Das Medusaprojekt - John J. Nance - E-Book

Das Medusaprojekt E-Book

John J. Nance

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Beschreibung

Scott McKay hat eine tödliche Fracht an Bord seiner Boeing 727: eine thermonukleare Bombe. Ihre Explosion wird unsere Zivilisation an ihrem empfindlichsten Punkt treffen: Alle Computersysteme werden innerhalb von Sekunden zusammenbrechen, Flugzeuge orientierungslos vom Himmel fallen und die gesamten Wirtschafts- und Handelszentren werden vollkommen lahmgelegt. Die Folge: ein weltweites Chaos. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 583

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John J. Nance

Das Medusaprojekt

Roman

Aus dem Englischen von Karin Dufner

FISCHER Digital

Inhalt

Für meine Töchter und [...]123456789101112131415161718192021222324252627282930313233Epilog

Für meine Töchter und meinen Sohn, auf die ich unendlich stolz bin: Dawn Michelle Nance Bridgitte Cathleen Nance Christopher Sean Nance

1

Miami, Florida

«Vivian, dein Ex ist am Apparat!»

Die Besitzerin des kleinen Blumenladens drückte den Telephonhörer an die Brust. Überrascht bemerkte sie Vivians entsetzten Gesichtsausdruck: Die große, elegante Frau von Anfang Sechzig stand da wie angewurzelt, ein Dutzend unbeschnittener Rosen in der Hand.

«Fühlst du dich nicht wohl?» fragte die Ladenbesitzerin.

Wie hypnotisiert starrte Vivian Henry auf das Telephon. Als sie einen Schritt rückwärts machte, stieß sie eine leere Blumenvase von einem Tisch. Sie fiel krachend zu Boden und zerbrach. Doch die Frau blickte weiterhin unverwandt auf den Apparat.

Der Blick der zierlichen, grauhaarigen Ladenbesitzerin wanderte zwischen der zerschmetterten Vase und Vivian hin und her.

«Du möchtest wohl nicht mit ihm reden.»

Vivian schüttelte heftig den Kopf. «Warum ruft er an?» flüsterte sie mit weit aufgerissenen Augen. «Was will er?»

«Keine Ahnung. Soll ich ihn fragen?»

Zuerst nickte Vivian, aber dann besann sie sich anders, schüttelte abermals den Kopf und griff nach dem Hörer. Als sie ihn ans Ohr hielt, schloß sie die Augen.

«Was willst du von mir, Rogers?» fragte sie.

Drei Jahre lang hatte er sie glücklicherweise in Ruhe gelassen, doch noch immer weckte allein der Klang seiner Stimme in ihr die altbekannte Angst – die entsetzliche Beklemmung und das Gefühl eines völligen Ausgeliefertseins.

«Wie geht es dir, Vivian?» Schon bei dieser gelassenen Frage lief ihr ein Schauder den Rücken hinunter.

Seine Stimme hatte sich verändert, sie klang ruhig und unangenehm freundlich. Auch diesen Ton kannte Vivian von früher – als Vorboten einer wüsten Beschimpfung. Allerdings schwang nichts von der alten Wut mit, nichts von dem Telephonterror, mit dem er sie noch Monate nach ihrer Trennung belästigt hatte. Statt dessen gab er sich heute als der stets souveräne Dr. Rogers Henry, der jeden um den Finger wickeln konnte. Offensichtlich wollte er etwas von ihr, und sein merkwürdig gleichmütiger Ton jagte Vivian eine Gänsehaut über den Rücken.

«Bestimmt hast du mich nicht angerufen, um dich nach meiner Gesundheit zu erkundigen, Rogers. Was willst du von mir?»

Ich sollte dieses Gespräch besser beenden, dachte sie, obwohl sie sich bereits mit dem Gedanken abzufinden begann, daß sie weiterreden mußte, um ihn zu besänftigen. Diesen Fehler hatte sie während der meisten Zeit ihrer Ehe gemacht, in der sie unerbittlicher Willkür und Mißhandlungen ausgesetzt gewesen war.

«Wie kommst du darauf, daß ich etwas wollen könnte?» fragte er jetzt.

«Weil …» begann sie mit zitternder Stimme. Wenn sie jetzt die falsche Antwort gab, würde bestimmt wieder einer seiner Ausbrüche folgen. «Weil ich mir nicht vorstellen kann, daß du mir nach all den Jahren noch etwas zu sagen hast. Warum … solltest du mit mir sprechen wollen? Schließlich hast du mich schon genug gequält.»

Seine Stimme blieb ruhig.

«Ist dir vielleicht schon mal der Gedanke gekommen, daß mir das alles leid tun könnte? Hör zu, ich brauche ein paar Minuten, um dir alles zu erklären. Opferst du mir ein bißchen Zeit, Vivian?»

Seine Stimme klang müde – nicht bedrohlich wie sonst. Vivian fragte sich, ob er wohl in Schwierigkeiten steckte. Sie hatte sich geschworen, sich nicht mehr darum zu kümmern, den Mann nicht mehr aufzubauen, der sie so lange geschunden hatte – aber sie war machtlos gegen diesen Drang. Irgendwo in der dunklen, bösartigen Seele dieses Mannes mußten noch weichere Züge des gutaussehenden jungen Wissenschaftlers schlummern, dessen Frau sie vor so vielen Jahren geworden war. Zumindest hatte sie sich das immer eingeredet. Und die vergebliche, nie erfüllte Hoffnung, diese Züge könnten eines Tages wieder zum Vorschein kommen, war ihr zum Verhängnis geworden. Zu ihrem Entsetzen mußte sie feststellen, daß das Gefühl in ihr noch nicht erloschen war und ihr törichte Versprechungen ins Ohr raunte: Diesmal würde bestimmt alles anders werden.

«Vivian, bist du noch dran?»

Sie nickte, bis ihr einfiel, daß er sie ja gar nicht sehen konnte. «Ja.»

«Gut. Ich muß dir etwas sehr Wertvolles übergeben, und ich möchte dich gern wiedersehen. Ich will … mich bei dir entschuldigen, bevor es zu spät ist.»

Zu spät? dachte sie. Eine innere Stimme warnte sie, nicht auf ihn zu hören, sich nicht wieder von ihm einwickeln zu lassen.

«Bist du krank, Rogers?»

Schweigen.

«Ich werde sterben, Vivian. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Die Ärzte geben mir im besten Fall noch ein paar Wochen.»

«Tut mir leid», sagte sie mechanisch.

«Bitte komm. Nur für ein paar Minuten. Ich vermache dir das Haus. Du gehst keinerlei Verpflichtung ein. Aber das Wichtigste ist für mich, dich noch einmal zu sehen. In letzter Zeit habe ich über vieles nachgedacht.»

Vivian schloß die Augen und rieb sich die Schläfen. «Nein und auf Wiedersehen» wäre die einzig vernünftige Antwort gewesen – nach all den Jahren, in denen sie versucht hatte, diese Ehe zu vergessen und mit Hilfe einer Therapeutin zu lernen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen. Sie konnte diesem Mann einfach nicht mehr gegenübertreten. Was war, wenn er sich doch nicht geändert hatte?

Aber anscheinend war er krank und geschwächt. Vivian spürte, daß sie herausfinden mußte, ob das Unmögliche tatsächlich eingetreten war: Vielleicht hatte ihn die Krankheit wirklich geläutert.

Sie brauchte Gewißheit.

«Gut, Rogers», hörte sie sich selbst antworten. «Wäre dir heute nachmittag recht?»

 

Die Tür des Hauses im Süden von Miami, in dem auch Vivian einmal gelebt hatte, wurde von einer abgemagerten Vogelscheuche geöffnet. Dieser Mann hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem weltberühmten Atomwissenschaftler, der in Los Alamos die Nachfolge von Pionieren wie Oppenheimer und Teller angetreten hatte. Vivian erschrak beim Anblick seiner leichenhaften Blässe, der tief in den Höhlen liegenden Augen und der gebeugten Schultern. Einen Moment stand sie verwirrt auf der Veranda und konnte kaum glauben, daß dieser ausgemergelte Greis vor ihr erst zweiundsechzig war.

