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Ein alter Galgenbaum. Ein toter Zeuge. Eine dunkle Drohung ...
An einem nebligen Februarmorgen wird zwischen den Dörfern der Geest an einem uralten Galgenbaum eine Leiche gefunden. Am Hals des Toten baumelt ein Schild, das Kriminalkommissarin Frida Paulsen Rätsel aufgibt: Ich gestehe, im Prozess gegen Cord Johannsen falsch ausgesagt zu haben. Ihr Kollege Haverkorn erinnert sich sofort an den Fall. Vor vielen Jahren wurde der Bauer Johannsen für den kaltblütigen Mord an seiner Familie verurteilt, seither sitzt er im Gefängnis. Als kurz nach dem Leichenfund in der Geest ein weiterer Zeuge getötet wird, der im Prozess gegen Johannsen aussagte, ahnen die beiden Kommissare: Sie müssen den wahren Täter von damals finden, sonst wird es weitere Opfer geben ...
Frida Paulsen und Bjarne Haverkorn auf der Spur eines eiskalten Racheengels - Band 5 der SPIEGEL-Bestsellerserie
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Seitenzahl: 437
Veröffentlichungsjahr: 2022
Band 5 der Reihe »Elbmarsch-Krimi«
An einem nebligen Februarmorgen wird zwischen den Dörfern der Geest an einem uralten Galgenbaum eine Leiche gefunden. Am Hals des Toten baumelt ein Schild, das Kriminalkommissarin Frida Paulsen Rätsel aufgibt: Ich gestehe, im Prozess gegen Cord Johannsen falsch ausgesagt zu haben. Ihr Kollege Haverkorn erinnert sich sofort an den Fall. Vor vielen Jahren wurde der Bauer Johannsen für den kaltblütigen Mord an seiner Familie verurteilt, seither sitzt er im Gefängnis. Als kurz nach dem Leichenfund in der Geest ein weiterer Zeuge getötet wird, der im Prozess gegen Johannsen aussagte, ahnen die beiden Kommissare: Sie müssen den wahren Täter von damals finden, sonst wird es weitere Opfer geben …
ROMY FÖLCK wurde 1974 in Meißen geboren. Sie studierte Jura, ging in die Wirtschaft und arbeitete zehn Jahre für ein großes Unternehmen in Leipzig. Mit Mitte dreißig entschied sie, ihren großen Traum vom Schreiben zu leben. Sie kündigte Job und Wohnung und zog in den Norden. Mit ihrem Mann lebt sie heute in einem Haus in der Elbmarsch bei Hamburg, wo ihre Romane entstehen. Ihre Affinität zum Norden kommt nicht von ungefähr, verbrachte doch ihr Vater seine ersten Lebensjahre in Ostfriesland. TOTENWEG ist der erste Band ihrer Krimiserie um die beiden Ermittler Frida Paulsen und Bjarne Haverkorn.
ROMY FÖLCK
NEBELOPFER
KRIMINALROMAN
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen
Originalausgabe
Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de unter Verwendung einer Illustration von © www.buersosued.de
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-1036-7
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Für Ulla und Sieghard Völker
in großer Zuneigung und Dankbarkeit
Er tanzt. Stellt den rechten Fuß zur Seite, zieht den linken Fuß heran. Achtet darauf, das schwingende Bein nicht zu sehr zu belasten. Wechsel. Den linken Fuß zur Seite, den rechten Fuß heran. Seine Tanzpartnerin pendelt leichtfüßig mit, schwebt im Dreivierteltakt in seinen Armen über das honigfarbene Parkett.
Wiener Walzer. Zuletzt hat er ihn auf seiner Hochzeit getanzt. Das ist über dreißig Jahre her, aber mit ihr fühlt es sich an, als wäre es erst gestern gewesen. Als wäre er noch jung und die ganze Welt stände ihm offen.
Sanft liegt seine Hand unterhalb ihres Schulterblattes, ihr linker Arm auf seinem rechten. Auf der anderen Seite gleiten ihre gefassten Hände auf Augenhöhe durch den Raum. Er führt sie und staunt selbst, wie perfekt er seine Schritte setzt, zieht sie eine Winzigkeit näher zu sich und genießt es, als sie ihre Hingabe durch ihre geschmeidigen Bewegungen auf ihn überträgt. Lange hat er die Nähe zu einer Frau nicht mehr zugelassen. Sie hat es geschafft, mit einem einzigen Blick, ihn, den Tanzmuffel, auf das Parkett zu bekommen. Dann noch beim Wiener Walzer, dem Drehtanz, der für Nichttänzer wie ihn ein Graus ist. Aber mit ihr kann er ihn die ganze Nacht tanzen.
Die Musik verstummt. Sie tänzeln aus. Er will sie noch nicht loslassen, aber sie löst ihre Tanzhaltung auf. Erst jetzt ist es ihm möglich, die anderen Tänzer anzusehen.
Sie lächeln, aber ihre Augen sind leer.
Und tot.
Plötzlich scheinen sich die Gesichter der Fremden aufzulösen, erstarren in hässlichen Grimassen. Erschrocken weicht er zurück. Die Musik setzt wieder ein.
Ein Trauermarsch in Moll. Seine Tanzpartnerin ist längst in der Menge der tanzenden Fratzen verschwunden.
Er schreckt hoch, ringt nach Luft, die eiskalt ist. So schnell, wie dieser Traum sich verflüchtigt, wird er in die Wirklichkeit gerissen.
In den dunklen Raum, in dem er auf einer ausrangierten Matratze liegt, eingewickelt in eine Rettungsdecke aus Alufolie. Er bewegt sich, lockert die verkrampften Gliedmaßen und den linken Arm, so weit, wie es die Handfessel zulässt. Er bewegt die Finger, spürt sie nicht mehr. Wahrscheinlich ist die Blutzirkulation durch die Fessel träge geworden. Hat er deshalb vom Tanzen geträumt, weil sein Arm hier auf Augenhöhe am Käfig hängt?
Er ist eingenickt, obwohl er wach bleiben muss! Wenn er wieder einschläft, wird er vielleicht nie wieder aufwachen. Hier an diesem eiskalten Ort, wo er, gefesselt ans Metall, darauf wartet, dass ihn endlich jemand findet und befreit.
»Hilfe!«, ruft er. Heiser und mit fremder Stimme quält sich das Wort aus seinem Mund. Er hustet und versucht es nochmals. »Hilfe! Ist da jemand?« Ein leichter Hall unter der Decke des riesigen Stalls, aber keine Antwort. Mit der Handfessel schlägt er den Code für SOS ans Metall des Käfigs. Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz.
Er lauscht, hört aber nur den Wind in den Dachbalken über ihm. Irgendwo muss dort ein Fenster offen stehen.
Sein Mund ist trocken. Er schiebt den rechten, beweglichen Arm unter der Rettungsdecke hervor, tastet nach der Plastikflasche. Er darf nicht zu viel trinken. Das Wasser muss er sich einteilen, so stark sein Verlangen zu trinken auch ist. Mit einer Hand dreht er den Deckel ab. Ein kleiner Schluck, auch wenn sein quälender Durst ihn drängt, mehr zu trinken. Sorgfältig verschließt er die Flasche wieder, stellt sie zur Seite. Dieses Wasser ist seine Lebensversicherung. Aber nur, solange noch etwas darin ist.
Wie lange ist er schon hier gefangen?
Er hat er sein Zeitgefühl verloren, weil er eingeschlafen ist. Waren es Sekunden, Minuten oder Stunden? Er kann es nicht sagen. Nur, dass der Traum intensiv gewesen ist. Und schön! Er denkt an seine Tanzpartnerin. Die attraktive Brünette hatte ihn völlig aus dem Tritt gebracht, als er sie kennenlernte. Plötzlich scheint er ihr Parfüm in der Nase zu haben, das für einen Damenduft eine Nuance zu herb war. Aber es passt zu ihrem Typ. Denn sie ist eine Frau, die zupacken kann, wenn es drauf ankommt. Er versucht, sich ihr Gesicht vorzustellen, eine reife Schönheit mit einem strahlenden Lächeln, wie das der Berben. Warum hat er sie nicht sofort um ein Wiedersehen gebeten? Worauf hat er gewartet? Eine Frau wie sie ließ man nicht vom Haken.
