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Dieses Buch präsentiert die ganze Bandbreite alttestamentlicher Liebestexte. Entgegen dem verbreiteten Vorurteil ist das Alte Testament nämlich alles andere als lieblos. Das Buch zeigt, wie vielfältig, leidenschaftlich und überraschend die Liebe in der Bibel dargestellt wird: von romantischer Hingabe bis zu treuer Verbundenheit, von der Liebe zu Gott bis zu den Herausforderungen in zwischenmenschlichen Beziehungen. Die alttestamentlichen Schriften enthüllen Liebe als eine Kraft, die Geborgenheit schafft, aber auch voller Widersprüche und Spannungen sein kann – eine Liebe, die tröstet, fordert und transformiert. Durch die Jahrtausende hinweg rufen uns diese Texte zu, in Liebe zu leben und Liebe zu empfangen. Die Bibel bietet beides: Altbekanntes und völlig Neues zu dieser Emotion, die jede:r kennt und wohl keine:r je wirklich verstehen wird. Die biblischen Texte sind neu und verständlich übersetzt und für die Gemeindearbeit, Predigtvorbereitung, eine Themenreihe außerhalb eines Gottesdienstes oder die eigene Bibellese aufbereitet.
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Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2025
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David Bindrim
Biblische Liebestexte für die Gemeindearbeit
VANDENHOECK & RUPRECHT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2025 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe
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Umschlagabbildung: © Shutterstock/Lily Rosen – Zohar
Satz: SchwabScantechnik, Göttingen
EPUB-Erstellung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
E-Mail: [email protected]
ISBN 978-3-647-99269-3
»Muss denn immer gleich von Liebe die Rede sein?« – Ja.
(Tucholsky 1932).
Meinen Eltern.
1Liebe im Alten Testament?
1.1Weshalb noch ein Buch zur Bibel?
1.2Altes Testament, Erstes Testament, Hebräische Bibel?
1.3Welche Liebestexte gibt es?
1.4Wie wird der Bibeltext übersetzt?
1.5Wer oder was ist JHWH?
Literatur zum Thema
Danksagung
2Die Liebe unter den Menschen
2.1König David, der Liebling aller (1Samuel 18)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
2.2Die Liebe in der Familie
Die Elternliebe Jakobs und Rebekkas (1Mose 25,19–34)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
2.3Die Liebe in der Partnerschaft
Die Flamme JHWHs (Hohelied 8,1–14)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
Tamar und Amnon (2Samuel 13,1–22)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
2.4Die Liebe in der Freundschaft
Der Bund zwischen Salomo und Hiram (1Könige 5,15–32)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
3Gottes Liebe und Gottesliebe
3.1Gottes Liebe: Gott liebt
Die Erwählung Israels (5Mose 7,7–16)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
Hoseas Ehe (Hosea 3,1–5)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
Liebe oder Zorn? (Hosea 11,1–11)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
Liebe und Hass (Maleachi 1,1–5)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
Ein Rätsel der Liebe (Zefanja 3,9–20)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
Salomo, der Geliebte JHWHs (2Samuel 12,1–25)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
3.2Gottesliebe: Gott wird geliebt
Höre, Israel! (5Mose 6,4–25)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
Abraham, mein Freund (Jesaja 41,1–20)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
Ohola und Oholiba (Ezechiel 23,1–35)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
3.3Konsequenzen der Gottesliebe
Das Nächstenliebegebot (3Mose 19,1–37)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
Die Nachahmung der Liebe Gottes (5Mose 10,12–22)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
4Offene Liebestexte
Das Lied vom rechten Zeitpunkt (Prediger 3,1–8)
Übersetzung
Anmerkungen zur Übersetzung
Auslegung
Literatur zum Thema
5Der Ertrag: Liebe im Alten Testament
5.1Allgemeines
Die Gründe für Liebe
Die Emotionalität der Liebe
Literatur zum Thema
5.2Menschenliebe
Liebe und Familie
Liebe in den Erzelternerzählungen (1Mose 12–50)
Literatur zum Thema
Liebe und Erziehung
Literatur zum Thema
Liebe und Partnerschaft
Romantik und Sexualität
Literatur zum Thema
Liebe und Geschlechterrollen
Literatur zum Thema
Liebe und Erwählung
Literatur zum Thema
Liebe als (zerstörerische) Macht
Literatur zum Thema
Liebe und Freundschaft
Literatur zum Thema
5.3Gottesliebe und Gottes Liebe
Gottesliebe: Wer liebt wen?
Liebe zur Weisheit
Liebe zum Mitmenschen
Literatur zum Thema
6Abschließende Worte
Anhang: Bibelstellen
Gefühle und Emotionen sind aus dem menschlichen Leben nicht wegzudenken. In der Fantasie vieler Autoren1, Spieleentwickler und Filmschaffender wird mit dem Gedanken gespielt, dass eine Lebensform ohne Gefühle möglich sein könnte. Das zeigt etwa der Film »Equilibrium«: In den Trümmern des dritten Weltkrieges entschließt sich die Menschheit dazu, eine neue Gesellschaft aufzubauen. Diesmal jedoch soll die Wurzel alles Bösen ausgerottet werden: die Gefühle. Durch eine Droge, die sich jeder Mensch regelmäßig injizieren muss, werden die Gefühlsregungen unterdrückt und somit eine scheinbar friedliche Welt geschaffen. Freilich ist in der Dystopie des Films diese Welt zugleich ein totalitäres System, das stark an die Diktaturen des 20. Jahrhunderts erinnert und sogar religiöse Züge annimmt.
Das zeigen aber auch die vielen möglichst gefühllos dargestellten Figuren in Filmen und Serien. Ihnen voran geht natürlich der (Halb-)Vulkanier Spock aus der Serie »Raumschiff Enterprise«. Ihm folgen die in jüngerer Zeit so beliebten Hauptfiguren aus dem (vermeintlich) autistischen Spektrum, wie etwa Sherlock Holmes in der BBC-Neuverfilmung oder Sheldon Cooper in »The Big Bang Theory«. Ebenso werden immer wieder Roboter und AIs (artificial intelligence) zu Protagonisten, die hinter ihren rein logischen Schaltkreisen immer auch mit Emotionen gezeigt werden. So ist etwa Legion in der »Mass Effect«-Spielserie zunächst ein scheinbar emotionsloser Roboter, der trotz monotoner Ausdrucksweise und mechanisch-starren Gesichtszügen explizit die Frage danach stellt, ob »diese Einheit eine Seele« habe. Und EDI, das AI-Programm des Raumschiffs, kann letztlich zur romantischen Partnerin des Piloten Jocker werden, wenn der Spieler sie auf ihrem Weg durch die menschlichen Emotionen begleitet. Auf weitere Beispiele wird verzichtet, auch wenn sie noch zahlreich angeführt werden könnten.
Die Widernatürlichkeit dieser gefühllosen Fantasien wird schnell ersichtlich: In aller Unmenschlichkeit der Gefühllosigkeit gelingt es den Filmen, Serien und Spielen nicht wirklich, alle Emotionen aus den Darstellungen der handelnden Personen zu entfernen. Gefühle lassen sich aus unserem Leben schlichtweg nicht wegdenken.
Unzählige Bücher, Filme und Lieder durch alle Zeiten und Kulturen hinweg preisen hingegen die Liebe als wichtigstes und stärkstes Gefühl. Sie wird zur eigentlich treibenden Kraft des Lebens erklärt und als quasi göttlich angesehen. Andere Werke verdammen sie aus dem gleichen Grund als unergründliche und unberechenbare Macht, der sich der Mensch zu beugen hat. Die biblischen Texte und vor allem die des Alten Testaments bilden darin keine Ausnahme. Hier finden sich Texte, die die Liebe als göttliche Flamme loben, die dem Tod entgegensteht (Hohelied 8,6). Aber es gibt auch Erzählungen von zerstörerischer Liebe, die sich egoistisch am Gegenüber festklammert, es unterdrückt und zur Gegenliebe zwingen möchte (1Mose 34). Dieser Teil der Bibel steckt randvoll mit Liebe in allen Arten und Formen, die man sich vorstellen kann. Mit diesem Buch werden wir uns auf eine Spurensuche durch das Alte Testament machen und uns anschauen, was uns die Bibel zur Liebe zu sagen hat. Es ist eine spannende Entdeckungsreise.
