Das Mädchen Ida - Maya Khoury - E-Book

Das Mädchen Ida E-Book

Maya Khoury

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Beschreibung

Anfang der fünfziger Jahre taucht ein pädophiler junger Mann in einem kleinen Dorf auf. Er schließt Freundschaft mit der 8-jährigen Ida und deren Mutter, einer Kriegerwitwe, die sich schließlich in ihn verliebt und von einer gemeinsamen Zukunft träumt. Doch er ist nur an Ida interessiert. Er gewinnt bald darauf ihr volles Vertrauen, zumal die Mutter täglich arbeitet und Ida oft allein ist. Während er das Kind eines Tages sexuell missbraucht, wird er von der Mutter überrascht. Um sein Verbrechen zu vertuschen, tötet er die Frau, während Ida flüchtet. Idas Leben wird durch das erlittene Trauma geprägt. Sie schafft es nicht, ein normales Leben zu führen. Allmählich wird aus dem einstigen schönen Mädchen eine ungepflegte zur Körperfülle neigenden Frau. Sie wird zur Diebin, Prostituierten und Alkoholikerin. Am Ende leidet sie unter Wahnvorstellungen, die darin gipfeln, dass sie ihr neugeborenes Kind und den vermeintlichen Mörder ihrer Mutter tötet.

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Seitenzahl: 390

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Maya Khoury

Das Mädchen Ida

Seelenfeuer

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Mädchen Ida

Ein totes Mädchen

Der nette Mann

Das Verbrechen

Die Beichte

Ein Lichtblick

Kinderheim

Liebe

Der Kaufhausdetektiv

Der Italiener

Der Irrtum

Abgründe

Wahn

Epilog

Impressum neobooks

Das Mädchen Ida

Ein totes Mädchen

    10. Juni 1951

Ein heftiger Nordwind tobte an jenem Sonntagmorgen im Juni 1951 über die bleigraue Nordsee. Der böige Wind zerrte neckisch an dem roten Kleid des Mädchens, das wie schlafend im Gras hinter dem Deich lag. Sonst regte sich nichts. Kein Laut ging von dem Mädchen aus.

Aus der Ferne scholl lautes Stimmengewirr über den Deich. Trotz der sonntäglichen Frühe waren schon einige halbwüchsige Jungen unterwegs.

Wenig später erblickten sie von weitem ein im Gras liegende Mädchen mit langen blonden Zöpfen. Es trug ein rotes Kleid. Die Jungen näherten sich ihm neugierig, aber auch ein wenig ängstlich. Langsam begriffen sie, dass das Kind tot war. Sie rannten panisch davon, zurück ins Dorf, zur nächsten Polizeistation.

Kommissar Jansen hatte sich gerade angezogen, als Polizeiwachtmeister Dirks an seiner Wohnungstür klingelte. Er ahnte das Unheil schon vor dem Eintreten des unliebsamen „Besuchers“: Ein Einsatz stand ihm bevor! Wer sonst sollte um diese Zeit klingeln?

Und das am Sonntagmorgen. In jenen Augenblicken fragte er sich immer, warum er nicht einen anderen Beruf gewählt hatte.

Er hatte sich heute Morgen wie jeden zweiten Sonntag um halb zehn zum Frühschoppen mit einigen seiner Kollegen verabredet. Das konnte er nun wohl vergessen.

„Was ist passiert?“ fragte seine Frau, den Kopf voller Lockenwickler und gekleidet in einem blau-rotkarierten Morgenrock. Sie kam aus der Küche und hielt eine Teekanne aus weißem Porzellan in der Hand.

„Wahrscheinlich ein Mord,“ erwiderte ihr Mann kurz angebunden. Er wollte jetzt nicht darüber reden.

„Am Sonntag?“ staunte sie, als ob die Verbrechen nur alltags stattfänden und Feiertage ausgeklammert seien.

„Ich werde vielleicht mittags wieder hier sein,“ sagte Kommissar Jansen schlecht gelaunt und nicht auf ihre letzte Frage eingehend.

Als die beiden Polizisten am Tatort eintrafen, war der Strand nicht mehr so menschenleer. Eine Handvoll Neugieriger hatte sich in angemessenem Abstand vor dem toten Kind gruppiert. Leise und angeregt unterhielten sie sich, als wollten sie die Totenruhe nicht stören.

Die beiden Polizeibeamten standen schweigend vor dem Leichnam und blickten auf das tote Mädchen in dem leuchtend roten Kleid.

Kommissar Jansens schlechte Laune war augenblicklich einer melancholischen Stimmung gewichen, als er sich das kurze Leben des Kindes vor Augen hielt. Sein Leben hatte doch noch nicht einmal richtig begonnen.

Ausweispapiere oder Spuren, die über die Identität des Kindes Aufschluss geben konnten, wurden nicht gefunden, auch nicht in mittelbarer Nähe des Fundortes. Man würde wohl noch einmal gründlich suchen müssen.

Kommissar Jansen machte sich in einem kleinen Heft Notizen. Der Leichnam des Kindes, dessen Alter man auf etwa acht Jahre schätzte, wurde später in die Pathologie des Städtischen Krankenhauses überführt. Dort würde man sie untersuchen, um die Todesursache festzustellen, die hoffentlich in ein paar Tagen vorlag.

Der Kommissar befragte einige der Umstehenden, ob sie irgendetwas Ungewöhnliches im Zusammenhang mit dem toten Kind beobachtet hatten.

Unter den Leuten befand sich auch ein geistesgestörter Junge von etwa fünfzehn Jahren. Hinter vorgehaltener Hand nannte man ihn nur den „Bekloppten“. Er hieß Jens und war der Sohn von den Meiers aus dem Dorf. Jens versuchte verzweifelt, sich bemerkbar zu machen. Die Umstehenden beachteten sein hektisches Gebaren jedoch nicht. Kein Mensch nahm ihn ernst. Das kannte er schon. Und Jens Meier schlich sich gekränkt davon. Jedoch so „bekloppt“ wie die Leute das glaubten, schien er nicht zu sein. Er war zwar ein wenig in seinem Kopf zurückgeblieben und in seinen Bewegungsabläufen unkontrolliert; aber seine gestrige Beobachtung hatte sich in sein Hirn eingebrannt. Doch das wusste nur er selbst. Denn niemand sonst schien sich jetzt dafür zu interessieren.

Kein Mensch kannte das Mädchen. Seine Identität konnte ohne Ausweispapiere nicht festgestellt werden. Doch noch deutete nichts auf einen gewaltsamen Tod hin.

Später sollte auch keine Vermisstenmeldung eingehen. Zeugen hatten sich nicht gemeldet.

Hätten sie den geistesgestörten Jungen wahrgenommen und ihn angehört, würden sie jetzt einen kleinen Schritt weiter sein. Der Junge hatte das Mädchen einen Abend vorher von seinem Fenster aus beobachtet. Es war nicht allein gewesen.

Der Tod des kleinen Mädchens blieb zunächst rätselhaft, bis sich bei der Untersuchung herausstellte, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach an keinem natürlichen Tod gestorben war. Doch letzte Zweifel an der Todesursache konnten nicht vollständig ausgeräumt werden. Ebenfalls war festgestellt worden, dass der Tod am Deich eingetreten war. Der Fundort war identisch mit dem Tatort. Ansonsten hatte die Polizei keine verwertbaren Spuren gefunden. Der Mörder, wenn es denn einer war, hatte sich bestimmt schon aus dem Staub gemacht.

