Die Hexentaufe der Tracy Odell - Markus Fels - E-Book

Die Hexentaufe der Tracy Odell E-Book

Markus Fels

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Beschreibung

Glücklicher könnte das Leben für Tracy nicht sein. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag macht ihr ihre langjährige Freundin Monique einen Heiratsantrag. Tracy schwebt buchstäblich im siebten Himmel. Noch ahnt sie nicht, dass die mysteriöse Jessica, die ausgerechnet von Monique zur Geburtstagsfeier eingeladen worden ist, Tracys Leben erneut in einen Alptraum verwandeln wird. Rellinghausen Ende des 16. Jahrhunderts. Die zwölfjährige Lyse gerät in die Fänge der Inquisition. Es ist der Beginn eines grausamen Kapitels der in ganz Deutschland um sich greifenden Hexenverfolgung. Und irgendwas verbindet die schrecklichen Ereignisse von damals mit der Gegenwart. Doch als Tracy endlich begreift welche Zusammenhänge zwischen der Vergangenheit und ihrer Gegenwart bestehen ist es beinahe zu spät.

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Seitenzahl: 382

Veröffentlichungsjahr: 2023

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- Kapitel 31 -
- Kapitel 32 -
- Kapitel 33 -
- Kapitel 34 -
- Kapitel 35 -
- Kapitel 36 -
- Kapitel 37 -
- Kapitel 38 -
- Kapitel 39 -
- Kapitel 40 -

Die Hexentaufe der

Tracy Odell

M. J. Fels

1. Auflage, 2023

© 2023 Alle Rechte vorbehalten.

epubli / neopubli GmbH

Berlin

epubli / neopubli GmbH

[email protected]

www.schreibschmiede-fels.de

Buchbeschreibung:

Glücklicher könnte das Leben für Tracy nicht sein. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag macht ihr ihre langjährige Freundin Monique einen Heiratsantrag. Tracy schwebt buchstäblich im siebten Himmel. Noch ahnt sie nicht, dass die mysteriöse Jessica, die ausgerechnet von Monique zur Geburtstagsfeier eingeladen worden ist, Tracys Leben erneut in einen Alptraum verwandeln wird.

Rellinghausen Ende des 16. Jahrhunderts. Die zwölfjährige Lyse gerät in die Fänge der Inquisition. Es ist der Beginn eines grausamen Kapitels der in ganz Deutschland um sich greifenden Hexenverfolgung. Und irgendwas verbindet die schrecklichen Ereignisse von damals mit der Gegenwart.

Doch als Tracy endlich begreift welche Zusammenhänge zwischen der Vergangenheit und ihrer Gegenwart bestehen ist es beinahe zu spät.

Die Hexentaufe der

Tracy Odell

M. J. Fels

epubli / neopubli GmbH

Berlin

[email protected]

www.schreibschmiede-fels.de

- Kapitel 1 -

Essen-Heisingen, 2002

«Hi, Süße. Na, endlich erwachsen?» Monique stürmt auf Tracy zu, umfängt sie mit einer herzlichen Umarmung und drückt ihr einen dicken Schmatzer auf die rot geschminkten Lippen.

«Das fragt die richtige», gibt Tracy außer Atem zurück. «Wer ist denn hier das Küken von uns beiden?» Sie grinst ihre Liebste frech an und knufft sie in die Seite, dass Monique schrill aufkreischt. «Du Teufelin! Du weißt genau, dass ich das nicht mag!», schimpft sie mit einem glücklichen Lächeln auf ihren Lippen. Denn sie weiß, welches Geschenk auf Tracy in ihrer Hosentasche wartet. Doch der richtige Zeitpunkt, es ihr feierlich zu überreichen ist noch nicht gekommen. Obwohl die knisternde Anspannung in ihr kurz davor ist unkontrolliert auszubrechen. Nur mit Mühe schafft es Monique, die Überraschung nicht augenblicklich laut auszusprechen.

Um sich von der innerlich erneut aufbrodelnden Freude abzulenken, legt sie der jungen Frau, die die ganze Zeit geduldig neben ihr gewartet hat, die Hand auf die Schulter.

«Sieh mal, wen ich dir mitgebracht habe», meint sie an Tracy gewandt. Ohne eine Antwort abzuwarten, stellt sie ihre Begleitung vor. «Das ist Jessica, Süße. Sie studiert mit mir zusammen ‹Soziale Arbeit› an der Uni Essen und ist genau so ein verrücktes Huhn wie du.» Dabei grinst sie Tracy frech an. «Ich meine, was dieses Hexengedöns angeht.» Die beiden jungen Frauen sehen sich verwundert über Moniques dreiste Wortwahl an. Beim Anblick der schlank gewachsenen Jessica, deren in der Sonne kupfern funkelnden, glatten Haare ihr bis auf die Schultern reichen, kommt sich Tracy für einen Moment ein wenig unscheinbar vor. Wenn nicht gar pummelig, da Jessica sie um einen halben Kopf an Körpergröße überragt und ihr wie eine menschgewordene Succubus vorkommt, von einer teuflischen Schönheit. Der Schatten, der für einen winzigen Moment das Gesicht der sie geheimnisvoll anlächelnden Jessica verdunkelt, lässt Tracy frösteln. Um sich von ihrer düsteren Vision zu befreien, sucht sie Moniques Blick, die offenbar die ganze Zeit weitergeredet hat.

«Sag mal. Hörst du überhaupt zu?»

«Save. Ich bin nur recht fasziniert von deiner beeindruckenden Begleitung!» Zu spät bemerkt Tracy, was ihr da über die Lippen gerutscht ist. Zur Strafe beißt sie sich mit den Schneidezähnen auf die Unterlippe.

Eine unbestimmte Traurigkeit überschattet Moniques Blick. «Du weißt hoffentlich, zu wem du gehörst, Jägerin?», zischt sie wütend.

«Hey, langsam ihr beiden. Ich denke, wir feiern hier deinen einundzwanzigsten Geburtstag. Ich möchte nicht der Grund für einen Streit zwischen euch sein», schlichtet Jessica.

Tracy schafft es nicht, sich von ihrem eindringlichen Blick zu lösen. Ihre graugrünen, mit kupfernen Sprenkeln versetzten Augen halten sie mit hypnotischer Kraft gefangen. Erst nachdem Jessica es zulässt, gelingt es Tracy, sich von ihr abzuwenden.

Mit gemischten Gefühlen wandern Tracy und Monique über die große Rasenfläche hinter dem CVJM Heim ‹Seeblick› hinunter ans Ufer des Baldeneysees. Die Magie des Augenblicks ist verflogen. Nie gekannte Unsicherheit in ihrer Beziehung, zieht Moniques Magen zusammen. Sie verspürt den leichten Druck des kleinen samtschwarzen Kästchens in der Hosentasche ihrer Jeans gegen ihren Oberschenkel. Verdammt! Schimpft sie mit sich selbst, lass dir doch von dieser Schickse nicht den schönsten Tag deines Lebens verderben. Sie fasst Tracy um die Taille und dreht sie mit sanftem Druck zu sich. Dann nähert sich ihr Gesicht ihrem, sie sieht ihr tief in die Augen und küsst sie voller Begierde und unstillbarer Sehnsucht auf die Lippen. «Ich liebe dich, Jägerin. Lass mich bitte nie mehr wieder allein.»

Verwundert über Moniques seltsame Gefühlsregung umfasst Tracy die blonden Locken ihrer Liebsten und erwidert ihren Kuss.