Es wird dabei nur eine Auswahl der Texte des Alten Testaments betrachtet, in denen von Liebe die Rede ist, denn die Fülle ist zu groß, um alle Texte zu besprechen. Um diesem Schatz an unterschiedlichsten Texten gerecht zu werden, wird folgendermaßen vorgegangen: Die biblischen Erzählungen, Gedichte und Gesetze wurden in einzelne thematische Gruppen untergliedert. Wir fangen bei der Liebe in der Familie an, gehen zu (sexuellen) Partnerschaften über und erreichen dann die (politische) Freundschaft. Nachdem wir diesen menschlichen Bereich biblischer Liebe betrachtet haben, schauen wir auf die Gottesbeziehung: Gottes Liebe zu den Menschen und die Liebe der Menschen zu Gott. In jeder Gruppe werden wir uns mindestens einen Text in seiner Gänze anschauen. Die Übersetzung ist auf das Deutsche ausgerichtet, bleibt dabei aber dem ursprünglichen hebräischen Text so treu als möglich. An die Übersetzung schließen sich kurze Anmerkungen zur Übersetzung und dann eine ausführliche Auslegung des Einzeltextes an. Diese Auslegung ist kein umfassender Kommentar zu dieser Bibelstelle, sondern betrachtet nur die Liebe und damit verbundene Fragestellungen an dieser Stelle. In einem zweiten Abschnitt werden die Ergebnisse der Gruppen noch einmal zusammengefasst und durch andere Texte ergänzt.
Gedacht sind die folgenden Seiten für diejenigen, die mit der Bibel arbeiten wollen, sei es für eine Predigtvorbereitung, sei es für eine Themenreihe außerhalb eines Gottesdienstes, sei es als Ergänzung zur heimischen Bibellese. Der Wunsch ist es, dass die genaue Betrachtung der alttestamentlichen Stellen zur Liebe den ersten Teil der Bibel wieder mehr in den Fokus der Gemeindearbeit bringen. Denn dort stellt Jesus Christus sie selbst hin!
Jesus sagte: »Denkt nicht, dass ich kam, um das Gesetz und die Propheten, also das Alte Testament, aufzulösen – nicht um aufzulösen kam ich, sondern um zu erfüllen!« (Matthäus 5,17)
Die Darstellungen sind so gehalten, dass jeder ihnen folgen kann. Die gelegentlichen Fachbegriffe werden erklärt und eine Kenntnis des Hebräischen ist nicht vorausgesetzt. Es lohnt sich jedoch, eine Bibel zur Hand zu haben. Denn Sie werden hier auf eine Reise quer durch (fast) alle Bücher des Alten Testaments geschickt werden. Es wird eine spannende Reise, die manch unerwartete Abzweigung nehmen wird.
Dieses Buch beruht auf einer eingehenden wissenschaftlichen Arbeit (Bindrim 2024), die sich mit dem hebräischen Ausdruck für Liebe und den Liebestexten im Alten Testament befasst hat. Wer sich also die ausführlichen sprach- und geschichtswissenschaftlichen und exegetischen Begründungen für den folgenden Text genauer anschauen möchte, sei auf diese Arbeit verwiesen.
Selbstverständlich sind die Überlegungen hier nicht einfach meine Ideen. Vielmehr sind sie das Ergebnis jahrelanger intensiver Auseinandersetzung mit den biblischen Texten im Original und ihrer Übersetzung in verschiedene Sprachen, sowie jeglicher Literatur zum Thema, derer ich habhaft werden konnte. Auch diese Diskussionen finden sich in der wissenschaftlichen Ausgabe, sodass ich mich in diesem Buch ohne viele Zitate und Verweise auf die Früchte der Arbeit konzentrieren möchte. Im Anschluss an jeden Abschnitt findet sich zudem eine Auflistung der Literatur zum Thema, in der die verwendeten Titel angegeben sind. Hier sind die Werke aufgeführt, auf die ich mich in der wissenschaftlichen Erarbeitung (sowohl aufnehmend als auch abgrenzend) gestützt habe. Nicht erwähnt sind jedoch Kommentarbände. Diese sind zum einen sehr zahlreich, zum anderen lassen sich diese leicht finden.
Zunächst werden in diesem Kapitel noch einige grundsätzliche Dinge besprochen werden. Wer lieber sofort in die Liebe im Alten Testament einsteigen möchte, kann diesen Teil überspringen und gleich mit Kapitel 2 (»Die Liebe unter den Menschen«) anfangen.
Wer eine Bibel aufschlägt, steht sogleich einer Zweiteilung gegenüber: Die Bibel gibt es nur als Zusammenstellung zweier Buchsammlungen. Der ältere Teil wird gemeinhin als »Altes Testament« und der neuere Teil als »Neues Testament« bezeichnet. Der Ausdruck Altes Testament beruht dabei auf einer Stelle im zweiten Korintherbrief. Dort heißt es nämlich:
Ihre, der Juden, Gesinnung aber wurde verhärtet. Denn bis auf den heutigen Tag verbleibt dieselbe Hülle über der Lesung des alten Bundes, die nicht abgenommen wird, da sie durch Christus aufgelöst wird. (2Korinther 3,14)
Der griechische Ausdruck palaiá diathéke an dieser Stelle lässt sich mit »alter Bund« übersetzen und wurde in der lateinischen Übersetzung zum vetus testamentum, dem alten Bund oder Testament. Basierend auf der lateinischen Übersetzung wurde schließlich im Deutschen dieser Bibelteil als Altes Testament bezeichnet.
Altes Testament: Am Rande sei darauf verwiesen, dass es »alttestamentlich« und nicht »alttestamentarisch« heißt. Bei einem Testament im Sinne eines letzten Willens ist »testamentarisch« zwar richtig, beim Alten und Neuen Testament ist es jedoch falsch, beziehungsweise verweist auf eine Abwertung des Buches.
Diesem Alten Testament wurde nun folgerichtig der zweite Teil als Neues Testament dazugegeben.
Leider ist der Ausdruck Altes Testament nicht unproblematisch. Denn mit dem Wort »alt« werden in unserer Gesellschaft vor allem Wörter wie überholt, altbacken, veraltet oder hinfällig verbunden. Das Alte Testament wäre dann durch das Neue komplett aufgehoben und von daher nicht mehr wichtig. Um dieses Vorurteil loszuwerden, wurde vorgeschlagen, von einem Ersten und einem Zweiten Testament zu sprechen. Aber auch dann bleibt das Problem bestehen: Denn mit einem zweiten Testament ist ja das erste hinfällig. Sobald ein neues Testament geschrieben ist, kann das erste/alte ja weggeworfen werden.