Erst Jahrzehnte später sollte Licht in das Dunkel dringen.

Der nette Mann

    Juli 1952

An einem heißen Sommertag im Juli spielte die kleine Ida vor der Wohnbaracke, die sie mit ihrer Mutter bewohnte, auf dem sandigen Weg mit bunten Murmeln. Das kleine aus Holz gebaute ehemals dunkelgrüne Häuschen lag in der Nähe eines Kanals. Es benötigte dringend einen Anstrich, denn die Farbe war durch das rauhe nördliche Klima ziemlich verblichen. Das Behelfsheim vermittelte einen kargen Anblick, war es doch an Einfachheit nicht zu überbieten. Aber die an der Frontseite rankenden gelben Teerosen ließen den ersten Eindruck vergessen. Ebenfalls die kleinen weißen Sprossenfenster verhalfen dem Haus zu einer schlichten Schönheit. Aber dafür hatte Ida noch keinen Blick. Eifrig warf sie ihre Murmeln in die kleine Mulde. Mit einem Stock hatte sie auch ein Hinke-Pinke-Spiel in den Sand gemalt. Aber im Moment gab sie den Murmeln den Vorzug, denn es war ihr zu heiß für das Hin- und Herspringen.

Ida hatte Schulferien und außerdem Langeweile.

Ida sah von ihrem Murmelspiel hoch. Ihr schien, als habe sie ein Geräusch vernommen. Tatsächlich hatte sie sich nicht getäuscht. Von weitem sah sie einen jungen Mann in einem grauen Anzug den Schotterweg herauf kommen. Er schlich vielmehr als dass er ging, denn die hochsommerlichen Temperaturen machten auch ihm schwer zu schaffen. Der junge Mann blieb bei Ida stehen und wischte sich die Schweißperlen mit einem großen karierten Taschentuch von der Stirn.

„Guten Tag,“ sagte er, „was spielst du denn gerade?“ Der Mann schaute interessiert auf die bunten Murmeln im Sand.

Komische Frage, dachte Ida, das sieht man doch. Meine Güte, ist der blöd.

„Ich bin Rolf,“ stellte er sich vor, als Ida nicht antwortete. „Und wie heißt du?“

Sie nannte ihm ihren Namen. „Woher kommst du denn?“ wollte Ida nun neugierig wissen.

„Ach,“ winkte Rolf ab, „das ist eine lange Geschichte.“ Er zog seine Jacke aus und streckte sich der Länge nach im Gras aus. Die Jacke legte er unter seinen Kopf. Er schien erschöpft zu sein. Nach einer Weile sagte er:

„Eigentlich komme ich aus Russland.“ Ida hatte keine Vorstellung, wie weit

Russland entfernt war. Im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg war ihr jedoch das Wort Russland geläufig. Auch in Erdkunde war das Land schon einmal angesprochen worden. Aber im Grunde interessierte sie seine Herkunft auch nicht.

Sie sah sich den jungen Mann nun etwas genauer an. Rolf ist nett, dachte sie wenig später. Sehr nett. Er unterhielt sich mit ihr und nahm sie Ernst. Das gefiel ihr. Denn ihre Mutter hatte wenig Zeit für sie, weil sie arbeiten musste. Der Vater war im Krieg gefallen.

Und Rolf hörte ihr aufmerksam. Als ob ich Rolf schon lange kenne, dachte Ida. Sie schaute ihn von der Seite an. Seine schwarz gelockten Haare hingen ihm wirr ins Gesicht und die hellblauen Augen strahlten Zuversicht und Vertrauen aus. Sie begann, ihn zu mögen. Dann schwiegen beide. Ida und Rolf lagen im Gras und hingen ihren Gedanken nach. Auch Ida war nun durch die sommerliche Hitze ein wenig schläfrig geworden.

Plötzlich setzte sich Rolf auf und sah auf Ida hinunter, die mit halb geschlossenen Augen in die Sonne blinzelte. Eine ganze Weile schaute er sie an, als präge er sich ihr Gesicht ein. Ida stutzte, denn so lange und ausgiebig hatte sie noch niemand angeschaut.

Ida setzte sich nun ebenfalls auf.

„Du hast so schöne blonde Zöpfe,“ flüsterte Rolf und strich ihr über den Kopf.

Dann öffnete er ihre Zopfspangen und entflocht ihr Haar, bis es ihr wie glänzende Seide über die Schultern fiel.

„Darf ich es einmal sie anfassen?“ fragte Rolf, wartete jedoch ihr Einverständnis nicht ab, sondern strich mit den Fingern seiner rechten Hand langsam durch ihr Haar. Ida staunte nicht wenig. Das hatte noch niemand auf diese Weise getan und es machte sie stolz, dass jemand ihr Haar berühren wollte.

„So weich wie fließende Seide,“ murmelte er und seine Miene überschattete sich, als zöge ein plötzliches Gewitter auf. Rolf schien mit einem Mal traurig zu sein.

„Ich hatte auch so ein kleines Mädchen wie dich,“ sagte er, mehr zu sich selbst und seufzte laut. Dann stand er abrupt auf und klopfte ein paar Grashalme von seiner Hose.

„Ich muss wohl gehen,“ meinte er. „Jetzt schon?“ beschwerte sich Ida sofort und war ziemlich enttäuscht. Er war doch kaum hier gewesen.

„Dann bin ich ja wieder allein.“

Rolf sah sie mitleidig an. „Wir sehen uns bestimmt wieder,“ tröstete er sie.

Da sah sie ihre Mutter auf dem Fahrrad ankommen. Sie stieg ab und blickte den Fremden misstrauisch an. Wen hatte Ida da denn angeschleppt? Sofort beschlich sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so wenig Zeit für ihre Tochter erübrigen konnte.

Aber wer sonst sollte für ihren Lebensunterhalt aufkommen?

„Mama, das ist Rolf,“ stellte ihre Tochter den jungen Mann vor. Der machte eine elegante Verbeugung. Von Höflichkeit verstand er etwas. Idas Mutter beeindruckte sein tadelloses Verhalten. Sie unterhielten sich vor dem Haus über belanglose Dinge und ihre Mutter schien schon bald von dem netten Rolf angetan zu sein. Ida war erfreut, dass Rolf bei ihrer Mutter nicht auf Ablehnung gestoßen war. Sie war da ziemlich wählerisch. Wenn sie jemanden nicht mochte, ließ sie das denjenigen durch ihre Schroffheit spüren.

Rolf wandte sich jedoch zum Gehen.

„Sie werden doch noch so viel Zeit haben, um mit uns eine Tasse Tee zu trinken?“ fragte Idas Mutter und hoffte, der junge Mann würde bleiben. Denn auch sie mochte ihn auf Anhieb. Rolf war sofort einverstanden. Ohne lange zu überlegen.

Idas Mutter bat ihn hinein und obwohl sie von der Arbeit sehr müde war, setzte sie einen Kessel mit Wasser auf und kochte eine große Kanne Tee. Dazu gab es Zwieback, der allerdings nicht mehr besonders mundete, weil er schon alt war. Das war Idas Mutter peinlich, aber Rolf beruhigte sie und sagte:

„Das macht doch nichts. Ich mag sie trotzdem.“

Rolf erzählte ihr, dass er in russischer Kriegsgefangenschaft gewesen sei und vor einem halben Jahr aus der Kriegsgefangenschaft entlassen worden war. Idas Mutter horchte auf. Russland, ein schreckliches Wort. Ihr Mann Hans war in Russland gefallen. Doch als sie Näheres erfahren wollte, wich Rolf aus und wechselte schnell das Thema. Sicher hat er seine furchtbaren Erlebnisse noch nicht verarbeitet, vermutete sie. Das war ja auch nicht einfach. Aber Rolf war wenigstens aus Russland zurückgekehrt. Viele andere hatten in der Fremde ihr Grab gefunden. Wie Hans. Doch das war alles schon so lange her. Und jetzt war Rolf da.