Das anfeuernde Grölen der anderen Geburtstagsgäste lässt beide breit grinsen. «Scheint, als ob wir denen eine geile Show bieten?», murmelt Tracy verliebt und bedient die Sensationslust der Umstehenden mit einem nicht jugendfreien Zungenkuss und fordernd umherstreichenden Händen auf Moniques Hinterteil. Begleitet von zustimmenden Pfiffen wendet sich Tracy den feixenden Gästen zu. «Hey, was denn? Lasst uns feiern!», ruft sie. «Wer hat `nen Hugo für mich.»

Am Eingang zur Terrasse steht Jessica und fixiert Tracy mit einem durchdringenden, lauernden Blick.

Partymusik dringt aus dem Innern des Jugendheims hinaus in den Garten. Tracy und Monique stehen umringt von ihren Freunden beim Grill, auf dem das brutzelnde Fleisch einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Abermals stoßen sie freudig auf den Geburtstag an.

Tracy leert ihr Sektglas auf einen Zug. Dann strahlt sie ihre Liebste mit funkelnden Augen an. «Hey, wo bleibt eigentlich mein Geschenk. Oder hast du das etwa vergessen?»

«Geschenk?» Monique mimt die Ahnungslose. «Die Feier reicht doch. All unsere Freunde sind da. Es gibt leckere Steaks für meinen Tyrannosaurus rex ...»

Tracy stößt ihr den Ellenbogen zwischen die Rippen. «Wie hast du mich gerade genannt?» Sie zieht in gespieltem Unmut eine Schnute.

Monique grinst sie an. «Na, dann komm mal mit. Ich habe da, glaube ich, etwas für dich dabei.»

Gemeinsam laufen sie hinunter zum Ufer des Sees. Für diesen Augenblick ist es Monique wichtig, mit Tracy trotz der Gäste für sich zu sein. Nachdem sie die Böschung erreicht haben lässt die Blonde ihren Blick über die in der gleißenden Sonne funkelnde Wasseroberfläche gleiten. Es ist die richtige Entscheidung, da ist sie sich in diesem Moment so sicher wie zu keinem Zeitpunkt vorher. Es gibt nichts Wichtigeres in ihrem Leben wie diese Frau. Mit dem Gefühl von Schmetterlingen im Bauch sinkt sie vor der verdutzt dreinschauenden Tracy auf ihre Knie und greift ihre Hände. Sie lässt kurz ihre bebenden Finger los, um das Kästchen aus ihrer Hosentasche hervor zu nesteln und aufzuklappen.

Ihre Blicke begegnen sich. Tracys eisblaue Augen nehmen sie gefangen. Die Welt um sie herum versinkt in Bedeutungslosigkeit. Moniques Herz schlägt ihr bis in den Hals hinauf.

«Tracy Odell, willst du meine Frau werden?»

- Kapitel 2 -

Rellinghausen, 1579

Lyse flieht aus der beengenden Räumlichkeit der Herberge, die zugleich als Hospital und Armenspeisung fungiert, und tritt hinaus in den hellen Sonnenschein dieses Aprilmorgens. Sie atmet die frische Frühlingsluft tief in ihre Lungen ein. Nicht nur um den strengen Geruch des düsteren Gebäudes aus ihrer Nase zu bekommen, sondern auch, weil sie ihren Vater endlich in guter Obhut weiß. Sie versprach ihm, auf sich achtzugeben, da er es gar nicht gerne sieht, wenn sie alleine durch die Gegend zieht.

Fremd in diesem Ort folgt das zwölfjährige Mädchen geradewegs ihrer Nase, wendet sich nach Nordwesten und marschiert drauflos.

Bald erreicht sie in der Gemarkung Heide ein weites, grasgrünes Getreidefeld und folgt dem Trampelpfad, der sich am Rand entlang schlängelt. Irgendwann verlässt sie den Pfad und läuft quer durch das Feld auf einen Buchenhain zu, der sie mit seinem schattigen dunkelgrünen Zwielicht unter den Baumkronen rätselhaft anzieht. Die jungen Getreidespitzen kitzeln an ihren nackten Beinen und zaubern ihr ein Lächeln auf die kirschblütenrosa Lippen. Ein leichter, schon die Wärme des Sommers herantragender Wind streicht durch ihr ungekämmtes rostrotes Haar, das wie eine Löwenmähne ihr blasses, leicht rundes Gesicht einrahmt. Die haselnussbraunen Augen weiten sich erstaunt, da sie am Rand des Hains einen jungen Mann entdeckt, der auf ein Dutzend gefleckter Weideschweine aufpasst. Der Versuch nicht gesehen zu werden misslingt kläglich.

«Hey, Kleine, hast du dich verlaufen?», ruft der Schweinehirt zu ihr herüber und hebt seinen Stecken, um eins der Schweine von seinen Füßen wegzudrängen. Seine abgewetzte Kleidung wirkt kaum wohlhabender wie ihr angeschmutzter, langärmeliger Leinenkittel, der schon längst zu kurz ist, weil sie im letzten Jahr zu schnell gewachsen war. Da ihr Vater nicht in der Lage ist, ihr einen neuen Kittel zu kaufen, bleibt ihr nichts anderes als so unzüchtig herumlaufen. Da der zu kurze Saum jedem einen freien Blick auf ihre Fesseln bietet. Allem Anschein nach interessiert dies den Schweinehirten nicht, da er seinem Blick auf ihrem Gesicht ruhen lässt, während er sich ihr langsam nähert.

«Hey, kannst du sprechen? Oder bist du gar stumm?»

Lyse verzieht verärgert ihren Mund, doch das einnehmende Lächeln des Schweinehirten lässt ihren Unmut sofort verpuffen.

«Ich bin übrigens Jakob, wenn dich das interessiert? Hast du einen Namen, oder rufen die Leute dich Waldschrat.»

«Ich bin kein Waldschrat!», ruft Lyse empört über diese Frechheit und stampft mit dem Fuß auf. «Ich bin Lyse!»

«So, Lyse! Ein schöner Name für einen Schrat.» Ein breites Lächeln umspielt die zauberhaften Lippen des sie um einen Kopf überragenden jungen Mannes. Er weist mit seinem Stecken auf einen umgestürzten Baumstamm. «Setz dich doch kleiner Schrat. Ich habe gerne ein wenig Gesellschaft. Du musst wissen, dass die Schweine nicht sehr viel mit mir sprechen!»

Lyse verzieht ihr Gesicht. Dieser Jakob besaß eine seltsame Art von Humor. Aber seine lockere ungezwungene Natur gefiel ihr.

«Du siehst aus, wie jemand der lange nicht ordentlich gefrühstückt hat.», stellt Jakob fest und kramt in der ledernen Umhängetasche. Einen Augenblick später hält er einen Kanten Brot und eine schmackhafte Mettwurst in den Händen. Lyse, die in den letzten Wochen nur selten satt wurde, läuft das Wasser im Mund zusammen. «Du bist eben doch ein Schrat!», kommentiert Jakob lachend ihren unverhohlen gierigen Blick auf die Köstlichkeiten. «Hier lass es dir schmecken!»

Kauend und schmatzend sitz Lyse neben ihm und genieß seine Gesellschaft. Dabei beobachten ihre wachen Augen das umtriebige Gebaren der Weideschweine. Als sich aber ein Keiler von hinten einer Bache in eindeutiger Absicht nähert und sie zu allem Überfluss vor ihren Augen besteigt, bleibt ihr beinahe ein Stück Mettwurst im Hals stecken. Mit Anstrengung gelingt es ihr, es herunterzuschlucken. Jakob, der ihre entsetzte Reaktion bemerkt hat, lacht schallend auf.

«So ist das Leben, kleine Lyse!», amüsiert er sich. Beschämt nimmt er wahr, dass sich seine Hose im Schritt spannt. Obgleich sie weit mehr noch ein unschuldiges Kind, als eine begehrenswerte Dirne ist, regt sich sündiges Verlangen in ihm. Verlegen räuspert sich Jakob. «Sag mal, Lyse, vermisst dich denn niemand?»

