ich und meine Gehilfen achten darauf, dass die Schleifen gut ausgerichtet sind und die Schriftzüge darauf lesbar bleiben.« Er zog einige der Trauergebinde zur Seite, nasse Erde wurde sichtbar. »Sehen Sie, die Oberfläche ist uneben und wellig. Sie wurde offenbar mit dem Spaten festgeklopft und hier am Rand festgetreten. So arbeite ich nicht.«
»Wie machen Sie es?«, hakte Haverkorn nach.
»Na, ich fülle die Erde auf und ziehe sie mit der Baggerschaufel glatt, bevor ich die Gebinde darauflege, damit der Untergrund gleichmäßig ist. Können Sie mir folgen?«
Haverkorn warf Frida einen Blick zu. Sie wirkte ebenso überfragt, wie er sich fühlte. »Und was, denken Sie, ist hier heute Nacht passiert?«
Der Totenträger sog die Luft ein. »Jemand hat den Sarg ausgegraben …«
»Um was zu tun?«, hakte Haverkorn nach.
»Na, um den Leichnam zu stehlen. Hört man immer wieder, dass es Leute gibt, die sich an Leichen vergehen. Nekrophile!«
Jo räusperte sich unter dem Schirm, Frida starrte nachdenklich in den Regen. »Selbst wenn die Leiche noch da ist, haben wir es mit Störung der Totenruhe zu tun. Aber dennoch müssen wir nachsehen, ob …« Sie schluckte bedrückt. »… ob Björn Janssen noch dadrin liegt. Wir brauchen einen Gerichtsbeschluss dafür, oder was meinst du? Soll Enno das Grab einfach wieder öffnen?«
Haverkorn verstand endlich, warum er hier war. Frida war persönlich angefasst, weil ein alter Schulfreund in diesem Grab lag. Falls er noch darin lag. Sie konnte keine klare Entscheidung treffen.
»Also gut. Gehen wir mal methodisch vor. Der Sarg wurde gestern in die Erde gelassen. Was ihr vorschlagt, ist eine Exhumierung.«
»Na ja, wir wollen ja nur schauen, ob er noch da ist. Wir machen den Deckel auf und sehen nach«, sagte der Totengräber.
»Eine Exhumierung ist es trotzdem. Ohne richterlichen Beschluss geht hier gar nichts.« Er sah Frida an, die blass war. »Ich kümmere mich darum. Bis dahin fasst ihr hier nichts an, in Ordnung? Selbst auf das Risiko hin, dass hier nur ein paar Kinder etwas Remmidemmi gemacht haben. Wir müssen uns rechtlich absichern, sonst kann uns die Familie in Grund und Boden klagen!«
»Wie lange kann das dauern?«, fragte der Totengräber. »Ich muss noch ein anderes Grab ausheben.« Er wies auf eine Stelle, neben der der Bagger stand.
»Gehen Sie ruhig Ihrer Arbeit nach«, sagte Haverkorn und zog sein Smartphone aus der Jackentasche. »So schnell ist die Justiz nicht, auch wenn ich sofort einen Richter ans Telefon bekomme.«
Das Teammeeting der Mordkommission zog sich in die Länge, weil ihr Chef in Redelaune war und mit geöffnetem Sakko in seinem Stuhl lümmelte, als säße er bei einem Feierabendbier in der Kneipe. Als Wahler endlich die Runde auflöste, nahm Frida ihr Notizbuch und das Smartphone vom Tisch und drängelte sich durch die Körperbarriere, die zwei Kollegen bildeten, um schnell zur Tür und in ihr Büro zu kommen. Durch den Umweg zum Friedhof war sie zu spät zum Meeting gekommen. Wahlers strafende Blicke hatte sie noch ertragen, seiner Standpauke, die sicher folgen würde, ging sie lieber aus dem Weg. Aber nicht Wahler rief ihren Namen, sondern Bootz. Sie drehte sich nicht um, sondern lief mit langen Schritten über den Flur. Im Büro würden sie sich ohnehin gleich treffen, er war ihr Schreibtischpartner.