„Darf ich einmal wieder kommen?“ fragte er beim Abschied bescheiden. Natürlich durfte er. Keine Frage. Mutter und Tochter begrüßten seinen Vorschlag überschwänglich. Ganz besonders Ida freute sich. Dann war sie nicht mehr so allein, sondern hatte Gesellschaft und nette noch dazu.

Rolf erschien schon am nächsten Tag. Ida hatte ihn schon von weitem erspäht, denn

sie wartete bereits ungeduldig auf ihren neuen Freund.

Dieses Mal kam er auf einem blauen Herrenfahrrad angebraust, das Ida sofort bewunderte, weil es so schön in der Sonne glänzte.

„Woher hast du denn ein so schönes Fahrrad?“ staunte sie.

„Tja,“ meinte Rolf. Ida musste sich wohl mit der Antwort – die eigentlich keine war – zufrieden geben, denn er äußerte sich dazu nicht weiter. Und im Grunde genommen war es ihr auch egal. Hauptsache er war wieder da.

Rolf machte es sich im Gras bequem und streckte seine langen Beine aus.

„Ich kann dich ja mal mitnehmen,“ schlug Rolf nach einer kleinen Weile vor.

„Wir fahren am Deich entlang bis zum nächsten Ort.“

Ida war sichtlich beeindruckt und blickte ihn unsicher an. In den Osterferien war sie auch mit ihrer Mutter den Deich entlang gefahren. Sie saß hinten auf dem Gepäckträger. Mit Topfkuchen und Zitronensaft für unterwegs. Rolf bemerkte Idas plötzliche Unentschlossenheit.

„Das meine ich im Ernst,“ setzte er nachdrücklich hinzu. „Wir fahren gemeinsam. Schon bald. Wie wäre es mit morgen?“

Ida dachte nach. Musste sie nicht zuerst ihre Mutter fragen?

Rolf stand auf und setzte sich auf einen der alten schmiedeeisernen Stühle, die vor dem Haus standen und deren weiße Farbe teilweise schon abblätterte.

„Die müssten wohl einmal gestrichen werden,“ stellte er fachmännisch fest.

„Ich werde weiße Farbe besorgen.“

Ida horchte erfreut auf. Das klang irgendwie nach Zukunft. Als ob sich Rolf hier einrichten wollte. Das würde sicher auch ihre Mutter freuen.

Dann beförderte Rolf aus seiner Aktentasche eine ganze Tafel Schokolade. Das Mädchen bekam große Augen.

Die Schokolade hatte unter der heißen Temperatur gelitten und war fast geschmolzen. Aber schmecken tat sie trotzdem.

Später, als sie mit Rolf im Gras unter dem Apfelbaum lag, bekam sie Bauchschmerzen. Er strich ihr vorsichtig über den Bauch.

„Das hilft bestimmt,“ meinte Rolf. „Davon gehen deine Bauchschmerzen im Nu weg.“

Ida fand das zwar übertrieben, hielt aber still, um ihn nicht zu kränken, denn er meinte es doch so gut mir ihr.

Und tatsächlich waren ihre Bauchschmerzen bald verschwunden.

Rolf blieb den ganzen Tag. Er konnte lustige Geschichten erzählen, die er sich ausgedacht hatte.

Als Idas Mutter heim kam, freute sie sich über seinen Besuch. Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, ein paar Minuten auszuspannen. Das tat sie sonst immer nach der anstrengenden Akkordarbeit in der Fabrik. Sie ging zuerst in die Schlafkammer und zog sich eines von ihren drei Kleidern an.

Idas Mutter hatte von Bauer Harms, der in unmittelbarer Nähe einen kleinen Bauernhof betrieb, einen Sack mit Kartoffeln und eine Scheibe geräucherten Speck geschenkt bekommen. Bauer Harms half ihr öfter über die Runden, denn er mochte sie sehr gern. Seine Frau war vor drei Jahren an Diphtherie gestorben.

Nun stand sie an dem alten gusseisernen Ofen und briet Bratkartoffeln mit Speck und Zwiebeln. Ida kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Ihre Mutter hatte sich noch nie in einem Kleid ohne Kittelschürze an den Herd gestellt und Speisen zubereitet. Sicher wollte sie Rolf gefallen. Der hatte Dosen mit Ananas, Corned beef und eine Tüte mit Bohnenkaffee mitgebracht. Idas Mutter freute sich auf den Kaffee. Sonst gab es nur den unvermeidlichen Muckefuck, den Ersatzkaffee aus der blauweißgepunkteten Tüte von Linde.

Sie war sichtlich erstaunt. „Woher haben Sie das alles?“ fragte sie und schaute ihn misstrauisch an. Er wiegelte mit einer Handbewegung ab.

„Nicht fragen, sondern essen,“ befahl er lächelnd. „Auch wenn es nicht mein Lieblingsgericht ist. Ich esse für mein Leben gern Sauerkraut mit Stampfkartoffeln.“

Später, als Ida endlich in ihrem Bett lag, bot ihre Mutter dem netten jungen Mann das Du an.

„Ich heiße Erika.“ Sie freute sich, dass sich Rolf um sie bemühte. Jedenfalls vermittelte er den Eindruck, Interesse an ihr zu haben. Er war etwa im gleichen Alter wie sie, vielleicht etwas älter.

„Und ich heiße Rolf. Mit Nachnamen Schneider.“

Sie prosteten sich mit einem Glas Leitungswasser zu, denn alkoholische Getränke konnte sich Erika nicht leisten. Sie vermisste sie jedoch auch nicht. Vermisst hatte sie die köstlichen Sachen, die Rolf zum Abendessen beigesteuert hatte. Auch Idas wegen. Das Kind kannte ja solche Sachen gar nicht. Erika sah ihren Traum näher rücken: Eine kleine Familie. Sie war so lange allein gewesen. Zuerst der Krieg, der ihr den Mann genommen hatte, und danach? Erika sehnte sich nach einer heilen Welt mit einem Ehemann. Sie betrachtete ihn nachdenklich. Rolf hielt ihrem Blick stand und lächelte ihr mit erhobenem Glas zu.

Erika war auf dem besten Wege, sich ernsthaft zu verlieben.

Danach kam Rolf jeden Tag, manchmal schon am Vormittag. Ida freute sich

auf seine Besuche, unternahm sie doch mit ihm schöne Ausflüge. Ihre Mutter hatte dies erlaubt, weil Rolf so nett mit Kindern umgehen konnte. Sie durfte vorne auf der Fahrradstange sitzen und genoss den Fahrtwind, die kreischenden Möwen über der Nordsee, die Sonne und Rolfs belustigtes Lachen, als sie fast einmal den Deich hinuntergestürzt wären, weil er für Sekunden gedanklich abgelenkt war.

Doch da war Ida ziemlich erschrocken gewesen. Aber sie hatte sich nichts anmerken lassen.

