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Zwischen Dortmund, Bochum und Essen verstricken sich die Schicksale von sechs Personen zu einer mystischen Geschichte die sie immer tiefer in einen Strudel aus Verbrechen, Macht, Gier und Gewalt zieht. Und welche Rolle spielt die mysteriöse Emma, die immer auftaucht, wenn die Wege der sechs Personen eine entscheidende Wendung nehmen. Jagen sie einem Geist hinterher, oder gibt es diese Emma wirklich? Und wie ist es ihr möglich ihnen offenbar immer einen entscheidenden Schritt voraus zu sein? Titus gerät dabei in den Sog ein mehrere Jahrhunderte umspannendes Geheimnisses. Während er seinem Widersacher, einem charismatischem Sektenführer, durch das Ruhrgebiet hinterher jagt, entdeckt er eine vollkommen unbekannte Seite des Potts. Marie steht plötzlich im Mittelpunkt eines mysteriösen Kultes, der selbst in den Wirren des zweiten Weltkrieges, schon die Finger nach der zehnjährigen Emma ausstreckt. Die Prophezeiungen des Nostradamus scheinen Marie in eine Rolle zu drängen, die Titus vor die grausame Wahl, ob er um sie weiter kämpfen soll, oder ob er zurück in sein altes unscheinbares Leben flüchtet, stellt. Während er immer tiefer in den Albtraum hinein gezogen wird, entfaltet sich die wahre Bandbreite der Geschehnisse um Marie und Emma immer weiter und Maries wahre Identität kommt mehr und mehr ans Licht.
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Seitenzahl: 489
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Das Mädchen im Regen
Ein Ruhrgebiets Krimi
von
Markus J. Fels
Das mädchen im Regen
von
Markus J. Fels
This book is a work of fiction. Names, characters, places and incidents are either the product of the author's imagination or are used fictionally. Any resemblance to actual persons, living or dead, or to actual events or locales is entirely coincidental.
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Copyright © 2017 Markus Fels. All rights reserved. Including the right to reproduce this book or portions thereof, in any form. No part of this text may be reproduced in any form without the express written permission of the author.
Impressum
Texte: © Copyright by Markus J. [email protected]
Druck:epubli - ein Service der neopubli GmbH,
Berlin
Teil 1
Das Mädchen im Regen
Donnerstag, 17:35
Nathaniel hatte sich heute extra für die S-Bahn entschieden. Sonst nahm er immer den Regional-Express, saß dort in der 1. Klasse und war innerhalb von zwanzig Minuten zu Hause. Die Fahrt mit der S-Bahn dauerte doppelt so lang. Doch heute nahm er sich die Zeit um endlich die Entscheidung zu treffen, die er schon wochenlang vor sich herschob. In seinem hellen, klassisch geschnittenen Kurzmantel, mit der dunklen Anzughose die darunter zum Vorschein kam und den teuren italienischen schwarzen Lederschuhen wirkte er reichlich deplatziert in der S-Bahn. Zwar hatte auch die ein Erste-Klasse-Abteil, doch in dem durch eine Glastrennwand vom Rest des Wagens abgegrenzten kleinen Bereich, kam er sich vor wie eine Raubkatze in einem Käfig. Die Enge trug nicht gerade dazu bei, seine Anspannung zu mindern. Im Gegenteil, sie zeigte ihm nur noch mehr die Unausweichlichkeit der Entscheidung, die er heute zu treffen hatte. Er wusste, wenn er am Endpunkt der Fahrt ankam und durch die Glastür ging, dann gab es kein Zurück mehr.
Wie sehr er sie doch liebte. Ihre Ungezwungenheit, ihre Leichtigkeit, ihre Jugend. Aber er wusste, dass der Tag kommen würde, an dem ihm das nicht mehr reichte. Sein Lebensplan sah anders aus, da bedeutete sie nur ein Abenteuer, eine Ablenkung. Und das hatte sie nicht verdient. Rebecca sollte ihren Märchenprinzen finden, das wünschte er ihr von ganzem Herzen. Doch er war es nicht. Nathaniel verabscheute sich schon jetzt dafür, doch irgendwann würde sie hoffentlich seine Entscheidung verstehen. Im Rückblick hoffte er, konnte sie ihm dann verzeihen.
“Diese Kleine“, hörte er seinen Vorgesetzten auf der letzten Cocktailparty sagen, “ist wirklich ein netter Zeitvertreib, Nathaniel, aber du weißt schon, was von dir erwartet wird.“
Ja, klar, wusste er das, teure Kleidung, teures Styling; die Fahrt im Regional-Express war beinahe unter Niveau, aber immerhin, ein 1. Klasse-Ticket; Cocktail Partys nach Feierabend und dann natürlich mit der passenden Begleitung. Wie sie Rebecca gemustert hatten. Er hatte ihr ein teures, schwarzes Abendkleid gekauft. Extra eine Perlenkette, die mehr kostete, als Rebecca im ganzen Monat verdiente. Sie sah wunderschön aus an jenen Abend, reich und begehrenswert, doch es passte einfach nicht, als ob man in einen Zerrspiegel sah. Dass die anderen feinen Gäste über sie tuschelten, bekam Rebecca zum Glück nicht mit.
An jenem Abend war die Entscheidung, dass er sich von Rebecca trennen musste in ihm aufgekeimt. Jedoch hatte Nathaniel sie bis zum heutigen Tag herausgeschoben.
“Nächster Halt: Bochum Ehrenfeld“, verkündete der Lautsprecher. Die halbe Strecke lag nun hinter Nathaniel. Noch immer saß er als einziger Fahrgast in der ersten Klasse, wohingegen im anderen Teil des S-Bahn-Wagens eine unruhige Enge herrschte. Unterschiedlichste Personen drängten sich auf den Sitzplätzen oder standen eng beieinander im Gang. Unmittelbar vor der Glastrennwand stand eine junge Frau mit einem Kinderwagen. Trotz der Enge und der Unruhe kümmerte sich die frisch gebackene Mutter ruhig und hingebungsvoll um ihr Baby. Sie sang ihrem Kind offenbar etwas vor. Nathaniel konnte es nicht hören. Doch die Worte, die er ihr von den Lippen las und seine Erinnerungen brachten das Lied in seinen Gedanken zum Klingen. Sie sah Rebecca zum Verwechseln ähnlich. Braune, schulterlange Haare, die ihr keck ins Gesicht fielen, da sie den Kopf nach vorne geneigt hielt. Ihre fein geschnittenen Gesichtszüge und die kirschroten Lippen bewirkten, dass Nathaniel zu zweifeln begann.
“Ich bin sehr zufrieden mit ihrer Arbeit, Nathaniel. Sie haben in der kurzen Zeit, die sie bei uns sind, schon eine Menge für das Unternehmen geleistet. Ich wusste gleich, dass ich mich nicht in ihnen getäuscht habe.“ Er sah das Gesicht seines Vorgesetzten als Spiegelbild in der Scheibe des S-Bahnwagens vor dem dunklen Hintergrund der vorbeiziehenden Gebäude. Nathaniel selbst war von seinem Erfolg in seiner neuen Stellung als Abteilungsleiter der Kreditabteilung sehr überrascht. Doch offensichtlich schien das Glück des Tüchtigen endlich auf seiner Seite zu sein.
Rebeccas jugendliches, befreiendes Lachen drang an seine Ohren, wischte seine Gedanken fort. Dann erst erkannte Nathaniel seinen Irrtum. Er sah, dass ein junger Mann neben die Frau getreten war, die Rebecca so sehr ähnelte und ihr etwas ins Ohr flüsterte. Sie lachte erneut, und zufällig traf ihr Blick Nathaniels. Ertappt und verlegen senkte er seinen Blick. Es wäre so einfach und es war so schwer zugleich.
Bochum Hauptbahnhof stieg ein Herr ein, den Nathaniel auf knapp über sechzig einschätzte. Er erweckte Nathaniels Aufmerksamkeit, als er die Glastür zur ersten Klasse öffnete, diese betrat und auf einem Sitz schräg gegenüber Platz nahm. Erschrocken blickte Nathaniel in das Gesicht des Neuankömmlings. Fahl die Haut. Müde glanzlose Augen, die starr geradeaus blickten, ins Leere. Lippen die wohl schon Jahre nicht mehr von einem Lächeln umspielt worden waren. Nathaniel spürte deutlich die innere Anspannung des anderen. Es verärgerte ihn deutlich, dass Nathaniel ihm seinen verdienten Platz in der ersten Klasse durch seine bloße Anwesenheit streitig machte. Sein kurzer Blick zu Nathaniel hinüber sagte unverständlich, sprechen sie mich nicht an.