Das Mädchen kaut zu Ende. «Mein Vater ist im Hospital», erklärt sie dann offen. «Er hat sich auf unsere Pilgerfahrt auf den Jakobsweg einen üblen Schnitt in seiner Fußsohle zugezogen, der unbedingt behandelt werden musste. Zum Glück haben wir hier Hilfe gefunden, und dazu, ohne die Behandlung bezahlen zu müssen.»

«Diesen Umstand habt ihr dem Freiherr von Vittinghoff zu verdanken», erklärt Jakob dem Mädchen und zeigt mit seinem Stecken in grober Richtung zum Schellenberger Wald. «Er ist den Leuten von Rellinghausen, aber auch Pilgern und Armen wohlgesonnen.»

Jakob lässt seinen Blick, über die hungrig mit ihrer Rüssel den Boden aufwühlenden Schweine, wandern. Lyses Anwesenheit beschert ihm wohlige Schauer, die ihn einlullen. Schon lange hat er sich in der Nähe einer anderen Person, dazu einer fremden nicht so wohl gefühlt. Doch sein Gewissen ermahnt ihn mit eindringlicher Stimme, die Unschuld des Mädchens nicht zu seinem eigenen Vorteil auszunutzen. Er sieht sie verstohlen von der Seite her an.

«Hör mal Lyse. Es ist schön, mit dir hier zu sitzen und zu plaudern. Aber ich denke, dein Vater wird sich sorgen, wenn du so lange wegbleibst. ...» Ohne den Satz zu beenden, springt Jakob abrupt auf, sodass Lyse erschrickt. Mit weit aufgerissen, angsterfülltem Blick starrt sie den Schweinehirten an. «Was hast du?»

«Kringel ist nicht da!», ruft Jakob bestürzt. Lyse nimmt an, dass es sich bei Kringel um eins der Weideschweine handelt. Mitfühlend stellt sie sich neben ihn und legt tröstend ihre kleine Hand auf seinen angespannten Oberarm. Jakob, der mit dieser sanften Berührung nicht gerechnet hat, zuckt zusammen und entzieht sich ihr. «Verdammt, es ist doch kaum ein halbes Jahr alt.»

Gemeinsam begeben sie sich im nahen Umkreis auf die Suche nach dem Frischling. Jakob der den Eichenhain wie seine Westentasche kennt, braucht nicht lange, bis er das Tier entdeckt. Nur einen Steinwurf entfernt von dem Baumstamm, auf dem sie gesessen haben, liegt es vor einer imposanten, alten Eiche auf der Seite und rührt sich nicht. Mit weitausgreifenden Schritten rennt Jakob zu dem Frischling hin und lässt sich in die Hocke sinken. Vorsichtig tastet er mit seiner rechten Hand den Körper ab. Die borstige Haut ist heiß, die Schnauze, halb geöffnet, rötlich verfärbt. Weitere Verfärbungen finden sich überall am Körper. Geschockt zuckt seine Hand vom Körper des toten Tieres zurück. Sein Atem stockt, als die Erkenntnis darüber, an was der Frischling verendet ist, ihn wie einen Blitzschlag trifft.

«Komm auf keinen Fall näher!», warnt er Lyse mit lauter Stimme, die wie ein dumpfes Echo von den Eichenstämmen widerhallt. Verängstigt verschränkt das Mädchen ihre Arme vor ihrem Oberkörper.

«Was ist?», ruft sie.

«Kringel ist tot!»

In Hagens Gesicht zeigt sich ein perfides Grinsen. Wie ein Schatten war er dem Mädchen vom Hospital gefolgt und dabei die ganze Zeit über aus sicherer Deckung beobachtet. Ihr schändliches Treiben, ihre sündhaften Blicke, die sie dem Hirtenjungen zuwarf, widerten ihn an und bestärken seinen Verdacht, dass die Seele dieses so unschuldig wirkenden Mädchens von diabolischer Entartung befallen ist. Er bedauert für einen Moment ihren gottesfürchtigen Vater, der sich mit ihr auf Pilgerfahrt begeben hat. Denkbar, dass sein Motiv die Reinigung seiner Tochter durch eine Teufelsaustreibung ist. Doch Hagen befürchtet, dass die Bemühungen des Vaters zu spät kommen. Nun ist es an ihm, redet sich Hagen ein, das Unheil vom Dorf und den ehrbaren Leuten fernzuhalten. Bestürzt stellt er fest, dass der Anblick des unschuldigen, engelsgleichen Mädchens ihn auf eine schandbare Art in Erregung versetzt. Er wischt sich mit dem Handrücken den Speichel von den bebenden Lippen. Dann richtet er sich stöhnend auf, wobei ein stechender Schmerz sein Kniegelenk durchzuckt, das verräterisch laut knackt. Gehetzt springt sein Blick hinüber zum Schweinehirten und dem Mädchen. Doch die haben ihn nicht bemerkt. Seine Gebrechlichkeit verdammend wendet er sich ab und schlägt im Schutz der Eichen unerkannt den Weg zurück zum Dorf ein. Er muss zuvor dem Vogt von seiner Beobachtung in Kenntnis setzen und ihn eindringlich warnen, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, bevor dieser Dämon in Gestalt des Mädchens dem Dorf und seinen Bewohnern schadet.

Das Knacken des zerbrechenden Astes entgeht dem feinen Gehör des Mädchens nicht. Erschrocken wirbelt Lyse herum. Schleicht sich da nicht jemand zwischen den Bäumen davon? Sie ist sich nicht sicher, ob ihre Angst ihr die düstere Schattengestalt nur vorgaukelt. Erschaudernd weicht sie näher zu Jakob. Dieser fährt sie unversehens wüst an. «Halt! Bleib verdammt nochmal weg.»

Panik erfasst das zwölfjährige Mädchen. Tränen schießen ihr in die Augen. In wilder Verzweiflung rennt sie davon.

- Kapitel 3 -

Essen Heisingen, 2002

Die schrille Melodie des Smartphoneklingeltons durchschneidet Tracys düstere Traumwelt wie das Kreischen einer Kreissäge. Schweißgebadet und stoßweise atmend fährt sie hoch. Sekunden vergehen, bevor sie realisiert, dass ihr Smartphone klingelt. Benommen greift sie nach dem Gerät und streicht mit dem Zeigefinger über das grüne Telefonsymbol auf dem Display, um das Gespräch entgegenzunehmen.

«Monique schläft noch!», murmelt sie mit halb geschlossenen Augen in das Mikrofon am unteren Rand des Displays.

«Klar!», dringt Jessicas Stimme an ihr Ohr. «Ich weiß, dass sie ein Morgenmuffel ist. Aber du bist ja diejenige, die ich sprechen will.»

Tracys verkaterter Blick fixiert die rot leuchtenden Digitalziffern des Radioweckers auf dem Nachttisch. Sie nimmt sich abermals vor, Monique zu sagen, dass sie diesen Wecker nicht ausstehen kann. Die rotleuchtenden Ziffern jagen ihr Angst ein.

Erst jetzt dringt der Sinn von Jessicas Worten und die Tatsache, dass die Zahlen der Radioweckeranzeige fünf Uhr vierunddreißig ergeben in ihren Verstand. «Was? Warum? Hast du mal auf die Uhr gesehen? Es ist kurz nach halb sechs! Lass mich schlafen!»

«Hast du Lust mit mir Laufen zu gehen?»