Und seine Aktentasche beinhaltete immer leckere Sachen: Zitronensaft, Kekse, Schokolade. Er wusste, was kleine Mädchen gerne mochten. Er hatte doch schon einmal so ein kleines Mädchen. Unterwegs machten sie Halt und suchten sich eine geeignete Stelle aus, wo sie niemand störte. Dann tranken sie den Zitronensaft aus der Flasche, aßen Kekse und Schokolade. Ida gefiel das sehr und sie konnte sich nicht erinnern, schon einmal so schöne Sommerferien verbracht zu haben. Es störte sie auch nicht, dass Rolf ständig ihre Haare berühren wollte. Oder ihre Beine. Sie fand das ganz normal, denn er erwähnte einmal:

„Du bist jetzt meine kleine Tochter.“ Und Väter sind nun einmal so. Sie vergaß jedoch, dass sie ihren Vater kaum gekannt hatte und daher gar nicht wissen konnte, wie Väter „so sind“.

Abends aßen sie gemeinsam zu Abend. Erika bekam glänzende Augen, wenn sie Rolf ansah. Auch er schien sie genauso zu mögen und lud sie einmal am Wochenende zu einem Kinobesuch ein.

Erika zog ihr dunkelblaues Sonntagskleid mit dem großen weißen Kragen an, das eigentlich zu schade für das Fahrrad war. Aber sie besaß kein anderes – außer dem einen, das sie zuletzt beim gemeinsamen Abendessen für ihn trug und dann noch ihr Alltagskleid - und für Rolf wollte sie besonders schön sein. Zuletzt betupfte sie ihren Hals noch mit ein paar Tropfen des Duftwassers, einem Mitbringsel von Rolf. Sie hatte aufgehört zu fragen, aus welchen Quellen er seine Kostbarkeiten bezog. Sie schnupperte an dem verführerischen Duft. Erika war im Begriff, einen Mann zu verführen.

Das so genannte Kino im Dorf war zum Bersten voll. Sie nahmen auf einen der unbequemen Bänke in der Holzbaracke Platz und harrten der Dinge, die da kommen sollten.

Es gab rührende Liebesszenen, aber sie konnte sich nicht mehr auf die Handlung konzentrieren, weil sie ständig an Rolf dachte. Aber irgendwann war der Film zu Ende.

Schweigsam fuhren sie mit ihren Fahrrädern Richtung Kanalweg wieder zurück.

Unterwegs hielt er plötzlich an.

„Lass uns eine kleine Pause einlegen,“ schlug er vor. „Es ist so schön ruhig hier.“

Das stimmte, denn bis hierher verirrte sich um diese Zeit kaum jemand und die wenigen Nachbarn schliefen sicher. Er legte den Arm um Erika und zog sie an sich. Und sie fühlte sich wie im siebten Himmel und war unbeschreiblich glücklich. Doch jäh fand sie sich auf der Erde wieder, denn Rolf schien sich plötzlich zu besinnen und wollte weiter fahren. Erika war enttäuscht, denn sie wäre gern noch länger mit Rolf an diesem lauschigen Plätzchen geblieben. Zu Hause angekommen, verabschiedete er sich schnell von ihr und Erika war sichtlich entmutigt.

„Ich komme ja morgen wieder,“ tröstete er sie und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann radelte er eilig davon und Erika sah ihm noch lange nach.

Das kleine Haus kam ihr mit einem Mal so trostlos vor. Die Stille erdrückte sie. Erika nahm sich den Korb mit ihrem Strickzeug vor, um ihren Gedanken nachzuhängen.

Sie hörte nicht auf, an Rolf zu denken, bis ihr vor Müdigkeit die Augen zufielen.

Rolf ließ sich am nächsten Tag nicht blicken. Auch am übernächsten kam

er nicht. Nach vier Tagen ließ Ida den Kopf hängen. Sie vermisste Rolfs kleine Späße, überhaupt seine lustige Gesellschaft. Und seine schönen Geschichten. Nur für sie allein, hatte er immer betont. Hatte sie ihn vergrault? Sie grübelte über die letzten Tage nach und ihr fiel ein, dass sie sich manchmal ein wenig geziert hatte, wenn er sie streicheln wollte. Ja, sie trug die Schuld an seinem Fernbleiben, sie ganz allein. Ida machte sich die größten Vorwürfe. Aber das half ihr auch nicht weiter. Rolf kam nicht wieder. Ihrer Mutter würde sie lieber nicht verraten, warum sie Rolf vertrieben hatte. Sie regte sich so leicht auf, besonders in der letzten Zeit. Sie schien überarbeitet zu sein. Dass es für ihre Stimmungen auch andere Gründe gab, konnte ihre kleineTochter nicht wissen. Ida sehnte händeringend Rolfs Erscheinen herbei..

Aber Ida hatte in den langen Tagen des Wartens feste Grundsätze gefasst. Nie mehr würde sie sich gegen seine Zärtlichkeiten wehren! Er wollte doch ihr Vater sein. Da musste sie sich doch anpassen. Es lohnte sich, für Rolf kleine Opfer zu bringen. Das war doch nicht schlimm. Auch ihre Mutter vermisste Rolf in den ersten Tagen. Jedoch im Gegensatz zu ihrer Tochter hatte sie nicht so viel Zeit zum Nachdenken, denn ihre Arbeit nahm sie bis zu ihrem Urlaub voll in Anspruch. Und man musste Rolf wohl Zeit lassen, wusste sie denn, was der Krieg ihm angetan hatte? Bisher war er schweigsam geblieben, was seine Vergangenheit betraf. Sicher plagten ihn die Erinnerungen an schwere Kriegserlebnisse. Aber sie musste zugeben, dass ihr so gut wie nichts aus seinem Leben bekannt war. Verheiratet war er nicht, das hatte er einmal erwähnt. Und mit Nachnamen hieß er Schneider. Ein ganz normaler häufiger Name. Aber was wusste sie sonst von ihm? Eigentlich nichts, was ihr weiterhalf. Und erst recht nichts, was sein bisheriges Leben betraf. Von sich selbst gab er nie auch nur das Geringste preis. Im Nachhinein machte sie das stutzig.

Ihr Unterbewußtsein sträubte sich, hinter Rolfs glatte Fassade zu blicken. Sie gab sich der Illusion hin, er sei der Mann fürs Leben. Und warum sollte er das nicht sein? Sie hatte solange auf eine Änderung in ihrem Leben gewartet. Nun war die Zeit endlich gekommen. Und Idas Begeisterung für Rolf wollte sie nicht dämpfen. Die kindlichen Zärtlichkeiten zwischen ihrer Tochter und ihm hielt sie in ihrer Naivität für völlig normal. Kinder sind nun einmal anhänglich, wenn sie jemandem vertrauten und ihn mochten. Den Begriff Liebe verdrängte sie wohlweislich.

Erikas Urlaub neigte sich bereits dem Ende zu. Vielleicht hatte Rolf sie ja beide vergessen.

Doch er hatte sie nicht vergessen. Unverhofft erschien er endlich an einem Nachmittag, nach drei qualvollen Wochen des Wartens, als sei nichts geschehen. Ida war wieder allein. Sie saß vor dem Haus im Gras und flocht gerade einen Kranz aus Gänseblümchen, als sie seine quietschende Fahrradbremse vernahm. Achtlos warf sie den fast fertigen Kranz beiseite und eilte ihm entgegen. Und er schleuderte sein schönes Fahrrad einfach ins Gras und nahm sie in seine Arme.