Er denkt daran, wie es sich im Traum angefühlt hatte, sie zu halten. Wenn er hier lebend rauskommt, wird er sie anrufen und auf ein Glas Wein einladen. Lächerlich, in seiner Situation Pläne zu machen. Aber vielleicht braucht er das, weil er Hoffnung braucht, um zu überleben.
Er scheint wieder ihren Körper zu spüren, ihre Wärme. Aber die Hitze kommt von innen, es fühlt sich an wie ein Fieberschub.
Er weiß durch eine Fortbildung, dass einem Erfrierenden warm wird, kurz vor dem Kältetod. So warm, dass er sich am liebsten aller Klamotten entledigen würde. Verunsichert reißt er die Augen auf. War es wirklich ein Traum, oder halluzinierte er längst? Geistige Verwirrung ist ebenfalls ein Vorzeichen des Erfrierens.
Was, wenn er es nicht schafft?
Wenn er nicht rechtzeitig gefunden wird?
Er richtet sich auf, so gut es geht, und ruft nochmals um Hilfe. So laut er kann. Er brüllt seine Angst hinaus in die Winternacht. Auch wenn die Chance, dass ihn hier draußen auf diesem gottverlassenen Hof jemand hören wird, bei null liegt. Nicht viel höher sind die Temperaturen außerhalb dieser Mauern.
Schaumige Wellenkämme schlugen auf den menschenleeren Strand. Torben lachte und rannte durch das Wasser. Wie ein junger Hund, der einem Ball hinterherspringt. Seine Sneakers und Socken lagen vor Frida im Sand. Er hatte die Hosenbeine hochgekrempelt und war in die Nordsee gewatet. Sie stand frierend am Strand, hatte die Kapuze des Hoodies über den Kopf gezogen, den Parka bis zum Kinn geschlossen. Er musste verrückt sein, bei dieser Kälte ins Wasser zu gehen.
»Komm! Es ist herrlich!«, rief er und wich vor einer Welle zurück. »Du verpasst was!«
»Ja, eine Blasenentzündung!«, schrie sie durch das Wellenrauschen.
Er kam aus dem Wasser. Zu spät ging ihr auf, dass es keine Einsicht war, sondern dass er vorhatte, sie ins Wasser zu ziehen. Gleich so, mit Schuhen und Socken. Sie wand sich kurz vor der Wasserkante aus seinem Griff. »Warte!« Sie warf ihre Boots und Socken auf den Sand und folgte ihm ins Wasser. Frida gab einen kleinen Schrei von sich. Der Kälteschock war kurz, dann fühlte es sich gut an. Nach Spontaneität. Und nach Glück.
Glück, Torben wiederzuhaben nach den sechs Wochen in der Rehaklinik.
Glück, ihn endlich wieder lachen zu sehen nach dem Unfall, der ihn beinahe sein Leben gekostet hatte.
Er zog sie an sich und küsste sie. Eine Welle brach sich an ihnen, machte ihre Hosen bis zu den Knien nass. Aber sie merkten es nicht. Sie küssten und hielten sich, während dick vermummte Strandbesucher mit ihren Hunden sich zu ihnen umdrehten. Jemand zeigte auf sie.
Doch es gab nur sie beide und das Meer.
Frida fuhr mit ihren Händen durch sein flatterndes Haar. »Ich bin froh, dass du wieder da bist. Jetzt wird alles gut.«
Ein harter Zug legte sich um seinen Mund. Er löste sich von ihr, ging aus dem Wasser und zog wortlos Socken und Schuhe an.
Frida watete noch einen Moment durch das flache Wasser, dann folgte sie ihm, umarmte ihn von hinten. Seine Körperhaltung war abwehrend, sein Blick auf den Horizont gerichtet.
»Wir schaffen das! Du wirst wieder gesund.«
»Hör auf!«, sagte er. Sie konnte in seiner Stimme die Tränen hören, die er zurückhielt. Beide Hände waren beim Einsturz einer Steindecke schwer verletzt worden. Die Linke konnte er nach der Reha wieder gut bewegen. Aber die rechte Hand war fast steif geblieben. Wenn Torben die Feinmotorik seiner Finger nicht wiedererlangte, würde er seinen Job an den Nagel hängen müssen. Als Rechtsmediziner musste er ein Skalpell führen können. Das Wort Berufsunfähigkeit schwebte über ihm wie ein Damoklesschwert.
»Lass uns fahren«, sagte er und versuchte ein Lächeln, um sie zu beschwichtigen. So war das schon vor der Reha gewesen. Sie sagte etwas, was ihn aufbauen sollte, tappte ins Fettnäpfchen, er zog sich zurück. Dann dieses Lächeln, das keines war.
»Ja, komm! Sie warten schon auf uns!« Frida streifte die Socken über die nassen und sandigen Füße, zog ihre Boots an. Sie fror, musste schnellstens ins Warme. Auch wenn sie nicht wusste, was sie auf der Fahrt sagen durfte, ohne Torben wieder vor den Kopf zu stoßen. Sie begann, von ihrem letzten Fall zu erzählen. Ein Nachbarschaftsstreit war eskaliert, am Ende war ein Mann tot. Die Mordkommission war gerufen worden, hatte aber den Fall bald abgegeben, weil kein Fremdverschulden vorlag. Der Mann war einem Herzinfarkt erlegen.
Torben sah aus dem Fenster, hörte ihr kaum zu. Sie warf ihm kurze Blicke zu. Sie liebte ihn, und es machte sie traurig, ihn so verzweifelt zu sehen. Aber würde ihr das nicht auch so gehen, wenn sie ihren Beruf als Polizistin wegen eines körperlichen Handicaps nicht mehr ausüben könnte? Er war aufgegangen in seiner Arbeit, musste sich nun fühlen wie ein Invalide, den niemand mehr brauchte. Er versank in Selbstmitleid, vielleicht war es schon eine depressive Verstimmung.
Zwei Stunden später erreichten sie den Paulsenhof in der Elbmarsch. Es war inzwischen dunkel geworden. Der Hof von Fridas Eltern wurde von Strahlern erleuchtet, als sie den Volvo vor dem Haus parkte. Nebenan in der ehemaligen Scheune, wo sich der Boxclub befand, standen drei Autos neben dem altem Bulli, der dem kroatischen Boxtrainer Milan gehörte. Die Leuchtschrift surrte auf dem Backstein. MIJO und darunter Boxen & Fitness. Als sie ausstieg, hörte Frida den dumpfen Aufprall der Handschuhe auf den Sandsäcken.
»Ist Milan da?«, fragte Torben und blickte ebenfalls hinüber. »Dann geh ich gleich mal auf ein Bier zu ihm.«
Frida wollte die Überraschung nicht verraten. »Ich glaube schon. Lass uns erst mal meine Eltern begrüßen«, sagte sie und blickte hinüber zum Wohnhaus. Ein altes Bettlaken flatterte einsam über der Haustür. Willkommen! hatte jemand draufgepinselt. Wahrscheinlich Cat. Die Ausreißerin war im Herbst bei ihnen gestrandet, und Frida hatte die Vormundschaft für das Mädchen übernommen, bis sie im nächsten Frühjahr achtzehn würde. Cat hatte einen alten Bauwagen, der hinten neben der Koppel auf dem Gelände des Paulsenhofs stand, ausgebaut und eine gemütliche Bleibe für sich darin hergerichtet. Seitdem füllte sie das Haus mit ihrem Lachen und machte sich auf dem Hof mit viel Arbeitseifer und kesser Zunge unverzichtbar.
Frida bewohnte ein Zimmer in dem riesigen Reetdachhaus, wo nun auch Torben für die nächsten Wochen oder Monate einziehen würde. Sie hatte ihn überzeugt, nicht in seine Hamburger Wohnung zurückzukehren, wo er auf sich allein gestellt wäre. Ihre Mutter Marta würde »den Jungen« gut bekochen, ihr Vater Fridtjof freute sich schon darauf, ihm Gesellschaft zu leisten und seine Lebensweisheiten mit ihm zu teilen, während Frida arbeitete. Und das Boxstudio, das Milan, Fridas Hamburger Boxtrainer, mit Jo, ihrer ältesten Freundin, die in der Hansestadt als Detektivin arbeitete, in der ehemaligen Scheune eröffnet hatten, war mittlerweile ein Treffpunkt für Jung und Alt. Dort würde Torben jederzeit Ablenkung finden. Und Freunde, die er dringender brauchte, als er es sich selbst eingestand.