Er sah aus wie neunzig.

«Schön, daß du gekommen bist, Vivian», sagte er leise und hielt ihr die Tür auf.

Drinnen im Haus war es dunkler und bedrückender, als Vivian es in Erinnerung hatte. Wegen der geschlossenen Vorhänge und des schwachen Lichts der einzigen brennenden Lampe war es so düster wie bei einem Bestattungsunternehmen. Die Zimmer rochen nach Moder und kaltem Rauch. In Vivians Kopf wirbelten widersprüchliche Gefühle durcheinander, als sie sich vorsichtig auf dem abgewetzten Sofa niederließ. Er schlurfte zu dem Lehnsessel neben der Tür und setzte sich schwerfällig.

«Du hast etwas von einer Entschuldigung gesagt, Rogers», begann sie.

«Ich werde Taten für mich sprechen lassen», antwortete er. «Ich habe einmal gesagt, daß du dieses Haus nie bekommen wirst, und das war ein Fehler. Ich habe mein Testament geändert.» Er wies auf einen Umschlag, der auf dem Beistelltisch neben dem Sofa lag. Vivian nahm ihn und las die neue Klausel, die er eingefügt hatte: Sie würde das Haus erben, das beim Scheidungsprozeß ihm zugesprochen worden war.

«Das ist noch nicht alles», fuhr er fort, als sie aufblickte, ohne das Schriftstück zu Ende gelesen zu haben. «Wenn du mir einen letzten Wunsch erfüllst, gehört die Police ebenfalls dir.»

«Police?» fragte Vivian.

«Die gesamte Lebensversicherung über dreihunderttausend Dollar. Alle Prämien sind bezahlt.»

Sie nickte. «Du hast doch geschworen, das Geld irgendeiner religiösen Sekte zu vermachen. Egal wem, nur nicht mir.»

Vivian machte sich auf einen Ausbruch gefaßt, doch Rogers Henry unterdrückte ein ungeduldiges Stirnrunzeln und schlurfte hinüber zu dem Bücherregal am anderen Ende des Zimmers.

«Wenn du mein Werk zu Ende bringst, gehört das Geld dir», wiederholte er.

«Und was soll ich für dich tun?» fragte sie ruhig.

Zuerst antwortete er nicht, aber als er sich zu ihr umdrehte, blitzten seine Augen.

«Ich habe es geschafft, Vivian! Ich habe Medusa fertiggestellt. Die Medusawelle ist möglich. Und ich habe den Plan vervollkommnet.»

Zufrieden betrachtete er ihr verblüfftes Gesicht.

«Ganz allein?» stammelte sie. «Wie? Du hast doch ein Team von vierzig Wissenschaftlern zehn Jahre lang daran arbeiten lassen.»

«Nachdem ich zwangsweise in den Ruhestand versetzt worden bin, habe ich noch einmal achtzehn Jahre gebraucht. Und ich habe es geschafft. Jetzt wirst du nach meinem Tod den Prototyp nach Washington bringen.»

«Ich … ich verstehe dich nicht ganz.»

«Ich habe ein Modell gebaut. Natürlich ist es nur ein Anschauungsobjekt und nicht mit Plutonium ausgestattet. Aber das Prinzip funktioniert. All die Jahre habe ich in meinem Labor daran geforscht. Ein neuer Zünder, ein neues Konzept, alles neu.» Er schlurfte zurück zum Lehnsessel. Seine Augenbrauen waren in Bewegung geraten, und er blickte immer wieder zu der Tür, die zu der umgebauten Garage führte.

«Warum nach Washington, Rogers? Warum nicht nach Los Alamos?»

«Weil diese jämmerlichen Schwachköpfe, die damals mein Programm gestrichen und behauptet haben, daß es nicht funktioniert, jetzt im Pentagon sitzen. Ich will, daß sie mein Modell anschauen, anfassen und begreifen können, bevor sie es an die Westküste schaffen, um es zu untersuchen. Denn das werden sie zweifellos tun.»

Schwer atmend ließ er sich in den Sessel fallen.

«Aber funktioniert es wirklich?» fragte Vivian.

«Es ist ein Wunder, Vivian. Wie sich herausgestellt hat, kann man einen zerstörerischen elektromagnetischen Impuls auch unterhalb von hundertfünfzig Kilometern Flughöhe erzeugen. Eine einzige Medusaexplosion auf dem Boden kann mittels einer sekundären elektromagnetischen Welle sämtliche Aktivitäten einer Industrienation im Radius von dreitausend Kilometern zum Erliegen bringen. Genauso, wie ich es 1973 vorhergesagt habe!»

«Und du willst, daß ich …»

«Du sollst es mit einer Frachtmaschine nach Washington bringen und dafür sorgen, daß es sicher im Pentagon ankommt.»

«Und dann bekomme ich das Geld von der Versicherung?» Er nickte und schien zu überlegen, wie weit er gehen durfte. «Wahrscheinlich ist es zu spät, dich zu bitten, es aus Liebe zu tun.»

Wollte er sie verhöhnen? Sie betrachtete forschend sein Gesicht, aber er verzog keine Miene.

«Aus Liebe, Rogers? Die Liebe, die ich einmal für dich empfunden habe, hast du getötet, als du zum erstenmal im Zorn die Hand gegen mich erhoben hast.»

Mit einem unwilligen Schnauben stand er auf, doch sie sprach weiter.

«Ich dachte, du wolltest dich entschuldigen.»

Kopfschüttelnd und mit gesenktem Blick durchquerte er langsam das Zimmer.

«Ich schlage dir folgendes Geschäft vor, Vivian: Neben dir auf dem Tisch liegt ein Umschlag mit Anweisungen und dem Schlüssel zum Labor.» Zögernd hob er den Kopf und sah sie an. «Wenn du den Instruktionen in meinem Brief folgst, wird der Verwalter des kleinen Fonds, den ich gegründet habe, dir das Geld auszahlen. Falls du dich weigern oder die Sache vermasseln solltest, kriegst du keinen Penny. Natürlich bekommst du das Haus samt der ausstehenden Hypothek, aber die dreihunderttausend, mit denen du sie abtragen könntest, wären dann weg.»

Vivian stand auf, um zu gehen. «Es tut mir leid, daß du bald sterben wirst, Rogers. Ich brauche dein Geld nicht. Such dir jemand anderen für deinen Auftrag.»

«Setz dich!» brüllte er. Das wahnsinnige Funkeln in seinen Augen kannte sie nur zu gut. «Mit einer derart dümmlichen, hirnlosen Antwort hätte ich eigentlich rechnen müssen!»

Vivian spürte, wie ihre Knie nachgaben. Als sie sich wieder aufs Sofa setzte, brach er mitten im Satz ab und biß sich auf die Lippen.

«Tut … mir leid, Vivian. Ich wollte dich nicht anschreien.»

Wortlos nickte sie und betrachtete den Teppich, während er auf sie zuschlurfte.

«Ich weiß, daß ich als Ehemann versagt und dir das Leben zur Hölle gemacht habe. Ich bin ein mieser Kerl und werde wahrscheinlich in der Hölle schmoren. Aber eines habe ich richtig gemacht, und ich möchte, daß mein Land davon profitiert. Und du sollst die Ehre haben, es der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wir werden damit die Geschichte der Menschheit verändern, Vivian!»

Er kam näher und näher, und Vivian spürte, wie Angst in ihr aufstieg. Sie versuchte die Entfernung zur Tür abzuschätzen.

«Vivian? Was sagst du dazu? Wirst du es tun?» Inzwischen sprach er wieder leiser, in fast flehentlichem Ton.

«Möchtest du dein Lebenswerk wirklich einer dümmlichen, hirnlosen Frau anvertrauen?» fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. «Ich habe es nicht so gemeint. Ich rede zu viel, Vivian, das war schon immer mein Fehler. Finstere Drohungen, große Worte, üble Beleidigungen. Ich habe es nicht so gemeint.» Ihm war klar, daß die schwankende Brücke, die er zwischen ihnen errichtet hatte, unter seinem Wutanfall einzustürzen drohte. Deshalb sank er unvermittelt vor ihr auf die Knie und hielt sich mit der rechten Hand an der Tischkante fest. Sein ausgemergelter Körper wurde von einem Schluchzen geschüttelt.