Um dem Blick des anderen auszuweichen schaute Nathaniel auf seine Heuer Tag Armbanduhr und stellte fest, dass ihn noch knapp zwanzig Minuten von seinem Treffen mit Rebecca trennten. Doch der Anblick seines Gegenübers, der den Raum für Nathaniel noch einmal eingeschränkt hatte, ließ ihn nicht los. Verstohlen musterte er noch einmal das frustrierte, müde, desillusionierte Gesicht. Und jetzt stach es ihm direkt ins Auge, was er unterschwellig schon im ersten Moment gespürt hatte. Dieser Mann war furchtbar einsam. Er schien Erfolg in seinem Beruf zu haben, denn er verfügte über Geld, das sah man seiner Kleidung an. Und er hatte hervorragende Umgangsformen, ein Gentleman der alten Schule, das zeigte seine Haltung. Doch das alles war nur eine Maske hinter die dieser Mann kaum jemanden blicken ließ. Er spielte eine perfekte Rolle, und er spielte sie wirklich hervorragend, eiskalt und skrupellos. Aber in diesem Moment, in diesem Augenblick verließ ihn die Kraft die Maskerade noch weiter aufrecht zu erhalten. Nathaniel erhaschte einen tiefen Einblick in seine Seele und sah die abgrundtiefe Einsamkeit. Ist es das was am Ende bleibt …? Nathaniel fröstelte. Er sah in der Seitenscheibe sein eigenes Spiegelbild und die Angst in seinem Blick.
Sie erreichten den Halt Dortmund-Kley. Ihm blieben noch zehn Minuten. Die Worte die er sich gedanklich schon zurechtgelegt hatte, gerieten durcheinander. Die Türen öffneten sich und die junge Mutter mit dem Kinderwagen stieg aus. Es war wie eine Warnung. Lass sie nicht gehen! Beinahe wäre er aufgesprungen um sie aufzuhalten. Im letzten Moment erkannte er jedoch seinen Irrtum. Es war nicht Rebecca und noch hatte er sie nicht verloren. Die Türen der S-Bahn schlossen sich mit dem charakteristischen Zischen und kurz darauf fuhr der Zug weiter. Neun Minuten und dreißig Sekunden.
Der Halt Dortmund-Oespel zog einfach vorbei. Er merkte es gar nicht. Die S-Bahn fuhr weiter und brachte ihn mit jedem Meter seinem Ziel näher und der unausweichlichen Entscheidung. Unausweichlich, war sie das? Wer schrieb ihm denn vor, dass er sich so entscheiden musste, wie er sich entschlossen zu entscheiden hatte? War er nicht ein freier Mensch? Frei in seinen Entscheidungen, in der Wahl des Weges, den er einschlagen wollte? Konnte er mit den Konsequenzen leben?
Die S-Bahn erreichte den Tunnel der zum Halt Dortmund-Universität führte. Die moderne LED-Beleuchtung an den Tunnelwänden lähmte Nathaniels Geist. Er konnte kaum noch einen klaren Gedanken fassen, starrte sein eigenes Spiegelbild in der dunklen Glasscheibe an, hinter der die Lichter der LED-Beleuchtung an ihm vorbeiblitzten. „Wenn ich in zwei, drei Jahren aufhöre, dann werde ich mit Sicherheit ihren Namen in meine Überlegungen wer mein Nachfolger sein soll mit einbeziehen“, echote die Stimme seines Vorgesetzten in seinen Ohren und wurde beinahe von den Geräuschen der S-Bahn übertönt. Als die S-Bahn ihr Tempo verringerte und die enge Tunnelröhre dem unterirdischen Bahnhof der Dortmunder Universität wich, und Nathaniel die wartenden Leute an sich vorbeiziehen sah, glaubte er für den Bruchteil einer Sekunde Rebeccas Gesicht zwischen den Wartenden erkannt zu haben.
Nathaniel erschrak. Es war als hätte ihm jemand eine Ohrfeige gegeben. Er sprang auf, riss die Tür zwischen der ersten und der zweiten Klasse auf und begann den Gang zwischen den Sitzreihen entlangzulaufen. Er musste wissen, ob er sie tatsächlich gesehen hatte, und ob Rebecca sich nun auch in der S-Bahn befand. Das wäre eine Katastrophe. Er wollte sie doch erst am Hauptbahnhof treffen. Jetzt, hier war er gar nicht darauf vorbereitet.
Und da stand sie, nichtsahnend; ließ ihr unglaubliches, befreiendes Lachen erklingen im Gespräch mit ihren Kommilitonen. Noch hatte sie ihn nicht bemerkt. Aber das konnte nur noch Sekunden dauern, weil Nathaniel kaum einen Meter von ihr entfernt mitten im Gang stand und sie anstarrte. Er hatte sich in seinem ganzen Leben noch nie so geschämt. Wie konnte er diesem bezaubernden, Engel gleichem Wesen nur so etwas antun? Wie um alles in der Welt konnte er auf dem Gleis am Hauptbahnhof auf sie zugehen und ihr sagen, dass es vorbei war, dass er die Beziehung nicht weiterführen konnte, weil es seine Karriere störte?
Ihm traten Tränen in die Augen. Tränen der Wut, auf sich selbst. Konnte er wirklich so egoistisch sein? Warum hatte es überhaupt so weit kommen können? Wollte er wirklich seine Ideale verraten. Das Gesicht des alten, verbitterten Mannes erschien vor seinen geistigen Augen. Erfolg, wollte er ihn wirklich um solch einen Preis?
Rebecca wand ihren Kopf in seine Richtung sie hatte ihn bemerkt. Erstaunen huschte über ihr Gesicht, dann Freude ihn zu sehen. Sie sprang auf ihn zu, ihre Arme zu einer Umarmung auseinandergebreitet. Dann entdeckte sie seine Tränen. „Nathaniel, was ist?“
Er wischte alles fort. Strich die Entscheidung aus seinem Kopf. Ließ die Illusion von Erfolg und Macht, Ruhm und Reichtum einfach platzen. Dann schloss er sie in seine Arme und drückte sie so feste, wie noch nie in seinem Leben. Ein Lächeln huschte über seine Lippen und seine Augen strahlten sie an, als er fragte: „Willst du mich heiraten?“
Freitag, 05:40
Fünf Uhr vierzig. Mein Wagen steht wie jeden Morgen an derselben Stelle auf dem Parkplatz vor dem S-Bahn-Halt Essen-Steele-Ost. Doch diesen Morgen werde ich in meinem ganzen Leben nicht mehr vergessen. Es regnet in Strömen, das Autoradio läuft, ich habe die Augen geschlossen und lausche der Musik und den aktuellen Berichten. Erst in einer halben Stunde werde ich die S-Bahn nach Dortmund nehmen. So wie an jeden Morgen. Die Scheiben sind beschlagen und die Regentropfen trommeln auf das Autodach. Plötzlich klopft es gegen die Scheibe der Beifahrertür. Mein Puls schnellt in die Höhe, ich reiß die Augen auf und ich starre durch die vom Regen mit Tropfen benetzte Scheibe in das fahle Gesicht einer jungen Frau. Sie bedeutet mir das Fenster zu öffnen. Ein Druck auf den Schalter des elektrischen Fensterhebers lässt die Seitenscheibe ins Innere der Beifahrertür hinuntergleiten. “Darf ich einsteigen? Es ist kalt und ich bin schon ganz nass“, fragt sie ohne sich vorzustellen. Ich mustere sie misstrauisch. Ihre Haare, mittig knallrot und nach oben gegelt, an den Seiten pechschwarz, sind unbestritten klatsch nass. Sie zittert, und soweit ich das im Dunkeln erkennen kann, sind ihre Lippen vor Kälte schon ganz violett. Oder hat sie eine ausgefallene Vorliebe für schräge Lippenstiftfarben? “Bitte!“, verleiht sie mit bebender Stimme ihrer Frage eine Dringlichkeit, welcher ich mich nicht entziehen kann. Obwohl in meinen Kopf sämtliche Alarmglocken schrillen, betätige ich den Knopf für die Zentralverriegelung, die mit einem deutlichen Klack aufspringt. Sie öffnet die Beifahrertür und lässt sich dankbar auf den Sitz gleiten.
“Ich bin Marie“, stellt sie sich vor und streckt mir ihre feingliedrige, blasse Hand hin. Ihre Fingernägel sind genauso knallrot lackiert, wie ihre Haare gefärbt sind. Der Ärmel ihres schwarzen Strickpullovers reicht ihr bis an die oberen Fingerknöchel. “Und du?“ Mein Blick springt von ihrer Hand zu ihren braunen Augen. “Ich nicht“, antworte ich und bereue meinen billigen Scherz so gleich. Doch ein Lächeln huscht über ihre Lippen; tatsächlich violetter Lippenstift. Wer denkt sich den so etwas aus? “Nein“, lacht sie, “wie heißt Du?“ Joseph, schießt es mir durch den Kopf, doch das scheint mir dann doch zu viel des Guten. “Titus“, antworte ich. Sie sieht mich verblüfft an und verkneift sich ein Lachen. Im Autoradio läuft Sweet Sixteen von Billy Idol und ich versuche ihr Alter zu erraten. Runaway Child, singt Billy. Ist Marie auch eine Ausreißerin? “Meine S-Bahn fährt gleich“, sage ich und versuche meinen Blick von ihrer an beiden Knie aufgerissenen schwarzen Jeans zu lösen. “Nach Dortmund?“ - “Ja.“ - “Da will ich auch hin.“
Sechs Uhr Zwölf. Gerade fährt die S-Bahn los. Marie saß in Fahrtrichtung, ich ihr gegenüber. Sie gähnt genüsslich, doch das bemerke ich nur aus den Augenwinkeln, da mein Blick einen Mann im hinteren Teil des Wagens fixiert, der die ganze Zeit schon zu uns hinüberschaut. Er war im letzten Moment, als das Türsignal schon ertönte, in die S-Bahn gestiegen. Ich überlege kurz, ob ich diesen Mann zuvor schon einmal gesehen habe. Nein, er scheint heute zum ersten Mal mitzufahren - wie auch Marie, die ich zuvor ebenfalls noch nie gesehen habe, obwohl ich die Strecke jeden Tag zur gleichen Zeit pendle. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich. Was will dieser Mann von Marie? Dass er etwas von mir will, schließe ich von vorneherein aus. Der Gedanke, dass sie eine Ausreißerin ist kommt mir wieder in den Kopf. Aber wie ein Mitarbeiter von einem Jugendheim sieht dieser Mann nicht aus. Ich schaue Marie an, versuche mir nichts anzumerken zu lassen. Doch sie durchschaut mich.