Als sie Torbens Reisetasche auf die Schulter nahm, wirbelte plötzlich der braune Setter um ihre Beine. Der junge Hund sprang an dem Neuankömmling hoch und leckte ihm die Hände.
»Ist ja gut, Bruno!« Er sah sich um. »Wo liegt Arthur?«
Frida atmete tief durch. »Sein Grab ist hinter dem Pumpenhaus. Wir gehen morgen zu ihm, okay?«
Der uralte Hütehund war letzte Woche eines Morgens nicht mehr aufgewacht. Bruno war noch in Trauer, so wie die ganze Familie. Der junge Hund suchte seinen Freund, mochte kaum fressen, lag in Arthurs Körbchen und winselte leise. Umso schöner war es zu sehen, wie sehr er sich über Torbens Rückkehr freute.
Sie standen Spalier vor der Tür. Fridtjof und Marta, ihre Eltern, Jo, Milan und Cat, das neue Familienmitglied. Sogar Fridas Kollege Bjarne Haverkorn und seine Tochter Henni waren gekommen, um Torben zu begrüßen. Er warf Frida einen Blick zu, als müsse er Kraft sammeln, atmete tief durch, dann kam er auf sie zu.
Frida blieb am Auto stehen und beobachtete die fröhliche Willkommensszene. Das war genau das, was Torben jetzt brauchte. Familiären Halt, Freunde, die ihn von seinem Kummer ablenkten, und eine Chance auf Heilung. Die nächsten Wochen und Monate waren entscheidend für ihn. Und auch für ihre Liebe. Es würde sie viel Kraft kosten, neben ihrer beruflichen Herausforderung in der Mordkommission genug Zeit für Torben freizuschaufeln. Aber sie war stark, sie würde das schaffen!
Mit Torbens Tasche über der Schulter ging Frida zum Haus.
Schon in der Diele roch es nach Rehkeule. Ihre Mutter hatte einen Festtagsbraten zubereitet.
»Frida!«, rief ihr Vater. »Wo bleibst du denn? Das Essen wird kalt!«
Sie stellte die Tasche neben der Treppe ab, zog die Stiefel aus und musste lachen, als der Sand von den Socken rieselte. Es war Torbens Idee gewesen, an die Nordsee zu fahren, nachdem sie ihn in der Rehaklinik im Harz abgeholt hatte. Die Zeit am Wasser war großartig gewesen. Aber es hatte sie erschreckt, wie schnell seine gute Laune in eine Verstimmung umgeschlagen war. Ob sie mit einem Kollegen des sozialtherapeutischen Dienstes über ihn sprechen und sich Rat holen sollte?
Sie trat in die heimelige Wohnküche. Torben saß in der Mitte der gemütlichen Eckbank, Familie und Gäste hatten sich um ihn und den großen Holztisch geschart, und alle redeten durcheinander. Ihre Mutter setzte die gusseiserne Pfanne mit dem Braten in die Mitte.
Fridtjof hob sein Weinglas. Er hatte zur Feier des Tages einen guten Roten aus dem Keller geholt, obwohl er lieber Bier trank. Mit dem Messer schlug er ans Glas. Die Gespräche am Tisch verstummten.
»Torben, wir sind froh, dass du wieder da bist! Du kannst so lange hierbleiben, wie du willst. In diesem Haus wirst du immer ein Zuhause haben.« Er sah seine Frau an, die sich neben Henni auf die Bank gesetzt hatte. »Du bist der Sohn, den wir nie hatten.«
Alle hoben die Gläser. Auch Frida, die sah, dass Torben verstohlen eine Träne wegdrückte. Seit dem Unfall war er nah am Wasser gebaut. Und diese Begrüßung rührte ihn mehr, als er zugeben wollte. Er nahm das Weinglas mit der linken Hand und erhob es. Die rechte lag in seinem Schoß wie ein Stiefkind, das er am Essen nicht teilhaben lassen wollte. »Ich danke euch!« Er schluckte. »Auf euch!«
»Auf die Gesundheit!«, sagte Haverkorn.
»Auf die Gesundheit«, stimmten alle ein. Die Gläser klirrten beim Anstoßen.
»Kommst du mal kurz mit raus?« Nach dem Apfelkuchen, den es zum Nachtisch gegeben hatte, machte Haverkorn Frida ein Zeichen und stand auf.
Sie folgte ihm in die Diele und schloss die Tür. Lautes Gelächter erklang aus der Küche. Offenbar erzählte Fridtjof wieder seine humorvollen Geschichten.
»Was ist los?«, fragte sie und setzte sich neben Haverkorn auf eine Treppenstufe. »Ein neuer Fall?«
Er hatte sich sein Weinglas mitgenommen und trank einen Schluck. Da er nur einige Straßen weiter wohnte, konnte er mit seiner Tochter später nach Hause laufen. »Nein, es war ruhig. Unser Chef hat uns nur wieder ein paar der Altakten aufgedrückt.«
Frida mochte es, die alten Ermittlungsakten zu durchforsten. Cold Cases, ungelöste Altfälle, waren ihr Steckenpferd.
»Morgen verabschieden wir ja Henning. Hast du an die Blumen gedacht?«, fragte er. Aber Frida merkte, dass er noch etwas anderes auf dem Zettel hatte. Diese Frage hätte er auch vor ihrer Familie am Küchentisch stellen können.
»Ja klar, ich hole sie morgen früh ab.«
»Gut!« Ein langer Schluck. »Wahler hat mich heute beiseitegenommen. Wir bekommen einen neuen Kollegen.«
Frida war überrascht. »So schnell? Sonst brauchen die doch immer Monate, um Ersatz zu beschaffen.«
»Er heißt Leonard Bootz. Ex-SEK.« Er warf Frida einen eigenartigen Blick zu, den sie nicht deuten konnte. »Er hat mit Wahler einige Jahre im Kriminaldauerdienst gearbeitet. Es heißt, sie sind auch privat recht eng.«
»Er holt seinen Buddy nach?« Sie schnalzte leise mit der Zunge.
»Ich habe mich mal über den Flurfunk etwas über Bootz umgehört. Kenne da noch einen alten Hasen in Lübeck. Bootz ist kein unbeschriebenes Blatt. Die Gerüchteküche kocht über, wenn man seinen Namen reinwirft. Es heißt, er hätte das SEK damals ziemlich überstürzt verlassen. Da muss wohl was vorgefallen sein.«
»Und was?«
Haverkorn zuckte die Schultern, hob sein Glas und sah, dass es leer war. Er drehte es in der Hand. »Das weiß keiner so richtig. Als sich die Wogen geglättet hatten, hat er beim KDD unter Wahler angefangen.«
Frida atmete aus. »Wann kommt er?«
»Übermorgen.« Haverkorn stand auf und nahm das Glas.
»Wahler will keine Zeit verlieren. Aber bitte behalt es noch für dich.«
Frida erhob sich ebenfalls. »Na klar! Jetzt brauche ich was zu trinken.« Sie zeigte auf die Kellertür. »Was Hochprozentiges. Du auch?«
Haverkorn zögerte, dann nickte er. »Was soll’s! Ich nehme auch einen!«
Haverkorn hängte seinen Mantel an die Garderobe seines Büros und kippte das Fenster an. Jeden Morgen dieselben Handgriffe, seit fast dreißig Jahren. In knapp einem Jahr würde er dieses Büro das letzte Mal betreten. Heute war nicht er es, der verabschiedet wurde, sondern Henning Kuhns. Sie waren die beiden Ältesten hier im Team, die Silberrücken. Aber seit dem Weggang von Andreas Vollmer, der bis zum letzten Jahr die Mordkommission geleitet hatte, hatte sich das Team verändert. Wie winzige Haarrisse, die man mit dem bloßen Auge nicht sah, waren neue Eigenarten eingezogen, die mit dem Führungsstil von Vollmers Nachfolger Nick Wahler zu tun hatten. Sicher, er war ein versierter Kriminalist, hatte seine Führungsqualitäten vom Kriminaldauerdienst in Lübeck mitgebracht. Und er machte seinen Job gut. Aber ihm fehlte eine gewisse soziale Feinfühligkeit für seine Leute, die sein Vorgänger besessen hatte. Andreas Vollmer hatte die verschiedenen Charaktere gut zusammengehalten und dennoch Raum für Individualisten gelassen. Wahler wollte, dass alle in seinem Takt arbeiteten. Und die meisten hatten sich ihm schnell angepasst. Nur Frida scherte immer mal wieder aus. Und ihn, Haverkorn, zu ändern, versuchte der Chef gar nicht erst. Vielleicht spürte er auch, wie sehr das Team diesem alten Hasen vertraute. Wahler brauchte ihn, jedenfalls bis zu seiner Pensionierung.