«Vivian … ich wollte dir nicht weh tun. Es tut mir leid, daß ich so ein Schwein gewesen bin!»

Er schlug die Hände vors Gesicht, so daß seine Stimme nur noch gedämpft zu hören war. In Vivian tobten widerstreitende Gefühle.

«Wenn du es ins Pentagon bringst», fuhr er fort, «… werden sie es zur Kenntnis nehmen. Wenn nicht, wird es unbemerkt in der Versenkung verschwinden. Es ist mein Lebenswerk, Vivian. Alles, was mir je etwas bedeutet hat. Bitte!»

Sie zögerte. Eine innere Stimme riet ihr, so schnell wie möglich davonzulaufen, dieses Haus und dieses Wrack von einem Mann zu verlassen, der sie anflehte, etwas zu tun, das ihr nicht möglich war. Doch falls er die Wahrheit sagte, würde seine Erfindung weitreichende Folgen haben. Sie hatte lange genug selbst als Atomwissenschaftlerin gearbeitet, um das zu wissen.

Allmählich gewann das Mitleid die Oberhand über ihren Selbsterhaltungstrieb. Schließlich litt er unter schweren Schmerzen und würde bald sterben. Dieser Gedanke ließ die Erinnerung an die Qualen, die er ihr bereitet hatte, in den Hintergrund treten.

Aus alter Gewohnheit nahm sie ihn in die Arme und schmiegte seinen Kopf an ihre Brust, während ihr Tränen über die Wangen liefen.

 

Er begleitete sie zur Tür und drückte ihr die Hand. Nachdem sie sich wortlos umgedreht hatte, blickte er ihr durchs Fenster nach, bis ihr Auto hinter einer Kurve verschwand. Mit einem triumphierenden, befriedigten Lächeln auf den Lippen humpelte er zu der umgebauten Doppelgarage, die ihm als Labor diente. Die Tür zum Treppenhaus schloß er hinter sich.

In dem fensterlosen Raum herrschte feuchte Kühle, und ihn fröstelte, als er einige Lichter anknipste, um sein Werk zu bewundern. Langsam ging er zu dem offenen Türchen des großen, rechteckigen Metallgehäuses hinüber, das auf dem Unterteil einer Packkiste aus massivem Holz stand und fast die Hälfte des Labors einnahm. Die Seiten des hohlen Gehäuses waren blank poliert. Durch Kontrolltürchen von etwa sechzig Quadratzentimetern Durchmesser konnte man den Bleimantel der inneren Kammer sehen. Rogers Henry warf einen prüfenden Blick hinein, ehe er es zuklappte und verschloß. Dann schaltete er den kleinen, in das Gerät eingebauten Computer ein, stellte die Uhr und schweißte das Gehäuse ordentlich zu.

Der obere Teil der schweren hölzernen Packkiste war mit einem Flaschenzug an einem eisernen Deckenbalken befestigt. Langsam und unter Schmerzen schob Rogers die Kiste an den richtigen Platz. Als sie sich direkt über dem Gehäuse befand, ließ er sie mit einem dicken Tau hinunter. Erschöpft von der Anstrengung mußte er sich eine Weile hinsetzen und verschnaufen, ehe er mit seiner Arbeit fortfahren konnte. Nachdem er fertig war und wieder eine Pause eingelegt hatte, befestigte er den Deckel ringsherum mit dicken Nägeln.

Dann gab es noch etwas zu erledigen: Ein Teil des Garagendaches hatte er mit Solarzellen ausgestattet, um die Batterie im Gehäuse aufzuladen, damit sie stets über genügend Spannung verfügte. Er verband das dünne Kabel mit einem Stecker an der Rückwand der Kiste und vergewisserte sich, daß das kleine Kontrollämpchen anging, bevor er zurücktrat, um sein Werk noch einmal zu betrachten. Wenn man die Kiste verschob, würde das Kabel zurückschnellen und in der Wand verschwinden. Rogers überprüfte noch einmal die Spannung.

Alles war fertig. Endlich war es vollbracht.

 

Schon vor Jahren hatte er die Pikkoloflasche Champagner gekauft und hinten in den Kühlschrank gelegt. Damals, als ihn blinde Wut erfüllte, weil Vivian ihn verlassen hatte, hatte sein Plan Gestalt angenommen. Jetzt holte er die Flasche heraus, entfernte mit Hilfe eines Geschirrtuches den Schraubverschluß und füllte einen der zweihundert Jahre alten vergoldeten Kristallkelche, die Vivian von ihrer Mutter geerbt hatte. Mit boshafter Freude hatte er nach der Scheidung alle Gläser bis auf dieses eine mit einem Hammer zertrümmert und sie Vivian in einem Schuhkarton zugeschickt.

Mit dem Sektkelch setzte er sich in seinen Sessel im Wohnzimmer. Während er das Gefäß in der Hand drehte, ging er die Einzelheiten seines Plans noch einmal durch. Ein kaltes Lächeln flog über sein Gesicht, als er den Champagner austrank und dann das Glas gegen den gemauerten Kamin schleuderte. Befriedigt sah er, wie es in tausend Scherben zersprang.

Als ihm einfiel, wie Vivian erst vor einer Stunde den Arm um ihn gelegt hatte, wurde sein Lächeln noch breiter. Genauso hatte er sich das gedacht.

Jetzt war der Zeitpunkt gekommen.

Dr. Rogers Henry griff in die Schublade des Beistelltisches, zog eine polierte hölzerne Kassette heraus und wählte die Nummer der Polizei.

«Ein Notfall?» erkundigte sich die sachliche Frauenstimme.

«Können Sie meine Adresse auf Ihrem Computer aufrufen?» fragte er.

«Aber natürlich», antwortete die Frau ungehalten. «Hat bei Ihnen ein Notfall stattgefunden?»

«Nein.»

Er klappte die samtgefütterte Kassette auf und entnahm ihr eine geladene .44er Magnum.

«Ich möchte einen Selbstmord melden.»

Miami – einen Monat später

Das Klingeln des Telephons riß Vivian aus einem Alptraum, in dem Rogers während der Begräbnisrede urplötzlich aus dem Sarg gesprungen war und sie mit einem Tranchiermesser bedroht hatte.

Sie schüttelte sich, um wach zu werden, und griff nach dem Hörer. Zu ihrer Überraschung hörte sie die Stimme des Anwalts, der zum Testamentsvollstrecker bestimmt worden war. Er wollte wissen, wann sie nach Washington fahren würde, damit er den Vorgang abschließen und ihr das Haus übertragen konnte.

«Niemals», antwortete sie.

«Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz», sagte der Anwalt.

Es hatte Vivian nicht weiter erstaunt, daß Rogers ihr einen Teil des Testaments verheimlicht hatte: Der Testamentsvollstrecker durfte ihr das Haus erst übertragen, nachdem sie Medusa abgeliefert hatte.

«Mrs. Henry, wenn Sie dem Wunsch des Verstorbenen nicht nachkommen, kann ich Ihnen das Haus in den nächsten drei Jahren nicht übertragen.»

«Ich weiß.»

«Und ich kann Sie auch nicht darin wohnen lassen. Statt dessen muß ich für den Unterhalt aufkommen und aus dem Vermögen des Verstorbenen alles vom Rasenmähen bis zu den Steuern und der Hypothek bezahlen.»

«Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich das weiß. Tun Sie, was Sie tun müssen.»

«Aber Sie werden die dreihunderttausend nicht bekommen!»

Vivian rieb sich die Schläfen und schloß die Augen. «Mr. Wallace, Sie können mir das Haus irgendwann oder auch überhaupt nicht übertragen. Es ist mir egal. Ich habe einen Job, und ich habe die Witwenrente meines Mannes, die mir bei der Scheidung zugesprochen wurde. Mehr brauche ich nicht.»

Vivian legte auf. In den Tagen nach der Beerdigung hatte sie eine Entscheidung gefällt: Sie würde sich nicht mehr unter Druck setzen lassen. Wenn sie das Haus schließlich bekam, würde sie es verkaufen, denn bei dem Gedanken, an einem so von Haß und Tod erfüllten Ort zu wohnen, lief es ihr kalt den Rücken hinunter.