Leonard Bootz, Ex-SEK und der Mann, der sie durch seine männliche Präsenz kurzzeitig in ein Gefühlschaos gestürzt hatte, war erst vor einigen Monaten frisch zum Team gestoßen. Er und ihr Chef, Nick Wahler, hatten einige Jahre beim Kriminaldauerdienst in Lübeck zusammengearbeitet, bis Wahler hier in Itzehoe den Posten des Leiters der Mordkommission übernommen hatte. Bootz war ihm einige Monate später gefolgt. Obwohl alle anfangs davon ausgegangen waren, dass Wahler seinen Buddy nachgeholt hatte, hatten sie bald einsehen müssen, dass Bootz nicht als Wahlers rechte Hand fungierte, da er ihm sehr wohl Paroli bieten konnte. Die zwei funktionierten nur gut miteinander, wenn sie einer Meinung waren. Was momentan klappte, weil es gerade keinen neuen Fall gab, bei dem ihre Egos hätten aneinandergeraten können. Aber der Ruhezustand tat Bootz nicht gut. Alte Akten zu sortieren und zu digitalisieren war nicht die Art von Stress, die er vom KDD gewohnt war. Jedenfalls schob Frida seine unterschwellig üble Laune auf den monotonen Schreibtischjob.
Gleich würde er hier sein und sie zur Rede stellen. Frida legte ihre Sachen auf den Schreibtisch und zählte herunter. Drei, zwei …
»Hörst du immer so schlecht?« Bootz drückte die Tür hinter sich zu. Also wollte er ungestört reden.
Eins, zählte Frida den Countdown zu Ende. »Sorry! Ich war in Gedanken.«
Bootz zog die Lederjacke aus und legte sie hinter dem Schreibtisch auf den Boden. In diesem Moment fehlte ihr Haverkorns Ordnungssinn. Auch wenn Frida mittlerweile gut mit Bootz auskam, war das Klima in diesem Büro nicht dasselbe. Ihr alter Partner fehlte ihr, selbst wenn sie das niemandem im Team gegenüber zugeben würde. Sie wollte nicht mehr als Frischling gelten, hatte sich ihren Platz in der über Jahre gewachsenen Mannschaft hart erarbeitet. Vor allem Leonard Bootz gegenüber. Alles lief gut, dennoch wäre sie zu gern Haverkorn nach Kiel zur Cold Case Unit gefolgt.
Torben war seit Anfang Mai in Süddeutschland, und es war nicht abzusehen, wann seine Aufgabe in der neuen Body Farm beendet sein würde. Nur sie hatte das Gefühl, hier auf der Stelle zu treten.
Bootz warf sich in den Schreibtischstuhl, der ächzte. »Wo warst du?«
»Auf einem Friedhof.«
»Echt?« Bootz drehte den Stuhl zur Seite und machte die Beine lang. Sie betrachtete sein Profil, das kantige Kinn, die beinahe weiblich geschwungenen Lippen. Seit er die Haare etwas länger trug und sie ihm weich in die Stirn fielen, wirkten seine Gesichtszüge nicht mehr so hart und abweisend. Oder lag es daran, dass sie ihn mittlerweile besser kennengelernt hatte? Ja, tatsächlich mochte?
Fridas erste Begegnung mit ihm an einem Tatort im Winter war eine mittelschwere Katastrophe gewesen. Bootz hatte sie behandelt wie eine Anfängerin, damit hatte er bei ihr sofort verschissen. Es hatte einige Zeit gedauert, bis sie hinter seiner kühlen und fast schon arroganten Fassade seinen analytischen Geist und sein Durchhaltevermögen entdeckt hatte, was ihr zunehmend imponierte. Ihr neuer Schreibtischpartner konnte Haverkorn nicht gänzlich ersetzen, war aber ein guter Flügelmann, wenn sie einen solchen brauchte. Im Team der Mordkommission hatte er sich schon längst unentbehrlich gemacht. Tatsächlich war er der Grund, dass sie den Spaß am Job nicht verloren hatte, seit Bjarne zum LKA gegangen war.