Der Kriminalhauptkommissar sah auf den Haken an der Wand, an dem sein Wintermantel hing. Er ging hinüber, nahm ihn ab und hängte ihn über die Lehne seines Bürostuhles. Es wurde Zeit, ein paar der eingerosteten Angewohnheiten zu ändern.
In seinem Mailaccount waren ein paar neue Nachrichten eingegangen. Darunter eine von Björn Focke, mit dem er damals bei der Polizei angefangen hatte. Focke lehrte mittlerweile an der Bundespolizeiakademie in Lübeck. Wenn jemand etwas über den Neuen, Leonard Bootz, zu erzählen wusste, dann er.
Haverkorn öffnete die Mail.
»Ruf mich mal an, Gruß Björn«, stand kurz darin. Also wusste er etwas und wollte es nicht in einer E-Mail ausplaudern. Haverkorn wollte gerade zum Hörer greifen, als Frida hereinkam. Ob sie heute Morgen auch so einen schweren Kopf hatte wie er? Es war gestern natürlich nicht bei einem Rachenputzer geblieben. Fridtjof und Milan hatten mitgetrunken. Haverkorn war kurz vor Mitternacht schlafen gegangen und hatte das Bein rausstellen müssen, damit das Bett aufhörte, sich zu drehen.
»Morgen!« Sie legte einen in Papier eingewickelten Blumenstrauß auf den Schreibtisch, sah ihn an und stockte. »Alles klar bei dir?«
»Ja, warum?«
»Dein Mantel!«, sagte sie.
Er musste lachen. Sie hatte es tatsächlich bemerkt. »Mir war danach, etwas anders zu machen.«
»Da hab ich eine bessere Idee! Frag doch Wahler mal, ob ich ab nächste Woche Urlaub nehmen kann. Ich glaube, Torben braucht mich jetzt.«
Haverkorn klickte die Mail weg und sicherte seinen Computer. Er stand auf. »Das kannst du selbst machen, bist alt genug. Komm, wir müssen rüber.«
Auf dem großen Konferenztisch standen Platten mit belegten Brötchen. Haverkorn entdeckte einen Hackfleischigel und gefüllte Eierhälften. Beides hatte er seit den Achtzigern nicht mehr gegessen. Er klopfte Henning Kuhns auf die Schulter. »Ein lachendes und ein weinendes Auge?«, fragte er seinen Kollegen.
Der fuhr sich durch sein weißes Haar. »Geheult wird erst zu Hause. Bin froh, dass ich endlich Zeit habe, mit meiner Frau und mit dem Wohnmobil nach Dänemark zu fahren. Das verspreche ich ihr seit zwanzig Jahren.«
Der Konferenzraum füllte sich. Ihre Kollegin Ricarda verteilte Kaffee. Klaus Behrens ließ den Korken einer Sektflasche ploppen. »Alkoholfrei«, sagte er, als er Haverkorns überraschten Blick sah. »Wahler wollte wenigstens was zum Anstoßen haben.«
Wie aufs Stichwort betrat der Leiter der Mordkommission den Raum. Sein Anzug saß wieder tadellos auf Taille. Das hemdsärmelige Auftreten seines Vorgängers Andreas Vollmer würde er wohl nie übernehmen. »Moin zusammen!« Er sah zu Frida, gab ihr ein Zeichen.
Sie nickte und wies auf den Blumenstrauß, der hinter ihr in einer Vase stand.
»Gut, fangen wir an!« Er nahm einen der Plastikbecher mit Sekt vom Tisch. »Henning, heute ist es so weit. Du verlässt unser Team und den Polizeidienst.«
Jemand stieß Henning in den Rücken, und er trat einen halben Schritt nach vorn.
»Ich will dich und euch nicht mit einer trockenen Rede langweilen. Die kann gern noch unser großer Chef halten, der in einer halben Stunde zu uns stößt. Ich möchte mich bei dir für deinen Einsatz in den letzten vierzig Jahren bei der Kripo bedanken. Wir werden auf einen guten Ermittler und viel Know-how verzichten müssen.«
»Jawoll!«, flüsterte es hinter Haverkorn.
»Aber du hast dir deinen Ruhestand mehr als verdient. Heben wir also die Gläser …«
Ein Lachen in den hinteren Reihen, als alle die Plastikbecher hochhielten. Henning wischte sich verlegen ein Auge und prostete in die Runde.
Das Telefon auf dem Konferenztisch begann, eine künstliche Melodie in den Raum zu flöten. Haverkorn stand am nächsten dran und nahm ab. Es war der Lagedienst. Er hörte kurz zu. »Wir kommen! Schick mir noch mal die Adresse.«
Alle Augen waren auf ihn gerichtet. »Ein Einsatz!«, sagte er und stellte den Becher, aus dem er noch nicht getrunken hatte, zur Seite. »Ein strangulierter Mann.«
»Suizid?«, fragte Fridas Kollegin Anja Schlüte.
»Wissen wir noch nicht.« Er sah zu Nick Wahler, der mit seinem Handy telefonierte. Wahrscheinlich war er ebenfalls angerufen worden.
Haverkorn, der noch nicht gefrühstückt hatte, nahm sich ein belegtes Brötchen. Seine Kollegen bedienten sich ebenfalls, während Wahler an der Tür telefonierte. Er legte auf. »Okay, Bjarne, Frida, Anja und Klaus. Ihr fahrt mit mir raus. Tut mir leid, Henning. Wir müssen das Frühstück und die Rede von Hanno Tehfs verschieben.« Er verließ den Konferenzraum. Der Leiter der Bezirkskriminalinspektion, der BKI, würde es verschmerzen.
Henning Kuhns stellte sich neben Haverkorn. »Wir sehen uns doch hoffentlich heute Abend im Irish Pub?«
»Deine Abschiedsparty schwänzen wir ganz sicher nicht!«
Kuhns klopfte ihm auf die Schulter und wandte sich dem Buffet zu.
Frida kam zu Haverkorn, biss von einem Brötchen ab und sagte kauend: »Den Urlaub kann ich wohl knicken.«
†
Der Einsatzort, an den der Lagedienst sie geschickt hatte, befand sich auf einem Feldweg zwischen zwei Ortschaften. Das Gelände stieg hier merklich an, und Frida erkannte, dass sie nun auf die Geest fuhren, einen dem fruchtbaren Marschland vorgelagerten, eher kargen Landstrich, über dem dichte Nebelschwaden schwebten. Typisch für einen feuchten Wintermorgen wie heute. Sie konnte keine hundert Meter weit sehen, weshalb sie nicht genau wusste, wann sie den Einsatzort erreichen würde. Sie ging vom Gas, sah kurz darauf den Streifenwagen, der den Weg für den Verkehr versperrte, und bremste ab. Neben ihr saß Haverkorn, im Heck ihre Kollegin Anja. Nick Wahler und Klaus Behrens hatten das zweite Einsatzfahrzeug genommen. Es war immer gut, wenn ein Teil der Truppe unabhängig vom anderen blieb.
Sie stoppte, als der Kollege der Schutzpolizei einen Arm hob, ließ die Schreibe herunter und hielt ihm ihren Dienstausweis unter die Nase. »Paulsen, Schlüte und Haverkorn, Mordkommission Itzehoe!« Er winkte sie durch, und sie parkte an der Seite des Weges, wo bereits der Transporter der Kriminaltechniker stand.