Und dann war da auch noch das Modell. Sie würde dafür sorgen, daß es vernichtet wurde.

Denn eine neue Waffe hatte die Welt ganz bestimmt nicht nötig.

2

Central City, Colorado – 12. September, zwei Jahre später

Scott McKay legte den Telephonhörer auf und blieb ein paar Sekunden reglos sitzen. Dann erschien ein Lächeln auf seinem breiten, kantigen Gesicht. Der Anruf war ein Geschenk des Himmels gewesen. Vor Erleichterung fiel ihm ein Stein vom Herzen, und die Anspannung der letzten Wochen war auf einmal wie weggeblasen – der Konkurs seiner kleinen Firma war abgewendet!

Dank des neuen Regierungsauftrags würde die Luftfrachtgesellschaft ScotAir, die nur über ein einziges Flugzeug verfügte, überleben.

Scott sprang auf und griff nach seiner Windjacke. Das mußte gefeiert werden – wo, spielte keine Rolle. In diesem kleinen Städtchen in den Bergen gab es schließlich genug Kneipen, und er hatte es satt, allein und deprimiert an seinem Schreibtisch zu sitzen.

Daß sich inzwischen auch die Sonne zeigte, paßte gut zu seiner neugewonnenen Zuversicht. An der Tür zum ersten Stock des hundert Jahre alten Hauses blieb er stehen. Ihm fiel ein, daß die Sonne genau in dem Augenblick die Gewitterwolken verdrängt hatte, als die gute Nachricht hereingekommen war. Er ließ den Blick über die Hauptstraße von Central City schweifen. Obwohl die Saison schon fast vorbei war, wimmelte es noch immer von Touristen, die wie bunte Farbkleckse auf der Straße herumliefen und von Laden zu Laden schlenderten. Vor ihm lag das Wirtschaftszentrum dieses fast baumlosen Tals. Scott hatte diese Aussicht schon immer als bedrückend empfunden.

Plötzlich aber störte ihn dieser Anblick viel weniger, und er begriff beinahe, warum sein Vater dieses alte Haus und die Stadt so geliebt hatte.

Wie immer, wenn er an seinen Vater dachte, mußte er mit den Tränen kämpfen. Der altgediente Manager war vor zwei Jahren völlig überraschend an einem schweren Herzinfarkt gestorben. Scott war damals Pilot bei der Navy gewesen und hatte F-14-Kampfflugzeuge geflogen. In zwei Wochen hätte er sowieso seinen Abschied genommen und wäre nach Colorado zurückgekehrt. Da die Reise von seinem Stützpunkt am Mittelmeer fast eine Woche gedauert hatte, hatte er sogar die Beerdigung verschieben müssen.

Scott kam es vor, als wäre seitdem erst eine Woche vergangen. Er war Einzelkind, und schon der Tod seiner Mutter bei einem Autounfall vor zehn Jahren war ein schwerer Schlag für ihn gewesen. Doch der Verlust seines Vaters hatte ihn noch schwerer getroffen. Nun war er wirklich ganz allein auf der Welt.

Scott betrachtete das Porträt seines Vaters über dem gemauerten Kamin. Der alte McKay hatte viele hunderttausend Dollar gespart, um mit seinem Sohn, der in Annapolis Examen gemacht hatte, nach dessen Abschied von der Navy eine Firma zu eröffnen. Der ausführliche Briefwechsel mit seinem Vater hatt Scott Spaß gemacht. Gemeinsam hatten sie über Ideen für alle möglichen Unternehmen gebrütet – doch Scott hatte seinem Vater immer verschwiegen, daß er viel lieber Pilot werden wollte als Gründer eines Firmenimperiums.

Scott verließ sein Arbeitszimmer im ersten Stock und sprang in großen Sätzen die Treppe hinunter zur Tür. Draußen blieb er einen Moment stehen und genoß den kalten Wind auf seinem Gesicht, der ihm das sandfarbene Haar zauste. Der angenehme Duft der alten Fichte im Vorgarten stieg ihm in die Nase und mischte sich mit dem Knoblauchgeruch aus dem italienischen Restaurant, das einen Häuserblock entfernt lag.

Allerdings konnte er sich des Gedankens nicht erwehren, daß er etwas Wichtiges vergessen hatte. Ja, richtig! Seine Steuererklärung war schon längst fällig, und er mußte noch einige Formulare fürs Verkehrsministerium ausfüllen. Wahrscheinlich war es besser, wenn er die Tür gleich wieder von innen zumachte und sich an die Arbeit setzte. In der letzten Woche war er zu niedergeschlagen gewesen, um sich mit solchen Nebensächlichkeiten zu befassen.

Da hüpfte ein kleines Mädchen vergnügt den Gehweg entlang. Sie zog einen leuchtend silbrigen Ballon mit aufgedruckten Geburtstagswünschen hinter sich her. Scott mußte daran denken, daß auch er bald Geburtstag hatte – den einunddreißigsten.

Und was, dachte er, habe ich geleistet?

Daß er ScotAir gegründet hatte, war eine Leistung, mit der er sich nicht gern brüstete. Der Einstellungsboom bei den Fluggesellschaften war zum Zeitpunkt seiner Entlassung aus der Navy gerade vorbei gewesen. Auf einmal mußte man selbst eine Gesellschaft gründen, um weiter als Pilot arbeiten zu können – und genau das hatte er dann auch getan.

Natürlich hätte er sich damit Zeit lassen und für kleinere Privatfirmen fliegen können, bis United und American Airlines wieder Piloten brauchten.

Doch statt dessen hatte er das gesamte Vermögen seines Vaters in diese kleine Luftfrachtfirma investiert, ohne einen einzigen Auftrag vorweisen zu können – rückblickend betrachtet kein sonderlich kluger Schritt, weil er jetzt die Verantwortung für zwei zuverlässige Mitarbeiter trug.

Ach, du meine Güte, Jerry und Doc saßen ja noch neben dem Telephon und warteten auf seinen Anruf!

Scott rannte zurück ins Haus und griff zum Apparat auf dem Flurtischchen, um seinem Copiloten und seinem Bordingenieur die gute Nachricht zu übermitteln. Er drückte die gespeicherte Nummer von Doc Hazzard in Colorado Springs und rief auf der zweiten Leitung Jerry Christian in Dallas an. Mit einem weiteren Knopfdruck verband er die beiden Leitungen, und kurz darauf konnte er die Stimmen seiner Mitarbeiter hören.

«Jungs, wir haben den Vertrag. Wir werden es schaffen!»

«Spitze!» rief Doc. Scott hörte, wie ein Düsenflugzeug über das Haus des ehemaligen Kapitäns der Pan Am in der Nähe des Flughafens von Colorado Springs flog. Das Dröhnen übertönte fast die klassische Musik im Hintergrund, ein Violinkonzert, möglicherweise eine Aufnahme von Doc selbst aus seiner Zeit beim Symphonieorchester. Doc war lange Jahre ein erstklassiger Geiger gewesen, hatte diese Leidenschaft jedoch nie zum Beruf gemacht.

«Gott sei Dank», ließ sich Jerry aus Dallas vernehmen. Seine Stimme klang sehr erleichtert. «Wann fangen wir an?»

«Am Donnerstag», antwortete Scott. «Wir fliegen leer nach Miami. Die erste Fuhre machen wir am Freitag morgen. Hochbrisantes wissenschaftliches Material, das von irgendwo aus dem südlichen Südamerika nach Miami gebracht worden ist.»

«Du wiederholst dich», stichelte Doc. Bei dem Gedanken, daß sich ein Jahr harte Arbeit für einen Chef, der dreißig Jahre jünger war als er, endlich auszahlen würde, konnte er sich ein Kichern nicht verkneifen.

«Okay, aus dem Süden von Chile», antwortete Scott. Er hörte, daß das Konzert im Hintergrund von den Klängen eines einsamen Cellos abgelöst worden war, und fragte sich, ob Doc wohl Besuch hatte. «Egal. Jedenfalls stammt dieses Zeug von einer Expedition in die Antarktis, die vorzeitig abgeblasen wurde. In den nächsten beiden Monaten fliegen wir Fuhren nach Denver. Und im November …»

«Im November arbeiten wir für Nissan», unterbrach Jerry. «Der Vertrag steht doch noch?»