»Also, worum ging es da? Auf dem Friedhof?« Bootz sah sie fragend an, weil sie nicht antwortete.
»Der Totengräber aus unserem Ort hatte mich um Hilfe gebeten. Es geht um einen Fall der Störung der Totenruhe. Vielleicht wurde in der Nacht eine Leiche gestohlen.«
»Sind wir da auch zuständig?« Sein Ton war Antwort genug.
»Er wusste nicht, an wen er sich wenden sollte. Bjarne besorgt nun einen richterlichen Beschluss, um das Grab noch mal zu öffnen.«
Ihr Gegenüber wippte nach hinten und umfasste den Kopf mit den Händen. »Spannende Geschichte!« Seine gehobenen Augenbrauen erzählten das Gegenteil. »Besser als der Schreibtischkram.« Er hörte sich gelangweilt an.
Frida setzte sich auf den Bürostuhl, rollte an den Tisch und tippte ihre Anmeldung in die Tastatur. »So ist es.« Sie entsperrte den Monitor mit dem Passwort und checkte ihren E-Mail-Account. Scrollte weiter. »Saure-Gurken-Zeit, da müssen wir durch.«
Bootz stöhnte. »Dafür bin ich nicht zur Mordkommission gewechselt.« Sein Handy meldete sich. Er sah aufs Display und ließ es klingeln.
Frida schaute hoch. Auf seiner Stirn war eine Zornesfalte. »Gehst du nicht ran?«
Er wiegte das Handy in der Hand, aber es klingelte weiter. Mit einem entschlossenen Blick stand er auf und ging hinaus. Die Tür fiel fest ins Schloss. Frida lehnte sich zurück. Seit wann ging er zum Telefonieren nach draußen?
†
Es hatte eine Weile gedauert, bis er sich mit dem Homeoffice angefreundet hatte. Jahrzehntelang hatte er im immer gleichen Büro der Mordkommission am PC gesessen. Nun am Laptop an seinem Küchentisch zu arbeiten, hatte ihm anfangs widerstrebt. Aber nach und nach gewöhnte er sich daran, denn die Heimarbeit hatte auch Vorteile. Hob er den Blick, sah er in seinen verwunschenen Obstgarten, eine kleine Oase der Entspannung. Dann war da Momo, der Kater, der ihm, wenn er nicht durch den Garten stromerte, Gesellschaft leistete. Und das Essen, das Henni ihm in Plastikboxen im Kühlschrank hinterließ, war auch um einiges besser und gesünder als das in der Kantine in Kiel.
Er öffnete eine der Boxen, die mit Kichererbsen-Süßkartoffel-Curry beschriftet war, sah einen orangefarbenen Gemüsebrei, von dem ein Geruch nach exotischen Gewürzen ausging. Haverkorn stellte die Dose in die frisch angeschaffte Mikrowelle. Henni hatte ihm geschrieben, dass sie ebenfalls gleich zu Hause sein und mit ihm essen würde. Das Gericht war schnell aufgewärmt, wenn sie da war.
Er deckte den Tisch für zwei, schnitt etwas von dem Wurzelbrot ab, das Henni Anfang der Woche gebacken hatte, und holte die Dips aus dem Kühlschrank, an die er sich längst gewöhnt hatte. Nur noch selten aßen sie hier Fleisch oder Wurst. Er verkniff es sich nicht ganz, aber da Henni vegetarisches Essen bevorzugte, hatte er sich angeschlossen. Und war überrascht gewesen, wie gut es ihm schmeckte und wie bekömmlich es war. Seine Tochter kochte aus frischen Zutaten köstliche Eintöpfe, Gemüsegerichte und Currys. Nur einmal hatte er das Handtuch geworfen. Bei Bulgur war er ausgestiegen. Getreide aß er lieber in Form von Brot.