“Was ist los?“, flüstert sie und ich höre deutlich die Angst in ihrer Stimme.
“Vielleicht irre ich mich ja“, antworte ich, “aber dort hinten scheint sich jemand sehr für uns zu interessieren.“
Erfolglos versuche ich Marie mit einem Wink zu bedeuten, dass sie sich nicht zu dem Mann umdrehen soll. Als sie mich wieder anblickt, steht ihr der Schrecken deutlich ins Gesicht geschrieben.
“Kennst du den?“, frage ich Marie, die sofort verneinend ihren Kopf schüttelt. Ich sehe ihr an, dass sie lügt. “Wer ist das? Was will er von dir“, will ich wissen.
Marie sieht mich mit flehendem Blick an. Beinahe schafft sie es, dass ich nicht weiter bohre, doch meine Neugier ist einfach stärker.
“Du solltest wirklich nicht weiter fragen“, mahnt Marie mich und sieht mich eindringlich an, “Ich will nicht, dass du da mit reingezogen wirst.“
Ich überlege, wie ich ihr helfen kann. Offenbar traut sich ihr Verfolger nicht hier in der S-Bahn etwas zu unternehmen. Also ist Marie solange sie bei mir ist und nicht aussteigt relativ sicher, rede ich mir ein.
“Lass uns bis Bochum fahren und dort zur Bahn-Polizei gehen. Bei den vielen Reisenden, die um diese Zeit unterwegs sind, wird er es kaum wagen, dir etwas anzutun.“ - “Du verstehst das nicht“, zischt Marie, “Bitte misch dich nicht weiter ein. Ich muss nach Dortmund und komm schon zurecht. Ich habe dich nicht gebeten, mein Bodyguard zu spielen. Also lass es bitte.“
Die nächsten drei Haltestellen schweigen wir uns an. Weitere Fahrgäste steigen ein. Ein Mann in einer Monteur Kluft setzt sich unserem Freund gegenüber und versperrt mir die Sicht. Unschlüssig schau ich aus dem Fenster. In der Ferne ziehen die Lichter von Straßenlaternen vorbei, wie Geister in der Nacht. Wir erreichen den nächsten Halt. Es ist Bochum Hauptbahnhof. Ich sehe gerade noch, als der Monteur sich für einen Augenblick zur Seite dreht, dass Maries Verfolger in ein Mobiltelefon spricht. An der Tür die zwischen ihm und uns liegt steigen zwei Mann vom DB Sicherheitsdienst ein. Sie gehen an das hintere Ende des Wagens um die Fahrscheine zu überprüfen. Mittlerweile erreichen wir den nächsten Halt.
Ich frage mich, ob Marie mich nur eiskalt ausgenutzt hat, wie nah der Mann in Steele-Ost schon an ihr dran gewesen ist, was ich erwartet, erhofft habe, was ich in Maries Verhalten hineingedeutet habe - ob ich sie einfach ihrem Schicksal überlassen soll?
“Es tut mir leid.“ Marie scheint meine Gedanken erraten zu haben. Sie sieht mich mit ihren rehbraunen Augen an, dass ich es ihr irgendwie nicht mehr übelnehmen kann. Was bin ich auch für ein Narr, mir was einzubilden, bin ich doch mit Sicherheit mindestens fünfzehn Jahre älter als sie. In diesem Moment steht unser Freund auf, schlendert in unsere Richtung und lässt mich dabei nicht aus den Augen. Sein arrogantes, überhebliches Lächeln widert mich an. Marie bemerkt meinen Blick und dreht sich um. Ihr Blick streift unseren Freund und die beiden Sicherheitsleute. Hilfesuchend legt sie ihre Hand auf mein Knie.
“Hallo Marie. So früh schon unterwegs?“ Maries Verfolger lässt sich mit einer geschmeidigen Bewegung neben ihr auf den in verschiedenen Blautönen gemusterten Sitz nieder. Er fasst ihre Hand, zieht sie von meinem Knie weg und sieht mich dabei freundlich lächelnd an. Doch das Lächeln erreicht seine Augen nicht, die seine Skrupellosigkeit verraten. Ich merkte, wie sich Marie vor Angst und Ekel versteift. Ich nicke mit meinem Kopf in Richtung der Sicherheitsleute.
“Keine Chance“, antwortet mein Gegenüber, greift mit seiner freien Hand in die Seitentasche seiner schwarzen Bomberjacke und zieht einen checkkartengroßen Ausweis hervor. Ich erkenne das DB Logo. Dass der Ausweis falsch ist, wissen wir beide. Ich kann gerade noch den Vornamen lesen, Mike, der auf dem Ausweis angegeben ist, dann verschwindet er wieder in der Jackentasche. “Das sind doch meine Kollegen. Ich habe diese kleine Taschendiebin hier erwischt und bringe sie jetzt zur Bahnpolizei am Hauptbahnhof Dortmund“, erklärt Mike gelassen. Dass er damit durchkommt glaube ich ihm sogar.
“Wer wartet in Dortmund wirklich auf Marie?“, frage ich gerade heraus.
“Ach“, Mike tut erstaunt, “hat sie dir nicht erzählt, mit was sie ihr Geld verdient. Jusuf will doch nur, dass die arme Marie nicht unter die Räder kommt.“ Mir wird alles klar. Marie starrt beschämt zu Boden. Die Situation scheint aussichtslos. Aber kann ich Marie wirklich einfach ihrem Schicksal überlassen?
Flashback. “Was machst du in Dortmund?“ - “Und du“, weicht Marie mir aus. “Ich arbeite in einem kleinen Konstruktionsbüro. Wirklich nichts Aufregendes.“ - “Natürlich, so siehst du auch aus“, neckt sie mich und lacht. “Dann lass mich mal raten, wonach du aussiehst“, sage ich und mustere Marie. Plötzlich beugt sie sich vor und küsst mich auf den Mund. “Nimm mich doch einfach so, wie du mich jetzt kennst.“ Marie fährt mir mit ihren Fingern durch die Haare. Ein Schauer überflutet meinen Geist und löscht meine Vermutungen über Marie. “Okay“, antworte ich.
Sie ist auf keinen Fall Sweet Sixteen, das wird mir jetzt schmerzlich bewusst. In was für dunkle Machenschaften Marie verstrickt ist, will ich das wirklich wissen? Dass sie Hilfe braucht ist nicht von der Hand zu weisen. Ob ich der Richtige dafür bin, kann ich in diesem Moment nicht beantworten. Doch wenn ich auf mein Gefühl höre, dann ist da etwas, was mir sagt, dass ich ihr helfen sollte. Aber wie?
Die S-Bahn erreicht die Station Dortmund-Universität. Ich zermartere mir den Kopf um eine Lösung zu finden. Marie sitzt mir gegenüber wie ein Häufchen Elend, zumindest habe ich diesen Eindruck. Doch in dem Moment als die S-Bahn wieder anfährt, spring sie plötzlich auf. So plötzlich, dass selbst Mike für den Bruchteil einer Sekunde vollkommen überrascht ist. Genau diese Sekunde reicht Marie um an ihm vorbei zu hechten. Sie springt hinüber zu den nächstgelegenen Türen, als die beiden Sicherheitsleute auf den Tumult aufmerksam werden. Mike springt auf und will ihr nach. Ich werfe mich mit meinem ganzen Gewicht in seinen Rücken. Wir gehen zusammen zu Boden. Die Bremsen der S-Bahn kreischen auf und ein unglaublicher Ruck durchschlägt den Wagen, als Marie die Notbremse herunterreißt. Durch die abrupte Bewegung werden Mike und ich zur Seite gewirbelt, gegen den Unterbau der Sitzbank. Mike kommt unter mir frei und ist sofort auf den Beinen. Ich brauche unendlich quälende Sekunden länger um mich aufzurappeln. Die Sicherheitsleute stürmen heran. Marie zerrt an dem Hebel für die Notentriegelung der Tür, kaum, dass die S-Bahn stehen geblieben ist. Zischend löst sich die Verriegelung. Marie versucht vergeblich die schweren Türen aufzuschieben. Mike packt sie an der Schulter und reißt sie zurück. Ich taumle zu ihnen hin. Mein Arm windet sich um Mikes Hals. In irgendeinem Film habe ich eine ähnliche Szene schon gesehen. Doch wie schwer es ist jemanden mit solch einem Griff zurück zu zerren, erkennt man nicht, wenn man auf dem Sofa vor der Flimmerkiste sitzt. Mike beachtet mich gar nicht. Er zerrt an Maries Pullover.