Ein weiterer Vorschlag, den Büchern einen passenderen Namen zu geben, ist »Hebräische Bibel«. Der Gedanke ist simpel: Indem wir uns auf die verschiedenen Sprachen konzentrieren, die diese zwei Textsammlungen haben, können wir Abwertungen vermeiden. Denn der eine Teil ist auf Hebräisch, der andere auf Griechisch überliefert, oder nicht? Aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Zum einen sind nicht alle Texte in der Hebräischen Bibel tatsächlich auch hebräisch verfasst worden. Der größte Teil des Buches Daniel ist auf Aramäisch geschrieben. Es gibt auch weitere kürzere oder längere Passagen in dieser Sprache. Insgesamt machen sie keinen großen Anteil des Alten Testaments aus, aber dennoch ist es dadurch schwierig, von einem hebräischen Werk zu sprechen. Hinzu kommt, dass nicht nur die römisch-katholische Kirche Schriften in der »Hebräischen Bibel« aufgenommen hat, die auf Griechisch verfasst oder zumindest nur auf Griechisch überliefert wurden. In der evangelischen Bibel wurden diese Schriften als sogenannte Apokryphen gesondert gestellt, aber für einen sehr großen Teil der Christenheit gehören sie unmittelbar in das Alte Testament, das damit nun wirklich nicht mehr »Hebräische Bibel« genannt werden kann.
Apokryphen: Wer eine Bibel wie die Lutherrevision von 2017 in die Hand nimmt, findet dort die Apokryphen zwischen dem Alten und dem Neuen Testament eingeordnet. Es sind die Schriften Judit, Weisheit Salomos, Tobit/Tobias, Jesus Sirach/Ben Sira, 1+2Makkabäer, das Gebet des Manasse und Zusätze zu den Büchern Ester und Daniel. In einer Übersetzung der Römisch-katholischen Kirche sind diese Werke in das Alte Testament eingereiht. Darüber hinaus gibt es aber auch noch andere Schriften, die von Teilen der Christenheit in die Bibel aufgenommen wurden. So hat die Äthiopische Kirche unter anderem auch das Buch Henoch aufgenommen. Soweit ich weiß, hat jedoch keine christliche Kirche gegenwärtig weniger als die 39 Bücher, die allgemein als Altes Testament bekannt sind.
Ein letzter Punkt ist, dass zwar von einer »Hebräischen Bibel« gesprochen wird, aber der Ausdruck »Griechische Bibel« für das Neue Testament nicht verwendet wird. Es entsteht somit ein starkes Ungleichgewicht.
Ein letzter Vorschlag ist »Jüdische Bibel«. Problematisch an diesem Ausdruck sind beide Teile. Zum einen unterstellt »Jüdische« Bibel, dass diese Bücher für Christen nicht relevant wären, oder diesen sogar gar nicht gehören dürften. Das ist jedoch ein fataler Trugschluss, denn sie bilden schließlich die Heilige Schrift, die Jesus selbst zitiert, aus der er seine Autorität und Botschaft ableitet. Diese Texte sind aus einer Gemeinschaft entstanden, aus der sich sowohl das Christen- als auch das Judentum entwickelt haben. Zum anderen ist das Wort Bibel – aus dem Griechischen biblía »(kleine) Bücher« – als solches nur für die Gesamtheit aller Heiligen Schriften des Christentums gebräuchlich. Der Umfang ist teilweise Frage der Tradition, aber als Ausdruck bezieht sich Bibel immer auf die Gesamtheit der Bücher und immer in christlicher Lesart. Ich werde daher im Folgenden immer vom Alten Testament reden.
Im ersten Teil der Bibel gibt es eine hebräische Vokabel, die sich im Deutschen treffend mit »lieben« oder »Liebe« übersetzen lässt. Als Hauptwort »Liebe« klingt es so: ahawá.
Liebe: Dieses Buch befasst sich nur mit den Stellen im Alten Testament, in denen das hebräische Verb aháw »lieben« oder das Nomen ahawá »Liebe« beziehungsweise von diesen beiden abgeleitete Wörter vorkommen.
Da Übersetzungen nicht einfach eins-zu-eins stattfinden können und der Kontext manchmal die Verwendung anderer Begriffe in der Übersetzung verlangt, kann man nicht alle Stellen, an denen im Alten Testament von Liebe die Rede ist, durch eine deutsche (oder englische, französische, …) Konkordanz finden. Es sind jedoch eine ganze Menge. 251 Mal verwendet das Alte Testament dieses Wort in nicht ganz so vielen Versen. Diese sind:
1Mose 22,2; 24,67; 25,28; 27,4.9.14; 29,18.20.30. 32; 34,3; 37,3 f.; 44,20;
2Mose 20,6; 21,5;
3Mose 19,18.34;
5Mose 4,37; 5,10; 6,5; 7,8 f. 13; 10,12.15.18 f.; 11,1.13.22; 13,4; 15,16; 19,9; 21,15 f.; 23,6; 30,6.16.20;
Josua 22,5; 23,11;
Richter 5,32; 14,16; 16,4.15;
Rut 4,15;
1Samuel 1,5; 16,21; 18,1.3.16. 20.22.28; 20,17;
2Samuel 1,23. 26; 12,24; 13,1.4.15; 19,7;
1Könige 3,3; 5,15; 10,9; 11,1 f.;
2Chronik 2,10; 9,8; 11,21; 1,2; 20,7; 26,10;
Nehemia 1,5; 13,26;
Ester 2,17; 5,10. 14; 6,13;
Hiob 19,19;
Psalmen 4,3; 5,12; 11,5. 7; 26,8; 31,24; 33,5; 34,13; 37,28; 38,12; 40,17; 45,8; 47,5; 52,5 f.; 69,37; 70,5; 78,68; 87,2; 88,19; 97,10; 99,4; 109,4 f. 17; 116,1; 119,47 f. 97. 113. 119. 127. 132. 140. 159. 163. 165. 167; 122,6; 145,20; 146,8;
Sprüche 1,22; 3,12; 4,6; 5,19; 7,18; 8,17.21.36; 9,8; 10,12; 12,1; 13,24; 14,20; 15,9.12.17; 16,13; 17,9.17.19; 18,21. 24; 19,8; 20,13; 21,17; 22,11; 27,5 f.; 29,3;
Prediger 3,8; 5,9; 9,1. 6. 9;
Hohelied 1,3 f. 7; 2,4 f. 7; 3,1–5. 10; 5,8; 7,7; 8,4.6 f.;
Jesaja 1,23; 41,8; 43,4; 48,14; 56,6. 10; 57,8; 61,8; 63,9; 66,10;
Jeremia 2,2.25.33; 5,31; 8,2; 14,10; 20,4. 6; 22,20. 22; 30,14; 31,3;
Klagelieder 1,2. 19;
Ezechiel 16,33. 36 f.; 23,5.9.22;
Daniel 9,4;
Hosea 2,7.9.12. 14 f.; 3,1; 4,18; 8,9; 9,1.10.15; 10,11; 11,1. 4; 12,8; 14,5;
Amos 4,5; 5,15;
Micha 3,2; 6,8;
Zefanja 3,17;
Sacharja 8,17. 19; 13,6;
Maleachi 1,2; 2,11.
Schaut man sich die Liste der Stellen an, so fällt sofort die breite Streuung der Belege auf. Nur in einer Handvoll Bücher des Alten Testaments wird Liebe mit diesem Wort nicht erwähnt, nämlich in 4Mose, 2Könige, 1Chronik, Esra, Joel, Obadja, Jona, Nahum, Habakuk und Haggai. Nur in zehn Büchern kommt Liebe also nicht ausdrücklich mit der Vokabel aháw / ahawá vor.
Zehn Bücher: Folgt man der jüdischen Tradition, die die Bücher Samuel, Könige und Chronik jeweils als ein Buch zählt, wären es sogar nur acht.
Betrachtet man Synonyme, also inhaltlich eng verwandte Wörter, so scheiden 4Mose, 2Könige, 1Chronik, Esra, Joel und Jona aus der Liste ohne Liebesbelege ebenfalls aus. Es bleiben nur die vier kleinen Propheten Obadja, Nahum, Habakuk und Haggai übrig, in denen tatsächlich nicht von Liebe die Rede ist.