Das Gespräch kommt Tracy immer absurder vor. «Laufen?» – «Ich hol dich ab. Um diese Zeit sind wir auf der Schillerwiese vollkommen ungestört. Wann bist du fertig?» Jessicas Stimme schwingt eine unerklärliche Begeisterung mit. Tracy wälzt sich herum und setzt sich auf. Neben sich nimmt sie das Schnarchen ihre Freundin wahr. Nein Verlobten, berichtigt sie sich in Gedanken. Mittlerweile ist sie wach.

«Habe ich dich richtig verstanden, Jessica, du willst mich um kurz nach halb sechs abholen kommen und mit mir auf der Schillerwiese laufen gehen?»

«Genau das!», bekommt sie von ihr als Antwort. Jessica gelingt es nicht, den amüsierten Unterton in ihrer Stimme zu verbergen. «Komm schon! Ich verspreche dir, du wirst dieses Rendezvous nie vergessen.»

Tracy blinzelt verwundert. Sie meint sich verhört zu haben. «Wann bist du da?», fragt sie, angefixt vom Verlangen herauszufinden, was Jessica bezweckt. «Ich steh schon unten vor der Tür!», antwortet diese der verdutzten Tracy. «Aber achte darauf, dass Monique nichts mitbekommt.» Die Angelegenheit wird immer stranger.

Geräuschlos schleicht sich Tracy aus dem Schlafzimmer, sucht sich Trainingsklamotten zusammen, zieht sich an, schlüpft in ihre mit drei markanten Streifen verzierten Sneaker, klaubt die Wohnungsschlüssel von dem Schränkchen im Flur und verlässt die Wohnung. Vorsichtig zieht sie die Tür hinter sich zu. Minutenspäter steigt sie zu Jessica ins Auto.

Das weitläufige Rund der Schillerwiese liegt düster und geheimnisvoll in Nebel gehüllt vor ihnen. Zitternd fragt sich Tracy, warum Jessica in ihrem hautengen Sportdress nicht friert. Schweigend waren sie zu der öffentlichen Sportstätte im Herzen des Essener Stadtteils Stadtwald gefahren. Tracy fragt sich besorgt, auf was sie sich da einlässt. Bis auf die Begegnung an ihrem Geburtstag wusste sie kaum etwas über Moniques Studienkollegin.

«Ist dir kalt?» Mit der unvermittelten Frage holt Jessica sie aus ihren Grübeleien zurück in die Gegenwart.

«Sag mal, gehst du immer so früh trainieren. Ist dir das nicht gruselig hier so allein?», entgegnet Tracy.

«Das ist es ja, was ich suche. Diese Einsamkeit. Es sind diese seltenen Momente, in denen ich ganz für mich allein bin, die meine Sehnsucht sucht.» Beschwörend spricht Jessica diese Worte, wie eine geheime Formel, die es zu beschützen gilt. «Etwas tief in mir drin verbindet mein Innerstes mit diesem Ort. Und du, Tracy, bist die Person, die ebensolche Gefühle hegt. Habe ich Recht?»

Angst kriecht Tracy bei diesen Worten den Nacken hinauf. Der gespenstische Glanz in Jessicas Augen mag von der Flutlichtbeleuchtung herrühren. Sicher ist sich Tracy da nicht und wohl ist ihr in ihrer Nähe ebenso wenig. «Aber warum hast du mich hergebracht?» Sie fürchtet sich vor der Antwort. Trotzdem brennt sie darauf, von Jessica den Grund zu erfahren. Diese sieht sie für den Bruchteil einer Sekunde mit diesem lauernden Blick an, der Tracy eine Gänsehaut beschert. Unbewusst verschränkt diese ihre Arme vor der Brust und zieht ihren Kopf zwischen den Schultern ein.

«Na, um zu laufen», ist die lapidare, zugleich wie eine plumpe Ausrede klingende Antwort. «Komm, ein Sprint. Ich bin gespannt darauf, wer von uns die Schnellere ist.» Tracy schenkt diesem Vorschlag ein schiefes unschlüssiges Lächeln. «Okay», antwortete sie dann, um den abwartenden Blick Jessicas zu befriedigen.

Vor dem aus Bruchsteinen gemauerten Gebäude in dem Umkleiden, Duschen und Toiletten untergebracht sind, stellen sie sich an einer imaginären Startlinie auf. Tracy mustert Jessica von der Seite. Dabei entgeht ihr nicht, dass ihre hautenge Leggins und das zwar langärmelige, aber ebenso enganliegende Funktionsshirt die Konturen ihres Körpers derart betonen, als wäre sie nackt. Beim Anblick Jessicas nahezu perfekten Gestalt und ihrer aufreizenden weiblichen Figur brennen Tracys Wangen vor Erregung. Provozierend langsam lässt sich Jessica zu Boden gleiten, um die Startposition einzunehmen. Ihre Fingerspitzen berühren gerade die feuchte Aschenbahn. Ihr Hinterteil streckt sich aufreizend, als sie ihre Beine anwinkelt, das Tracys Herz schneller zu pochen beginnt.

«Was ist mir dir? Gibst du auf?» Jessicas Frage verfehlt ihre Wirkung nicht. Sich ertappt vorkommend hockt sich Tracy hin. «Von wegen. Glaub nicht, dass du mich so flachgelegt bekommst.» Ein eindeutig-zweideutiges Grinsen huscht über Jessicas Gesicht. Tracy hat das Verlangen augenblicklich im Boden zu versinken. Sie keinen weiteren Blick würdigend spannt sie ihren Körper und sprintet die sportliche Fairness außer Acht lassend los.

Kurz vor dem Ziel holt Jessica sie ein. Mit einer unverschämten Leichtigkeit sprintet sie an ihr vorbei und erwartet sie gelassen mit einem breiten Grinsen im Gesicht kurz vor der ersten Kurve des Vierhundertmeter Runds. Japsend erreicht Tracy sie und greift nach ihrem Oberarm. «Du hast auf jeden Fall geschummelt!», keucht sie außer Atem. «Was für eine Hexerei hast du benutzt?»

«Dann stimmt es, was Monique sagt», entgegnet Jessica. «Was behauptet sie denn?» – «Das du dich mit Hexenwissen beschäftigst. Das du an das übersinnliche glaubst und an ein Leben nach dem Tod.» – «Tut das nicht jeder gute Christ?», entgegnet Tracy. «Wie kommst du denn jetzt überhaupt darauf. Und warum interessiert es dich, was ich glaube und mit was ich mich beschäftige?» – «Deine Verlobte hat nicht unrecht, damit, dass wir uns in dieser Hinsicht ähnlich sind.» Jessica mustert Tracy durchdringend. Diese erwidert abwartend ihren Blick, sich sicher, dass da mehr kommt. «Weißt du auch, welcher Ort dies hier früher einmal war?» Tracy sieht sie fragend an, schüttelt dann ihren Kopf.

«Der Galgenberg. Hier wurden Ende des sechzehnten Jahrhunderts Hexen bei lebendigem Leibe verbrannt.»

Tracy läuft es eiskalt über den Rücken.

«Dein Ernst?», japst sie.

Jessica nickt mit bedeutungsvoller Miene. «Dort hinten an der Ecke des Spielplatzes gibt es sogar eine Infotafel darüber, welchem grausigen Zweck dieser Platz im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert diente. Sei dir gewiss, dass wir uns hier nicht in einem Wettrennen gemessen hätten, sondern mit den Händen auf dem Rücken gefesselt, angegafft von hunderten Schaulustigen auf dem Scheiterhaufen brennen würden, bis der Rauch unsere Schmerzensschreie erstickt.»

«Wie kommst du darauf?», keucht Tracy entsetzt.