Als er die Haustür hörte, stellte er die Mikrowelle an und nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank.
»Bin da!«, rief Henni aus der Diele, bevor sie ins Bad ging.
Haverkorn sah, dass der Kater aufgewacht war und verschlafen auf der Bank gähnte. Er stellte ihm eine Schüssel mit Trockenfutter an den angestammten Platz.
»Ich wusste gar nicht, dass du heute schon kommst.« Henni umarmte ihn und setzte sich an den Tisch.
»Heute war diese Beerdigung. Der Sohn unserer Nachbarn.«
»Ach ja!« Sie goss sich Wasser ein. »Frida war auch da?«
»Sie ist damals mit ihm zur Schule gegangen, es ging ihr ganz schön nah.«
»Das glaube ich. Schlimme Geschichte! So jung und dann noch Frau und Kinder hinterlassen.« Sie griff nach seiner Hand, als er sich zu ihr setzte. »Für dich war es okay?«
»Ich kannte den Jungen ja nicht.«
Die Mikrowelle gab ein Ping von sich. Henni sprang auf, holte das Curry heraus und balancierte es zum Tisch. »Ich hätte gedacht, du entscheidest dich für die Kartoffelsuppe.«
»Was? Die hab ich gar nicht gesehen.« Er ärgerte sich, dass er die zweite Box nicht beachtet hatte. Zu spät, dann eben dieses Kichererbsencurry. Exotik statt Hausmannskost. »Wie war es heute?«
Henni verteilte das Gericht auf ihren Tellern. »Anstrengend. Ich muss erst wieder lernen, mich den ganzen Tag zu konzentrieren.« Sie leckte den Löffel ab. »Und mein tägliches Mittagsschläfchen fehlt mir! Da hilft auch kein Espresso nach dem Essen.«
»Die Umgewöhnung ist immer schwer. Du weißt ja, so ganz problemlos war das bei mir auch nicht. Ich konnte die ersten Nächte in Kiel nicht richtig schlafen, weil es zu laut war.«
Henni strich Datteldip auf eine Scheibe Brot und biss hinein. »Und Sonja?«, fragte sie kauend.
»Was ist mit ihr?«
»Wie geht sie mit der neuen Situation um?«
»Gut! Sie hat sich sofort eingelebt, ist ja auch ein paar Jahre jünger!« Er nahm den Löffel und probierte. Das Curry schmeckte überraschend gut.
»Das meine ich nicht.« Ein langer Blick über den Tisch. »Du und sie, der neue Job, die Kollegen, die reden …«
»Da redet niemand. Wir sind im Büro hochprofessionell.«
»Das heißt, niemand weiß, dass ihr zusammen seid?« Sie zog ein Bein auf die Bank und tunkte Brot ins Curry.
»Ich weiß selbst nicht, ob wir das offiziell sind.« Haverkorn wollte dieses Thema loswerden.
»Dann habt ihr ein Bratkartoffelverhältnis?« Hennis Lachen entwaffnete ihn. Sie wusste ziemlich gut, dass er bis über beide Ohren in diese Frau verliebt war. Und das mit sechzig! Hätte ihm das jemand vor einem Jahr gesagt, er hätte es nicht geglaubt.
»Wir loten noch aus.« Er löffelte, um nicht reden zu müssen.
»Schmeckt dir, oder?«
Er nickte, zog dabei das klingelnde Handy aus dem Jackett, das am Stuhl hing. Die Nummer des Gerichts in Itzehoe, da musste er rangehen. »Das ist wichtig!« Er entschuldigte sich, ging auf die Terrasse und meldete sich förmlich.