«Darauf kannst du Gift nehmen», entgegnete Scott. Seit Wochen war sein größtes Problem, bis November durchzuhalten, da dann der Dreijahresvertrag begann. Sie würden hochwertige Autoteile «just in time» transportieren und bis Dezember wahrscheinlich genug Geld verdient haben, um ein zweites Flugzeug zu kaufen und eine neue Besatzung anzuheuern.

Jerrys Stimme klang gedämpft, als erwache er aus einem Alptraum. «Wie dicht waren wir dran, Scott?»

«Was meinst du?»

«An der Pleite. Der Zahlungsunfähigkeit.»

Es herrschte Schweigen, während Scott überlegte, was er einem Mann antworten sollte, dessen finanzielle Lage genauso prekär war wie die seines Arbeitgebers. Drei Kinder und eine anspruchsvolle Frau, die auf einem teuren Haus im Norden von Dallas bestand und dabei keinerlei Rücksicht auf Jerrys berufliche Situation nahm, zehrten am Geldbeutel des Bordingenieurs.

«Viel zu dicht, Jerry. In zehn Tagen sind dreißigtausend Dollar Leasingrate fällig, und ich hätte sie nicht auftreiben können.»

«Davon hast du mir nichts gesagt», meinte Jerry mit tonloser Stimme.

«Weil ich fest damit gerechnet habe, daß wir diesen Vertrag bekommen. Und es hat geklappt. Wir werden es schaffen, Jungs. Im Januar haben wir eine zweite Crew.»

 

Nach dem Telephonat legte John T. «Doc» Hazzard mit einem zufriedenen Grinsen den Hörer auf und kratzte sich die breite Brust. Er blickte aus dem Fenster auf den Flughafen von Colorado Springs hinaus, wo die 727 der ScotAir stand.

Das Leben ist schön, dachte er, vielleicht sogar noch besser, seit die Pan Am bankrott gemacht hat. Mit dreiundsechzig hätte er sowieso keine Passagiermaschine mehr fliegen dürfen.

«Läufst du immer splitternackt vor dem Fenster herum, Doc?» Die Frauenstimme kam vom Sofa her. Doc drehte sich um und bedachte die schöne Blondine mit einem noch zufriedeneren Lächeln. Sie trug nichts weiter als eine dünne Perlenkette und hatte das Cello an die Wand gelehnt. Doc vergewisserte sich, daß seine Geige nicht in Gefahr schwebte, vom Schreibtisch zu rutschen. Notenblätter fielen von einem Ständer, als er zu ihr hinüberging.

«Natürlich.» Er warf sich in Gewichtheberpose. «So einen schönen Körper darf man nicht verstecken. Das hast du selbst gesagt!»

Sie schüttelte den Kopf. «Dieses Eigenlob will ich nicht gehört haben. Außerdem finde ich deine Finger viel aufregender als deinen Körper.»

Er lächelte. «Weil ich so gut mit einer Geige umgehen kann?»

Sie nickte. «Das auch.» Ein anzügliches Grinsen machte sich auf ihrem Gesicht breit. «Vermutlich war das eben eine gute Nachricht.»

Er erzählte ihr von der Rettung der Firma.

«Und wann hörst du auf, Doc?»

«Womit? Jungen Frauen im Bett was beizubringen?»

«Wann hörst du mit der Fliegerei auf? Wann hörst du auf, ständig aus dem Koffer zu leben? Abgesehen von deinen übrigen Talenten und körperlichen Vorzügen …», sie zwinkerte ihm zu, «bist du ein ausgezeichneter Geiger und nicht bloß ein Amateur.»

«Und du bist eine ausgezeichnete Cellistin. Wenn ich mich recht entsinne, haben wir uns so kennengelernt. Romantik im Orchestergraben.»

«Jetzt aber mal ernsthaft.» Sie rutschte ein wenig von ihm weg. «Wann wirst du endlich seßhaft und widmest dich der Musik? Vielleicht könntest du hauptamtlich beim Symphonieorchester spielen? Und mehr Zeit mit mir verbringen.»

Er küßte sie und strich ihr über das blonde Haar. «Ich kann es mir nicht leisten, seßhaft zu werden, Karen. Ich bin der glückliche Ex-Gatte von drei Frauen, und alle wollen jeden Monat Alimente sehen.»

«Du bist der komischste Geschiedene, der mir je untergekommen ist. Dir scheint es wirklich Spaß zu machen.»

«Ich liebe sie alle immer noch.»

«Aber irgendwann wirst du langsamer treten müssen, Doc.»

Sanft nahm er sie bei den Schultern und sah ihr in die Augen. «Liebling, ich habe vor, bis zu meinem Tod in Bewegung zu bleiben. Zur Zeit fliege ich leidenschaftlich gern, und zwar mit einem netten jungen Mann, der unbedingt Erfolg haben will. Allerdings fehlt ihm die Erfahrung, wirklich große Maschinen zu fliegen, und er braucht mich mehr, als er denkt. Mir geht es nicht nur ums Geld, sondern auch um die Herausforderung. Und ich muß zugeben, daß ich das Gefühl brauche, einfach auf mein Pferd zu steigen und zu sehen, wo es mich hinbringt, wie man so schön sagt.»

«Du bist eine wahre Fundgrube von Sprüchen, Hazzard.»

«Willst du noch einen hören?» Lächelnd neigte er den Kopf zur Seite und sah sie an. «Auf einem rollenden Stein sammelt sich kein Moos.»

Miami – 12. September

Der nüchterne weiße Umschlag lag unter einem Stapel unbezahlter Rechnungen in Vivian Henrys Briefkasten. Als sie die Worte Appellationsgericht der Vereinigten Staaten las, krampfte sich ihr der Magen zusammen.

Das mußte das Urteil sein, die letzte Chance, die Rente zu bekommen, die das Gericht ihr nach Rogers Henrys Selbstmord verweigert hatte. Von diesen monatlichen Zahlungen hatte sie den Rest ihrer Tage leben wollen.

Wenn der Bescheid in diesem Umschlag die vorangegangenen Beschlüsse für nichtig erklärte, würde sie endlich ihre Rechnungen bezahlen und sich vielleicht eine schönere Wohnung nehmen können.

Aber wenn sie verloren hatte …

Vivian fühlte sich schwindelig, und die Knie wurden ihr weich, als sie die Treppe zu ihrer winzigen Wohnung im ersten Stock hinaufstieg. Die Anhörung in Washington ging ihr im Kopf herum.

Es war ein Alptraum gewesen, schweigend im Gerichtssaal zu sitzen, während ihr junger Anwalt ins Stottern geriet und die Fragen der drei strengen Bundesrichter nicht beantworten konnte. Diese hatten wissen wollen, warum der Staat nun für einen Schnitzer geradestehen sollte, der Vivians Scheidungsanwalt vor vielen Jahren unterlaufen war. Nur ein Formfehler stand zwischen ihr und der Armut – ein schwammig formulierter Satz, der ihr eindeutig zu Rogers’ Lebzeiten die Hälfte seiner Rente zubilligte. Allerdings wurde der Staat nicht eindeutig dazu aufgefordert, ihr diese Summe auch im Fall von Rogers’ Tod auszuzahlen.

Deshalb war die Rente einen Monat nach der Beerdigung ausgeblieben. Zwei Jahre abgewiesener Revisionsanträge und ein schrumpfendes Bankkonto waren die Folge gewesen. Vivian hatte nur ein kleines Sparguthaben und bekam dreihundert Dollar eigene Rente monatlich. Mehr nicht.

Sie betrat ihre kahle Wohnung, machte Licht und setzte sich an den Küchentisch. Die Rechnungen legte sie auf die eine Seite, den Brief vom Gericht auf die andere. Sie wagte nicht zu hoffen.