Jessica hebt ihre rechte Hand und streicht sich die Strähnen ihres rotblonden Haars zurück, sodass das rotviolette Feuermal auf ihrer Stirn sichtbar wird. «Weil man Frauen mit solch einem Mal unterstellte mit dem Teufel ein Bündnis eingegangen zu sein. Ihnen mit Hilfe grausamer Foltermethoden ein Geständnis abrang und sie dann auf dem Scheiterhaufen in aller Öffentlichkeit, sogar vor den Augen unschuldiger Kinder hinrichtete.»

«Du machst mir Angst! Hör auf!»

«Du weißt, dass es stimmt! Sonst hättest du keine Furcht!»

«Aber das ist doch alles seit Jahrhunderten vorbei.»

«Es ist noch lange nicht vorbei!»

- Kapitel 4 -

Der Schutz der Hospizmauern ist Lyse willkommen, als sie das Dorf außer Atem erreicht. Ihre Beine brennen, da sie die achthundert Meter vom Eichenhain bis hierher in hohem Tempo gelaufen ist. Erleichtert entdeckt sie einen Wasserkrug auf einem der hölzernen Tische und stillt begierig ihren Durst. Noch immer sitzt ihr der Schock in den Gliedern. Im Halbdunkel der Räumlichkeiten erklimmt sie die Treppe hinauf zu den Gästezimmern, in der Absicht nach ihrem Vater zu sehen. Behutsam schiebt sie die Tür auf, in der Annahme das er schläft, um ihn nicht aufzuwecken. Doch auf das Bild, dass sich ihr bietet, nachdem sie das Zimmer betritt, ist sie keineswegs vorbereitet.

Der Kopf des Vaters ist tief in das Kissen eingesunken. Seine Stirn ist benetzt vom Schweiß. Die Gesichtshaut aschfahl, die Lippen spröde, das Haar klebt an seinem Kopf. Aus fiebrig glänzenden Augen mustert er Lyse, seine Tochter. Sein Atem rasselt durch den halb geöffneten Mund. Eine kraftlose Hand, unter der Bettdecke hervorgeschoben, winkt das Mädchen ans Bett.

«Lyse, mein Engel, warst du ein wenig draußen? Hast du sogar schon Freunde unter den Dorfkindern gefunden?» Die Zwölfjährige schüttelt kaum merklich ihren Kopf. Doch ihr Vater deutet diese Geste falsch. Lyse schluckt die Tränen, die sich in ihre Augen drängen und ihr den Hals zuschnüren herunter und sinkt besorgt neben dem Bett auf ihre Knie. Sie ergreift die glühend heiße Hand ihres Vaters und schmiegt sie an ihre Wange. Dieser neigt seinen Kopf in ihre Richtung. Die Anstrengung, die ihn diese kleine Bewegung kostet, lässt Panik in dem Mädchen aufsteigen. «Ich hol schnell eine der Stiftsdamen. Sie müssen dir helfen», bietet Lyse sich an. Doch so schwach ihr Vater ist, seine Hand legt sich auf ihren dünnen Unterarm und hält sie zurück. «Geh nicht mein Engel.» Seine Worte sind nicht mehr wie ein Flüstern. Seine Augenlider flattern, dann fallen sie ihm zu.

Ihre Ärmchen umfangen den dürren Hals des einstmals stattlichen Mannes. «Lass mich nicht alleine», schluchzt Lyse und nun rinnen haltlos Tränen über ihre Wangen. «Papa!», schreit sie voller Verzweiflung, in dem Moment da sich sein Kopf zur Seite neigt und ihren Händen entgleitet.

Jemand öffnet die Tür und tritt wortlos ins Zimmer. Der schwarze Stoff des weiten, langen Rockes rauscht über den Holzfußboden. Anna von Thaun, die Gräfin von Falkenstein, im Amt der Pröpstin des Rellinghausener Stifts, nähert sich dem Mädchen und legt ihr tröstend die Hand auf die Schulter. Aufgeschreckt von Lyses Schrei, war sie sogleich zum Zimmer des Vaters geeilt.

«Komm, Mädchen, steh auf! Du kannst nichts mehr für ihn tun. Die Entzündung seiner Wunde hat sein Blut vergiftet und ihn in so kurzer Zeit dahingerafft.» Lyse rührt sich nicht. Die Gräfin verstärkt den Druck ihre Finger auf ihrer Schulter. «Sprich ein letztes Gebet für ihn – und dann komm.» Doch da springt das Mädchen auf, wirbelt herum und drückt ihr tränennasses Gesicht in den seidigschwarzen Stoff des Rocks der Gräfin. Ergriffen streicht die adelige Frau ihr über die wilde, rote Mähne. Eine Träne läuft der jungen Anna, die kaum fünf Jahre älter ist wie Lyse die blasse Wange herunter.

Hagen müht sich den steilen Weg zum Gerichtsturm hinauf. Er brennt darauf, den Vogt zu sprechen, der heute, wie er erfahren hat, im Dorf zugegen ist. Die Sonne steht bald im Zenit und brennt auf Hagens Glatze, dass ihm der Schweiß über die Stirn rinnt. Dann erreicht er das Gebäude und verharrt ehrerbietig vor dem eindrucksvollen Gemäuer. Golden prangt im Türsturz eingemeißelt der Spruch:

‹Res Publica in Usum rei Publicae me fieri fecit!›

Die Gemeinde ließ mich zum Wohle der Gemeinschaft erstehen.

Stiftvogt Wilhelm von Eyll lässt den aus Bruchsteinen errichteten Turm im Jahr 1567 zum Gerichtsturm umbauen. In unregelmäßigen Abständen reist er von Haus Baldeney an, um im Stift Rellinghausen nach dem Rechten zu sehen.

Zaghaft klopft Hagen an die hölzerne Eingangstür. Für einen Moment zweifelt, er über seinen Entschluss seine Beobachtung zur Anzeige zu bringen. Doch in dem Augenblick, da der Vogt ihm persönlich die Tür öffnet, ist es zu spät, ohne sein Gesicht dabei zu verlieren, zu einem Rückzug. Er streckt seine Gestalt, um entschlossen vor Wilhelm von Eyll zu wirken.

«Hagen! Was führt euch zu mir?», begrüßt der Vogt ihn. «Ihr wolltet doch zu mir?»

«Gewiss, Vogt!» Hagens Stimme klingt heiser, wie das Krächzen eines nachtschwarzen Raben.

«Ihr habt doch nicht etwa so früh schon getrunken?» Wilhelm mustert den ungewaschenen, nach Stall riechenden Mann mit scharfen Blick.

«Gewiss nicht. Dafür ist die Angelegenheit zu wichtig.»

«Aber kommt doch erst einmal hinein», fordert der Vogt ihn auf und tritt zur Seite, um Hagen Einlass zu gewähren. Dieser betritt das Erdgeschoss des Gerichtsturms, in dessen Bodenmitte das mit einem Gitter verschlossene Loch klafft, durch das Gefangene in den Kerker hinuntergelassen werden. Mit unstetem Blick mustert Hagen die Dunkelheit hinter dem Bodengitter und tritt zurück an die Wand. Er streckt sich abermals, um den Mut aufzubringen, Lyse bei dem Vogt anzuzeigen.

«Glaubt mir, das Schwein ist keines natürlichen Todes gestorben. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie dieses teuflische Mädchen es mit seiner Hand berührt hat, und das Tier ist umgekippt und war tot! Dazu hat sie Jakob, dem Schweinehirten schöne Augen gemacht, dabei ist diese Dirn erst zwölf. Ich habe gesehen, wie dem bei ihrem Anblick die Hose zu eng wurde ...»