»Schumann hier, Herr Haverkorn. Der Beschluss ist fertig. Sie können heute Abend noch exhumieren! Ich maile Ihnen alles rüber.«
»Danke Ihnen! Sie haben was gut bei mir.«
»Nicht dafür! Wenn an diesem Grab etwas durch Fremdeinwirkung verändert wurde, muss es natürlich noch mal geöffnet werden. Hoffen wir, dass die Leiche noch da ist!«
»Danke Ihnen und schönen Abend!«
»Ihnen auch!« Haverkorn drückte das Gespräch weg. »Ich muss noch mal los!« Er setzte sich wieder an den Tisch. »Auf den Friedhof. Wir müssen das Grab von Fridas Schulfreund exhumieren.«
»Was?« Henni brauchte einen Moment, um die Information sacken zu lassen. »Wieso?«
Während er den Rest des Currys löffelte, erklärte er ihr die Situation. Als sie das Geschirr abräumte, schrieb er Frida eine Nachricht. Dann stand er auf und nahm die Jacke von der Stuhllehne. »Du musst nicht auf mich warten, das wird sicherlich dauern.«
Henni schloss die Tür zur Terrasse. »Darf ich mitkommen?«
»Klar! Das erlebt man nicht alle Tage. Dann los! Wenn da jemand einen schwachen Magen hat, haben wir gleich eine Rettungssanitäterin dabei.«
Seine Tochter winkte ab. »Noch bin ich in Ausbildung.«
Nach Dienstschluss fuhr Frida direkt nach Hause. Der Berufsverkehr auf der Autobahn in Richtung Hamburg löste sich langsam auf. Flache norddeutsche Ackerflächen wechselten sich mit Büschen und Bäumen ab. Sie drehte den Song im Radio lauter. Beds Are Burning von Midnight Oil, wie lange hatte sie den nicht mehr gehört? Ein Song aus den Achtzigern, der nichts an seiner Aktualität eingebüßt hatte. Laut sang sie mit. How can we dance when our earth is turning? How do we sleep while our beds are burning?
Hier im Auto konnte sie nach dem Job immer gut abschalten. Heute sehnte sie sich danach, gleich weiter zu Torben durchzufahren. Noch eine Woche, dann würde sie ihn endlich wiedersehen. Wenn es wenigstens ein festes Datum gäbe, wann er zurückkam. Aber der Aufbau der Body Farm im Bayrischen Wald stand erst ganz am Anfang. Er konnte für Monate fort sein, vielleicht sogar für Jahre. Keiner konnte das bisher abschätzen. Aber da Torben von seinem neuen Job so begeistert war, sagte sie nichts, hielt die Distanz aus. Alles war besser als dieser schlecht gelaunte Mann, der er nach seinem Unfall gewesen war. Die Angst, nicht mehr in seinem Beruf arbeiten zu können, nicht gebraucht zu werden, hatte ihm so sehr zugesetzt, dass er fast schon depressiv gewirkt hatte. Frida atmete durch. Seit er in Bayern arbeitete, sprühte er wieder vor Begeisterung wie früher. Auch wenn er weit weg war, sie würden das schon gemeinsam hinbekommen.
Als sie von der Autobahn abfuhr, meldete ihr Handy eine Nachricht. Sie nahm es vom Beifahrersitz und warf einen Blick darauf. Bjarne hatte geschrieben. Der Beschluss ist da. Kommst du zum Friedhof?
Zwanzig Minuten später duckte sie sich unter dem gespannten Flatterband hindurch, das den hinteren Bereich des Areals absperrte, und blieb neben ihrem ehemaligen Kollegen stehen. Sie begrüßte Henni mit einem Augenzwinkern, die ebenfalls abseits der Grabstätte stand. Später würde sie ein paar Worte mit ihr wechseln. Der Totengräber hatte bereits angefangen, mit der Baggerschaufel die Erde vom Grab zu heben.
Neben Haverkorn bemerkte Frida einen ernsten Mann mit Hut in einer dunklen Cordjacke, vielleicht jemand von der Friedhofsverwaltung. Zwei Schutzpolizisten lehnten an der Kapelle. Einer rauchte und versuchte, mit dem Glimmstängel keine Aufmerksamkeit zu erregen.