Als sie ausstieg, entdeckte sie die Männer von Horst Lüttje, dem Leiter der KTU, in ihren weißen Overalls, die sich im Nebel kaum ausmachen ließen. Sie streifte den Overall über und ließ Nick Wahler den Vortritt, der sich als Leiter der Mordkommission von einem der Streifenpolizisten noch einmal erklären ließ, wie der Tote aufgefunden worden war. Offenbar hatte ein Jogger am Morgen den Weg benutzt und den Mann an einem der Bäume hängen sehen. Durch den Nebel war er fast neben ihm gewesen, als er ihn entdeckt hatte.
Frida zog Einweghandschuhe an und ging hinüber. Sie sah dem Leichnam entgegen und rüstete sich, dem Tod ins Auge zu sehen. Ob es irgendwann eine Art Routine geben würde, wenn sie zu einem Mordopfer kam? Würde sie abgebrühter werden und nicht jedes Mal diesen Druck in der Magengrube spüren, weil es sie emotional anfasste? Sie ließ sich nichts anmerken, schaute verstohlen in die Gesichter ihrer Kollegen. Anja schien gerade in ihren Gedanken weit weg zu sein. Haverkorn hatte tiefe Augenringe, was sicherlich der langen Nacht und dem Obstschnaps geschuldet war. Wahler warf einen kurzen Blick auf den Leichnam und wandte sich an Lüttje, um den Ablauf der Tatortarbeit zu besprechen. Er hatte keine Zeit zu verlieren, wollte sofort über Ergebnisse informiert werden, ohne den Toten länger zu betrachten. Ein neuer Fall, ein Job. Für Sentimentalitäten war bei Wahler kein Platz.
»Morgen!« Frida grüßte Lüttje und ein paar der Kriminaltechniker und ging weiter. Sie blieb abseits des Baumes stehen, an dem der Tote hing, und betrachtete ihn. Es war der erste Erhängte für sie, seit sie bei der Mordkommission angefangen hatte. Damals in Hamburg, während ihrer Jahre auf Streife, hatte sie natürlich schon einige Menschen gesehen, die sich erhängt hatten – das war nicht neu für sie. Vom Kriminalistikstudium wusste sie, dass der Leichnam keinesfalls vorschnell abgenommen werden durfte, sondern bis zum Ende der Befundaufnahme und Spurensicherung in dieser Position verbleiben musste. Der Strick schien synthetisch zu sein, wie man ihn in jedem Baumarkt kaufen konnte. Darum würden sich die Kollegen der SpuSi später kümmern.
Der Mann war Anfang bis Mitte fünfzig gewesen. Sein Kopf war leicht zur Seite gekippt, weil der Knoten zwar am Hinterkopf, aber nicht mittig, sondern hinter dem linken Ohr lag. Der Fachbegriff aus dem Lehrbuch fiel ihr ein. Diese Hängesituation nannte man »Atypisches Erhängen«. Das war der Fall, wenn sich der Knoten vorn oder seitlich befand, was weitaus häufiger vorkam als beim »Typischen Erhängen« mit dem Aufhängepunkt in der Mitte des Nackens. Die Füße des Mannes schwebten etwa fünfzig Zentimeter über dem Boden. Um den Hals des Toten hing ein Pappschild, aber sie konnte nicht erkennen, was auf der Vorderseite stand, weil der Wind es verdreht hatte. Eine Steighilfe fehlte. War der Tote mit dem Seil um den Hals auf den Baum geklettert und gesprungen?
»Weiß man schon, wer das ist?«, fragte Frida Haverkorn, der neben sie trat.
Er sah nach oben, schien ebenfalls zu überlegen, was für eine Überraschung das Pappschild noch zu bieten hatte. »Nein, bisher nicht. Der Jogger, der ihn gefunden hat, kennt den Mann nicht. Aber er ist auch erst kürzlich zugezogen.« Er verharrte nachdenklich neben Frida, dann fragte er einen der Kriminaltechniker: »Könntet ihr das Schild mal umdrehen?«
Der Mann im weißen Overall ging zu dem Erhängten und streckte sich nach oben. Mit den Fingerspitzen erreichte er das Pappviereck, und beim zweiten Versuch konnte er es wenden.
»Scheiße!«, entfuhr es Frida, als sie die handschriftliche Nachricht darauf entzifferte.
Justitia ist blind! Ich gestehe, im Prozess gegen Cord Johannsen wissentlich falsch ausgesagt zu haben.
»Nick, wir haben hier was«, rief Haverkorn dem Leiter der Mordkommission zu, der sofort das Gespräch mit Horst Lüttje beendete. Er kam zu ihnen, blieb neben Haverkorn stehen und las die Buchstaben, die mit einem Filzstift aufgemalt worden waren.
»Prozess gegen Cord Johannsen. Sagt das jemandem was?«, fragte er.
Anja reagierte nicht. Frida zuckte die Schultern. Sie war zu kurz dabei, um alte Fälle wie diesen zu kennen. Klaus sah zu Haverkorn, um ihm die Frage zu überlassen.
Der Kriminalhauptkommissar atmete hörbar aus. »Anfang der Zweitausender hat der Bauer Cord Johannsen an einem Wintermorgen seine Familie mit einem Jagdgewehr erschossen. Seine Frau und zwei Söhne. Nur der Jüngste hat überlebt, weil er in die Güllegrube des Schweinestalls gesprungen ist. Ich bin zum Tatort gerufen worden.« Er schluckte, und seine Augenringe wirkten plötzlich noch tiefer. »Ich habe selten so viel Blut in einem Raum gesehen. Allen drei Opfern war aus kurzer Distanz in den Kopf geschossen worden.«
»Es gab einen Überlebenden?«, fragte Frida ungläubig.
»Das haben wir erst viel später bemerkt. Ein Kriminaltechniker hat den Jungen in der Güllegrube entdeckt. Er war halb bewusstlos von den Gasen, völlig unterkühlt und stank bestialisch. Wahrscheinlich hat ihm diese Kloake das Leben gerettet!«
»Und Johannsen ist dafür verurteilt worden?«
Haverkorn versuchte, sich an den Prozess zu erinnern, in dem er als Zeuge der Anklage ausgesagt hatte. »Er hat eine lebenslange Freiheitsstrafe bekommen. Wegen der besonderen Schwere der Schuld. Der kommt auch nach fünfzehn Jahren nicht raus.«
»Dann haben wir es hier mit einem Zeugen zu tun, der damals ebenfalls im Prozess ausgesagt hat? Erkennst du ihn?«, fragte Klaus.
Haverkorn schüttelte den Kopf. »Das ist zu lange her. Vielleicht, wenn wir den Namen ermitteln. Momentan wüsste ich nicht, wer das sein soll. Warum er im Prozess gelogen haben sollte.« Er sah sich um und rief dem Leiter der Kriminaltechnik zu: »Habt ihr seine Taschen schon durchsucht?«
»Längst passiert!«, sagte Lüttje, der zu ihnen trat und an der Kapuze des Overalls nestelte, bis sie richtig saß. »Keine Papiere, nur ein Feuerzeug und ein paar Zigaretten.«
Haverkorn nickte und sah dem Toten ins Gesicht. Er wollte etwas sagen, zögerte und trat näher. Schüttelte den Kopf. »Nein, keinen blassen Schimmer, ob ich ihn schon mal gesehen habe.«
Frida suchte in ihrem Wollmantel nach dem Smartphone, um heimlich ein Foto vom Gesicht des Toten zu machen. Erlaubt war das nicht, aber es musste ja niemand erfahren. Vielleicht erkannte ihn ihr Vater, sodass die Identifikation schneller voranging. In ihren Taschen fand sie das Handy nicht, und sie lief zum Wagen, wo sie es zuletzt in die Mittelkonsole gelegt hatte.
Frida streifte den Overall von den Schultern und ließ ihn ab der Taille herunterhängen. Dann kroch sie unter dem Flatterband hindurch, mit dem die Schutzpolizei den Fundort der Leiche abgesperrt hatte. Sie hörte ein Motorengeräusch. Ein Fahrzeug kam mit ziemlicher Geschwindigkeit durch die Nebelschwaden den Weg hochgerast, bremste hart und blieb neben dem Transporter der KTU stehen. Die Tür des schwarzen Jeep Cherokee öffnete sich, ein Mann stieg aus.
Frida blieb stehen, musterte ihn. Er war Mitte dreißig, nicht viel älter als sie selbst. Ausgewaschene Jeans, Hoodie, schwarze Lederjacke. Ein dunkler Sechstagebart, der seine markante Kinnpartie betonte. Sie streckte ihre Schultern durch. Wer war das? Ein Neuer bei der Presse?