Was soll ich tun, wenn meine Klage abgewiesen wurde? fragte sie sich. In zwei Jahren würde ihr das Haus übertragen werden, aber so lange konnte sie nicht durchhalten. Und der Gedanke, nachzugeben und Rogers’ Wunsch zu erfüllen, um die dreihunderttausend zu bekommen, hatte sie so abgestoßen, daß sie lieber in eine kleinere Wohnung gezogen war und ihre Ersparnisse aufgebraucht hatte. Selbst als ihre Freundin und Arbeitgeberin an einem Herzinfarkt gestorben war, was das Ende der Anstellung im Blumenladen bedeutete, ließ Vivian den Kopf nicht hängen. Sie hatte sich gesagt, daß sie nur eine Durststrecke überstehen und auf die Rente warten mußte.

Die Worte des Idioten, den sie sich als Anwalt genommen hatte, klangen Vivian noch immer in den Ohren: «Diesmal gibt es keinen Einspruch, Vivian. Eine Entscheidung des Appellationsgerichts ist das Ende der Fahnenstange.»

Vivian fühlte sich wie auf dem Weg zum Galgen, als sie jetzt den Umschlag betrachtete. Doch da es keinen Zweck hatte, es weiter hinauszuschieben, riß sie ihn auf und entfaltete das Schreiben. Ihr Blick fiel auf das Wort, das alle ihre törichten Hoffnungen zerstörte: Abgewiesen.

Langsam ließ Vivian den Bescheid auf den Tisch sinken. Die zweitausendfünfhundert Dollar monatlich waren nun für immer dahin. Sie mußte sich der traurigen Wahrheit stellen: Sie war arbeitslos, und ihre Ersparnisse waren aufgebraucht.

Sie hatte keine andere Wahl.

Vivian stand auf, nahm das kleine Adreßbuch von der schmalen Küchentheke und blätterte es durch. Dann wählte sie eine Nummer. Die Stirn in die Hand gestützt, wartete sie, bis der Anwalt ihres verstorbenen Ex-Mannes abhob.

3

Ramp, Internationale Luftfrachtspedition, Miami International Airport – 79. September, 9.45 Uhr

«Sind Sie Kapitän McKay?» fragte die Frau in einem scharfen Ton, der keinen Flirt zuließ.

Scott McKay hatte gerade den linken Reifen des Bugrades geprüft. Sein linkes Knie ruhte auf dem Boden unter der Nase der 727. Er drehte sich um und hielt sich die Hand schützend vor Augen. Dann betrachtete er das Gesicht der jungen Frau, die, die Hände in die Hüften gestemmt, hinter ihm stand. Sie trug einen khakifarbenen Overall und hatte einen gereizten Gesichtsausdruck.

«Ja», antwortete Scott und stand auf. Gemächlich klopfte er sich zuerst den Staub von der Hose, bevor er sich ihr zuwandte. Ihm gefiel, was er sah.

«Ihr Lademeister benimmt sich wie ein Idiot, Kapitän», sagte sie, ohne zu lächeln.

Scott blickte in die angegebene Richtung, wo sein Bordingenieur Jerry Christian mit einem Gabelstaplerfahrer sprach. Als er Scott und die Frau entdeckte, kam er zu ihnen hinüber.

«Meinen Sie den Langen da?» fragte Scott.

«Genau», antwortete die Frau. «Er weigert sich, meine Fracht einzuladen. Natürlich weiß ich, daß Sie was anderes laden sollen. Aber die NOAA hat Sie angeheuert, und ich arbeite ebenfalls bei der Klimabehörde. Außerdem haben Sie noch Platz.»

Lächelnd schüttelte Scott den Kopf. «Dieser Herr ist kein Idiot, Ma’am, sondern ein sehr umgänglicher Mensch.»

«Ich habe nur gesagt, daß er sich wie ein Idiot benimmt!» entgegnete sie ohne jeglichen Humor.

Scott senkte kurz den Kopf, um ein Lachen zu verbergen. Dann blickte er wieder auf und streckte ihr die Hand entgegen.

«Wenn es Ihnen nichts ausmacht, fangen wir am besten noch mal von vorne an. Hi, ich heiße Scott McKay. Und Sie?»

Dr. Linda McCoy fuhr sich mit der Hand durch ihr schulterlanges, schwarzes Haar. Der Anflug eines Lächelns huschte über ihr finsteres Gesicht. Sie zuckte die Achseln und schüttelte Scott die Hand.

«Okay … schon gut. Tut mir leid.»

«Macht nichts.»

«Ich bin Dr. Linda McCoy von der NOAA. Ich habe nicht viel Zeit und bin schon seit Tagen unterwegs. Ich komme direkt aus der Antarktis und habe weder die Zeit noch die Geduld, mich herumzustreiten. Heute morgen um vier bin ich aus Chile abgeflogen, und meine Paletten müssen noch heute abend in Boulder sein. Ich habe zeitempfindliche Instrumente an Bord, und außerdem weiß ich, daß sich an der oberen Ostküste ein Hurrikan zusammenbraut, der wahrscheinlich den gesamten Luftverkehr zum Erliegen bringen wird. Also will ich auf dem schnellsten Wege hier raus.»

Scott winkte Jerry heran. «Sie haben gesagt, daß mein Bordingenieur Ihre Ladung nicht mitnehmen will?»

Sie nickte. «Richtig. Er behauptet, Sie dürfen nur Ladung mitnehmen, die auf dem Lieferschein steht. So ein Unsinn! Sie fliegen nach Denver. Sie sind von der NOAA gechartert, und meine Paletten hier gehören auch der NOAA und müssen ebenfalls nach Denver. Da muß es doch eine Lösung geben.»

Scott warf Jerry einen Blick zu. «Was können wir da machen, Jerry?»

Jerry seufzte mit verlegener Miene und zuckte die Achseln. «Scott, laut Vertrag dürfen wir nur die aufgeführten Gegenstände mitnehmen, und ihre Sachen stehen eben nicht auf der Liste. Die Ladung, die wir hier abholen sollen, wird am Zielort weitertransportiert werden.»

«Zum Teufel mit dem Vertrag», unterbrach Linda McCoy. «Als Mitarbeiterin des NOAA übernehme ich die Verantwortung …»

Abwehrend hob Scott die Hand. «Vielleicht verstehen Sie nicht, worum es hier geht, Dr. McCoy. Diese Frachtverträge mit der Regierung werden von paragraphenhörigen Bürokraten überwacht. Wenn wir einen Fehler machen, sind wir womöglich den Vertrag los, und ich bin nicht bereit, dieses Risiko einzugehen.»

Die Wissenschaftlerin rückte ein wenig näher an Scott heran und durchbohrte ihn förmlich mit ihrem Blick.

«Haben Sie schon mal daran gedacht, Captain, daß Sie vielleicht gerade einen solchen Fehler begehen, indem Sie meine Fracht zurücklassen? Wenn Sie mich nicht mitnehmen, wird besagter paragraphenhöriger Bürokrat von einer müden und wütenden leitenden Mitarbeiterin der Abteilung in Boulder einiges zu hören bekommen. Das garantiere ich Ihnen.»

Scott sah sie finster an. «Gnädige Frau, wenn Sie mir drohen, erreichen Sie überhaupt nichts.» Er sah das zornige Funkeln in ihren Augen.

«Haben Sie mich eben gnädige Frau genannt?»

«Ich wollte nur höflich zu so einer hübschen jungen Dame sein. Es war als Kompliment gemeint.»

«Aus Ihrem Munde klang es eher wie eine Beleidigung.»

Jerry wich unauffällig ein Stück zurück, da ihm ein Sicherheitsabstand zu diesen beiden Kampfhähnen ratsam erschien. Scott schob die Hände in die Hosentaschen und ließ den Blick eine Weile in die Ferne schweifen, bis er sich wieder Linda McCoy zuwandte.

«Hören Sie zu, Dr. McCoy. Falls ich Sie beleidigt habe, tut es mir leid. Ich wollte kein Macho sein. Aber ich kann Ihre Fracht nicht ohne Genehmigung transportieren.»

Die Hände in die Hüften gestemmt, starrte sie ihn wütend an. Dann wanderte ihr Blick zurück zu dem kleinen Frachtbüro.