Der Motor des Baggers dröhnte, Stück für Stück wurden Erdklumpen aus dem Grab gehoben und daneben auf einen Haufen geschüttet, wo ein Gehilfe sich auf einen Spaten stützte. Nach gut zehn Minuten, in denen sie stumm zugesehen hatten, erstarb der Motor. Der Totengräber stieg aus. »Ich bin tief genug. Jetzt macht Jonas mit dem Spaten weiter, sonst beschädige ich noch den Sargdeckel.«
Falls überhaupt noch ein Sarg dadrin ist, dachte Frida.
Jonas, der Gehilfe des Totengräbers, ein groß gewachsener junger Mann mit breiten Schultern, sprang behände in die Grube und schaufelte Erde hinauf, bis ein dunkles Poltern ankündigte, dass er auf Holz gestoßen war. Jetzt sprang auch Enno Dahlsen hinunter und half beim Ausheben, bis der Sargdeckel freigelegt worden war. Jonas kam aus der Grube und reichte dem Totengräber ein Werkzeug hinunter, um die Schrauben des Deckels zu lösen.
»Hier ist eine Kerbe im Holz!« Ennos Kopf tauchte wieder auf. »Da war schon jemand dran.«
»Kann das nicht beim Verschließen des Sarges passiert sein?«, fragte Frida.
»Der Sarg kostet so viel, wie ich in zwei Monaten verdiene. Da wird aufgepasst, dass er nicht beschädigt wird.« Er verschwand erneut und reichte Jonas nach und nach die Sargschrauben nach oben. »So, wir sind so weit!«
Jonas warf Gurte hinunter, die der Totengräber unter dem Deckel befestigte, bevor er hinaufkletterte. Mit den Gurten hoben die beiden Männer den Sargdeckel an und setzten ihn neben der Grube ab.
»Ach du Scheiße!«, sagte der Gehilfe, als er hinunterblickte.
Auch Ennos Gesichtszüge schienen kurz zu entgleiten.
Haverkorn trat nach vorn und blieb überrascht am Rand stehen. Frida bewegte sich nun ebenfalls, rüstete sich, ihren toten Schulfreund zu sehen. Was sie sah, machte keinen Sinn. Nicht Björns Leichnam lag in diesem Sarg, sondern ein vielleicht fünfzehn- oder sechzehnjähriges Mädchen! Fast schon eine junge Frau, gekleidet in ein ärmelloses Kleid über einer Bluse und einer weißen Schürze – wie in früheren Zeiten ein Dienstmädchen oder eine Magd. Sie sah aus, als schliefe sie, so friedvoll war der Anblick. Ihr Gesicht war leichenblass, die Augen geschlossen. Auf dem Kopf trug sie ein schwarzes Tuch mit weißen Punkten, das aus der Zeit gefallen wirkte und aus dem lange Haarsträhnen daneben auf den Stoff des Sargs fielen. Ihre schmalen Hände waren gefaltet und hielten ein Büschel rosafarbener Blüten fest umschlossen.
Frida hörte, dass Haverkorn die Luft ausstieß. Hatten sie den falschen Sarg ausgegraben? Erschrocken sah sie sich um, ob sie an der richtigen Grabstätte standen. Kein Zweifel! Hier war gestern Björn beigesetzt worden.
Nach einigen Sekunden, in denen niemand etwas sagte, kam Bewegung in die Gruppe.
»Warten Sie mal …« Enno hockte sich an den Rand der Grube. »Dadrunter liegt noch jemand! Sehen Sie den dunklen Stoff am Fußende des Mädchens? Sieht aus wie ein Stück von einer Anzughose.«
Frida folgte seiner Hand und sah, wovon er sprach. Ihr wurde eiskalt! Björn lag doch in diesem Sarg, unter der jungen Frau! Sie schluckte, um die Übelkeit zu vertreiben. Sie waren einem großen Irrtum aufgesessen. Hier hatte niemand in der Nacht seine Leiche stehlen wollen. Das tote Mädchen war zu ihm in den Sarg gelegt worden.