Da niemand hier war, um den ungebetenen Gast wegzuschicken, ging sie auf ihn zu, zog ihren Dienstausweis aus der Jackentasche und hielt ihn hoch. »Sie können hier nicht weiter!«
Der Fremde sah sie kurz an. »Sagt wer?« Er ging an ihr vorbei.
»Paulsen, Kripo Itzehoe. Das ist ein Tatort!« Sie lief ihm hinterher, konnte jedoch kaum Schritt halten. Er war an der Absperrung, hob das Flatterband hoch.
»He!«, rief sie.
Er drehte sich um. »Fundort! Kein Tatort!«
Frida sah ihn völlig perplex an. »Was?«
Der Mann senkte die Stimme, flüsterte fast. »Ob das hier ein Tatort ist, kannst du noch gar nicht wissen.« Er zog etwas aus seiner Lederjacke. Einen Dienstausweis. »Bootz, Kripo Itzehoe. Ich bin dein neuer Kollege.« Er ließ sie stehen.
Frida fummelte wütend ihren Ausweis in die Tasche. Was für ein arrogantes Arschloch! Sie ging ihm nach.
»Leo! Gut, dass du da bist«, hörte sie Wahler sagen.
Sie stellte sich neben Haverkorn und versuchte, ruhiger zu atmen. »Der Neue?«, fragte Haverkorn und sah hinüber. »Gleich rein ins Geschehen.« Er legte Frida seine Hand auf den Arm, schüttelte leicht den Kopf.
Nein, er musste nichts sagen. Sie würde professionell mit Bootz umgehen. Aber dass er sie wie eine blutige Anfängerin zurechtgewiesen hatte, wurmte sie mehr, als sie zugeben wollte. Sie kannte den Unterschied zwischen Fund- und Tatort, war aber davon ausgegangen, dass sie einen Laien vor sich hatte.
Wahler und Bootz standen vor dem Leichnam. Ihr Chef gestikulierte, der Neue stand mit verschränkten Armen neben ihm und schwieg, hörte aber aufmerksam zu. Nun schienen sie endlich wahrzunehmen, dass noch andere Kollegen vor Ort waren.
Wahler rief sie zusammen. »Leonard ist einen Tag früher da als geplant. Er ist eben immer für eine Überraschung gut!«
Anja murmelte halbherzig etwas, schaute kaum auf.
Als Bootz die Hand ausstrecke, um sie zu begrüßen, ließ Frida die Hände demonstrativ in den Taschen ihres Parkas. Ein angedeutetes Nicken war alles, was sie ihm zugestand. Sie wich seinen Augen nicht aus, in denen nicht Arroganz, sondern Desinteresse lag. Was sie noch wütender machte.
»Wir haben uns ja schon vorgestellt.« Der Neue wandte sich ab und schüttelte Horst Lüttje die Hand. Frida ärgerte sich über seine überhebliche Art. Ihr war klar, dass die Claims im Team ab heute neu abgesteckt werden mussten.
Die Eibrötchen vom Morgen sahen nicht mehr sehr einladend aus. Vom Hackfleischigel lagen nur noch ein paar Salzstangen auf dem Teller. Haverkorn nahm das letzte Brötchen mit Kochschinken, dessen Rand sich bereits zu wölben begann, und biss hungrig hinein. Es war genießbar, und er war froh, dass er nicht noch mal losgehen musste, um sich etwas Essbares in der Kantine zu besorgen.
Sie hatten die letzten Stunden am Fundort des Erhängten verbracht. Die Rechtsmedizinerin Kerstin Brink, eine Kollegin von Torben, war recht schnell zu der Überzeugung gelangt, dass sie es nicht mit einem Suizid zu tun hatten. Sie hatte am Handgelenk Spuren von Handfesseln entdeckt, die darauf hindeuteten, dass das Opfer mit Zwang zu den Bäumen auf der Geest gebracht worden war. Der Obduktion am späten Abend würde Leonard Bootz beiwohnen, der es gar nicht hatte abwarten können, in seinem neuen Job loszulegen.
Der Neue war ehrgeizig, daran bestand für Haverkorn kein Zweifel. Und Bootz hatte seine eigene Agenda. Schnell hatte er klargemacht, dass hier für ihn nicht der Teamgedanke zählte, sondern die Erfolge in den Ermittlungen. Ehrgeiz war gut, wenn er in gesundem Maße gelebt wurde. Bei Bootz war er sich da noch nicht sicher.
Haverkorn wischte sich die Finger an einer Papierserviette ab und überlegte, ob er dem Leiter der Mordkommission anbieten sollte, den Neuen in sein Büro zu setzen. Aber die Feindseligkeit, die er zwischen Frida und ihm gespürt hatte, würde eine Eingewöhnung des Neuzugangs sicherlich nicht erleichtern. Was war zwischen den beiden vorgefallen, dass Frida sofort auf Krawall gebürstet gewesen war?
Er verließ den Besprechungsraum und lief an den offenen Büros vorbei, aus denen Stimmen und Tastaturklappern in den Gang schwappten. Wahlers Bürotür war wie immer geschlossen. Er hörte seine gedämpfte Stimme, danach die des Neuen. Wahler lachte. Klang eher nach einer privaten Unterhaltung. Haverkorn ging weiter und bog in sein Zimmer ab, wo Frida über einer Altakte hockte. Einen Stapel davon hatten sie immer auf dem Sideboard liegen.
Er blickte ihr über die Schulter und blieb stehen. Die Tatortfotos vom Johannsenhof, über die Frida sich beugte, erkannte er sofort. Die »Blutfotos« hatte er sie im Stillen genannt. Die Bilder dieses Wintermorgens lebten in seinem Kopf auf, als hätte er gestern das Bauernhaus der Johannsens betreten. Der vor Blut schwimmende Küchenboden, der ihn damals hatte an der Tür zurückweichen lassen.
Seine Geruchsnerven schienen einen Flashback zu haben, denn er hatte plötzlich den metallischen Geruch von Blut und, noch schlimmer, von Fäkalien in der Nase.
Haverkorn stützte sich am Sideboard ab, weil sein Magen flatterte. Er war damals Mitte vierzig gewesen, ein erfahrener Ermittler, aber dennoch nicht vorbereitet auf diesen Ort des Grauens.
Meret Johannsen hatte direkt an der Tür gelegen. Sie hatte der Täter als Letzte niedergestreckt. Die Frau hatte mitansehen müssen, wie ihre beiden Söhne vor ihr mit Kopfschüssen getötet worden waren. Der jüngere Bruder hatte in einer Ecke gekauert, zwischen zwei Küchenschränken, wo er offensichtlich Schutz gesucht hatte. Der Ältere lag mit dem Oberkörper unter dem Tisch, wo er ein Versteck vor dem bewaffneten Amokläufer gesucht, aber nicht gefunden hatte.
Es war schlimm gewesen für das gesamte Team, dieses Bild des Massakers zu verarbeiten. Der sozialpsychologische Dienst hatte an den Tagen danach in Noteinsätzen Erste Hilfe geleistet, um die Kollegen zu betreuen, denen dieser Fall über die Maßen zugesetzt hatte.
Ein Zeuge hatte später berichtet, die Schüsse gehört zu haben. Ein Knall nach dem anderen, der die Krähen in den Bäumen aufgeschreckt hatte, wo er gerade mit dem Hund unterwegs war. Drei Schüsse, innerhalb weniger Sekunden. Es war schnell gegangen und eiskalt ausgeführt. Drei Menschen wurde aus kurzer Distanz in den Kopf geschossen.
Nur der Jüngste, Thies, hatte überlebt. War er draußen gewesen? Oder hatte er aus der Küche fliehen können, um sich in der Güllegrube des Schweinestalls zu verstecken?
Sie würden es nie erfahren. Thies war so traumatisiert gewesen, dass er danach jahrelang kein Wort mehr sprach. Hatte er dem Mörder seiner Mutter und der beiden Brüder ins Gesicht gesehen?
War dieser mit dem Gewehr auf den Jungen zugelaufen, weshalb Thies in einer Kurzschlussreaktion in die Güllegrube gesprungen war? Dahin, wo ihm der Täter nicht folgen würde?