„Was soll das“, schreit einer der Sicherheitsleute und ist bis auf wenige Schritte heran. Marie rammt mit unglaublicher Wucht und der Kraft der Verzweiflung ihren Ellenbogen in Mikes Magengrube und dann unter sein Kinn. Sein Kopf ruckt nach oben, sodass ich ihn besser zu packen bekommen. Ungeschickt verlagere ich mein Gewicht nach hinten und schaff es doch, ihn von Marie wegzuzerren. Marie bekommt irgendwie die linke Tür aufgeschoben. „Auseinander“, schreit der Sicherheitsmann und sieht wirklich wütend aus. Marie springt aus der S-Bahn. Glücklicherweise kann sie sich auf den unebenen Boden neben der Bahn abfangen. Doch der Sprung von gut einem Meter Tiefe staucht ihren Körper heftig zusammen, dass sie keuchend nach Luft schnappt. Ich sehe gerade noch aus den Augenwinkeln, wie sie sich irgendwie wieder aufrappelt und in Richtung Notausgang humpelt, der sich nur wenige Meter von den Türen der S-Bahn entfernt in Fahrtrichtung befindet. Der Sicherheitsmann drängt sich an Mike und mir vorbei und streckt seinen Kopf aus der S-Bahn, schreit Marie hinterher, „Stehenbleiben!“ Seine Stimme schallt bedrohlich durch die Tunnelröhre. Der zweite Sicherheitsmann versucht Mike und mich auseinander zu bringen. Bevor es ihm gelingt verpasst mir Mike noch einen Faustschlag ins Gesicht. „Idiot“, spuckt er mir entgegen.
„Die ist weg“, hör ich den Sicherheitsmann sagen. Er schiebt mit Wucht die Tür zu und hilft dann seinem Kollegen uns auseinander zu bringen. Sekunden später steht Mike an eine Trennwand gelehnt auf der einen Seite, die Hand des Sicherheitsmanns auf seine Brust gedrückt und ich auf der anderen, das Blut, das aus meiner Nase tropft, mit einem Taschentuch stillend. Der zweite Sicherheitsmann spricht in sein Sprechfunkgerät im Kontakt zum S-Bahn-Fahrer und der Fahrdienstleitung.
Marie, geht es mir durch den Kopf. Werde ich sie je wiedersehen?
Freitag, 05:13
Noch immer dröhnte es in seinen Ohren von der lauten House-Musik in der Disco. Irgendwann war es ihm zu langweilig geworden. Seine Freunde waren schon vor einer guten Stunde gegangen. Nach und nach war es auf der Tanzfläche immer leerer geworden. Ein heißes Hühnchen würde er diese Nacht eh nicht mehr abschleppen. Die Wirkung der Energydrinks ließ zusehends nach und der Alkohol, den er sich gläserweise in den hohlen Kopf geschüttet hatte machte ihn zusätzlich müde. Auf dem Weg zum Bahnhof hatte er einige Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die kalte Nachtluft ließ seine Gedanken nur wenig klarer werden. Klares Denken hätte auch nur bedeutet, dass er sich wieder erinnert hätte. Da war Mark das Schwindelgefühl in seinem Kopf allemal lieber.
Mark versuchte seinen Blick auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr zu fokussieren. HD war das nicht, was seine Augen ihm da zeigten. Es gelang ihm nicht herauszufinden wie spät, oder eher wie früh es war. Er entschloss sich auf den Bahnsteig zu gehen und einfach so lange zu warten bis die nächste S-Bahn kam. Er nahm den Aufzug, denn in seinem Zustand war die unendlich erscheinende Treppe keine Option und die Rolltreppe war eh defekt.
Eine Reflektion in der Glasscheibe der Aufzugtüren durchdrang plötzlich seinen vom Alkohol ummantelten Sinn und ließ ihn zusammenzucken. Er erkannte das Spiegelbild seiner Exfreundin, so als ob sie hinter ihm auf dem Bahnsteig stehen würde. Mark wirbelte herum. Doch seine Ex stand da nicht. Das Gefühl, dass dort aber vor einer Sekunde noch jemand gestanden hatte ließ Mark nicht los, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie dass hätte möglich sein sollen. Verwirrt verließ er den Aufzug. Er schaffte es zu einer Sitzbank und ließ sich auf das kalte, glatte Holz nieder. Sein Blick erfasste die große Bahnsteiguhr. Viertel nach fünf. Wann wohl die nächste Bahn kam?
Das Geräusch des anspringenden Aufzugmotors riss ihn aus seinen müden Gedanken. Er beobachtete, wie die Kabine durch die Öffnung im Boden des Bahnsteiges nach unten sank. Vielleicht jemand der ebenfalls nach einer durchzechten Nacht nach Hause will, hoffte Mark, mit dem ich noch quatschen kann. Doch als die Aufzugskabine wieder die Bahnsteigebene erreichte war sie leer. Trotzdem öffneten sich die Türen.
Was geht denn hier ab, dachte Mark und sprang auf. In diesem Moment bemerkte er, dass alle Bahnsteige menschenleer waren. Es war so still, dass er sogar das Sirren der Neonröhren über sich hören konnte. Was zum Teufel...! Mark erschauderte. Voller Angst sah er sich um. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken zur Disco zurück zu gehen, um nach anderen Leuten zu sehen. Das polternde Geräusch der in diesem Moment einfahrenden S-Bahn nahm ihm jedoch die Entscheidung ab.
Erleichtert betätigte er den Türsensor, nachdem der Zug zum Stehen gekommen war. Die Türen öffneten sich und Mark stieg ein. Er suchte sich den nächsten Sitzplatz aus, ließ sich auf die harte Polsterung sinken und schloss die Augen. Kurz darauf zogen die Elektromotoren an und die Bahn fuhr los.
“Hallo, mein Lieber“, drang eine krächzende weibliche Stimme an sein Ohr. Sie klang so nah, als ob die Frau ihm direkt gegenübersaß. Doch das konnte nicht sein. Da war niemand, als er sich hingesetzt hatte. Mark öffnete die Augen und blickte direkt in das ungepflegte, runzelige, schmierige Gesicht einer alten Frau. Mark konnte nicht entscheiden, ob ihre schmutzige heruntergekommene Kleidung oder ihr Atem mehr stank. Angewidert setze er sich ganz gerade hin um wenigstens ein wenig mehr Abstand zwischen ihr und sich zu bekommen.
“Hast versucht zu vergessen“, krächzte die Alte unvermittelt, “Hast es nich geschafft. Kannst se zurückbekommen, wenne willst. Doch musste ne andere vor Bösem retten.“ Mark verstand nur Bahnhof. Er wollte aufstehen und sich woanders hinsetzen. Doch die Alte packte mit ihrer dreckigen Hand, die in einem Fetzen von einem Handschuh steckte seinen Oberschenkel und drückte ihn mit erstaunlicher Kraft zurück auf den Sitz.
“Hey, lass mich sofort los, du alte Hexe!”, rief Mark.
„Nein, hör zu!“, schnitt die Alte ihm das Wort ab und starrte direkt in sein Gesicht. Mark versuchte ihrem durchdringenden Blick auszuweichen. Doch er musste sie ansehen, er konnte ihrem Blick nicht ausweichen.
„Hör zu!“, krächzte die Alte, und es schien als würde sie kaum noch Luft bekommen. Mark befürchtete, dass die Frau jeden Moment direkt vor ihm starb. Er wich angeekelt noch weiter zurück, sodass die Sitzlehne schon schmerzhaft gegen seine Rippen drückte. „Du musst se retten. Du bist ihre letzte Chance. Ihr seid auf besondere Art mittnander verbunden.“
Mark starrte die Alte voller Panik an, ihm war heiß und kalt zugleich. Er wollte hier einfach nur noch weg. Doch die Alte vermochte ihn zu bannen, so sehr er sich auch dagegen wehrte. Ihm schossen vor Panik Tränen in die Augen.
„Lass mich los!“ Er schrie sie an, stemmte sich mit aller Kraft gegen sie.
„Morgen Nacht,“ krächzte die Alte so leise, dass es von Marks panischem Geschrei überdeckt wurde, doch er hörte es trotzdem.
Dann ließ die Alte ihn plötzlich los, wich so geschwind zur Seite, dass Mark vollkommen überrascht, erschöpft, schwer atmend in sich zusammensackte. Er verlor für Sekunden das Bewusstsein.