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Haverkorn fasste sich und würgte sauren Speichel herunter. So etwas war ihm in den über dreißig Jahren seiner Polizeikarriere noch nicht passiert. Ein Sarg für zwei Leichen! Er spürte leichten Druck an seinem Unterarm, wo Henni ihn mit der Hand berührte. »Wir müssen überprüfen, ob sie wirklich tot ist«, flüsterte seine Tochter.
»Du hast recht. Würdest du …?«
Sie nickte und strich sich nervös eine Strähne hinters Ohr.
Er sah Enno Dahlsen an. »Können Sie meiner Tochter hinunterhelfen? Sie ist Rettungssanitäterin und wird nachsehen, ob sie tot ist.« Er zog Wegwerfhandschuhe aus seiner Tasche und gab sie ihr. Henni nickte und streifte sie über.
Der Totengräber sprang in die Grube und half Henni hinab. Haverkorn trat an den Rand und sah hinein. Henni beugte sich vor und wich kurz zurück, sammelte sich wieder. Dann drehte sie mit etwas Mühe eine Handfläche zur Seite und warf ihm einen Blick zu. Jetzt konnte er sie auch sehen, die Leichenflecke. Kein Zweifel, das Mädchen war schon einige Stunden tot. In der Grube roch es sicherlich schon nach Tod, weshalb er Henni schnell nach oben half. Oben angekommen, schüttelte seine Tochter den Kopf. »Du hast es ja gesehen. Die Leichenstarre hat auch schon eingesetzt.« Sie zog die Handschuhe aus. »Aber ihr müsst trotzdem einen Rettungswagen rufen. Offiziell kann nur ein Arzt ihren Tod feststellen.«
Haverkorn sah Frida an, die sofort verstand und ihr Smartphone aus der Tasche zog, um die Rettungsleitstelle zu informieren. Dann griff er nach Hennis Hand. Sie war eiskalt.
Etwas Nasses tropfte ihm ins Gesicht. Er sah nach oben. Die Wolkendecke hatte sich verdichtet, sah dunkel und unheilvoll aus. Ausgerechnet jetzt musste der Himmel wieder seine Schleusen öffnen! »Los, schnell! Den Deckel drauf!«, rief er dem Totengräber zu.
Enno Dahlsen und sein Gehilfe kamen in Bewegung. Der Regen setzte ein. Wasser war neben Feuer das schlimmste zerstörerische Element für einen Tatort. Sie mussten den Sarg unbedingt sichern.
Die beiden Totengräber hatten den Deckel an den Gurten gepackt. Haverkorn half, diesen in die richtige Position zu bringen, damit er hinabgelassen werden konnte. »Eine Plane! Habt ihr eine Plane?«
Jonas lief los und kam mit einer großen schwarzen Plane zurück. Sie breiteten sie über der Grabstätte aus und befestigten die Enden mit schweren Erdklumpen. Der Schauer wurde stärker. Bald ging ein kleiner Wolkenbruch auf dem Friedhof nieder. Sie liefen hinüber zur Kapelle, um auf den Notarztwagen und besseres Wetter zu warten.
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Kurz vor Sonnenuntergang ließ der Regen endlich nach. Die Abenddämmerung legte einen Grauschleier über die Farbenpracht des Sommers, degradierte kurz vor der Dunkelheit die Büsche, Bäume und Grabsteine zu schemenhaften Gebilden. Fast ein bisschen unheimlich, dachte Frida, die in der Tür der Kapelle auf ihre Kollegen wartete. Haverkorn und Henni hatten sich längst verabschiedet. Bei diesem Schietwetter wollte niemand länger als nötig auf einem Friedhof herumstehen. Der Totengräber und sein Gehilfe hatten ebenfalls Feierabend gemacht.
Für den Notarzt waren Plane und Sargdeckel noch einmal angehoben worden. Es dauerte nicht mal eine Minute, da hatte er offiziell den Tod des Mädchens erklärt und die notwendigen Papiere unterzeichnet. Die Rechtsmedizin in Hamburg war von Frida bereits über den Leichenfund informiert worden. Sie war gespannt, welcher von Torbens Kollegen heute Dienst hatte und hier rausfahren musste.