Ein seltsamer Laut kam aus Fridas Richtung. Weinte sie etwa?
»Alles okay?«, fragte Haverkorn und legte ihr eine Hand auf die Schulter.
Sie blickte zu ihm auf. Er sah keine Tränen in ihren Augen, sondern Wut und Abscheu. »Wie krank muss ein Mensch sein …?« Sie beendete den Satz nicht, sondern schlug die Akte zu. »Er hat gekriegt, was er verdient hat. Lebenslang! Ein Mörder wie er darf nicht nach fünfzehn Jahren rauskommen!«
Haverkorn ging um den Tisch und setzte sich. Sein Mantel war von der Stuhllehne gerutscht. Er hängte ihn wieder darüber. »Er hat immer seine Unschuld beteuert«, sagte er nachdenklich. »Obwohl die Beweislast erdrückend war. An seinen Händen waren Schmauchspuren.« Haverkorn sah Frida an, die ihm gespannt zuhörte. »Und drei Zeugen haben ausgesagt, dass Johannsen nach der Tat zum Frühschoppen in die private Jagdhütte von einem der Zeugen gekommen ist. Er war in desolatem Zustand, hatte vorher schon einige Biere intus, weil er sich am Morgen mit seiner Frau gestritten hatte, wie er sagte. Er habe geweint und ständig wiederholt, dass er es ordentlich verbockt habe und selbst die Schuld an dieser Katastrophe trage! So was in der Art.«
»Scheiße!«, sagte Frida. »Und die Tatwaffe?«
»Die wurde nie gefunden. Johannsen beteuerte später, sie sei aus seinem Wagen gestohlen worden, den er immer offen auf dem Hof stehen ließ.«
»Eine Schutzbehauptung.«
»Ja …«, sagte Haverkorn und versuchte, sich an mehr Details von damals zu erinnern. »Warum dieses Geständnis auf dem Pappschild? Was soll das?«
»Wir wissen ja nun von meinem Vater, dass es sich bei dem Erhängten um Henk Visser handelt.«
»Es gibt niemanden in der Marsch, den Fridtjof nicht kennt, oder?«
Sie hatte Haverkorn erzählt, dass ihr Vater den Toten anhand des Fotos erkannt hatte. »Visser war mit ihm im Jagdverein«, sagte Frida. Sie blätterte wieder in der Akte. »Die müssten endlich mal eingescannt werden.« Mit flinken Fingern durchforstete sie die Seiten und blieb bei den Zeugenvernehmungen hängen. »Visser hat noch am selben Tag ausgesagt. Dann waren da noch Henner Schwartz und Jens Markmann.« Sie überflog die Seiten, während Haverkorn seinen Computer startete, um die neuen E-Mails zu lesen. Er sah die Nachricht seines Kollegen Björn Focke, den er in einer ruhigen Minute anrufen würde, um zu hören, was er über Leonard Bootz wusste.
»Vielleicht sollten wir bei den beiden anfangen. Schwartz und Markmann.«
Haverkorn nickte. »Klaus ist mit Ricarda und dem Kriseninterventionsteam unterwegs zur Familie des Toten, um die Todesnachricht zu überbringen. Ich habe sie angewiesen, ein Schriftstück von ihm für einen Handschriftenvergleich mitzubringen.«
»Vielleicht sind sie auch in Gefahr«, sagte Frida nachdenklich. »Wenn alle drei Zeugen gegen Johannsen ausgesagt haben, sollten wir sie nicht warnen?«
Haverkorn nickte. »Ich spreche mit Anja. Sie soll die Adressen mal raussuchen.«
»Warum hat Wahler zugestimmt, dass Bootz zur Obduktion geht? Der kann erst mal mit ein paar Botengängen anfangen.« Frida warf ihren Stift aufs Papier. »Kommt hier an und reißt sofort den Fall an sich.« Sie atmete tief durch.
Haverkorn zwinkerte, um die Müdigkeit loszuwerden. Er hätte am Vorabend auf den Schnaps verzichten sollen. »Leonard ist nun ein Teil des Teams. Du wirst mit ihm klarkommen müssen. Denk dran, dass ich in einem Jahr weg bin.«
»Erinnere mich nicht daran!« Sie wischte den Gedanken fort und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Tut mir leid, dass ich so miese Laune habe. Torben ist schlecht drauf.« Sie ließ die Arme sinken. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen, seit er zurück ist. Und dann lässt mich so ein arroganter Idiot auflaufen wie eine blutige Anfängerin. Da ist mir die Sicherung durchgebrannt.«
»Verstehe ich. Lass dich nicht provozieren.« Er zog eine Schreibtischschublade auf, nahm eine Schachtel Aspirin heraus und drückte eine Tablette aus dem Blister. »Du musst jetzt Geduld haben mit Torben. Das ist wahrscheinlich die schlimmste Krise seines Lebens. Er weiß nicht, ob er je wieder in seinem Job arbeiten kann. Das überlagert alles andere.«
»Wir sind doch alle für ihn da! Und der Physiotherapeut hat ihm in der Rehaklinik gesagt, dass es nicht unmöglich ist, wenn er dranbleibt und die Hände trainiert.«
Haverkorn legte die Pille auf die Zunge und spülte mit Wasser nach. Sein schlechtes Gewissen kam wieder hoch, weil er es gewesen war, der Torben dieser gefährlichen Situation ausgesetzt hatte. Aber sie hatten sich längst ausgesprochen, und der Rechtsmediziner hatte mehrfach betont, dass es seine eigene Entscheidung gewesen war, sein Handeln, das zu diesem schweren Unfall geführt hatte. »Versuch, dich in seine Lage zu versetzen. Alle meinen es gut mit dir, aber es gibt keine Sicherheit, ob du wieder gesund wirst. Ob du dein altes Leben zurückbekommst. Diese Zweifel wird er den ganzen Tag in seinem Kopf wälzen.«
Frida schwieg, schien seine Worte abzuwägen. »Kann ich die Akte zu Hause lesen?«
»Klar! Ich sag dir Bescheid, wenn wir den Obduktionsbericht haben.«
Frida zog ihren Parka über, nahm die Akte und ging zur Tür. Dort drehte sie sich nochmals um. »Was ist mit Hennings Abschiedsparty im Irish Pub?«
»Mist, habe ich total vergessen!« Er rollte mit dem Stuhl zurück und hatte plötzlich Bilder von Tabletts mit Schnapsgläsern vor Augen. Dann erinnerte er sich, dass Henning davon gesprochen hatte, dass es ein irisches Buffet geben würde. Das Hungergefühl war zurück und stärker als seine Kopfschmerzen. »Fahr du zu Torben! Ich verabschiede Henning in den Ruhestand.«
†
Es war kalt geworden, und ein paar Flocken tanzten über den Hof, als Frida zu Hause ankam. Liegen bleiben würde der Schnee nicht. Für morgen waren schon wieder Plusgrade angesagt. Frida stieg aus und sah hinüber zur Boxhalle. Es standen vier Pkw davor, Milan hatte gut zu tun. Sie ging ins Haus, aber ihre Eltern und der Setter waren nicht da. Vielleicht drehten sie eine abendliche Runde. Frida stieg die knarrenden Treppenstufen nach oben und lauschte. So still war das Haus schon lange nicht mehr gewesen. Auch Torben war nicht im Zimmer. Frida zog sich um und ging in die Küche. Das Geschirr vom Abendessen stand auf dem Tisch, als wären alle überstürzt aufgebrochen. Sie machte sich ein Käsebrot, nahm sich einen Apfel aus der Schale und ging nach draußen. Entweder war Torben im Stall bei Hetfield und Cobain, ihrem Hengst und dem Esel, denen er gern Gesellschaft leistete, oder er war hinüber ins Boxstudio gegangen.