Das Kreischen der Bremsen als die S-Bahn den nächsten Halt erreichte, holte ihn zurück in die Gegenwart. Am ganzen Körper zitternd, sprang er auf und blickte sich gehetzt um. Doch die Alte war verschwunden. Er rannte durch den ganzen Wagen, doch er fand sie nicht. Dann bemerkte er die geöffneten Türen und sein Gehirn hatte nur noch einen Befehl für ihn. Raus hier! Er hechtete hinaus.
Wurde jedoch sofort abrupt gestoppt, als er brutal vor eine Säule, die er gar nicht wahrgenommen hatte, krachte. Er hörte noch das schrecklich knackende Geräusch in seinem Nacken, dann verlor er abermals das Bewusstsein.
Regungslos lag Marks Körper vor der Säule auf den körnigen Asphalt. Die Türen der S-Bahn schlossen sich geräuschlos. Sekunden später fuhr der Zug los. Als das hintere Ende des Zuges gerade den Bereich des Bahnsteigs verlassen hatte, verlosch die komplette Beleuchtung im Inneren des Zuges. Zuletzt waren die blutroten Rücklichter der S-Bahn zu sehen, als diese im Dunkel der Nacht verschwand. Das Signal vor dem Bahnsteig, rechts von den Gleisen sprang auf Rot. Doch auf der Aufnahme dieser Nacht der Videoüberwachung war der Zug nicht zu sehen. Und im Fahrplan war für fünf Uhr und eineinhalb Minuten auch kein Zug aufgeführt. Ein kühler Wind strich über den menschenleeren Bahnsteig und wirbelte Staub und lose Blätter auf. Schatten huschten an Mark vorbei und der S-Bahn hinterher. Passagiere die irgendwann den letzten Zug verpasst hatten und nie angekommen waren. Doch in der Dunkelheit geriet eine Seele in Gefahr und Mark alleine würde sie retten können. Noch war die Zeit auf seiner Seite. Doch mit jedem Atemzug verstrichen die Sekunden und der Countdown war schon längst gestartet. In dieser Nacht wurden die Weichen gestellt im Leben von sechs Menschen, die sich zuvor in dieser Konstellation noch nicht begegnet waren. Doch das Schicksal führt sie zusammen. Es beginnt, hat bereits begonnen.
Hustend erwachte Mark Minuten später. Sein Kopf dröhnte, drohte jeden Moment zu zerplatzen. Er lag mit dem Gesicht auf dem Asphalt, spürte zwischen Nase, Lippen und Boden etwas feuchtes, Warmes. Er hob seinen Kopf und berührte mit seinen Fingern vorsichtig die Stelle zwischen Nase und Oberlippe. Obwohl er das Schlimmste befürchtete, ließ ihn der Schmerz zusammenzucken. Als er seine Finger betrachtete, sah er Blut. Es dauerte Minuten bevor er sich auf seinen Knien und den Händen aufgestützt, halbwegs aufgerappelt hatte. Was für ein Alptraum. Es gelang ihm sich an der Säule, gegen die er geknallt war, weiter hochzuziehen, bis er aufrecht stand. Seine Knie zitterten unter dem Gewicht seines Körpers. Sein Kopf, sein Nacken, alles schmerzte. Er lehnte seine Stirn an das kalte Metall der Säule. Es gelang ihm ein Taschentuch aus der Tasche seiner Jeans zu ziehen und unter seine Nase zu drücken.
Er hatte doch gar keine Drogen genommen. Oder hatte ihm jemand was in seinen Drink gemischt? Oder…? Nein, den Gedanken wollte er gar nicht zulassen. Das konnte nicht passiert sein.
Er hob seinen Kopf um zu sehen an welcher Haltestelle er sich befand. Verschwommen erkannte er die weißen Buchstaben auf dunkelblauem Grund. Langendreer. Er war tatsächlich nur zwei Haltestellen gefahren. Ihm war es wie eine Ewigkeit vorgekommen. Noch immer konnte er den Gestank der Alten riechen, sah ihr schrumpeliges, dreckiges Gesicht direkt vor seinem, konnte sogar ihren heißen, fauligen Atem auf seiner Wange spüren.
Mark versuchte sich einzureden, dass das alles nicht passiert war, dass es nur seiner Fantasy entsprungen war. Doch er wusste es besser. Sie hatte gesagt, dass er Jessy zurückbekommen würde. Doch wollte er das nach dem Streit am Abend mit ihr überhaupt noch. Er erinnerte sich an ihr mädchenhaftes Gesicht. Sie sah so viel jünger aus, als sie tatsächlich war, seine Prinzessin. Strahlend blaue Augen, blonde Locken, und die feinen Grübchen, die sich in ihrem Gesicht zeigten, wenn sie lächelte.
Doch wer war die andere Frau von der die Alte gesprochen hatte?
Mark war sich nicht sicher, ob er ihr überhaupt glauben konnte. War es nicht reiner Zufall gewesen, dass sie sich überhaupt getroffen hatten? Oder hatte die Alte etwa auf ihn in der S-Bahn gewartet, gelauert? Aber wie konnte sie wissen, dass er gerade diesen Zug nehmen würde? Viel zu viele Fragen und doch hatte Mark das Gefühl, dass er diese mysteriöse Sache nicht einfach so abhaken konnte, sollte. Im lief es immer noch eiskalt den Rücken hinunter, wenn er darüber nachdachte. Doch vielleicht war es im Moment einfach besser nach Hause zu kommen. Er konnte vor Müdigkeit kaum noch geradestehen und die Schmerzen in seinem Kopf trieben ihn geradezu in den Wahnsinn. Er hoffte nur, dass er überhaupt schlafen konnte. Auf jeden Fall sollte ich mir noch ein Aspirin reinziehen, bevor ich versuche Schlaf zu finden, dachte Mark, schleppte sich zu einer Bank und wartete auf die nächste Bahn, die ihn endlich nach Hause bringen sollte.
Freitag, 06:10
Mark schleppte sich mit letzter Kraft in die S-Bahn. Die Zeit, die er auf den nächsten Zug hatte warten müssen, erschien ihm wie eine Ewigkeit. Er ließ sich auf eine der Sitzbänke fallen und schloss die Augen. Vielleicht verminderte das ein wenig seine unerträglichen Kopfschmerzen. Doch in dem Moment da die Bahn anfuhr, erwies es sich als großer Fehler, dass er die Augen geschlossen hatte. Augenblicklich wurde sein Gehirn von einem Schwindelgefühl übermannt. Mark riss die Augen auf und seine Hand krallte sich um die Holzlehne an seiner rechten Seite. Der Wagen begann vor seinen Augen wild hin und her zu tanzen, sich zu drehen. Ihm wurde speiübel. Eine nie gekannte Schwäche überkam ihn. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Das Licht der Neonbeleuchtung stach unbarmherzig in seine Augen, dass er glaubte erblinden zu müssen. Doch die Augen zu schließen war keine Alternative. Er musste hier raus. Vielleicht brachte frische Luft ja etwas. Doch dazu musste er es erst mal bis zu Tür schaffen. Die Bahn hielt. Mark stemmte sich in die Höhe. Sein Körper protestierte mit jeder Faser gegen diese abrupte Bewegung. Sein Geist ging unter in einer heftigen Schwindelattacke. Er stolperte vorwärts. Fiel vornüber und schlug auf seine Knie. Es gelang ihm gerade noch sich mit den Händen abzufangen. Die Bahn fuhr wieder an.
Mark schleppte sich auf allen Vieren weiter vorwärts. In einem winzigen Teil seines Gehirns fragte er sich, warum ihm niemand zu Hilfe kam. Doch eine erneute Schwindelwelle fegte diesen Gedanken auch schon wieder fort. Tatsächlich befand sich außer ihm niemand in dem hinteren Wagen des Zuges.
Mark sackte zu Boden. Die nächste Tür war nur noch ein paar Schritte vor ihm. Wieder hielt die Bahn an. Doch auch diesmal schaffte es Mark nicht nach Draußen zu gelangen. Wieder tropfte Blut aus seinen Nasenlöchern und malte rote Flecken auf den hellgrauen Linoleum Boden der S-Bahn. Marks Hand griff nach der Kante der Sitzbank. Jede Bewegung schien wie in Zeitlupe zu passieren. Er musste Husten. Ein metallischer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Seine Hand krallte sich um die Kante, sein Arm spannte sich, so zog er sich weiter nach vorne. Es gelang ihm die Griffstange hinter der Lehne der Sitzbank zu packen und sich hochzuziehen. Währenddessen näherte sich die Bahn dem nächsten Halt: Dortmund Universität. Schwer atmend schob sich Mark in die Nähe der Tür. Der Zug wurde langsamer und hielt an dem unterirdischen Bahnsteig. Doch von alleine würde sich die Tür nicht öffnen. Mark hob seinen linken Arm und drückte den Türsensor. Alles verschwamm vor seinen Augen. Doch die Tür öffnete sich mit einem mechanischen Rollgeräusch und Mark stolperte hinaus. Es gelang ihm gerade noch sich zu einer an der Bahnsteigwand befestigten Bank zu schleppen und sich hinzulegen. Dann verlor er endgültig das Bewusstsein.