Das verwundert für die Bücher Obadja und Nahum auch nicht sonderlich, immerhin liegt hier der klare Fokus auf Gerichts- und Unheilsworten über Edom beziehungsweise der Stadt Ninive, denen die Zerstörung angekündigt wird. Warum sollte an diesen Stellen von Liebe die Rede sein? Für Jona hingegen ist es erstaunlich, dass nur ein Synonym für Liebe Erwähnung findet. Immerhin geht es in diesem Buch ja vor allem darum, dass Gott die ganze Schöpfung und eben auch die Sünder liebt.
Alle angegebenen Bibeltexte sind von mir übersetzt worden. Die Texte hier beruhen auf den wissenschaftlichen Übersetzungen, aber ich habe ein paar wichtige Änderungen vorgenommen:
–In der wissenschaftlichen Übersetzung habe ich mich streng am hebräischen Text orientiert. Dabei habe ich Eigenheiten der hebräischen Sprache und des alttestamentlichen Stils (formelhaftes »Und da geschah«, häufiger Gebrauch von »und«, Satzstellung und so weiter) beibehalten. Jetzt habe ich die Übersetzungen behutsam an das Deutsche angeglichen, etwa indem ich die Satzstellung an ein natürliches Deutsch angepasst habe, anstatt die betonte Erststellung eines Wortes im Original beizubehalten. Beispiel: »Mose – er aber sagte« wird zu »Mose aber sagte«.
–Immer dann, wenn die Einfügung von Wörtern angeraten schien, die zwar im Hebräischen kein genaues Gegenstück haben, aber dem leichteren Verständnis oder der Natürlichkeit der Sprache geschuldet war, habe ich diese Hinzufügungen durch Tieferstellung markiert.
–Hebräische und griechische Begriffe werden meist nur in der Aussprache angegeben, nicht in einer wissenschaftlichen Transkription. Daher wird auf Unterschiede zwischen verschiedenen Buchstaben, die heute gleich ausgesprochen werden, nicht geachtet, sofern es nicht für die jeweilige Stelle wichtig ist. Der Akzent ist nur zur Angabe der Betonung gedacht.
In den Übersetzungen der Bibeltexte und in den dazugehörigen Erklärungen werden häufig die Buchstaben JHWH auftauchen. Dahinter verbirgt sich etwas, dass in der Wissenschaft als »Tetragrammaton« (griechisch: »das Vierbuchstabige«) bezeichnet wird. Denn hier stehen jeweils im hebräischen Text die vier Konsonanten j (wie in »Jahr« nicht wie in »Jeans«), h, w und h. Es werden bewusst keine Vokale dazugegeben, denn dieses Wort soll nicht ausgesprochen werden. Diese vier Buchstaben bilden nämlich den Eigennamen Gottes. Und der darf nach der jüdischen Auslegung des zweiten Gebots nicht ausgesprochen werden.
Du darfst den Namen deines Gottes JHWH nicht lügnerisch aussprechen, denn JHWH lässt denjenigen nicht ungestraft, der seinen Namen lügnerisch ausspricht. (2Mose 20,7)
Um sicher zu gehen, dass man den Namen nicht aus Versehen lügnerisch, also strafbar, ausspricht, wird er im Judentum gar nicht ausgesprochen. Juden benutzen verschiedene Ersatzlesungen; die häufigste von ihnen ist adonái. Bei Adonai handelt es sich ursprünglich um einen Titel, der mit »meine Herrschaft«, »mein Herr« übersetzt werden kann. Das spiegelt sich in nahezu allen deutschen Übersetzungen wider, wenn JHWH mit »der HERR«/»HERR« wiedergegeben wird.
Wahrscheinlich sind diese Buchstaben ursprünglich als »Jahwé« gelesen worden, wobei das »h« hinter dem »a« ausgesprochen wird (aber als »h« und nicht als »ch«). Ich habe mich dazu entschlossen, das Tetragrammaton jeweils unverändert ins Deutsche zu übernehmen.
An dieser Stelle möchte ich noch kurz einen Hinweis geben: Sollten Sie mit einem Juden reden, vermeiden Sie bitte die Aussprache des Gottesnamen. Der Respekt vor Gott geht hier so weit, dass ein Stück Papier, auf dem die Buchstaben seines Namens geschrieben stehen, nicht einfach weggeschmissen werden darf. Alles, worauf der Name Gottes steht, muss rituell beerdigt werden. Sprechen Sie in diesem Fall daher am besten allgemein von Gott oder benutzen Sie noch besser Ersatzbezeichnungen, wie »der Ewige« oder »Ha-Schem« (hebräisch für »der Name«).
Bindrim, D. (2024): Die Flamme des Herrn? Eine philologische und theologische Untersuchung der Wurzel אהב im Alten Testament (VTOA 1). Göttingen.
Tucholsky, K. (1932): Schnipsel. http://www.zeno.org/Literatur/M/Tucholsky,+Kurt/Werke/1932/Schnipsel (Zugriff am 16.12.2024).
Mein Dank gilt Jana Harle und PD Dr. Izaak de Hulster sowie dem ganzen Team des Verlags, besonders Elisabeth Eckstein und Agnes Karl, die dieses Projekt von Anfang an unterstützt und das Buch vom Titel bis zum Druck begleitet haben.
Ebenso danke ich Pfarrer Manfred Kiel, Gerhard König und Tina Höhne, die dem Buch durch ihre aufmerksame Korrekturlese und klugen Rückfragen den letzten Schliff gegeben haben.
1In diesem Buch wird auf ein Gendern mittels Sonderzeichen (Autor_innen, Autor*innen o. Ä.) verzichtet und stattdessen meist auf das generische Maskulinum zurückgegriffen. Bei allgemeinen Aussagen wird also zum Beispiel »der Autor« stehen, ohne dass damit zwingend ein Mann gemeint ist. Die Gründe dafür sind zweierlei: Zum einen hat sich noch kein System etabliert, das zu einer wirklich gendergerechten Sprache führt (zumeist wird eine Zweiheit der sozialen Geschlechter weiterhin sprachlich unterstellt), zum anderen ist eine solcherart gegenderte Sprache grammatikalisch holprig und vor allem für Menschen mit Lese- und Rechtschreibstörung/Legasthenie nicht barrierefrei.
Wir beginnen bei den Menschen, um genauer zu sein: Bei einem Menschen. Denn es gibt eine Person in der Bibel, die so eng mit Liebe verbunden ist, wie keine andere. Diese Person ist König David. In den Geschichten, die sich um ihn drehen, ist besonders häufig von Liebe die Rede. Es ist hier ein Leitwort und spiegelt die Reaktion verschiedenster Kreise auf David wider. Er ist der »Liebesmensch« der Bibel.
David: Der Name leitet sich von einem anderen Verb ab, das ebenfalls »lieben« heißt, biblisch aber kaum verwendet wird. Der Name scheint so viel wie »Liebling«, »Geliebter« zu bedeuten. Er ist ungewöhnlich, weil es für ihn nur einen Namensträger im Alten Testament gibt und er auch in anderen hebräischen oder verwandten Texten außerhalb der Bibel nicht für andere Personen vorkommt.
Ein sehr gutes Beispiel hierfür ist 1Samuel 18. Hier werden verschiedene Liebesarten erwähnt, die im Einzelnen in diesem Abschnitt zur »menschlichen« Liebe besprochen werden sollen. Mindestens die sexuell-partnerschaftliche und die freundschaftliche Liebe werden hier erwähnt. Wenn man die politischen Beziehungen und die Freundschaften voneinander trennt – was man zur Zeit König Davids nicht gemacht hat – dann sind es sogar drei Liebesarten, die sich hier mit David verbinden.
(1) Und als er aufgehört hatte, zu Saul zu reden – Jonatans Wesen hatte sich aber mit dem Wesen Davids verbunden –, da liebte Jonatan ihn wie sein eigenes Wesen. (2) Saul aber nahm ihn an jenem Tag zu sich und erlaubte ihm nicht mehr,ins Haus seines Vaters zurückzukehren. (3) Jonatan und David hingegen schlossen einen Bund, weil er ihn wie sein eigenes Wesen liebte.