«Genug!» Stiftvogt Wilhelm von Eyll unterbricht mit einer unmissverständlichen Geste den Redeschwall Hagens. «Das sind schwere Anschuldigungen, die ihr da vorbringt. Was meint ihr im Übrigen mit ‹kein natürlicher Tod›?»

Der Vogt forscht in Hagens unstetem Blick. Die Berichte aus anderen Landesteilen sind eindeutig und zugleich beunruhigend. Wilhelm ist nicht gewillt, dass dieser Wahnsinn nach Rellinghausen überschwappt. Doch brodelt es unter den Bewohnern schon seit einigen Wochen.

Haltlose Gerüchte werden hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Anklagende Blicke suchen im Benehmen gänzlich unschuldiger Menschen nach Anzeichen von unlauterem Verhalten. Wilhelm gelingt es nicht, ein nervöses Zucken seiner Mundwinkel zu unterdrücken. Das Wort, das er am meisten fürchtet – Hexe – ist ihm noch nicht zu Ohren gekommen. Doch er ist sich sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Nachdenklich wandert sein Blick von Hagen zu der Wache, die momentan ihren Dienst im Gerichtsturm versieht. «Ich werde mir die Sache genauestens ansehen und dieses Mädchen und den Schweinehirten aufsuchen», erklärt Wilhelm dann, um zunächst einmal Hagen zu beruhigen. «Aber bevor ich mir kein aussagekräftiges Bild vom Ganzen gemacht habe, will ich von euch kein Wort darüber zu jemand anderem hören. Habt ihr verstanden?»

Dieser sieht ihn mit einem merkwürdig ausdruckslosen Blick an. «Habt ihr begriffen, Hagen, kein Wort zu niemanden, oder ihr werdet es bereuen!», unterstreicht Wilhelm schroff seine Forderung. «Und nun verschwindet!»

Angewidert drückt von Eyll seine Hand flach auf den Nasenrücken. Sonst ist er nicht zimperlich, doch diesmal erträgt er den penetranten Gestank in der Stallung nicht. Hinzu kommt, dass er soeben mit seinem rechten Stiefeln in ein matschiges Gemisch aus Schweiße und Urin getreten ist. «Jakob!», ruft er verärgert nach dem Schweinehirten. Angesäuert wartet er auf eine Reaktion. Vergebens. Dabei nimmt er deutlich Geräusche aus dem hinteren Teil des Stalles wahr. Erbost bahnt er sich einen Weg an den Boxen vorbei, aus denen ihn die Schweine argwöhnisch mit ihren kleinen Augen mustern und unwillig grunzen. Endlich erreicht er die letzte Box und erstarrt. Die Hand, die gerade noch seine Nase bedeckt hat, sinkt beklommen herunter. Jakob hockt vor drei leblosen, erwachsenen Schweinen. Alle weisen deutliche, purpurrote Flecken an verschiedenen Stellen der fiebrig glänzenden Haut auf. Einen respektvollen Abstand wahrend starrt der Vogt Jakob an. Der Anblick trifft ihn bis ins Mark.

«Sind sie tot?», fragt er dann.

Jakob sieht zu ihm auf. «Sie werden sterben, wenn es das ist, was ihr meint, Vogt!»

«Weißt sonst schon jemand davon?»

«Ich habe es dem Markgenossen zu melden», entgegnet Jakob ausweichend.

«Weich nicht aus, Hirtenjunge. Wem hast du es schon gesagt?» – «Dem Markgenossen und seiner Frau!»

«Trink das, das wird dich stärken!» Anna von Thaun stellt Lyse einen Tonbecher halbvoll mit Rotwein hin. Das Gesicht des Mädchens spiegelt sich in der dunkelroten Oberfläche der Traubenlese. Doch sie rührt das Trinkgefäß nicht an. «Du wirst Stärke nötig haben, jetzt da du auf dich allein gestellt bist», fügt sie sanfter hinzu. Und das viel zu früh, beendet sie besorgt den Satz in Gedanken. «Der Stift wird sich um die Beerdigung deines Vaters kümmern, Mädchen. Schon viele die auf Pilgerfahrt waren, fanden auf dem Kirchhof von St. Jakobus ihre letzte Ruhe.»

«Ich erlaube nicht, dass ihr ihn in der Erde verscharrt wie ein wildes Tier!», ruft Lyse entsetzt und schlägt mit ihrer rechten Hand den Becher mit dem Wein um. «Verbrennt seinen Leichnam in der Nacht zum ersten Mai, damit seine Asche zu den Sternen emporsteigt, wie einstmals bei meiner Mutter.» – «Warum ausgerechnet am Tag der heiligen Walpurgis?» – «Weil es seine Seele in der Freinacht leichter hat heimzufinden.»

Anna von Thaun erstarrt bei diesem heidnischen Wort Lyses und bekreuzigt sich hastig.

- Kapitel 5 -

Tracy wacht mit Kopfschmerzen auf. Ihr Blick auf die ungeliebte Anzeige des Radioweckers zeigt ihr, dass es bereits kurz vor zwölf Uhr ist. Das Bett neben ihr ist leer. Traurig streicht sie mit ihrer Hand über das zerwühlte Laken. Sie hätte Monique an diesem Morgen gerne noch gesehen und sich ihr einen Kuss zum Abschied von ihr gestohlen. Missmutig wälzt sie sich aus dem Bett und schleppt sich in die Küche. Gedankenverloren hält sie ein Glas unter den Wasserhahn und dreht das Wasser auf. Kopfschüttelnd versucht sie, die verstörenden Erinnerungen an den frühen Morgen aus ihrem Kopf zu vertreiben. Für einen Moment kommt es ihr vor, als hätte sie nur geträumt.

Jäh werden ihre Gedanken zerfetzt, da ihr kochend heißes Wasser über die linke Hand läuft. Vor Schmerz lässt sie das Glas fallen. Es kracht in die Spüle und zerspringt zu messerscharfen Scherben. Ihr Blick fixiert die Armatur, dessen Hebel nach links steht. Stöhnend hält sie sich die pochende Hand. Dabei wird ihre Aufmerksamkeit von den Glasscherben in der Spüle angezogen. Düstere Erinnerungen steigen in ihr auf. Unwillig schüttelt sie ihren Kopf, dass ihr die schwarzen Haare durchs Gesicht fegen. Diese schrecklichen Tage sind ein für alle Mal vorbei.

Trotzdem geistert eine unbestimmte Angst durch ihren Körper, während sie mit zusammengebissenen Zähnen eine Brandsalbe vorsichtig mit der rechten Hand auf dem Handrücken verteilt. Im Schlafzimmer hört Tracy ihr Smartphone klingeln. Vor Schreck lässt sie die Salbe fallen und hetzt zum Bett. Warum kommt sie sich ertappt vor?

«Na, kleine Jägerin, warst du heute Morgen auf der Jagd?» Es ist Monique.

Tracys Gesichtsfarbe steht der Signalstreifenfarbe auf einem Rettungswagen in diesem Moment in nichts nach. Zum Glück sieht ihre Verlobte sie nicht.

«Was?», presst sie hauchdünn hervor.

«Du brauchst es gar nicht zu leugnen», lacht Monique. «Jessica hat mir schon erzählt, dass ihr beide heute Morgen gejoggt seid. Seit wann gehst du joggen?»

Noch immer bekommt Tracy kein Wort heraus. Warum brachte Jessica sie in solch eine Lage und aus welchen Grund log sie Monique an? Denn Joggen waren sie definitiv nicht.

«Ist okay. Ich verzeih dir dieses eine Mal, aber wenn wir beiden erst einmal verheiratet sind, dann gibt es solche Eskapaden nicht mehr. Hast du verstanden, kleine Jägerin?»