Marie drückte sich in die Nische in der Tunnelwand. Dies war zwar ein Notausgang, doch auf der Tür stand in großen Lettern geschrieben: Achtung! Tür Alarmgesichert! Ein Alarm auslöst und die Aufmerksamkeit noch mehr auf sich ziehen wollte Marie auf keinen Fall. Sie hoffte, dass die S-Bahn nach der Notbremsung endlich weiterfahren würde. In welche Schwierigkeiten sie Titus gebracht hatte, tat ihr unendlich leid. Zumal sie nach der kurzen Zeit tiefe Zuneigung für ihn empfand. Sie drückte sich noch enger in den Schatten. Hoffte, dass sie von der S-Bahn aus nicht mehr zu sehen war. Wagte es kaum sich umzudrehen, um zu schauen, was im Zug passierte. Darum erschrak sie sich umso mehr als plötzlich die Antriebsmotoren ansprangen. Es dauerte noch einen Moment, doch dann setzte sich der Zug langsam in Bewegung und fuhr an ihr vorbei. Marie kauerte sich hin, machte sich so klein wie möglich, um nicht doch noch von den Sicherheitsleuten entdeckt zu werden. Dann entfernte sich der Zug weiter und weiter, ließ Marie im diffusen Zwielicht des Tunnels zurück. Nun musste sie sich beeilen aus dem Tunnel heraus zu kommen. Sie lugte aus der Nische in beide Tunnelrichtungen. Entgegen der Fahrtrichtung erkannte sie, dass der Halt Dortmund-Universität gar nicht so weit entfernt war. Sie verließ die Nische und folgte dem schmalen, gepflasterten Notstieg neben dem Gleis.
Zu ihrem eigenen Erstaunen erreichte sie den Bahnsteig schneller als gedacht. Sie erklomm die Stufen und klappte die kleine Absperrung zu Seite, die eigentlich verhindern sollte, dass unbefugte Personen den Tunnel betraten. Sie betrat so unauffällig wie möglich den Bahnsteig, gerade in dem Moment als aus Richtung Dortmund der Gegenzug aus dem Tunnel in den beleuchteten Bereich des unterirdischen Halts einfuhr. Das lenkte die Aufmerksamkeit der wartenden Leute ein wenig von ihr ab.
Ein paar sahen zwar noch verwundert in ihre Richtung, doch Marie ignorierte sie einfach. Zielstrebig wandte sie sich dem Treppenaufgang zu um endlich von hier zu verschwinden. Dabei bemerkte sie einen jungen Mann der reglos auf einer Bank nahe der Treppe lag, irgendwie seltsam verdreht, mehr auf dem Bauch als auf der Seite. Marie schob ihre Absicht den Bahnsteig zu verlassen beiseite und ging zu ihm hin. Sie brachte es nicht fertig, den offensichtlich hilfebedürftigen Mann einfach zu ignorieren, so wie es alle anderen Taten.
“Hallo, geht es ihnen gut?“
Keine Reaktion. Marie bemerkte die blasse Gesichtsfarbe des Mannes, das Blut, das unter seiner Nase klebte. Sie nahm seinen Arm und fühlte am Handgelenk nach dem Puls. Kaum spürbar. Der Mann schien dringend Hilfe zu benötigen. Marie erhob sich.
“Bitte! Kann jemand nen Notarzt rufen!“, sprach sie die Wartenden an. Manche senkten ihre Köpfe, starrten angestrengt auf die Bodenfliesen, andere wechselten ihren Standort, die meisten Beschäftigten sich einfach weiter mit ihrem Handy, als ob sie nichts gehört hätten. Wer wollte schon etwas mit einer Punkerin und einem Betrunkenem zu tun haben. Niemand wollte sich Ärger einhandeln. Und solche sonderbaren Gestalten, wie Marie oder dieser Kerl, der da bewusstlos auf der Bank lag, konnten nur Ärger bedeuten.
„Hey!“, schrie Marie. „Helft mir doch bitte. Kann denn keiner Mal nen Notarzt rufen. Ihr hab doch alle Handys dabei.“ Doch auch das brachte nichts.
„Verdammt. Stellt euch nicht so an. Wir haben keine ansteckenden Krankheiten.“, schimpfte Marie.
Rebecca, die soeben aus der Bahn aus Richtung Dortmund ausgestiegen war, hatte ihren Rucksack von der Schulter genommen und kramte ihr Handy hervor. „Ich helfe dir“, rief sie zu Marie über die Gleise hinüber.
Doch plötzlich wandte Rebecca sich ab und ging zu den Treppen. „Warte, helft mir doch bitte“, rief Marie verzweifelt.
„Mach ich ja.“, antwortete Rebecca, „Aber ich habe keinen Empfang. Dort bei den Treppen geht's vielleicht.“ Kaum hatte die junge Frau ihren Satz beendet da flackerte vom Treppenaufgang auf Maries Seite plötzlich Blaulicht herunter. Marie brauchte einen Moment bevor sie begriff. Polizei! Ihre Aktionen, das Betätigen der Notbremse und ihre Flucht aus S-Bahn, wurden von den Verantwortlichen offensichtlich ernster genommen, als sie es gehofft hatte. Sie musste hier weg.
„Oh, sieht so aus, als ob schon jemand anderes schon einen Notarzt gerufen hat.“, rief Rebecca, die nichts von Maries Aktion wusste.
„Nein“, rief Marie, „Das ist die Polizei. Tut mir leid. Ich muss weg.“
„Was?“
Marie sprang auf und blickte sich gehetzt nach einer Fluchtmöglichkeit um. Denn schon war das Geräusch von schweren, schnellen Schritten aus Richtung Treppenaufgang zu hören. Es gab zwar noch einen zweiten Zugang, auf ihrer Seite, doch der befand sich am anderen Ende. Sie würde den Polizisten direkt in die Arme laufen. Es blieb nur noch ein Weg für Marie und nur noch wenige Sekunden sich zu entscheiden.
Sie rannte auf die Gleise zu, kletterte mit einer geschickten Bewegung hinunter auf die Schienen.
„Nein!“ rief Rebecca und befürchtete das Schlimmste. Marie war nicht so zimperlich. Sie überwand beide Gleise und stemmte sich mit unerwarteter Geschicklichkeit auf den Bahnsteig hinauf, gerade als zwei Einsatzbeamte der Bundespolizei den anderen Bahnsteig betraten.
„Hallo, dort liegt jemand bewusstlos auf einer Bank. Bitte schauen sie mal nach dem Mann“, versuchte Rebecca die Aufmerksamkeit von Marie abzulenken. Warum sie das tat, wusste sie in diesem Moment selbst nicht so Recht, doch irgendwie fühlte es sich richtig an.
Der eine reagierte auf sie und bewegte sich schon in Marks Richtung. Der andere jedoch hatte Marie bemerkt und zog die richtigen Schlüsse aus dem Einsatzbefehl und der flüchtenden Person.
„Halt! Polizei, bleiben sie stehen!“
Marie dachte gar nicht daran. Schlimm genug, dass die Polizisten sie entdeckt hatten. Sie rannte in Richtung der Treppe. Die würde sie hinauf zum Universitätsgelände bringen. Vielleicht gelang es ihr ja in der Menge der Studenten und Mitarbeiter der Uni unerkannt unter zu tauchen. Das hoffte sie zumindest. Aus den Augenwinkeln sah sie gerade noch, dass der eine Polizist in sein Sprechfunkgerät sprach und Marie hoffte, dass er endlich einen Notarzt anforderte. Sie fragte sich, warum sie sich diesem ihr fremden jungen Mann so verbunden fühlte. Da war etwas, dass sie nicht näher bezeichnen konnte, doch ein unsichtbares Band verflocht ihr Schicksal mit seinem. Marie hatte noch nie in ihrem Leben solch eine Empfindung verspürt. Es war etwas – etwas das viel tiefer ging. Eine Art Seelenverwandtschaft.
Dann war sie aus dem Blickfeld der Beamten und ihr wurde die Sicht nach unten durch die Mauer des Treppenaufgangs versperrt.
Rebecca sah, dass sich der eine Polizist nun um die bewusstlose Person auf der Bank kümmerte. Sein Kollege jedoch nahm die Verfolgung dieser Punkerin auf. Er stürmte die Treppe des andern Bahnsteiges hinauf und würde unweigerlich oben auf dem Platz zwischen den Gebäuden der Universität Bibliothek auf sie treffen. Wenn es irgendwie möglich war, dann wollte Rebecca verhindern, dass der Polizist sie in die Hände bekam. Von der eigentlichen Gefahr ahnte weder sie, noch der Polizist, noch Marie etwas.
Marie befand sich nun auf dem Platz zwischen den Bibliotheksgebäuden. Sie sah sich um, hier war sie zuvor noch nie gewesen, musste sich erst einmal orientieren. Es befanden sich schon einige Studenten auf dem Platz. Einige von ihnen strebten der Haltestelle der Hochbahn entgegen, die auf dem weitverzweigten Unigelände verkehrte. In der Zeit, die Marie brauchte um sich einen Überblick zu verschaffen, hatte der Polizist ebenfalls den Platz erreicht. Zeitgleich lösten sich zwei dunkel gekleidete Gestalten aus dem Schatten des Haltestellengebäudes der Hochbahn und näherten sich Marie. Yusufs Lakaien.