(4) Jonatan zog seine Kleidung aus, die er bisher anhatte, und gab sie David: sein Gewand, sein Schwert, seinen Bogen und seinen Gürtel.
(5) David zog nun überall hin aus, wohin ihn Saul sandte; er war immer erfolgreich. Saul setzte ihn über die Kriegsleute und das kam dem Volk und auch den Knechten Sauls gut vor. (6) Und als sie heimkamen, als David vom Kampf gegen die Philister zurückkehrte, da zogen die Frauen aus allen Städten Israels mit Gesang und Reigentanz hinaus, König Saul mit Tamburinen, Freude und Wonne entgegen. (7) Die neckenden Frauen sangen scherzend:
»Saul erschlug seine Tausende;
David aber seine Zehntausende!«
(8) Da wurde Saul sehr zornig. Diese Sache kam ihm übel vor und er sagte: »Sie gaben David Zentausende, mir aber nur Tausende! Wenn das so weitergeht, wird man ihm auch noch bestimmt das Königtum geben!« (9) Seit jenem Tag beäugte Saul David misstrauisch.
(10) Am folgenden Tag geschah es dann: Ein übler Gottesgeist drang in Saul ein und er raste inmitten des Hauses; wie jeden Tag musizierte David mit seiner Hand – in Sauls Hand aber war ein Speer. (11) Da schleuderte Saul den Speer, denn er sagte sich: »Ich werde David erschlagen und auch noch die Wand mitaufspießen!« David wandte sich zweimal von ihm weg. (12) Saul fürchtete sich vor David, denn JHWH war mit ihm, von Saul aber war er gewichen. (13) Deshalb schickte Saul ihn weg und setze ihn stattdessen für sich als Anführer einer Tausendschaft ein. David zog also vor den Augen des Volkes aus und kam mit ihnen zurück.
(14) Auf allen seinen Wegen war David erfolgreich, denn JHWH war mit ihm. (15) Saul sah, dass er erfolgreich war und hatte Angst vor ihm. (16) Ganz Israel und Juda aber liebte David, denn er zog vor ihnen hinaus und kam mit ihnen zurück. (17) Deshalb sagte Saul zu David: »Schau mal, meine ältere Tochter Merab! Die will ich dir zur Frau geben. Sei mir einfach ein tüchtiger Gefolgsmann und kämpfe die Kriege JHWHs!« – denn Saul sagte sich: »Meine Hand soll nicht gegen ihn sein, sondern die Hand der Philister soll ihn erledigen.« (18) David sagte aber zu Saul: »Wer bin ich und wer ist mein Leben (die Verwandtschaft meines Vaters in Israel) schon großartig, dass ich ein Schwiegersohn des Königs sein könnte?!« (19) Zu der Zeit, als die Saulstochter Merab eigentlich David zur Frau gegeben werden sollte, wurde sie dem Mecholatiter Adriel zur Frau gegeben. (20) Aber die andere Saulstochter Michal liebte David. Das berichtete man Saul und die Sache kam ihm recht vor.
(21) Saul sagte: »Wenn ich sie ihm gebe, wird sie ihm zum Fallstrick und die Hand der Philister wird gegen ihn sein.« Deshalb sagte Saul zu David: »Abermals: Heute verschwägerst du dich mit mir!« (22) Und Saul sagte zu seinen Knechten: »Redet heimlich Folgendes zu David: ›Schau, der König mag dich und alle seine Knechte lieben dich. Verschwägere dich also mit dem König!‹« (23) Also wisperten die Knechte diese Worte heimlich in Davids Ohren und David sagte: »Kommt es euch etwa wie etwas Geringes vor, sich mit dem König zu verschwägern? Ich bin doch ein bedürftiger und geringer Mann.« (24) Die Knechte Sauls berichteten ihm die ungefähren Worte, die David geredet hatte. (25) Saul sagte: »So sollt ihr David sagen: ›Der König verlangt keinen Brautpreis, vielmehr sollen 100 Vorhäute von Philistern genügen, damit man an den Feinden des Königs Rache nimmt.‹« Denn Saul beabsichtigte, David durch die Hand der Philister zu Fall zu bringen. (26) Seine Knechte berichteten David diese Worte. Da erst schien David die Sache, sich mit dem König zu verschwägern, recht zu sein. Es vergingen nicht einmal viele Tage, (27) da machte David sich auf. Er und seine Männer gingen und erschlugen an die 200 Philister. David brachte ihre Vorhäute und damit beglich man mit dem König den Brautpreis, damit er sich mit ihm verschwägern konnte. Und so gab ihm Saul seine Tochter Michal zur Frau. (28) Saul sah und wusste, dass JHWH mit David war, und Sauls Tochter Michal liebte ihn auch. (29) Saul fürchtete sich aber weiterhin vor David und Saul war David für alle Tage ein Feind.
(30) Die Fürsten der Philister zogen zum Kampf aus. Aber es geschah, sooft sie auszogen, dass David erfolgreicher war als alle Knechte Sauls. Sein Name war deshalb sehr hoch angesehen.
(1) Jonatans Wesen hatte sich aber mit dem Wesen Davids verbunden: Es ist nicht klar, in welcher zeitlichen Folge die Ereignisse in diesem Vers stehen. Möglich ist auch die Übersetzung: »Und als er aufgehört hatte, zu Saul zu reden und sich Jonatans Wesen mit dem Wesen Davids verband«. Die Frage ist also, ob sich die Beziehung zwischen Jonatan und David im Moment der Rede entspann, oder bereits davor begonnen hatte. Da sich Jonatan und David zuvor nicht ausdrücklich begegnet sind, wäre als Zeitpunkt nur die Geschichte aus 1Samuel 17 (David erschlägt Goliat) denkbar, die unmittelbar zuvor stattfindet.
(1) Wesen: Die Übersetzung des Begriffs nfäsch, der hier steht, bereitet immer Probleme. Traditionell wird der Ausdruck mit »Seele« übersetzt. Das, was wir unter Seele verstehen, ist jedoch erst durch die antiken Philosophen geprägt worden und hängt stark am griechischen Ausdruck psyché. Im Hebräischen und damit im Alten Testament gibt es noch keine Trennung zwischen Körper und Geist/Seele, beides ist eins: das Wesen. Die Grundbedeutung für das hebräische Wort ist Kehle. Davon wird die durch die Kehle strömende Atemluft abgeleitet, weshalb nfäsch auch der Atem oder Odem sein kann. Wird dieser nun metaphorisch gebraucht, steht das Wort für die Person selbst und beschreibt dann das Wesen, Selbst oder das Leben. Eine weitere Bedeutung kann auch Gier sein. An den meisten Stellen, die wir hier behandeln werden, wird der Begriff metaphorisch gebraucht und daher mit Wesen übersetzt.
(18) wer ist mein Leben: Im Hebräischen steht zweimal das Fragewort »wer«. Damit soll klar gemacht werden, dass sowohl »Leben« als auch »ich« das Gleiche bezeichnen: David sieht sich selbst als all der Aufmerksamkeit unwürdig an – oder versucht es zumindest so darzustellen. Die Formulierung fällt schon im Original auf, weshalb sie hier ebenfalls übernommen wurde.
(21) Abermals: Da es weder in hebräischen noch in griechischen Texten Anführungszeichen gibt, sind die Anfänge und vor allem die Enden von Reden in der Bibel nicht immer sicher. Ein solcher Fall findet sich hier. Wohin genau das Wort abermals gehört und worauf es sich bezieht, ist offen. Möglich neben der hier gebotenen Übersetzung ist auch: »und Saul sagte abermals zu David«, dann ist es nicht Teil der wörtlichen Rede. Eine dritte Möglichkeit ist: »und Saul sagte zu David: ›Durch die Zweite verschwägere dich‹«. Dann würde sich abermals/die Zweite auf die von Saul angebotenen Töchter beziehen. Alle drei Varianten sind sprachlich möglich und finden sich in verschiedenen Übersetzungen.