«Äh ... nein ... nein ... ganz bestimmt nicht», stammelt Tracy. «Hey. Keep cool! Aber Jessica scheint auf dich abzufahren. Sie hat uns zum Pizzaessen zu sich eingeladen. Ich fahr mit ihr direkt von der Uni aus mit. Bist du um fünf bei ihr. Ich schick dir ihre Adresse.»

«Ja. Toll!» Mehr bekommt Tracy nicht heraus. Sie beendet das Gespräch. Verwirrt betrachtet sie ihr eigenes Spiegelbild in dem hohen Wandspiegel gegenüber dem Bett.

Das rote Honda CRX Cabrio steht direkt vor dem Haus. Kurioserweise ist der kleine Flitzer genauso alt wie sie, aber immer noch gut in Schuss und nicht zu unterschätzen.

Tracy setzt sich hinters Steuer, lässt den Motor an und fährt los. Ihr Ziel, die Schillerwiese im Stadtwald erreicht sie in zwanzig Minuten. Die düstere Atmosphäre von heute Morgen hat sich in den wärmenden Strahlen der Sonne verflüchtigt. Sie parkt den Wagen nahe dem Spielplatz.

Ihre Recherche hat ergeben, dass Jessica die Wahrheit über die dunkle Geschichte des öffentlichen Sportplatzes erzählt hat. Es gibt darüber sogar eine Infotafel des Rellinghausener Bürgervereins. Die stilisierte Darstellung eines Scheiterhaufens, auf dem inmitten der hochschlagenden Flammen Menschen qualvoll ihr Leben aushauchen, lässt Tracy frösteln. Die historische Tatsache, dass in der Zeit der Hexenverfolgung in Deutschland, Ende des sechzehnten Jahrhunderts in Rellinghausen über vierzig Menschen, Männer wie Frauen, auf dem Scheiterhaufen hingerichtet worden sind, verschlägt Tracy die Sprache. Die aufgelisteten Namen der Getöteten lässt das Geschehene für sie real werden. Voller Trauer schließt sie ihre Augen und bedeckt ihr Gesicht mit ihren Händen.

War der Himmel gerade noch sonnendurchflutet, verdunkeln nun graue Wolken das Firmament. Die Wiesenfläche und die Aschenbahn, auf welcher eben eine junge Frau lief, verblasst. An der Stelle wo vor Sekunden das Bruchsteingebäude mit den darin befindlichen Umkleidekabinen stand, umschließt nun dichter Wald den großen freien Platz. Eisige Windböen heulen über die lose Erde und wirbeln Staub hin zu dem eineinhalb Meter hohen Holzstapel, in dessen Mitte ein dicker Eichenstamm auf seine Verwendung wartet. Um den Scheiterhaufen herum scharren sich die Schaulustigen. Das ganze Dorf, Männer wie Frauen, selbst Kinder, ist auf den Beinen. Am südlichen Ende des weitgestreckten Ovals steht zwischen zwei bedrohlich dreinblickenden Wachleuten eine junge Frau. Barfuß und nur mit einem dünnen leinenen Büßergewand bekleidet zittert sie vor Kälte. Wirr schweift ihr Blick durch die Menge der Gesichter, die sie ihrerseits mit harten Augen mustern. Der Schrei eines Babys schalt durch die Grabesstille, die nur durch das Knistern der Fackel unterbrochen wird, die der Scharfrichter in seiner rechten Hand hält.

Um Tracys Handgelenke schnüren sich Fesseln, die derart festgezurrt sind, dass sie ihr in die Haut schneiden. In ihrem Gesicht, das dreckverschmiert ist, hinterlassen Tränen ihre Spuren. Jemand stößt sie vorwärts. Tracy ist derart geschwächt, dass sie taumelt und hinfällt. Zwei kraftvolle Hände greifen sie unter den Achseln. Dann schleifen die beiden Wachen sie gnadenlos, ohne darauf zu achten, dass sie nicht auf ihren Füßen zum Stehen kommt, in die Mitte des Platzes. Sie wuchten sie in die Höhe und drängen sie gegen den Eichenstamm. Eine der Wachen zerrt ihr Fesseln um die Taille und bindet sie fest. Tracy sinkt das Kinn auf die Brust. Ihr Kopf scheint Tonnen zu wiegen. Sie ist dem Tod näher als dem Leben.

«Aufgrund der richterlichen Feststellung deiner Schandtaten gegenüber den Bürgern und Stiftsdamen des Stifts zu Rellinghausen vollstreckt der Scharfrichter am heutigen Tage das Todesurteils durch Verbrennen auf dem Scheiterhaufen an dir, Tracy Odell.» Ein schlichtes Kopfnicken der Pröpstin besiegelt ihr Schicksal. Mit entschiedenem Schritt schreitet der Vollstrecker auf den Holzstoß zu, senkt die Fackel in das zundertrockene Holz. Gierig springen die Flammen über. Das Feuer schlägt angefacht vom aufkommenden Wind hoch hinauf, erfasst das Büßergewand und hüllt Tracy mit tödlicher Hitze ein. Schweigend betrachten die Versammelten das grausige Schauspiel.

Keuchend schlägt Tracy die Augen auf. Sie steht mitten auf der großen Wiesenfläche im Rund der sie umgebenen Laufbahn. Schnaufend japst sie nach Luft. Dann klappt sie auf dem Rasen zusammen. Ein junger Mann, der gerade sein Lauftraining beginnt, rennt erschrocken zu ihr hin.

Entsetzt stellt er fest, dass Tracy bewusstlos ist. Er rüttelt sie an der Schulter. Überprüft an ihrem Handgelenk den Puls. «Hallo!» Versucht er, sie anzusprechen. Am Rand der Laufbahn steht seine Sporttasche. Als er kurz überlegt, ob er herüberlaufen soll, um einen Notarzt zu rufen, kommt Tracy mit flatternden Lidern wieder zu sich. Benommen fixiert ihr Blick den fremden jungen Mann, sucht ihre Hand halt an seinem Arm, mit der er sie abstützt.

«Geht es dir wieder besser?» – «Hast du einen Schluck Wasser für mich?»

Geführt von dem jungen Mann läuft Tracy hinüber zu einer Bank, die am Außenrand der Aschenbahn ist. Nachdem sie sich hingesetzt hat und sich ihre Gedanken klären, wird ihr bewusst, dass sie an diesem Morgen ihre Psychopharmaka nicht eingenommen hat. Sie nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche, die ihr der hilfsbereite junge Mann reicht. Konsterniert erinnert sie sich der grausamen Vision, von der sie heimgesucht worden ist. Es war alles dermaßen real. Sie hatte in Todesangst geschrien. Schmerzen waren durch ihren Körper gejagt, ausgelöst von ihrer in Flammen stehenden Haut, bis die giftigen Rauchgase sie erstickten und ihr die Sinne raubten.

Tracy gelingt es nicht, diese entsetzlichen Bilder abzuschütteln. Wie war das möglich? Sie würde jedem bezeugen, dass sie das alles körperlich erlitten hatte. Doch wäre sie dann nicht tot?

Die grelle Sonne blendet sie. Verwundert stellt sie fest, dass sie unbewusst die Wasserflasche leer getrunken hat. «Danke!» Sie gibt den jungen Mann die Flasche zurück. «Es geht mir wieder gut! Du brauchst dir keine weiteren Sorgen machen. Danke, nochmal.»

Als sie aufblickt, glaubt sie mitten auf der Rasenfläche des Sportplatzes die verkohlten Reste des senkrecht aufragenden Eichenstamms zu sehen. Ein eiskalter Schauer läuft ihr über die Unterarme.