Es war nur ein Schuss ins Blaue gewesen, doch nachdem Mike Yusuf über Maries Flucht informiert hatte, folgte dieser seinem Gespür für solche Situationen und schickte zwei seiner Männer zum Campus. Mit einem Mädchen, das nicht einsehen wollte, dass es zu gehorchen hatte, war er immer noch fertig geworden. Auch Marie würde schon noch ihre Lektion lernen, obwohl es bei ihr noch etwas Anderes war. Ihre Beziehung ging über das rein geschäftliche weit hinaus. Marie arbeitete zwar für ihn, doch gleichzeitig war sie so etwas wie eine Tochter für ihn.
Rebecca nahm die letzten Stufen und kam auf den Platz gehetzt. Im Gegensatz zu Marie und dem Polizisten hatte sie Yusufs Männer schon entdeckt. Sie wusste zwar nicht, welche Verbindung die beiden Männer zu Marie hatten. Doch Rebecca erkannte instinktiv, dass Marie in Gefahr war.
„Hey du!“, rief Rebecca um sie auf sich aufmerksam zu machen. So laut sie nur konnte. Was natürlich auch alle anderen Personen auf dem Platz auf sie aufmerksam machte. Doch das hatte Rebecca genauso beabsichtigt. Marie blickte für einen Moment zu ihr herüber, dabei entdeckte sie Yusufs Männer, die sie offenbar kannte. Sie blieb abrupt stehen und sah sich nach einer Fluchtmöglichkeit um. Es blieb ihr nicht viel Zeit sich einen neuen Plan zu überlegen, denn der Polizist war schon bis auf wenige Schritte heran.
Auch Yusufs Männer strebten mit schnellen Schritten auf Marie zu. Yusuf hatte seinen Männern eingetrichtert, dass sie Marie zu ihm bringen sollten, jedoch ohne dabei viel Aufsehen zu erregen, noch Marie in irgendeiner Weise zu verletzen. Doch Burak war da anderer Meinung als sein Chef.
Er zückte eine Pistole und gab so die Tarnung auf. Unglaublich schnell waren sie bei Marie, die keine Chance hatte ihnen zu entkommen. Burak packte ihren Arm, drehte ihn ihr auf den Rücken und schob sie zwischen sich und dem Polizisten.
„Halt! Du sollest diese Sache wirklich uns überlassen“, rief Burak.
Der Polizist hatte die Hand schon am Griff seiner Waffe, war mit der plötzlichen Wendung der Situation aber offensichtlich überfordert.
„Du willst doch nicht dafür verantwortlich sein, dass das hier eskaliert!“ Burak blickte den Polizisten direkt in die Augen. Der junge Beamte zog seine Waffe aus dem Holster und zielte auf ihn.
„Lass die Frau los!“, rief er entschlossen, konnte jedoch das Zittern in seiner Stimme nicht ganz verbergen. Aber er hatte sein Gegenüber gründlich unterschätzt. Burak hob seine Waffe und drückte die Mündung gegen Maries Schläfe. Marie zuckte erschrocken zusammen. Auch Rebecca stockte der Atem.
„Bitte…“, flehte Marie.
Der Rest ihres Satzes ging im Geräusch der Sirene eines Rettungswagens unter der sich der S-Bahn Haltestelle näherte. Gleichzeitig schoss plötzlich ein schwarzer Lieferwagen mit verdunkelten Scheiben heran. Mit quietschenden Reifen lenkte der Fahrer ihn rücksichtslos vom Parkplatz der sich in der Nähe befand direkt auf das Campusgelände. Im gleichen Moment bog der Rettungswagen um die Ecke fuhr ebenfalls auf den Platz. Chaos entstand. Die Leute sprengten auseinander, suchten Schutz in den Gebäudeeingängen, den Zugängen zu den Haltestellen, wichen panisch den heranrasenden Wagen aus.
Das Durcheinander ausnutzend, wich Burak mit Marie zu dem schwarzen Lieferwagen zurück. Dessen hintere Türen wurden von innen heraus aufgestoßen. Ohne den Blick von dem Polizisten zu nehmen, stieß Burak Marie in den Laderaum des Lieferwagens und folgte ihr. Der Rettungswagen geriet in die direkte Schusslinie zwischen ihm und dem Polizisten. Die Türen wurden aufgestoßen und zwei Sanitäter sprangen hinaus auf den Platz. „Wo ist die Verletzte Person?“, rief der eine von ihnen dem Polizisten entgegen.
„Äh… unten… bei der S-Bahn.“
Ungläubig blickte Rebecca dem schwarzen Lieferwagen hinterher, welcher mit quietschenden Reifen den Campus verließ.
Freitag, 11:05
Irgendwo lächelt gerade ein Engel
Der sich gedacht hat, wir beide wären ein tolles Paar
Aber es wird Zeit, sich der Realität zu stellen:
Ich werde nie mit dir zusammen sein
Ich verlasse die Wache der Bundespolizei am Dortmunder Hauptbahnhof und die Zeilen von „you’re beautiful“ von James Blunt geistern durch meinen Kopf. In diesem Moment ist mir klar, dass ich Marie nie wiedersehen werde. Die Unannehmlichkeiten des Verhörs mit dem Bundespolizeibeamten machen mir nichts aus, berühren mich gar nicht. In meinem Kopf ist nur das Bild von Maries hübschem, engelsgleichem Gesicht. Doch ich kann, sollte mir nichts vormachen. Es ist wirklich Zeit der Wahrheit ins Auge zu blicken und zu begreifen, dass ich sie nie wiedersehen werde. Zu groß alleine schon der Zufall unseres Zusammentreffens.
Ich fühle mich leer und überlege, ob ich noch zur Arbeit gehen soll. Es ist Freitag. Wenn ich heute mal nicht da bin, macht das keinen großen Unterschied. Zumal ich sonst kaum fehle, besonders pflichtbewusst bin. Eine kurze Nachricht an meinen Chef und schon ist Marie wieder in meinem Kopf und lässt mich keinen klaren Gedanken mehr finden.
Mein Handy klingelt. Ein Telegramm von Nathaniel. Wir waren zusammen auf dem Gymnasium. Danach haben sich unsere Wege getrennt. Er arbeitet jetzt bei einer Bank. Doch wir sind die ganze Zeit immer in Kontakt geblieben. So habe ich ihn während ich auf der harten Bank vor dem Verhörraum in der Bundespolizeiwache warten musste mein morgendliches Erlebnis geschildert.
Mein Mund klappt vor Erstaunen auf, als Nathaniel mir schreibt, was seiner Verlobten heute Morgen passiert ist.
Marie!
In der Gewalt ihres skrupellosen Zuhälters. Ich überlege, ob ich mit diesen Informationen zurück zur Polizei gehen soll. Das wäre mit Sicherheit die beste Entscheidung. Doch was, wenn sie Marie in diesem Zusammenhang auch verhaften würden? Einen ganz kurzen Moment rät mir mein Verstand, dass ich Marie einfach vergessen, dass ich mich nicht mit solchen Leuten anlegen sollte. Doch mein Herz widerspricht und gewinnt. Doch was kann ich bloß machen? Sie können überall mit Marie sein. Das Ruhrgebiet ist nicht klein. Unmöglich sie zu finden. Ich klammerte mich an den letzten Strohhalm, der mir bleibt und frage Nathaniel, wo seine Verlobte jetzt ist.
Eine halbe Stunde später bin ich in dem Krankenhaus, in dem der junge Mann eingeliefert worden ist, den Marie bewusstlos auf der Bank an der S-Bahn Haltestelle gefunden hat und eile auf Rebecca zu, die ich auf dem Flur vor dem Zimmer, in dem der junge Mann nun gut versorgt liegt, entdecke.
„Hi, du hast Marie gesehen. Was ist passiert, weißt du, wo sie mit ihr hingefahren sind?“
Rebecca starrt mich erstaunt an. „Was?“
„Oh, entschuldige. Ich bin Titus. Nathaniel hat mir geschrieben, was dir vorhin passiert ist. Und du wirst es nicht glauben. Aber ich saß mit Marie in der S-Bahn, als diese die Notbremse zog und geflohen ist.“
„Etwa vor dir?“
„Nein, vor einem Typen, der sie im Auftrag ihres Zuhälters zurückholen sollte.“
„Zuhälter?“ Ich sehe in Rebeccas Gesicht, dass es ihr schwerfällt, mir auch nur ein Wort von der wirren Geschichte zu glauben. „Und was hat dieser junge Mann mit all dem zu tun?“
Ich brauche einen Moment, bevor ich begreife wen Rebecca meint. Ich sehe die geschlossene Zimmertür an und antworte. „Das weiß ich auch nicht. Aber es geht mir um Marie. Wir müssen sie finden. Sie ist in Gefahr.“ Davon bin ich fest überzeugt.