„Hast du mich etwa vermisst?“ fragte er, sah sie lächelnd an und wartete ihre Antwort gar nicht ab. „Ich habe dich auch vermisst,“ sagte er und hielt sie von sich. „Lass mich einmal sehen, wie du aussiehst.“

Er hielt sie mit einem langen Blick fest. „So schön wie immer. Du bist meine kleine Nachtigall.“ Sie fühlte sich äußerst geschmeichelt und konnte vor Aufregung gar nicht sprechen. Rolf schien noch mehr sagen zu wollen, aber er schluckte die Worte hinunter. Er wollte Ida nicht erschrecken. Dafür war später noch Zeit. Er nahm seine Aktentasche vom Gepäckträger des Fahrrades.

„Ich stelle meine Aktentasche im Haus ab und wir radeln ein Stück,“ schlug er vor.

„Was meinst du?“

Ida war natürlich einverstanden. Ihr war jeder seiner Vorschläge recht. Sie hätte auch nicht gezögert, ihn zum Mond zu begleiten.

Die beiden fuhren den üblichen Weg und machten hinterm Deich eine kurze Verschnaufpause. Und Ida war selig.

„Ich habe dir auch etwas mitgebracht,“ sagte Rolf nun. „Das bekommst du zu Hause. Es ist in meiner Aktentasche.“

Er legte sich ausgestreckt ins Gras. „Es gibt aber noch eine Überraschung,“ schmunzelte er und legte seine Arme hinter den Kopf. Ida sah ihn erwartungsvoll an. „Was denn?“ fragte sie schmeichelnd.

Rolf konnte sich an ihr nicht satt sehen. Was für ein schönes Mädchen, dachte er und sagte:

„Ich habe ein Fahrrad für dich bestellt.“ Ida sprang sofort freudig auf und war kaum mehr zu bändigen. Sie tanzte ausgelassen auf einem Bein im Gras umher, bis sie das Gleichgewicht verlor und in voller Länge lachend auf den Boden fiel. Niemand aus ihrer Klasse besaß ein Fahrrad, nicht einmal Manfred, der Sohn des Friseurmeisters, der in ihrer Klasse ging. Damit würde sie ordentlich angeben können.

„Setz dich wieder hin und leg dich zu mir, meine kleine Nachtigall,“ lächelte Rolf ob ihres ausgelassenen Begeisterungsausbruches und deutete mit dem Arm auf das Gras.

Das tat sie. Ida legte ihren Kopf in seine Armbeuge. „So ist es schön,“ seufzte er zufrieden und blickte in den Himmel, an dem in rasender Geschwindigkeit dunkle drohende Wolken aufzogen.

Sie blieben eine ganze Weile so liegen, bis Rolfs Arms eingeschlafen war.

Vorsichtig zog er diesen zurück und setzte sich auf. Da bemerkte er, dass Ida fest eingeschlafen war. Er legte sich neben sie, hob ihren Rock hoch und streichelte sie mit entrücktem Gesichtsausdruck. Aber Ida wurde plötzlich wach und gähnte laut. Er lachte. „Komm Schlafmütze, steh auf, wir müssen zurück. Es gibt ein Gewitter.“ Tatsächlich war der Himmel inzwischen dunkel. Schwarze Gewitterwolken türmten sich am dunklen Himmel auf, als stände der Weltuntergang bevor.

Rolf trat mächtig in die Pedalen. Sie erreichten gerade noch vor dem dicken Regenguss Idas Zuhause. Ihre Mutter hatte schon Feierabend, verhielt sich jedoch äußerst zugeknöpft Rolf gegenüber, weil er sich so lange nicht gemeldet hatte. Jedoch war sie sich bewusst, dass es ihr nicht zustand, ihm Vorhaltungen zu machen. Aber Rolf störte sich nicht im Geringsten an ihrem Verhalten, sondern regelte das auf seine Weise. Er öffnete seine braune Aktentasche und legte ein paar hauchdünne Nylonstrümpfe für Erika auf den Tisch. Und ein paar weiße Stöckelschuhe aus feinstem Leder. Ihr blieb fast vor Staunen der Mund offen stehen und sie brachte kein Wort heraus. In Gedanken sah sie schon die neidischen Blicke ihrer Freundinnen. Rolf zeigte sein betörendes Lächeln.

„Für dich,“ sagte er überflüssigerweise. Er hatte nun auch die Mutter wieder versöhnlich gestimmt. Dann zauberte er eine wundervolle kleine Armbanduhr, verziert mit bunten Schmetterlingen, für Ida aus seiner Aktentasche. Und zwei rote Zopfspangen, auf dem jeweils ein kleines Vogelpärchen saß. Ida machte begeisterte Luftsprünge und freute sich unbändig.

„Woher hast du die Sachen?“ fragte Erika später, als sie allein waren und Ida in ihrem Bett lag.

„Geschäfte,“ erwiderte Rolf ungehalten und wollte nicht darüber sprechen. Er war der Meinung, das würde sie nichts angehen. Später aßen sie den Inhalt von Rolfs mitgebrachten Konserven: Wurst, Pfirsiche und Rindfleisch. Und Erdnussbutter. Davon hatte Erika noch nie etwas gehört. Doch Ida mochte die Butter nicht.

Das Verbrechen

    August 1952 bis März 1953

Er erschien schon vormittags in strahlender Laune und Ida strahlte. Sie gingen erst einmal ins Haus, denn Rolf gab vor, müde zu sein. Er wirkte ein wenig erschöpft und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Erika würde erst am Abend von der Arbeit heim kommen.

Rolf setzte sich auf das Sofa. „Setz dich neben mich,“ bat er lächelnd und seine Müdigkeit flog wie ein Vogelschwarm davon, als er seine kleine Nachtigall anblickte. Das ließ sich Ida nicht zweimal sagen.

Sie kuschelte sich sogleich an Rolf, der sie zart an sich zog. So saßen sie einträchtig

eine ganze Weile beieinander, bis er, nun ein wenig kurzatmig, sagte:

„Es ist so warm hier, warum ziehst du nicht dein Kleid aus?“ Und er verschlang sie gierig mit seinen Augen.

Ida stutzte, tat aber wie geheißen. Sie wollte doch nicht schon wieder so ein langes Fernbleiben von Rolf in Kauf nehmen. Etwas eigenartig fand sie seine Verhaltensweise schon, als er sie mit seinen Blicken abtastete. Aber Ida war zu jung, um sein Mienenspiel und sein Gebaren deuten zu können.

„Sag nur nicht deiner Mutter, dass du dein Kleid ausgezogen hast. Hörst du? Sonst passiert etwas ganz Schlimmes,“ bat Rolf eindringlich. „Und das willst du doch sicher nicht. Du wirst mich doch nicht enttäuschen?“

Er sah sie abwartend und ein wenig unschlüssig an. „Weißt du, du würdest mir sehr, sehr weh tun, Ida,“ gab er ihr zu verstehen. „Das soll doch unser Geheimnis bleiben. Es wird uns für immer verbinden.“

Ida blieb stumm.

„Und sicher werde ich dann nicht mehr wieder kommen. Nie mehr.“

Bei diesen Worten erschrak Ida fürchterlich.