Man kann 1Samuel 18 nicht ohne das vorangegangene Kapitel verstehen, denn beide Geschichten sind eng miteinander verknüpft. In Kapitel 17 wird die wohl berühmteste Episode aus Davids Leben erzählt: Der kleine Hirtenjunge, der mit Stecken und Schleuder gegen einen riesenhaften Soldaten der gefürchteten Philister antritt und diesen sogar besiegt. Mutig trat der bislang völlig unbekannte Junge dem Elitekrieger Goliat entgegen und rief:
»Du kommst zu mir mit Schwert, Speer und Schild – ich aber komme zu dir im Namen JHWH Zebaóts, dem Gott der Schlachtreihen Israels (…)!« (aus 1Samuel 17,45)
Zebaót: Der Titel Zebaót ist in seiner Bedeutung unklar, wurde aber früher häufig als »Herr der Heerscharen« übersetzt. Eventuell bedeutet er so etwas wie mächtig oder Thronender.
Nachdem David den Philister nun auch tatsächlich besiegt hatte, wird er noch auf dem Schlachtfeld zum König Saul gebracht. Mit dieser Audienz beginnt nun das aktuelle Kapitel.
Grob lässt sich 1Samuel 18 folgendermaßen gliedern:
1Samuel 18,1–4
Davids Audienz bei Saul und Beginn der Freundschaftmit Jonatan
1Samuel 18,5–9
Davids Erfolge im Krieg
1Samuel 18,17–28
Heiratspläne
1Sam 18,29 f.
Überleitung zu Kapitel 19
Es fällt schnell auf, dass 1Samuel 18 in verschiedene kurze Episoden untergliedert ist, die allesamt mit der Reaktion verschiedener Menschengruppen auf den Neuling David beschäftigt sind. Auf den ersten Blick scheint der Text recht einfach zu sein. Der siegreiche Held, der gerade den Riesen Goliat erschlagen hat, trifft hier auf den König Saul, auf dessen Kinder Jonatan, Michal und (eventuell auch Merab), sowie auf die Krieger – und alle scheinen dem jungen Mann sofort verfallen zu sein. Jonatan ist unmittelbar von David verzückt, sodass sich sogar sein Wesen mit dem Wesen Davids verbindet. Mit diesem Ausdruck wird im Alten Testament eine äußerst intensive und intime Verbundenheit zweier Menschen miteinander bezeichnet. Von Michal wird zweimal gesagt, dass sie David liebt. Und auch das Kriegsvolk ist ihm treu ergeben und liebt ihn, da er als Offizier mit seinem Heer zusammen ins Feld zieht (Vers 16). All diese Personen lieben David.
Aber es sind doch nicht alle, die vom Schönling David (1Samuel 16,12; 17,18) fasziniert sind. Oder besser: nicht mehr alle. Denn Saul, der David als Erster in Liebe zugetan war (1Samuel 16,21), entbrennt in immer größer werdender Eifersucht und Angst gegenüber seinem vermeintlichen Gegenspieler und versucht diesen anmaßenden Emporkömmling mehrfach direkt oder indirekt zu töten.
Da kam David zu Saul und stand vor ihm. Saul aber liebte ihn sehr und David wurde ihm zum Waffenträger. (1Samuel 16,21)
Saul liebte ihn: Es ist nicht klar, wer hier wen liebt. Möglich ist auch: »David liebte ihn und wurde ihm zum Waffenträger.«
Als das alles nichts hilft, behilft sich der König mit einem höfischen Intrigenspiel und jubelt David eine Frau unter. Wohl mit dem Wunsch, den Konkurrenten so kontrollieren und an sich binden zu können, schlägt Saul ihm eine Heirat mit seiner ältesten Tochter vor. David lehnt diese Ehe aber ab. Er sei einer solchen Ehre unwürdig. Also tritt Saul wieder an ihn heran und schlägt eine Hochzeit mit der jüngeren Michal vor. Wieder erhebt David Einwände. Er ist unwürdig und hat kein Geld, um sich eine solche Eheschließung leisten zu können. Aber Saul kommt ihm entgegen und David stimmt zu. Vielleicht tut er das, weil Saul diesmal diplomatischer vorgeht, vielleicht ist es aber auch die Liebe Michals, die ihn umstimmt. Offiziell ist David zur Ehe bereit, sieht aber das große Problem der Finanzen: Als Habenichts kann er keinen normalen Brautpreis zahlen. Saul umgeht das Problem, indem er eine ungewöhnliche Kriegsbeute zur Bedingung macht. 100 Vorhäute der Philister sollen es sein, kein Gold oder Silber wie sonst üblich. Also zieht David mit seinen Kriegern aus. Sauls Plan ist einfach: Die Übermacht der Feinde wird David schon vernichten. Ähnlich macht es David später selbst. Um Urija, den Ehemann Batsebas, aus dem Weg zu räumen und die Frau für sich zu haben, veranlasst der König einen Angriff auf eine feindliche Stellung – und Urija ist ganz vorne mit dabei (2Samuel 11,14–21).
(14) Am Morgen schrieb David einen Brief an Joab und sandte das Schreiben durch Urija zum Oberkommandanten. (15) Und in dem Brief schrieb er folgendes: »Bringt Urija dorthin, wo der Kampf am stärksten ist, und zieht euch dann hinter ihn zurück. Er soll erschlagen werden und sterben.« (2Samuel 11,14 f.)
Hier wie dort sterben viele Menschen, um einen (vermeintlichen) Gegner loszuwerden. Doch in 1Samuel 18 ist David wider Erwarten erfolgreich. Er bringt Saul sogar die doppelte Menge der verlangten Beute. Der Brautpreis führt David nicht in den Untergang und Saul muss seinen neuen Schwiegersohn zähneknirschend akzeptieren.
Übrigens ist der Ausdruck »die Knechte des Königs«, der im Abschnitt über die Verhandlungen zur Eheschließung vorkommt, erklärungsbedürftig. Hierbei handelt es sich nicht um Diener oder Sklaven, auch wenn beide Bedeutungen normalerweise mit dem Ausdruck »Knecht« gemeint sind. Vielmehr ist hier derjenige Kreis an Menschen gemeint, den wir eher als Kronrat kennen. Es sind also die Männer, die als Berater des Königs dienen und seine Entscheidungen ausführen. Sie kommen nahe an Minister späterer Zeit heran. Am Übergang vom 2. zum 1. Jahrtausend vor Christus, also ungefähr zur Zeit Sauls und Davids, gab es jedoch noch keine hochgradig ausgebaute Staatsstruktur und Bürokratie, die eine Übersetzung mit »Minister« oder Ähnlichem gerechtfertigt sein lässt. Aber so in der Art kann man sie sich vorstellen.
Doch der Reihe nach, wir wollen uns ja die Liebe in diesem Kapitel anschauen. Der Text beginnt mit der Feststellung, dass das Gespräch zwischen David und Saul, das sie nach dem Sieg über Goliat geführt haben, abgeschlossen war (1Samuel 17,55–58). Die spontane Audienz ist jedoch noch nicht ganz vorbei. Denn plötzlich tritt Jonatan auf die Bühne der Ereignisse. Den Kronprinzen kennen wir bereits aus 1Samuel 13 und 14, wo er uns als heldenhafter Krieger und besonnener Staatsmann vorgestellt wurde. Umsichtiger und weniger impulsiv als sein Vater, scheint er der ideale Nachfolger zu sein. Jetzt tritt er wieder aus der Menge der Umstehenden heraus und trifft unmittelbar auf David. Von diesem wissen wir vor allem eines: Er ist jung und schön.