- Kapitel 6 -

Tracy parkt das Cabrio vor dem samtroten Haus, dessen exponierte Lage direkt am Steilhang oberhalb der Wuppertaler Straße einmalig in Essen ist. Das dreigeschossige Mehrfamilienhaus weist zudem eine ungewöhnliche Architektur auf. Fasziniert schließt Tracy den Wagen ab und sieht sich ein wenig um, da sie diese Gegend von Essen nicht kennt. Es ist kurz vor siebzehn Uhr. Hinter dem Haus, wie eine Schneise zwischen der Ruhr und diesem höher gelegenen Teil von Rellinghausen, verläuft die Bundesstraße, auf der sich der Feierabendverkehr staut.

Tracy sieht, um sich zu versichern, dass die Adresse stimmt auf das Display ihres Smartphones. Bei dem Straßennamen, Hexentaufe, der einmalig in Deutschland ist, fährt sie erschrocken zusammen. Schnell verscheucht sie die gruseligen Bilder, die sich in ihrem Kopf formen. Entschlossen tritt sie auf den Eingang des Hauses zu und sucht das Klingelschild mit Jessicas Nachnamen, Brand.

Ein wenig außer Atem tritt sie Augenblicke später auf Jessica zu, die sie mit einer herzlichen Umarmung und Küsschen auf die Wangen begrüßt. «Komm rein! Nique und ich haben schon mit dem Belegen angefangen. Du magst doch Sucuk auf der Pizza und dazu Peperoni?»

«Ich mags gerne scharf!» – «Na, dann bist du bei mir genau richtig!», entgegnet Jessica und amüsiert sich köstlich über Tracys Verlegenheit. «Komm schon rein!», fordert sie sie auf und grinst sie vielsagend an.

Später sitzen sie im gemütlich eingerichteten Wohnzimmer auf bunten Sitzkissen auf dem kreisrunden Orientteppich an einem niedrigen Tisch und lassen sich die feurig scharfe Pizza schmecken. Dazu trinken sie aus großen Muranoglas-Weinkelchen lieblichen Rotwein. «Und ihr beiden studiert also zusammen?», fragt Tracy grinsend. «Wie schaffst du es mit Monique auszuhalten? Ich habe das Gefühl, ihr verbringt mehr Stunden miteinander als sie mit mir.» – «Erst einmal nennst du mich ab jetzt Jessie. Und ja, den Eindruck habe ich auch manchmal. Aber ich versichere dir, dass deine Nique nur in dich verliebt ist und dass unsterblich.» – «Na dann bin ich beruhigt.», bemerkt Tracy und kippt den restlichen Inhalt ihres zweiten Glases Wein in einem Zug herunter.

«Pass ein bisschen auf, Süße.» Tracy erwidert Moniques Ermahnung mit einem erbosten Blick. «Hey, Jessie, hast du mehr für mich», fragt sie provozierend und streckt ihr ihr Glas entgegen.

Eine halbe Stunde später öffnet Jessica die dritte Flasche des Puglia IGP dessen süßliche Note an Cassis, Pflaume und Kirsche erinnert.

Fasziniert beobachtet Tracy wie der dunkelpurpurne Wein in ihr Glas läuft. Im Kerzenschein glänzt er blutrot. Durch die hohen Fenster dringt sanft das Zwielicht der aufziehenden Nacht. In der Ferne schimmert der halbvolle Mond über den Fluten der Ruhr. «Es ist so weit.», raunt Jessica mit flüsternder Stimme und erntet erstaunte Blicke von Monique und Tracy. «Kommt, begleitet mich auf eine Reise in die Zwischenwelt, dort wo sich Leben und Tod berühren.»

«Was meinst du damit?», fragt Tracy schaudernd.

«Ich möchte mithilfe eines Quija-Bretts Kontakt zu einer besonderen Person aufnehmen, die leider nicht mehr unter uns weilt. Ihre Geschichte wird euch beeindrucken und die Welt mit anderen Augen betrachten lassen.»

«Gläserrücken!» Monique betrachtet verächtlich das Quija-Brett und die darauf liegende Planchette, ein herzförmiges Zeigegerät, auf dem die Teilnehmer der Séance jeweils ihren rechten Mittelfinger legen, um die Botschaften der verstorbenen Seele zu empfangen. «Das ist doch nichts weiter wie ein bescheuertes Kinderspiel!»

«Wenn du meinst», entgegnet Jessica und bittet Monique und Tracy, den mit Kerzenschein und zugezogenen Vorhängen präparierten Raum zu betreten. «Lass dich vom Gegenteil überzeugen, ansonsten wirst du nie mit Sicherheit wissen, ob dahinter nicht doch mehr steckt, wie das überzogene Werbeversprechen eines amerikanischen Spielzeugunternehmens.»

«Dafür ist mir meine Zeit zu kostbar, um mich mit solchem Blödsinn zu beschäftigen.», erklärt Monique wenig überzeugt. «Bitte Nique!», fleht Tracy mit vor Aufregung und alkoholbedingter Erregung zitternder Stimme. «Stell dir vor, es funktioniert tatsächlich.» – «Und was dann? Würde es dir in den Sinn kommen mit Tracy zu sprechen?»

Jessica mustert beide irritiert, nicht wissend welches düstere Geheimnis Tracy verbirgt. Doch sie überwindet ihre Überraschung augenblicklich. «Komm mach mit, Nique, wenn deine Verlobte es doch so faszinierend fände. Und ich versichere dir, dass es klappen wird.» Monique beachtet Jessica mit einem bitterbösen Blick, da sie sie in die Enge treibt. «Meinetwegen!», entgegnet sie und bringt ihre nicht vorhandene Begeisterung mit einem Schulterzucken zum Ausdruck. Mit unterschiedlicher Motivation setzen sie sich im Dreieck um das Quija und legen ihren Zeigefinger auf die Planchette.

«Und was jetzt?», wispert Tracy aufgeregt. Monique verdreht genervt die Augen. «Jetzt fragt jemand von uns, ob ein Geist oder eine verstorbene Seele anwesend ist», erklärt sie gelangweilt. «Ich hoffe, du hast die Einladungen rechtzeitig verschickt, Jessie.»

Diese schenkt ihr ein schiefes Lächeln. «Du solltest deiner Liebsten diesen Spaß nicht verderben», ermahnt sie Monique mit einem undeutbaren Unterton in der Stimme. «Selbst wenn du es für Unsinn hältst, bitte ich dich, dich zu konzentrieren.»

In der unvermittelt entstehenden Stille schauen sich die drei jungen Frauen gegenseitig an. Das Erlöschen einer der Kerzen nimmt Jessica zum Anlass zu sagen: «Die Seelengeschöpfe warten. Ich werde für uns die Fragen stellen.» Sie sieht in die Gesichter der anderen beiden, die offenkundig keine Einwände haben.

«Ist unter uns die Seele einer vor langer Zeit verschiedenen Person?» Nichts geschieht.

Knisternde, elektrisierende Spannung umfängt die Drei. Tracy rutscht nervös auf ihrem Hinterteil hin und her. Monique versucht die Planchette mit Willenskraft daran zu hindern sich in irgendeiner Form zu bewegen. Dabei widersteht sie dem Drang, auf Jessicas strafenden Blick zu reagieren. Derart gefangen merken beide nicht, dass sich die Planchette unbemerkt in die linke obere Ecke des Quija verschoben hat. «JA!», hören sie Tracy mit tonloser Stimme sagen. Gebannt starrt sie auf das Wort. Jessica findet zuerst ihre Fassung wieder. «Sei willkommen. Wie ist dein Name.» Die Planchette setzt sich erneut in Bewegung, rutscht hinüber zum L, zum Y, dann zum S und endlich zum E.

«Lyse», ordnet Tracy irritiert die Buchstaben zu einem Wort.