Natürlich wollte sie das nicht. Nur das nicht. Sie würde niemandem ein Sterbenswörtchen verraten, auch ihrer Mutter nicht, versprach sie ihm hoch und heilig. Nun war Rolf zufrieden und wurde ein wenig fordernder, jedoch Ida hielt immer noch still. So schlimm war das auch wieder nicht. Väter müssen wohl so sein. Irgendwann hatte sie aufgeschnappt, dass Rolf ihrer Mutter gegenüber eine Heirat erwähnt hatte und dann würde sie, Ida, doch seine Tochter sein. Und er wollte ihr doch ein funkelnagelneues Fahrrad schenken! Und Ida klammerte sich an diese beiden Gedanken. Was könnte sie alles mit einem Fahrrad unternehmen. Sie könnte fahren, wohin sie wollte. Kein Ort war mehr zu weit. Auch ihre Großeltern würde sie nun öfter besuchen können.

„Willst du nicht dein Höschen ausziehen, meine kleine Nachtigall?“ flüsterte Rolf ein wenig aus der Puste, wie Ida fand. Aber warum sollte sie vor ihrem künftigen Vater Geheimnisse haben? Und sie kam seinem Wunsch, wenn auch zögerlich und verwundert, nach.

Ida spann ihren Gedankengang weiter. Ob sie sich wohl die Farbe des Fahrrades aussuchen dürfte? Ich werde ihn gleich danach fragen. Ich möchte auch ein blaues haben. Und glänzen sollte es. Es würde in der Sonne funkeln.

Erika war bei ihrer Akkordarbeit unkonzentriert. Sie plagten heftige Kopfschmerzen und sie sah sich gezwungen, sich bei ihrem Vorarbeiter krank zu melden, der zwar nicht begeistert war, aber schließlich nachgab. Krankmeldungen sah er nicht so gern, zumal ein wichtiger Auftrag zu erfüllen war.

„Morgen bin ich sicher wieder auf den Beinen,“ versprach sie. Ein Versprechen, das sie nie einlösen würde.

Erika packte ihre Sachen. Unterwegs kaufte sie noch ein Roggenbrot sowie ein Pfund Mehl für die Pfannkuchen in dem kleinen Lebensmittelladen ein. Sie wusste, dass auch Rolf gerne Pfannkuchen aß, am liebsten mit Apfelmus. Genau wie Ida. Und nächste Woche würde sie Sauerkraut mit Stampfkartoffeln zubereiten. Vielleicht war es dann auch nicht mehr so heiß. Bauer Harms hatte ihr ein Stück geräucherten Kassler versprochen. Dann machte sie sich auf den Weg. Sicher freute sich Ida, dass sie ein paar Stunden früher zu Hause war. Das schlechte Gewissen plagte sie wieder. Sie musste sich wirklich mehr um ihre Tochter kümmern. Aber vielleicht würde sich ja nun alles zum Guten wenden. Und sie könnte aufhören zu arbeiten, wenn Rolf für sie alle sorgen würde. Sie würden eine richtige Familie sein. Auch gegen ein zweites Kind hätte sie nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Das wäre schön. Und während Erika langsam den Kanalweg entlang fuhr, verlor sie sich in ihren Träumen. Ob Rolf jetzt schon da war? Erika freute sich auf Zuhause und begann, ein etwas schnelleres Tempo zu fahren. Ihre Kopfschmerzen waren mit dem Wind davongeflogen.

Schon von weitem sah sie sein blaues Fahrrad an der Hecke lehnen.

Ihr Herz machte einen freudigen Sprung. Wahrscheinlich waren die beiden im Haus

und Erika bemühte sich, leise zu sein, um sie zu überraschen. Vorsichtig stellte sie ihr Fahrrad an der Hecke ab und näherte sich auf Zehenspitzen der geschlossenen Haustür. Die unnatürliche Ruhe, die von dem Haus ausging, ließ sie ein wenig verwundern. Es war kein Laut zu hören, plapperte Ida doch sonst so gerne darauf los.

Sie öffnete behutsam die Tür und blieb starr vor Schreck im Türrahmen stehen. Ihr Gesicht war plötzlich leichenblass, denn das Bild, das sich ihren Augen bot, ließ sie innerlich erzittern. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass dieser Wüstling es die ganze Zeit auf Ida abgesehen hatte. Ihr Herzschlag schien eine Sekunde lang auszusetzen, um gleich darauf im Galopp gegen ihre Rippen zu hämmern. Das Blut rauschte in ihren Ohren und sie befürchtete, auf der Stelle ohnmächtig zu werden. Das darf ich nicht. Ich darf jetzt nicht ohnmächtig werden, ich muss jetzt durchhalten. Sie wurde von einem einzigen Gedanken beherrscht: Ich muss meine kleine Tochter von diesem Monster befreien. Und Erika mobilisierte den kläglichen Rest ihrer Kräfte und nahm sich gewaltsam zusammen, um Ida zu befreien.

Bei ihrem unerwarteten Eintritt sah Rolf unwillig zur Tür. Seine Miene schwankte zwischen Erstaunen, Erschrecken und Missbilligung. Aber Ida hatte nichts mitbekommen, denn sie lag auf dem Sofa außerhalb des Blickfeldes. Ausgestreckt wie eine nackte kostbare Porzellanpuppe. Rolf trug nur seine Unterhose, die er sich kurz vor Erikas Erscheinen wieder angezogen hatte. Erika brachte zunächst keinen Ton heraus. Doch dann besann sie sich, stürmte wie eine Furie auf Rolf los und stieß ihn zur Seite, so dass sein Kopf gegen den hölzernen Küchenschrank stieß. Rasch eilte sie zum Sofa und packte Ihre Tochter, die sie erstaunt anblickte.

„Mama, sei nicht böse, Rolf wollte doch nur nett zu mir sein und hat mit mir gespielt. Es hat nur ein ganz kleines bisschen weh getan. Und bald bekomme ich ein neues Fahrrad. Ein nagelneues.“

Warum war ihre Mutter nur so wütend? Nicht einmal die Aussicht auf ein so schönes Geschenk ließ sie erweichen. Doch Erika hörte ihr gar nicht zu, sondern stülpte ihr hastig das geblümte Kleid über den Kopf und zog ihr den Schlüpfer wieder an.

„Man zieht sich nicht vor einem Fremden am helllichten Tage nackt aus,“ flüsterte Erika, mehr zu sich selbst. „Fremder?“ dachte Ida irritiert. War Rolf denn ein Fremder? Und am helllichten Tag? Sie hatten doch nichts Verbotenes getan. Das hatte ihr Rolf doch versprochen. Sie hatten doch nichts Unrechtes getan?

Unvermittelt drehte sich Erika zu Rolf um und funkelte ihn zornig an. So aufgebracht hatte Ida ihre Mutter noch nie erlebt.

„Ich werde dich anzeigen, du mieses Schwein,“ schrie sie Rolf wütend zu. Ihre Stimme klang schrill und laut. Rolf hatte sich durch den Aufprall am Schrank verletzt. Mit der einen Hand hielt er seinen Kopf und mit der anderen zog er sich seine Anzughose über. Doch kaum hatte er ihre Worte erfasst, rastete er unvermittelt aus und stürzte sich mit hochrotem wutverzerrten Gesicht und hasserfüllten Augen auf Erika, die sich panisch in eine Ecke der Küche flüchtete. Dabei kippte sie eine kleine Blumenvase um, die auf einer Kommode stand. Das Wasser aus der Vase ergoss sich auf den Boden und die gelben Rosen breiteten sich dekorativ auf dem gemusterten Teppich aus. Alles schien unwirklich.