Sie öffnete die Stalltür und betätigte den Lichtschalter. Ein beruhigender Duft nach Stroh und Leder strömte ihr entgegen, den sie schon in ihrer Kindheit geliebt hatte. Sie gab dem Esel den angebissenen Apfel, kraulte ihm die langen Ohren und ging zu ihrem Hengst in die Box. Seit ihrem zwölften Geburtstag stand er hier und spürte sofort, in welcher Stimmung Frida war. Heute drehte er kurz den Kopf zu ihr, bewegte erfreut die Ohren und fraß weiter. Mit beiden Händen fuhr sie über sein Fell, nahm Striegel und Bürste vom Haken und begann, mit langem Strich über das Fell zu streichen. In der Box nebenan donnerte Cobain gegen die Wand. Auch er wollte Aufmerksamkeiten, benahm sich wie ein eifersüchtiger Liebhaber. Sie redete beruhigend auf den Esel ein, bis er aufhörte zu randalieren. Dann erzählte sie den beiden von ihrem Tag. Oft half ihr das, das Erlebte zu verarbeiten. Aber die Wut im Bauch wegen Leonard Bootz blieb.
»Euer Neuer ist so ein Arschloch?« Cat lehnte plötzlich in der Tür, ein schiefes Grinsen im Gesicht. Sie hatte das Mädchen gar nicht kommen gehört. »Torben ist bei Milan«, sagte sie und blies sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Er wartet auf dich.«
»Ist Jo auch da?«, fragte Frida und hängte den Striegel zurück an den Nagel.
»Nö, die hat gerade einen wichtigen Auftrag in Hamburg. Milan trainiert und schmeißt gleichzeitig das Büro.« Sie lachte. »Sein Schreibtisch sieht aus wie nach einer Explosion. Na ja, morgen helfe ich ihm ein bisschen. Er ist nicht so das Computergenie.«
Frida schloss die Box hinter Hetfield und gab dem Esel noch ein paar Streicheleinheiten. »Drehst du mit den beiden tagsüber mal ein paar Runden?«
»Klar doch!« Cat heftete sich an ihre Fersen. »Gleich nach dem Frühstück!«
Als Frida über den Hof lief, auf dem sich eine zarte Schneedecke gebildet hatte, hörte sie das dumpfe Schlagen der Boxhandschuhe auf dem Leder der Sandsäcke. Ein Geräusch, das nach Leben klang. Nach Sport und der Gesellschaft von Freunden. Das sie hier auf dem Hof nicht mehr missen wollte.
Sie zog die hohe Schiebetür der Halle auf, ließ Cat hinter sich eintreten und schob sie wieder zu. Zwei Boxer standen an den Sandsäcken und ließen ihre Fäuste fliegen. Ihre Körper glänzten vom Schweiß im Licht der Strahler. Ein anderer lag auf der Trainingsbank und stemmte Gewichte.
Milan und Torben standen am Boxring und sahen zwei jungen Männern beim Sparring zu.
Der Kroate kommentierte den Übungskampf, Torben hatte die Hände auf die Seile gelegt und sah fasziniert zu.
Frida ging zu den Männern und stellte sich zwischen sie. Cat war in die Couchecke neben dem Büro abgebogen, lümmelte in einem Sitzsack und tippte auf ihrem Smartphone herum.
»Hi, du.« Torben gab ihr einen flüchtigen Kuss und wandte sich wieder dem Ring zu.
»Keine Tiefschläge, Nico!«, brüllte Milan. »Und Sascha, bleib in der Grundstellung! Beine auseinander, du tänzelst wie eine Ballerina!«
»Wie war dein Tag?«, fragte Torben und versuchte, sie anzusehen und trotzdem dem Kampf zu folgen.
»Ein neuer Fall, ein Erhängter. Deine Kollegin Kerstin Brink war draußen.«
Er sah den beiden Boxern zu und reagierte nicht.
War es wieder falsch gewesen, seine Kollegin zu erwähnen?
»Sie ist sehr akribisch, aber gut!«, sagte er schließlich. »Wer geht zur Leichenschau?«
Frida atmete aus. »Unser neuer Kollege, Leonard Bootz.«
Die Sohle eines Sportschuhs quietschte, hinter ihr prügelte jemand auf einen Punchingball ein. Milan schrie ein weiteres Kommando in den Ring. Er wirkte genervt, weil die Jungs sich nicht an seine Anweisungen hielten.
Trotz dieses Lautstärkepegels schien Torben Fridas Verstimmung bemerkt zu haben. Er wandte sich ihr zu, suchte ihren Blick. »Was ist los?«
Sie zuckte die Schultern. »Bootz ist ein Idiot. War früher beim SEK und ist ganz dick mit Wahler. Der hat mich heute behandelt wie eine blutige Anfängerin.«
»Du wirst ihm schon das Gas einstellen«, sagte er lachend und legte ihr seinen Arm um die Hüfte. »Komm, lass uns rübergehen. Deine Eltern warten sicherlich schon.«
Torben gab Milan mit Handzeichen zu verstehen, dass er sich verabschiedete. Der Boxtrainer hob seine Hand und wandte sich wieder den beiden Frischlingen im Boxring zu.
Cat blieb noch. Sie würde Milan später helfen, aufzuräumen und sauber zu machen. So verdiente sie sich ein wenig Taschengeld, bis im Sommer ihre Lehre im Obstbau begann.
Frida trat hinter Torben in den kalten Winterabend. Es schneite immer noch. Ganz still war es hier draußen, kein Laut auf dem Hof. Die Strahler ließen die Schneedecke glitzern. Sie hielt ihr Gesicht gen Himmel und beobachtete das Tanzen der Flocken. Torben umfasste sie von hinten.
»Morgen Vormittag kommt ein Physiotherapeut in den Boxclub«, sagte er. »Ein Freund von Jo aus Hamburg. Er will mit Milan für mich ein Trainingsprogramm erstellen.«
Frida drehte sich um, sah ihn an. »Ein Trainingsprogramm? Das ist ja super!«
»Da kann ich jeden Tag was machen, und Milan unterstützt mich dabei. Tugay, der Physiotherapeut, kommt dann zweimal die Woche her, um mir neue Übungen zu zeigen.«
Sie umarmte ihn und gab ihm einen Kuss. Ein tägliches Übungsprogramm würde Torben aus seiner Lethargie holen. Frida konnte es nicht fassen.
»Du kannst mich wieder loslassen«, sagte er lachend. Sie liefen Hand in Hand über den Hof. Neben der Eingangstür lehnte ein Schneeschieber. Er blieb davor stehen. »Ich kann deinem Vater noch nicht mal mit dem Schnee helfen.«
»Der taut morgen schon wieder weg. Und in ein paar Wochen …« Sie sprach es nicht aus, weil sie ihn nicht unter Druck setzen wollte.
»Wenn meine Rechte nicht mehr mitmacht, steige ich bei Milan und Jo ein. In den Boxhandschuhen brauche ich die Finger nicht.« Torben lachte und zog sie ins Haus.
Bruno kam aus der Küche gefegt und sprang an ihnen hoch. Ihre Eltern waren zurück vom abendlichen Spaziergang.
In der Küche werkelte ihre Mutter an der Spüle. Fridtjof saß auf der Eckbank und war in die Tageszeitung vertieft. Er blickte auf. »Kommt, Kinder! Setzt euch noch mal zu mir.«
Marta brachte ihnen Tassen und goss aus einer Kanne Pfefferminztee ein. Sie stellte Honig dazu.
Frida setzte sich neben ihren Vater, Torben kniete sich auf den Fußboden und zerrte mit Bruno an einem Seil, der ihm eines seiner Hundespielzeuge angeschleppt hatte.
»Wo hing noch mal der Visser am Baum?«, fragte Fridtjof und sah von der Zeitung auf. Er nahm seine Lesebrille ab, legte sie auf den Tisch.
»Auf dem Feldweg, der hoch auf die Geest führt. Rechterhand ist diese Baumgruppe. Uralte Bäume, ich glaube, das sind drei Linden.«
Ihr Vater schlug die Zeitung zu. Dann sah er sie an. »Etwa an den Galgenbäumen?«
Frida hatte noch nie davon gehört. »Galgenbäume?«
»Ja, die drei alten Linden waren mal Galgenbäume. Da hat man früher Mörder und andere Kriminelle aufgeknüpft. Das war der Richtplatz der umliegenden Dörfer.«
Frida zog ihr Smartphone aus der Tasche, suchte nach einem Foto, auf dem sie die drei Linden aus der Ferne fotografiert hatte. Sie zeigte es Fridtjof. Er setzte seine Lesebrille wieder auf und besah sich das Bild. »Der hing an einem der Galgenbäume. Kein Zweifel!«