Da sagte Samuel zu Issai: »Waren das alle Knaben?« Und Issai sagte: »Der kleinste ist noch übrig, schau er ist ein Hirte beim Kleinvieh.« (…) Da sandte er Boten und brachte ihn her. Er war rötlich, mit schönen Augen und einem guten Aussehen. (…) (aus 1Samuel 16,11 f.)
In 1Samuel 16 wird er zwar auch als erfahrener Krieger beschrieben, ansonsten erzählen die Texte bisher aber nur von einem jungen Hirtenjungen.
Nachdem Saul also den Jüngling David nach seinem wunderbaren Sieg über Goliat zu sich hatte kommen lassen, fragte er ihn aus. Wer war dieser Junge? Wer war seine Familie? Woher kommt er? David gibt dem Herrscher breitwillig Auskunft.
Jonatan hörte all dem zu und dabei geschieht etwas Unerwartetes: Das Wesen Jonatans verbindet sich mit dem Wesen Davids. Das hebräische Wort, das hier mit Wesen übersetzt wird, heißt nfäsch. Damit wird ursprünglich die Kehle bezeichnet und dann davon abgeleitet die (Lebens-)Luft, die durch die Kehle zieht. Aber mit ihr lässt sich auch Verlangen oder Gier beschreiben, ähnlich wie im Deutschen, wenn jemand den Hals nicht voll genug bekommt. Aber die wichtigste Bedeutung von nfäsch ist Leben, Lebensatem (Odem) oder Wesen, Seele. Mit diesem Ausdruck lässt sich also die Gesamtheit eines Menschen, mit allem, was ihn ausmacht, beschreiben. Vielleicht kommt das Fremdwort »Individuum« der Bedeutung am nächsten. Wenn sich die nfäsch Jonatans mit der nfäsch Davids verbindet, wird eine Beziehung beschrieben, die enger nicht sein könnte. Von solch einer Verbindung ist nur noch einmal in 1Mose 44 die Rede. Dort erzählt Juda dem vermeintlichen Ägypter Josef, dass sie unbedingt ihren jüngsten Bruder wieder mit nach Hause nehmen müssen, denn das Wesen ihres Vaters hatte sich mit dem Wesen ihres Bruders verbunden; wenn ihr Bruder in der Fremde bleiben würde, müsste ihr Vater vor Gram sterben (1Mose 44,30–31).
Ohne jemals ein Wort mit dem jüngeren Mann gewechselt zu haben, beginnt Jonatan diesen zu lieben. Noch auf dem Schlachtfeld und unter den Augen des Königs und seiner Gefolgsleute gehen die beiden einen Bund ein. Die treibende Kraft hierbei ist der Königssohn. Der junge Held wird vom Thronfolger mit dessen eigener Kriegsrüstung ausgestattet. David nimmt sie – im Gegensatz zur Rüstung Sauls (1Samuel 17,38–39) – an. Die Begründung für diese unvergleichliche Freundschaft liegt in einem einfachen Umstand begründet: Jonatan liebt David.
Die Forschung ist sich uneins darin, was genau die Übergabe von Kleidung und Rüstung bedeuten soll. Für die einen ist es symbolisch der Thronverzicht Jonatans, für andere ist es ein erotischer Akt der Selbstentkleidung. Dazwischen finden sich Stimmen, die in der Ausstattung des armen Hirtenjungen mit den königlichen Waffen ein Zeichen von Freundschaft sehen. Vergleicht man die Geschichte hier mit 1Mose 41,42 (Josef erhält vom Pharao neue Kleider) und Ester 6,11 (Mordechai wird durch Xerxes neu eingekleidet), so lässt sich zumindest eine gewisse Ehrung des Jünglings mittels der königlichen Kleidung ablesen.
Die Befürworter einer homosexuellen Deutung der Beziehung zwischen den beiden Männern verweisen gerne auf das Klagelied in 2Samuel 1, das David zum Tod Jonatans und eben auch Sauls anstimmt. Wichtig sei hier besonders Vers 26:
David sagt: »Es bedrückt mich deinetwegen, mein Bruder Jonatan;
du hast mich sehr erfreut.
Wunderbarer war mir deine Liebe als Liebe von Frauen!« (2Samuel 1,26)
Auf den ersten Blick scheint David hier seine homosexuelle Beziehung zu Jonatan über die heterosexuellen Verbindungen zu (seinen?) Frauen zu stellen. Schaut man sich den Vers genauer an, wird diese Deutung aber unschlüssig. Denn der Vergleich funktioniert ja nur, wenn die Liebe zwischen Mann und Frau gemeinhin als höchste denkbare Form der Liebe angenommen wird. Will David also eine sexuell-erotische Liebe einer anderen Form sexuell-erotischer Liebe gegenüberstellen? Dass hier Liebesarten miteinander verglichen werden, ist sicher. Aber welche es sind, lässt der Text hier völlig offen. Textstellen, die zwingend sexuell aufzufassen sind, fehlen jedenfalls in den Erzählungen um David und Jonatan. Man kann höchstens für die Stellen in 1Samuel 18 und 2Samuel 1 von homoerotischen Zügen sprechen. Letztlich erzählt uns die Bibel aber zu wenig über die beiden Männer, um ein abschließendes Urteil fällen zu können.
An dieser Stelle müssen einige Worte über das Thema Homosexualität und Bibel fallen. Denn zumindest auf das Alte Testament bezogen, führt die Suche nach homosexuellen Beziehungen im modernen Verständnis in die Irre. Wie die Auffassung zu Sexualität allgemein, so haben sich auch die Auffassungen zu Sexualität zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern grundlegend verändert, seit die Texte geschrieben wurden, um die es hier geht. Eine gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehung zwischen Frauen ist dem Alten Testament etwa gänzlich unbekannt. Sie wird schlicht an keiner Stelle erwähnt. Gelegentlich wird hier zwar auf Noomi und Rut verwiesen, die ja in einer Liebesbeziehung zusammengelebt haben, seit ihre Männer verstorben waren. Aber trotz des auf Hochzeiten sehr beliebten Spruchs Rut 1,16 f. sind die beiden eben kein Liebespaar im sexuell-erotischen Sinn.
(16) Rut sagte: »Dränge mich nicht, dich zu verlassen, indem ich mich von dir abwende! Denn wohin du gehen wirst, werde ich gehen, und wo du übernachten wirst, werde ich übernachten. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. (17) Wo du sterben wirst, werde ich sterben und dort will ich auch begraben werden. So soll JHWH an mir handeln und so soll er mir hinzufügen, denn nur der Tod wird dich und mich voneinander trennen.« (Rut 1,16 f.)
So romantisch diese Passage auch klingt: Man muss unbedingt bedenken, dass Rut die Schwiegertochter Noomis ist und keine Sexualpartnerin. Das Buch Rut handelt vielmehr von dem verzweifelten Versuch zweier mittelloser Frauen, in einer für sie feindlichen Umwelt zu überleben. Denn Witwen konnten, da sie Frauen waren, keine Arbeit finden, und waren ohne den Schutz und die Unterstützung eines Ehemannes der Willkür anderer ausgeliefert. Wahrscheinlich blieb ihnen ansonsten nur die Prostitution oder das Betteln. Das ist auch der Grund, warum Witwen eine besondere Aufmerksamkeit in der Prophetie haben. Am Umgang der Gesellschaft mit den hilf- und schutzlosen Witwen und Waisen (und Fremden, dazu später mehr), zeigt sich auch ihre Gottesfürchtigkeit.