„Lauf zu Bauer Harms, Ida, schnell,“ rief sie ihrer Tochter in äußerster Panik zu.

Erika hockte zitternd mit angezogenen Knien in der Ecke, als erwarte sie ihr Todesurteil.

In dem festen Bewusstsein, nun doch etwas furchtbar Schlimmes angerichtet zu haben, stürmte Ida aus der Tür und rannte so schnell wie noch nie in ihrem Leben, nur von einem einzigen Gedanken beseelt: Meine Mutter ist in Gefahr. Aber warum nur? Warum waren beide so wütend aufeinander? Sie waren doch sonst ein Herz und eine Seele gewesen. Was war denn plötzlich anders geworden? Das konnte doch nur mit ihr selbst zusammen hängen. Am helllichten Tag. Ja, sie gab sich die alleinige Schuld an dem schrecklichen Zerwürfnis zwischen ihrer Mutter und Rolf.

Ida hetzte den Kanalweg entlang und erreichte den kleinen Bauernhof völlig außer Atem. Sie fand Bauer Harms im Stall vor. Das wusste sie, denn er war um diese Zeit meistens im Stall und am Tage fast nie im Haus aufzufinden. Erstaunt blickte er auf Ida, die vor Aufregung zunächst kein Wort herausbrachte.

„Meine Mutter,“ hechelte sie und rang nach Luft. „Was ist mit deiner Mutter?“ fragte er, nun hellhörig geworden. Anscheinend schien etwas Außergewöhnliches geschehen zu sein, denn so kannte er das Mädel nicht. Er versuchte, Ida zu beruhigen und berührte ihre Schulter.

„Ganz langsam Mädchen, was ist los?“

„Ein Mann,“ stammelte Ida, verschwieg aber Rolfs Namen. „Ein fremder Mann ist bei ihr. Sie müssen ihr helfen.“ Und sie begann heftig zu schluchzen und am ganzen Körper zu zittern.

Bauer Harms fackelte nicht lange. Er zog sofort die Gummistiefel aus, hängte seine

Arbeitskleidung an den Nagel der Stalltür und ging mit langen Schritten ins Haus, gefolgt von Idas kleinen Trippelschritten. Bauer Harms stürmte in den Hausflur seines Hauses.

„Stine,“ rief er mit lauter Stimme nach oben. Stine war bei Bauer Harms in Stellung und reinigte gerade die oberen Räume. Sie eilte nun angesichts der aufgeregten Stimme des Bauern die Treppe hinunter. Fragend sah sie ihn an. Er schien ziemlich durcheinander zu sein. So aufgebracht hatte sie ihn noch nie erlebt.

„Du passt auf das Mädchen auf, ich habe etwas Dringendes zu erledigen,“ befahl er. Seine Stimme klang barsch aber nicht unfreundlich.

Nun beobachtete sie mit Verwunderung, wie sich der Bauer am Dielenschrank zu schaffen machte, einen braunen Karton aus der Schublade herauszerrte und sich seine alte Wehrmachtspistole schnappte. Er prüfte die Munition und verstaute die Waffe hastig in seine große Hosentasche, ohne Stine und Ida zu beachten. Dann eilte er wortlos und mit entschlossener Miene nach draußen und schwang sich auf sein verrostetes Fahrrad, um Idas Mutter beizustehen. Ein fremder Mann? In letzter Zeit trieb sich allerhand Gesindel hier in der Gegend herum. Mit dem würde er es schon aufnehmen, denn er war ja bewaffnet. Solche Gedanken rasten durch seinen Kopf und ließen seine Furcht in den Hintergrund treten.

Stine hatte ihn mit erstaunten Augen nachgesehen. Schließlich legte sie Schrubber und Feudel aus der Hand und kümmerte sich um das völlig aufgelöste Kind. Zuerst trocknete sie seine Tränen mit einem blaukarierten Geschirrtuch. Dann wischte sie das bereits getrocknete Blut ab, das auf dem rechtem Bein wie ein dünner Faden heruntergeronnen war. Ida wurde ruhiger und ließ schließlich alles apathisch mit sich geschehen. Sie saß auf dem Stuhl wie eine hölzerne Statue, denn sie war zu keiner Regung mehr fähig.

„Willst du mir nicht sagen, was passiert ist?“ fragte Stine mit sanfter Stimme. Doch Ida blieb stumm. Stine war ratlos. Schließlich kochte sie für Ida den letzten Rest Kakao aus gerahmter Milch und guter Butter. Das half immer! So dachte jedenfalls die gute Stine in ihrer einfältigen Art.

Endlich hatte Bauer Harms das kleine Holzhaus erreicht. Die Tür stand sperrangelweit offen und er näherte sich zögernd, die schussbereite Pistole in der rechten Hand. Eine dunkle Ahnung beschlich ihn plötzlich, aber er zwang sich weiterzugehen und seine aufkeimende Panik zu überwinden.

An der Türschwelle wich er entsetzt einen Schritt zurück. Erika, seine stille Liebe,

lag auf dem Holzfußboden, die Arme von sich gestreckt, und starrte mit offenen verwunderten Augen an die Decke. Um ihr herum waren gelbe Rosen verstreut, als wollten sie den Leichnam schmücken. Von dem kleinen Wasserfleck aus der Vase war nur noch ein dunkler Fleck auf dem Holzfußboden zurückgeblieben.

Bauer Harms setzte sich auf einen der Stühle und war eine Weile fassungslos und zutiefst erschüttert. Wer hatte ihr das angetan? dachte er verwirrt. Doch dann besann er sich, stand auf und blickte in die Schlafkammer nebenan. Den fremden Mann, von dem Ida gesprochen hatte, konnte er jedoch nirgendwo entdecken. Er durchstöberte den kleinsten Winkel, sogar den Schlafzimmerschrank. Seine arme Erika war tot und ihr Mörder scheinbar verschwunden. Bauer Harms kniete sich neben die Tote. Er konnte keine Verletzungen entdecken, auch keine Würgemale. Oder Blut. Wie hatte er sie umgebracht? Er musste wohl die Polizei alarmieren. Unschlüssig erhob er sich und schaute sich um. Düster und unheimlich wirkte das kleine Zimmer. Der Schatten des Todes hatte sich im Haus ausgebreitet. Er konnte nichts mehr für Erika tun. Er hätte sie so gern geheiratet. Eine Hochzeitskutsche wollte er mieten. Und die kleine Ida würde Blumen streuen.

Als er wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, radelte Bauer Harms in den Ort, um von einer Gastwirtschaft aus telefonisch die zuständige Polizeiwache über einen Mord zu informieren.

Rolf war zornig und empört Er trat in die Pedalen wie ein wutschnaubender Stier und stieß irre Verwünschungen aus. Es war so schön gewesen mit Ida. Sie war so gefügig und hatte sich überhaupt nicht angestellt. Bald hätte er sie soweit gehabt und sie wäre ihm für immer total verfallen.

Was für ein schönes Leben hätten sie beide gehabt. Ein Leben, wie er es sich immer erträumt hatte. Und so kurz vorm ersehnten Ziel war alles auseinander gebrochen.