«Und was tun wir jetzt?»

Scott holte tief Luft und sah auf die Uhr. Bis zum Abflug blieb nur noch eine gute halbe Stunde. «Wenn Sie mir ein paar Minuten Zeit lassen, Dr. McCoy, rufe ich in Washington an und schaue, was sich machen läßt.»

«Okay. In der Zwischenzeit soll Ihr Bordingenieur meine Paletten einladen, damit wir keine Zeit verlieren.»

Scott lagen einige mögliche Erwiderungen auf der Zunge.

«Was dagegen?» fragte sie herausfordernd.

Am liebsten hätte Scott ihr die Meinung gesagt, doch er verkniff es sich. Schließlich war sie Mitarbeiterin seines Kunden, und es brachte nichts, sie noch mehr zu verärgern.

Als er sie anlächelte, fiel ihm auf, wie groß ihre braunen Augen wirkten, wenn sie wütend war.

«Nein, überhaupt nichts. Also laden wir alles ein.»

Sie nickte, während Scott Jerry die Anweisung gab.

Miami International Airport – 19. September, 11.45 Uhr

Dem Techniker wurde flau im Magen, als er die Graphik zum drittenmal studierte.

Es war kein Irrtum.

Der lautlose Neutronen-Taststrahl, den sein Scanner aussendete, löste bei Kontakt mit bombenfähigem Atommaterial einen kleinen Ausstoß von Gammastrahlen aus. Und genau das war jetzt geschehen! Einige Stunden lang hatte irgend etwas auf dem Gelände des Miami International Airport Gammastrahlen ausgesendet.

Dann, vor einer Stunde – als er und sein Vorgesetzter gerade losgezogen waren, um sich mit Tacos für die geplante Vorführung des neuen Geräts am Nachmittag zu stärken – war die Kurve der Gammastrahlen plötzlich auf Null gesunken.

Mein Gott, wir haben es vermasselt! dachte er und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Irgendein Inspektor – vom Militär oder von der Atombehörde – war offenbar mit einem Koffer voller abgeschirmtem Plutonium vorbeispaziert, um das Gerät zu testen, das der Techniker selbst entwickelt hatte. Und er selbst hatte am Schaltpult geschlafen! Anscheinend fand die Vorführung zum falschen Zeitpunkt statt. Sie hätten auch am Vormittag kontrollieren müssen.

Gerade erläuterte sein Vorgesetzter – ein Commander von der Navy – voller Stolz drei besorgten Sicherheitsbeauftragten der Luftfahrtbehörde, wie der sofort reagierende Nukleardetektor funktionierte. Die Anweisung des Präsidenten, alle Flughäfen des Landes besser vor Atomterrorismus zu schützen, hatte zu hektischer Forschungstätigkeit geführt. Und jetzt war das erste funktionstüchtige Gerät zu Demonstrationszwecken in einem grauen Bürocontainer nach Miami geflogen worden.

«Sobald auch nur eine Kapsel spaltbaren Materials im Aktenkoffer eines Terroristen oder auf andere Weise auf das Gelände eines Flughafens gebracht wird», verkündete er, «bemerken wir es auf der Stelle.»

Schon, falls wir hinschauen, dachte der Techniker und winkte seinen Chef zu sich herüber. Der Computerstreifen, Beweis ihrer Nachlässigkeit im falschesten Moment, ringelte sich wie eine giftige Schlange auf dem Tisch.

Der Commander nahm die Nachricht erstaunlich ruhig auf. Den Papierstreifen in der Hand, wandte er sich zu den Männern von der Luftfahrtbehörde um. «Niemand hat uns gesagt, daß wir schon heute morgen online sind, aber wir hatten das Aufzeichnungsgerät eingeschaltet. Und es sieht fast so aus, als ob wir Ihren Testlauf erwischt hätten», sagte er mit einem gezwungenen Lächeln. Ihm fiel die erstaunte Miene der drei Männer auf, als diese nacheinander die Kurve betrachteten.

Der Sicherheitschef der Luftfahrtbehörde ergriff als erster das Wort. «Wenn sich im Flughafen tatsächlich bombenfähiges Material befände, würden wir also eine solche Kurve zu sehen bekommen?» fragte er und wies auf den Papierstreifen.

Der Commander nickte. «Richtig. Und genau dieser Fall ist heute eingetreten.» Er fuhr mit dem Finger die Linie bis zu ihrem Scheitelpunkt entlang. «Hier haben wir es mit echtem bombenfähigem Material zu tun, das mit Gammastrahlen reagiert hat. Doch das wissen Sie selbst bestimmt am besten. Wer hat das Zeug übrigens in Ihrem Auftrag nach Miami gebracht?»

Die drei Männer wechselten beunruhigte Blicke. Ein wenig verärgert über die vorgetäuschte Unwissenheit, fuhr der Commander fort: «Hören Sie, wir alle hier haben einen Sicherheitscheck hinter uns und sind berechtigt, streng geheime Informationen zu empfangen. Außerdem ist uns allen klar, daß nur radioaktives Material eine derartige Kurve hervorrufen kann – also ein gefährliches Isotop waffenfähigen Urans oder Plutoniums. Ich verstehe nicht, warum Sie mir verheimlichen wollen, wer uns überprüft hat.»

Als die drei noch immer schwiegen, wurde der Commander allmählich wütend.

«Jetzt hören Sie mir mal gut zu. Bis vor etwa einer Stunde befand sich genug Plutonium auf dem Gelände dieses Flughafens, um einen gottverdammten Atomkrieg …» Er brach mitten im Satz ab, denn er hatte jetzt begriffen, daß etwas nicht in Ordnung war. Der Wortführer der Beamten schüttelte entsetzt den Kopf und packte den Commander am Arm. Mit der linken Hand wies er in Richtung Passagierterminal. «Commander, wollen Sie damit sagen, daß diese Kurve echt ist?» fragte er. Angst schwang in seiner Stimme mit.

«Ja. Warum?»

«Weil wir keine Überprüfung durchgeführt haben! Verstehen Sie, was ich meine? Falls sich wirklich spaltbares Material auf diesem Flughafen befunden hat, stammte es nicht von uns!»

An Bord der ScotAir 50, Flughöhe 35 000 Fuß, 200 Kilometer südöstlich von New Orleans – 19. September, 12.15 Uhr

Scott McKay, der Kapitän des ScotAir-Fluges 50, drehte sich zur Tür des Cockpits um, als sein Bordingenieur ziemlich besorgt hereingestürmt kam. Ohne die Passagierin auf dem Sitz hinter dem Kapitän zu beachten, beugte sich Jerry Christian über McKays Schulter.

«Gibt es Probleme?» fragte dieser und fürchtete sich schon vor der Antwort. Christian machte zwar häufig ein trauriges Gesicht, aber besorgt sah er eigentlich nie aus.

Jerry Christian wies mit dem Daumen in Richtung Laderaum. Scott wurde mulmig. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte die geleaste betagte Boeing 727 Passagiere für verschiedene Fluggesellschaften befördert. Nun war die Passagierkabine zum Laderaum umgebaut worden. Im Augenblick befanden sich dort drei Paletten mit wissenschaftlichen Geräten. Zwei davon gehörten der Klimaforscherin Dr. McCoy, die direkt hinter dem Kapitän saß.

«Was ist denn, Jerry?» fragte Scott McKay noch einmal.

«Es geht um die Palette Nummer drei. Ich habe sie routinemäßig überprüft: Die Nummern stimmen weder mit dem Frachtbrief noch mit dem Vertrag überein. Tut mir leid, aber ich glaube, wir haben die falsche Palette mitgenommen.»

Christian bemerkte, wie ein ängstlicher Ausdruck über das Gesicht des jungen Kapitäns huschte. Doch er wich sofort wieder der gewohnten entschlossenen Miene.

Doc Hazzard, der Copilot, hatte sich am Navigationsfunk zu schaffen gemacht. Nun blickte er auf.

«Jerry, wir haben vor dem Einladen sämtliche Nummern verglichen», sagte er. «Sie haben zusammengepaßt. Also kann es nicht die falsche Palette sein.»