„Es tut mir wirklich leid“, erwidert Rebecca und sieht mich ehrlich betroffen an. „Aber ich kann beim besten Willen nicht sagen, wo sie mit Marie hin sind.“
„Die Uni! Ich sollte mich dort mal umsehen. Vielleicht gibt es noch irgendeine Spur."
Ich muss Marie wiederfinden. Das wird mir in diesem Moment klar. Der Engel hat schon Recht, wenn er denkt, dass wir ein gutes Paar wären, und dafür, dass wir eines werden, bin ich bereit alles zu geben. Verwundert blickte ich Rebecca an, doch mein Blick nimmt sie gar nicht war, sondern ist in mein Inneres gerichtet. Solche Gefühle, wie ich sie für Marie empfinde kenne ich gar nicht von mir. Ich bin unsicher, ob mir das gefällt, oder ob es mich erschrecken sollte.
„Ich glaube nicht, dass das etwas bringen wird. Diese Typen waren professionell und skrupellos. Ich denke nicht, dass du an der Universität noch irgendeine Spur von ihnen finden wirst“, gibt Rebecca zu bedenken und erstickt meine letzte Hoffnung im Keim. In diesem Moment öffnet sich die Zimmertür. Ein junger Mann mit zerzausten Haaren und blassem Gesicht steht uns plötzlich gegenüber und sieht uns unschlüssig an.
„Ward ihr das, die mich an der S-Bahnhaltestelle gefunden und den Notarzt gerufen hab“, fragt er unsicher.
„Nein, nicht ganz. Marie hat dich gefunden und mich gebeten einen Notarzt zu rufen. Doch bevor ich mit meinem Handy überhaupt Empfang hatte, kam schon die Polizei. Einer der Polizisten hat dann den Notarzt gerufen“, erklärt Rebecca.
„Geht es dir wieder besser?“ Sie sieht den jungen Mann besorgt an. Ich folgte ihrem Blick und etwas an seinem Gesicht überrascht mich. Doch ich kann nicht sagen, was es ist. Irgendwie hängt es mit Marie zusammen, doch ich kann es nicht erklären.
„Der Arzt meint, dass ich eine ordentliche Gehirnerschütterung habe. Doch es ist nicht so schlimm, dass ich noch länger hierbleiben müsste. Ich soll nur auf den schnellsten Weg nach Hause und mich dann die nächsten Tage schonen.“
„Ich kann dich nach Hause fahren“, schlägt Rebecca vor, „Aber was ist denn bloß passiert?“
„Tja, das ist ja das Verrückte, ich kann mich an nichts mehr davor erinnern. Ich weiß nur noch, dass ich mich fürchterlich mit meiner Freundin gestritten habe. Aber danach weiß ich nichts mehr. Nur habe ich ständig das Gesicht einer alten Frau vor meinen Augen, doch ich weiß wirklich nicht… Ich kenne sich gar nicht… Es ist wirklich alles sehr seltsam.“
Freitag, 16:44
Den halben Tag musste Marie tatenlos in dem heruntergekommenen Wohnwagen, eines von Yusufs Verstecken, ausharren. Vergeblich versuchte sie, die finsteren Gedanken aus ihrem Kopf zu bekommen. Sie hatte keine Ahnung davon, was Yusuf nachdem, was sie sich geleistet hatte, mit ihr anstellen würde. In diesem Moment betrat Yusuf den Wohnwagen und kam auf sie zu. Marie zuckte zusammen.
“Wovor hast Du Angst? Du wusstest worauf du dich eingelassen hast, als Du an jenem Tag mit mir kamst und dein altes Leben hinter dir gelassen hast. Ich versprach dir, dass du nie so weit gehen musst wie die anderen Mädchen. Und ich habe mein Versprechen nie gebrochen. Du bist so etwas wie eine Tochter für mich, Marie. Also wovor hast Du Angst?“ Yusuf erwartete keine Antwort auf seine Frage. Marie saß vor ihm auf dem schmalen Bett und fröstelte. Yusuf hatte sich auf einem Klappstuhl gesetzt, Maries Beine zwischen seinen Knien eingeklemmt. Vor der Tür stand Burak und sorgte dafür, dass sie ungestört blieben. “Irgendetwas muss dich erschreckt haben, dass du mir offensichtlich nicht mehr traust.“ Marie sah Yusuf an. Er war einen Kopf größer als sie, deshalb musste sie zu ihm aufblicken. In seinem Blick erkannte sie eine Mischung aus Enttäuschung und väterlicher Strenge.
Seine Stimme war zu einem vertraulichen Flüstern geworden. “Du muss mir glauben, dass ich dir das nie antun werde. Du musst es vergessen. Es ist nie passiert.“ Er unterstrich den letzten Satz mit einer entsprechenden Bewegung Handbewegung. Marie wollte etwas erwidern, aber Yusuf legte seinen Finger auf ihre Lippen. “Pscht!“
Für ihn war damit das Thema beendet. Und er erwartete von Marie, dass sie nie wieder darüber sprach. Marie wusste nicht genau, was er dann mit ihr anstellen würde. Sie hatte ihn nie gewalttätig erlebt. Bis auf das eine Mal. Von dem sie sich immer noch einzureden versuchte, dass sie es sich nur eingebildet hatte. Sie konnte, sie wollte sich einfach nicht vorstellen, dass dieser Mann, der in der Zeit in der sie sich jetzt kannten, wie eine Vaterfigur für sie geworden war, zu so etwas in der Lage war.
“Heute Abend brauche ich dich für einen Escort Auftrag.”
Marie war so in Gedanken, dass sie eine lange Sekunde brauchte um zu begreifen, dass Yusuf etwas zu ihr gesagt hatte. Doch sie vermied es nachzufragen. Yusuf sah sie wohlwollend an und hatte ihre Unaufmerksamkeit gar nicht bemerkt.
„Tamara wird dich begleiten. Zuerst Abendessen und dann noch gemütliches Beisammensein.“ Yusuf musste lachen. „Halt was die Herren sich darunter vorstellen.“
Marie erschrak.
Doch Yusuf beruhigte sie augenblicklich. „Du hast mein Wort. Du solltest mir wirklich wieder vertrauen. Ich beschütze dich schon, doch du solltest mir wirklich wieder vertrauen.“ Echte Enttäuschung, dass sie überhaupt an ihm gezweifelt hatte, aber auch eine unmissverständliche Warnung klang in seinen Worten mit.
Er stand auf und wandte sich der Tür des Wohnwagens zu. „Du bleibst bis heute Abend hier. Doch für den Auftrag heute Abend brauchst du eine andere Frisur und ein anderes Outfit. Burak besorgt das Kleid. Und Emma wird sich um deine Frisur kümmern.“
Yusuf öffnete die Tür und verließ den Wohnwagen. Marie atmete tief ein und aus. Erleichterung durchströmte sie. Vielleicht wurde alles gut. Aber was war mit Titus?
„Na mein Täubchen.“ Marie blieb keine Zeit weiter über Titus nachzudenken, denn in diesem Moment schob sich eine, so kam es Marie zumindest vor, uralte Frau ins Innere des Wohnwagens. Sie trug alte, zerschlissene Kleidung und roch, als ob sie sich schon tage… vielleicht sogar wochenlang nicht mehr gewaschen hatte. Marie rümpfte angeekelt die Nase und starrte die Alte verwundert an.
„Yusuf meint ich soll dir ne neue Frisur verpassen. Wat feierliches! Dann wolln wer mal sehn!“
Die Alte trat so dicht an Marie, dass die mit ihrem Gesicht beinahe den vor Dreck starrenden Pullover der Alten berührte. Diese griff mit ihren Fingern in Maries Haare und wuschelte darin herum. Marie zog widerwillig ihren Kopf zurück. „Die langen schneid ich ab und färb sie schwarz, mach dir ne schicke Kurzhaarfrisur. Ja, dat wird’s sein.“ Die Alte trat einen Schritt zurück und sah Marie direkt an. „Vertrau der alten Emma.“
Marie sah sie misstrauisch an, doch blieb ihr eine andere Wahl? Es schien ihr, als ob sie zu vielen Leuten einfach so vertrauen musste.
Freitag, 18:52
Emma hatte Marie die Haare komplett schwarz gefärbt. Dann hatte sie ihr einen modernen Pixie-Cut verpasst. Marie wunderte sich über Emmas Können und ihr Wissen um diese trendige Frisur. Benannt nach dem englischen Wort für Elfe schien er perfekt zu Marie zu passen. Sie wirkte nun noch femininer, zerbrechlich und Beschützens wert. Ihr heller Teint unterstrich diesen Eindruck nur noch mehr. Doch was unter dieser Maske steckte, dass wusste Marie nur alleine. Sie blickte verstohlen zu Emma hin, fühlte sich in ihrer Gegenwart irgendwie ertappt, durchschaut. Was wusste diese alte, schmuddelige Frau über sie? Marie ahnte, dass auch ihr Aussehen nur eine Maskerade war hinter der sich etwas ganz und gar Anderes verbarg.