In seinem kranken Hirn tobten immer noch die wildesten Fantasien. Er gab sich eine kurze Weile seinen Träumen hin. Wie schön hatte Ida ausgesehen, als sie nackt auf dem Sofa lag. Die weiße makellose Haut ihres Körpers ging ihm nicht aus dem Sinn und seine Miene spiegelte dieses Bild wider. Doch mit einem Mal hatte die Alte an der Türschwelle gestanden und ihn angeglotzt wie einen Schwerverbrecher. Was hatte er denn getan? Schrie Ida etwa? Nein, er hatte sie doch glücklich gemacht. Ihre Augen hatten doch um seine Liebe gebettelt. Warum musste die dumme Kuh überhaupt früher als erwartet erscheinen? Und dann war die Kleine plötzlich verschwunden. Seine Ida. Durch Erikas Schuld. Warum musste sich das dumme Luder derart unbeherrscht aufführen. Er hasste hysterische Weiber. Die waren so fürchterlich unberechenbar. Es war bereits das zweite Mädchen, das er verlor.

Ida lebte zwar; aber er würde sie bestimmt nie wieder sehen. Das sagte ihm unweigerlich sein Gefühl. Seine Lotte aber war tot. Er hatte Lotte vor einem Waisenhaus in Wiesbaden getroffen, denn ihre Eltern lebten nicht mehr. Von da ab waren sie unzertrennlich. Er hatte sie verwöhnt. Alle Wünsche hatte er von ihren Augen abgelesen und erfüllt. Sie brauchte sie gar nicht mehr auszusprechen.

Niemand vermisste sie oder suchte nach ihr. Er hatte ihr falsche Ausweispapiere auf dem Schwarzmarkt besorgt. Sie trug nun seinen Familiennamen und fortan war Rolf ihr Vater. Der Schwarzhandel blühte und er mischte ordentlich mit. Dort konnte man alles kaufen, sogar eine andere Identität.

Auch Lotte brachte er an einem lauen Juniabend – war das nicht schon vor zwei Jahren? - fast so weit, dass sie ihm hörig war, wie ihm seine krankhafte wilde Fantasie vorgegaukelt hatte. Seine anschmiegsame Lotte. Seine geliebte Lotte. Rolf hatte ein kleines Gartenhaus in einer Gartenkolonie vor den Toren Frankfurts gepachtet. Sie genossen alle Annehmlichkeiten in vollen Zügen. Niemand störte ihre Zweisamkeit, denn so kurz nach dem Krieg, im Jahre 1950, war jeder mit seinen eigenen Sorgen und Kümmernissen vollauf beschäftigt. Und die Bürokratie im durchgeschüttelten Nachkriegsdeutschland funktionierte zwar einigermaßen, wies jedoch noch ziemliche Lücken auf.

Als Rolf meinte, nun sei die Zeit reif, seine Lotte in die Liebe einzuweihen, hatte sie laut zu schreien begonnen. Sie war vor seiner schamlosen Nacktheit erschrocken zurückgewichen. Dabei war er doch so zärtlich und liebevoll vorgegangen. Mit aller Behutsamkeit hatte er sie lange und ausgiebig gestreichelt, war dabei aber so erregt, dass er kaum seine ungezügelte Lust bändigen konnte.

Rolf verstand die Welt nicht mehr. Seine fügsame Lotte gehorchte ihm nicht mehr und wollte sogar davon laufen, als er sie lüstern packte und in sie eindringen wollte. War es da verwunderlich, dass er, Rolf, schnell handeln musste? Obwohl er doch alles für sie getan und ihr ein schönes Leben geboten hatte? Ein geübter Handgriff und sie lag tot vor ihm auf der gepolsterten Bank in ihrem schönen Gartenhaus. Wehmütig streichelte er sie ein letztes Mal und berauschte sich an dem Anblick ihres nackten unschuldigen Körpers, bis ihn die Erregung wie eine Welle überrollte. Er spielte mit ihren langen blonden Haaren und legte sie dekorativ über ihren Oberkörper. Schließlich konnte er nicht mehr an sich halten und vollzog an der stillen Lotte den Liebesakt. Ihm schien, als ob sie mit geschlossenen Augen lächelte. Dann packte er die wichtigsten Sachen zusammen und ergriff eilig die Flucht, um erst einmal für einige Zeit unterzutauchen.

Später zog es ihn in den stürmischen Norden. Er wollte schon immer einmal die Nordsee kennen lernen. Dort gab er sich überall als „Russlandheimkehrer“ aus. Bei solchen Geschichten packte die Leute das Mitleid. Der arme Mann, was hatte der alles erdulden müssen. Das schreckliche Russland war doch gleichzusetzen mit Eiseskälte, Hunger und Heimweh.

Und dann war ihm die kleine Ida über den Weg gelaufen. Die Ähnlichkeit mit Lotte war verblüffend. Die beiden hätten Schwestern sein können. Und plötzlich tauchte diese dumme Gans, die Mutter, auf und nahm sie ihm wieder weg. Und was noch schlimmer war: Sie hatte ihm sogar mit einer Anzeige gedroht. Rolf musste bei diesem Gedanken leise lachen. Wer hatte sich denn immer um Ida gekümmert? Sie doch sicher nicht. Ihr war doch die Arbeit über alles gegangen. Zeit für ihre Tochter konnte die doch nie erübrigen. Er, Rolf, war Idas Freund und Beschützer gewesen. Wieder musste er grinsen. Wie die sich auf ihn gestürzt hatte. Doch da war sie an den Falschen geraten.

Denn sie konnte natürlich nicht ahnen, dass Rolf zwölf Jahre lang ein brillanter Kämpfer bei der Fremdenlegion gewesen war. Erika starb durch einen erprobten Griff im Nackenbereich. Lautlos, schweigsam, schmerzlos. So, wie er einen Feind im Krieg töten würde. Und genauso, wie er gezwungen war, seine Lotte zu töten, weil sie sich plötzlich geweigert hatten, ihm zu Willen zu sein. Die arme Lotte. Sie könnte noch leben, wenn sie ihn glücklich gemacht hätte.

Rolf blickte auf seine Taschenuhr. Er musste sich beeilen, wenn er den Zug noch erwischen wollte. Geld und Ausweispapiere trug er immer bei sich.

Rolf wollte zunächst mit der Bahn nach Frankfurt fahren und von dort einen Zug nach Paris nehmen. Vorsichtshalber stellte er sein auffälliges Fahrrad ein paar Straßen weiter ab. Er legte die paar Schritte zum Bahnhof zu Fuß zurück.

Bauer Harms wartete vor dem kleinen Haus am Kanalweg auf die Polizei, die er inzwischen benachrichtigt hatte. Er scheute sich davor, noch einmal hineingehen. Er mochte dem Tod nicht mehr ins Auge schauen. Und er hoffte inständig, dass Erika vor ihrem Tod wenigstens nicht gelitten hatte. Endlich kamen sie. Der Zivilbeamte stellte sich mit Kommissar Jansen vor. Er war in Begleitung von Hauptwachtmeister Dirks, der eine Polizeiuniform trug. Auch sie konnten nach kurzem Augenschein ebenfalls keine äußeren Verletzungen feststellen. Bauer Harms wusste nichts Näheres zu berichten. Er war ja zu spät gekommen. Da lag Erika schon tot auf dem Boden in der Küche. Neben den gelben Rosen.

Vielleicht hatte die Tochter, Ida, ja etwas gesehen? Der Kommissar machte sich Notizen.

Der Leichnam wurde in die Pathologie zur Feststellung der Todesursache gebracht.

Jansen suchte die immer noch völlig verstörte Ida auf und befragte sie. Er wählte seine Fragen sehr behutsam und vorsichtig, um die Kleine nicht noch mehr zu erschrecken.