Nun war Frida wieder allein. Tagsüber war das hier ein Ort der Stille, ein parkähnliches Gelände mit Reihen von Grabsteinen, das einen friedlich stimmte und zum Spazieren einlud. Doch sobald es dunkel wurde, fühlte man sich auf einer solchen Totenstätte mehr als unwohl. Waren das Kindheitsängste, die dann an die Oberfläche drängten? So wie die Angst, die einen plötzlich in einem dunklen Keller beherrschte? Frida zog den Reißverschluss ihres Parkas bis unters Kinn und schob die kalten Hände in die Taschen. Sie musste selbst darüber lachen, dass sie den Blick immer wieder hin und her gleiten ließ, in jeder Bewegung eines Astes oder dem Windrauschen der Baumkronen etwas Unheimliches wahrnahm. Die Toten würden in dieser Nacht nicht auferstehen. Wenn sich jemand hierherverirrte, dann eine Katze aus dem Dorf oder ein Fuchs, der nach Nahrung suchte.
Was war gestern Nacht auf dem Friedhof passiert? Wer hatte dieses Grab geschändet, mit den bloßen Händen die Erde wieder ausgehoben und den Sarg eines Toten geöffnet, um das Mädchen hineinzulegen? Derjenige musste Nerven wie Stahlseile gehabt haben. Oder waren es mehrere Täter gewesen? Bei der Schwere der körperlichen Arbeit war dieser Gedanke naheliegend.
Wer tat so etwas Abgefahrenes?
Irgendwo neben ihr in der Dunkelheit knackte ein Ast. Ihr Blick schnellte hinüber, ihr Atem setzte aus. Das Herz begann laut und aufgeregt zu pochen. Verdammt, warum war sie so schreckhaft? Ihr Verstand sagte ihr, dass hier niemand war. Aber dennoch reagierte ihr Körper instinktiv auf jedes Geräusch in der Umgebung, in der sie kaum etwas erkennen konnte. Wann waren die Kollegen denn nun endlich hier?
Um sich abzulenken, zog sie das Smartphone aus der Jackentasche und rief Torben an.
Er ging sofort ran. »Na du? Bist du zu Hause?«
»Nein, ich stehe allein auf dem Friedhof.« Sie unterdrückte ein Zittern.
Sein dunkles Lachen verstärkte die Sehnsucht nach ihm. Wie gern hätte sie sich jetzt in seinen Armen gewärmt. Nächste Woche wäre sie endlich bei ihm. Beinahe drei Monate hatten sie sich nicht gesehen.
»Neuer Fall?«, fragte er. Natürlich war er nicht verwundert, dass sie in der Dunkelheit auf einem Friedhof stand, sondern hörte ihr zu, als sie vom Fund der Leiche im Sarg ihres alten Schulfreundes erzählte.
»Das hätte mich auch interessiert«, sagte er plötzlich. Ganz ohne diesen zynischen Unterton, den er immer angeschlagen hatte, wenn es um die Arbeit der Rechtsmediziner ging. »Weißt du, wer übernimmt?«, fragte er.
»Nein, noch nicht.« Vor dem Tor brachen Scheinwerfer eine Lichtschneise in die Dunkelheit. »Du, ich muss Schluss machen. Die Kollegen kommen.«
»Ja, gut. Dann bis morgen, Clarice!«
Sie lächelte. Diesen Kosenamen für sie benutzte Torben, weil sie ähnlich wie die ehrgeizige FBI-Agentin Clarice Starling ihren Job immer an erste Stelle setzte.
»Ich vermisse dich!«, flüsterte er, und es verursachte ihr eine Gänsehaut.
»Ich dich auch!« Frida lächelte und beendete das Gespräch. Als sie knirschende Schritte auf dem Kiesweg hörte, rüstete sie sich für die nächsten Stunden.