Zurück zur Frage der Homosexualität, denn bei Männern scheint die Lage zunächst anders zu sein. Sie wird durchaus erwähnt. Aber hier ist bei sämtlichen Stellen der Zusammenhang beziehungsweise die Meinung zur Homosexualität unklar. Die wenigen alttestamentlichen Texte, die den gleichgeschlechtlichen Umgang beschreiben, sind folgende:
1.Die Gesetze in 3Mose 18,22 und 20,13 befassen sich aus rechtlicher Sicht mit einer Form von unerlaubter Sexualität. Dort heißt es: »Du darfst etwas Männliches nicht durch (?) Geschlechtsverkehr einer Frau beschlafen« (3Mose 18,22), beziehungsweise »Und was jeden Mann betrifft: Beschläft er etwas Männliches durch (?) Geschlechtsverkehr einer Frau, machen beide ein Gräuel. Des Todes sollen sie getötet werden, ihre Blutschuld ist an ihnen.« (3Mose 20,13). Die wörtliche Übersetzung dieser Verse ist bewusst nicht geglättet, um aufzuzeigen, dass es letztlich unklar ist, worum es hier geht. Die Formulierung mit »Männliches« lässt sich zumindest in Leviticus 18 auch auf die danach stehenden Tiere beziehen, kann aber ebenso gut einfach einen Mann bezeichnen. Geht es also um Sexualverkehr mit Tieren oder doch um Sex zwischen Männern? Aber was genau soll »Geschlechtsverkehr einer Frau« sein? Dieser Ausdruck findet sich nur in diesen Stellen und ist ebenfalls unklar in der Bedeutung. Man könnte ihn auch übersetzen als »auf Betten von einer (Ehe-)Frau« übersetzen. Das ist zwar unwahrscheinlich, zeigt aber die Unsicherheit, die bei der Deutung dieses Verbots besteht. Und letztlich ist nicht einmal sicher, ob es um einvernehmlichen Sexualverkehr oder um eine Vergewaltigung geht, worauf das Beschlafen hinweisen könnte.
2.In zwei Texten finden sich Erzählungen, in denen angeblich Homosexualität indirekt verboten und verurteilt wird. Die eine Erzählung ist in 1Mose 19,1–11 (»Sodom und Gomorra«) zu finden, wovon auch der heute zu recht veraltete Begriff der Sodomie abgeleitet wurde. Als göttliche Boten (Engel?) bei Lot in Sodom übernachten wollen, kommen »die Männer Sodoms« (1Mose 19,4) zum Haus und fordern die Herausgabe der fremden Männer, denn »wir wollen sie erkennen!« (1Mose 19,5). Mit dem Verb »erkennen« ist nicht nur ein intellektuelles Erfassen, sondern auch das Erlangen intimer Kenntnis des Gegenübers gemeint, weshalb es als beschönigender Ausdruck für den Geschlechtsverkehr genutzt werden kann. Das zeigt sich etwa in 1Mose 4,1: Adam »erkennt« seine Frau Eva und sie wird deshalb schwanger. Die Forderung aller Männer der Stadt Sodom ist also, Sex mit den Boten Gottes zu haben. Da diese als Männer erscheinen, muss es doch um Homosexualität gehen, oder nicht?
Nein, so ist es nicht. Denn die Einwohner der Stadt wollen die Fremden als Ausdruck von Macht vergewaltigen. Sexualisierte Gewalt war in der Antike und ist bis heute vor allem eines: Anwendung von Gewalt, um Macht zu demonstrieren (dazu mehr im Kapitel zur Vergewaltigung der Tamar). Das wird noch deutlicher in der zweiten Geschichte, die strukturell sehr ähnlich zu 1Mose 19 ist. Es handelt sich um die Erzählung in Richter 19, in der ebenfalls ein Fremder in einer Stadt übernachtet und wieder die Bewohner kommen, um ihn zu vergewaltigen. Das Unfassbare an dieser Geschichte ist, dass der Fremde seine Frau aus dem Haus wirft, um die Stadtbewohner von sich abzulenken. Und tatsächlich »erkannten sie sie und missbrauchten sie die ganze Nacht bis zum Morgen,« wie wir in Richter 19,25 lesen können. So erschreckend das Schicksal der Frau ist, es zeigt doch auch deutlich, dass die Männer der Stadt nicht an Homosexualität interessiert waren, sondern an einer Machtausübung mittels Sexualität. Denn an wem sie sich sexuell vergehen können, ist ihnen letztlich egal.
Aus diesen Geschichten und Gesetzen lässt sich also keine grundsätzliche und allumfassende Verneinung von Homosexualität ableiten.
Kehren wir daher zurück zu David und Jonatan. In der LGBTQIA+-Community2 werden diese beiden als positives Beispiel hervorgehoben. Denn die besondere und geradezu einzigartige Freundschaft zwischen diesen beiden Männern könne doch nur sexuell-erotisch sein, oder etwa nicht?
Die Heftigkeit, mit der der Streit um die Beziehung zwischen David und Jonatan geführt wird, verweist schon auf die Vereinnahmung dieser Erzählung durch verschiedene Kreise, die eine klare und unumstößliche Antwort auf die Frage wollen, ob Gott Homosexualität verdammt oder befürwortet. Beide Extreme verweisen auf ihre »Lieblingsbibelstelle« als stichhaltigen Beweis. Es fehlt jedoch schlicht an eindeutigen Aussagen zur Freundschaft in 1Samuel 18, um eine Bestätigung einer göttlich befürworteten Homosexualität bei David zu suchen. Ebenso liefern die oben besprochenen Stellen keine zwingende negative Antwort. Die Verbindung zwischen den beiden Männern ist einzigartig. Dies betrifft sowohl die Intensität der emotionalen Bindung als auch den Umstand, dass die alttestamentlichen Texte überhaupt ausführlich über sie berichten.
Warum aber vergleicht dann David seine Liebe zu Jonatan beziehungsweise Jonatans Liebe zu ihm (beide Übersetzungen sind möglich und schließen sich nicht gegenseitig aus) mit der Liebe von Frauen? Macht das nicht doch eine sexuelle Deutung der Liebe klar? Betrachtet man jedoch alle Liebestexte und die David-Jonatan-Geschichte insgesamt, so liegt die Erklärung nahe, dass David die Erfahrung wählt, die allgemein als Höhepunkt emotionalen Erlebens gilt. Das ist die sexuell-romantische Beziehung (Hohelied 8,6!), die für David aber in der Freundschaft zu Jonatan noch überboten ist. Es geht also um die Intensität der Liebe, die verglichen wird, nicht um die Art der Liebe. Schaut man sich die Erzählungen der Liebesbeziehungen Davids an, so wird schnell ersichtlich, warum er diesen Vergleich wählt: Die sexuellen Verbindungen, von denen wir Näheres erfahren, scheinen David nicht erfüllt zu haben und brachten früher oder später noch dazu tiefgreifende Probleme und Tragödien über David. Am deutlichsten wird dies bei der Beziehung zu Batseba, von der wir in 2Samuel 11 f. und 1Könige 1 f. lesen. Es ist eine Geschichte voller Ehebruch, Mord, plötzlichem Kindstod, Manipulation, Nötigung und sexualisierter Gewalt.
Die freundschaftliche Liebe Jonatans hat sich hingegen in allen Situationen bewährt und ihm mehr als einmal das Leben gerettet. Davids Verhalten ist in der Forschung treffend als »Homosozialität« bezeichnet worden. Damit ist gemeint, dass sich eine Person, unabhängig der sexuellen Orientierung, vor allem mit Personen des gleichen Geschlechts umgibt. Dies scheint bei David und seinen verschiedenen Gruppen aus Helden und Freunden der Fall zu sein (1Samuel 22,1–5; 2Samuel 21,15–22; 23,8–39; 1Chronik 11,10–47; 20,4–8). Die Beziehung zu Jonatan ist und bleibt jedoch einzigartig – für David und für die biblischen Erzählungen über Freundschaften insgesamt.