Jerry Christian schüttelte langsam den Kopf. Mit seinen eins fünfundneunzig war er zu groß, um aufrecht im Cockpit der Boeing stehen zu können. Er beugte sich noch weiter über die Mittelkonsole und biß sich auf die Lippen. Einen Moment lang betrachtete er die Cumuluswolken, die sich etwa hundert Meilen vor ihnen über der Küste von Louisiana zusammenballten.

«Anscheinend hat der Gabelstaplerfahrer die falsche Palette erwischt, nachdem wir alles verglichen und die Papiere unterschrieben hatten», sagte er. «Ich habe ihn doch zur richtigen Palette dirigiert. Kaum zu glauben, daß er trotzdem die falsche genommen hat, aber jetzt haben wir den Salat – ganz egal, wie es passiert ist. Die Palette Nummer drei gehört nicht zu unserer Ladung. Die Numerierung unterscheidet sich um eine Ziffer von der auf dem Lieferschein und dem Etikett. Ich … vielleicht habe ich nicht gründlich genug nachgesehen, nachdem das Zeug erst mal an Bord war. Tut mir leid, Scott …»

Scott McKay öffnete schon seinen Sicherheitsgurt und drehte sich zu der attraktiven Frau auf dem Sitz hinter ihm um.

«Dr. McCoy, könnten Sie bitte die Beine nach rechts nehmen? Ich muß den Sitz zurückschieben.»

«Sie sprechen doch nicht etwa von meinen Paletten?» fragte Dr. Linda McCoy. «Ich habe sie nach dem Einladen überprüft. Die beiden ersten sind eindeutig meine.» Sie warf einen besorgten Blick auf Jerry Christian, der sich kopfschüttelnd aus dem überfüllten Cockpit zurückzog, damit die anderen mehr Bewegungsfreiheit hatten.

«Nein», antwortete er. «Es geht um die andere Palette ganz hinten, nicht um Ihre.»

McKay erhob sich von dem linken Sitz und warf einen Blick auf Doc Hazzard, den kräftig gebauten Copiloten, der zweiunddreißig Jahre älter war als der Kapitän. Dieser nickte.

«Ich kümmere mich um den Funk, Scott.» Hazzard setzte die Sauerstoffmaske auf, eine normale Vorsichtsmaßnahme, wenn einer der Piloten sich nicht an seinem Platz befand. Christian und McKay gingen in den Laderaum.

McKay schossen unzählige Möglichkeiten durch den Kopf, wie die Verwechslung zustande gekommen sein konnte. Doch alle führten zu demselben schrecklichen Ergebnis: Wenn die hochwertige, dringende Lieferung, die sie nach Denver befördern mußten, noch immer im siebzig Flugminuten entfernten Miami auf der Rampe stand, steckte seine kleine, aufstrebende Fluggesellschaft in großen Schwierigkeiten. Und der Vertrag, der sie vor dem Bankrott retten sollte, würde vermutlich storniert werden.

Jede Ladepalette war zweieinhalb mal zweieinhalb Meter groß. Die darauf aufgetürmten Ausrüstungsgegenstände waren mit schweren Plastikplanen und Netzen festgezurrt. Die Ladung nahm nur den vorderen Teil der riesigen Kabine ein. Zwischen den Paletten und der konkaven Fiberglaswand des alten Flugzeugs konnte man sich links vorbei bis zum Ende der Kabine durchzwängen. Die beiden Männer quetschten sich nach hinten zur dritten Palette durch. Das Geräusch des Luftschraubenstrahls – achtzig Prozent schneller als die Schallgeschwindigkeit – nahmen sie kaum wahr.

«Eine verdammte Palette, Jerry! Wir hatten nicht mehr zu tun, als eine bescheuerte Palette von Florida nach Colorado zu schaffen und das Geld zu kassieren, damit wir unsere Rechnungen bezahlen können. Wie zum Teufel konnte es passieren, daß wir schon beim ersten Flug alles in den Sand setzen?»

Jerry Christian schüttelte den Kopf. Er war ebenfalls ratlos. Und er wußte genau, was auf dem Spiel stand. Er zog das Speditionsformular aus der Plastiktasche, die an der dritten Palette angebracht war, und reichte es Scott.

Als Scott die Nummern verglich, wurde ihm immer mulmiger. Ihm war klar, daß sich das Problem nicht von selbst lösen würde. Sie mußten etwas tun. Jerry Christian war zuverlässig und würde niemals überstürzt Alarm schlagen. Als Mechaniker und Bordingenieur mit Liebe zum Detail war Jerry einsame Spitze. Seine Fähigkeiten als Pilot ließen allerdings einiges zu wünschen übrig. Eine große Fluggesellschaft hatte ihm nach fünfzehn Jahren gekündigt, weil er die vorgeschriebene Prüfung zum Copiloten nicht geschafft hatte. Doch auch wenn Northwestern Jerry Christian nicht haben wollte, Scott McKay fand, daß er mit ihm einen echten Glücksgriff gemacht hatte.

Als Scott Jerry die Papiere zurückgab, wich er seinem Blick aus. Er wußte, wieviel dem schlaksigen Bordingenieur an seinem Job lag. Vor einem Jahr hatte er sich auf eine Annonce bei Scott beworben und war nicht nur sein Angestellter, sondern auch sein Freund geworden. Da ihm eine konventionelle Karriere versagt geblieben war, hatte er sich in der Welt der Gelegenheitspiloten durchgeschlagen: eine etwas zwielichtige Gesellschaft unterbezahlter Einzelgänger, die je nach Bedarf Ladungen an entlegene Orte brachten.

Und in dieser Welt war der Kunde immer König und verhielt sich in manchen Fällen nicht besser als der schlimmste Regierungsbürokrat, wenn jemand die erwünschte Leistung nicht erbrachte.

Scott drehte sich um. Vor Beklommenheit krampfte sich sein Magen zusammen. Er fühlte sich wieder wie damals in seiner Zeit als F-14-Pilot, als er eine Nachtlandung auf einem Flugzeugträger vermasselt hatte. Die Eisenhower hatte so weit draußen auf dem Meer gelegen, daß er es nicht mehr weiter geschafft hätte. Also war Scott keine andere Wahl geblieben, als auf dem Flugzeugträger zu landen. Deshalb hatte er einen anderen Anflugwinkel versucht. Da das Adrenalin durch seine Adern pulste und seine Füße auf den Steuerpedalen zitterten, war auch der verwackelte, panikartige zweite Landeversuch gescheitert. Der Treibstoff hatte kaum für einen dritten Anflug gereicht.

Scott dachte daran, wie er sich selbst angeschrien hatte, nicht die Nerven zu verlieren. Als harter Kampfflieger von der Navy durfte man keine Angst zeigen. Doch Scott hatte nicht nur Angst gehabt – Panik hatte ihn erfüllt. Doch schließlich war es ihm gelungen, sich zusammenzureißen und das Problem zu lösen. Er hatte sich beruhigt und seine Triebwerke gedrosselt, als die Positionslichter des Flugzeugträgers in seiner Windschutzscheibe immer größer wurden. Endlich, wie durch ein Wunder, hatte der Ball – das gelbe Licht zwischen den beiden Begrenzungsleuchten des optischen Landesystems – in der Mitte gestanden. Das Fahrwerk hatte das Deck berührt, und sein Fanghaken war ins Drahtseil Nummer drei eingeklinkt.

Und jetzt mußte Scott sich wieder am Riemen reißen und sich etwas einfallen lassen. Wenn der zuständige Beamte in Washington den Schnitzer bemerkte, bevor Scott die Scharte auswetzen konnte, würde es zu einer Katastrophe kommen. Er versuchte, nicht daran zu denken, was für ihn auf dem Spiel stand: der Vertrag, das Geld, seine einzige Chance, im Geschäft zu bleiben.

Scott wedelte mit den Frachtpapieren in Richtung Cockpit. «Am besten rufen wir über Satellitentelephon den Agenten an. Wahrscheinlich müssen wir umkehren.»

Christian versuchte seinen Chef zurückzuhalten.

«Wart mal, Scott. Dr. McCoy wird darüber gar nicht erfreut sein. Ihre Ladung ist ebenfalls dringend.»

«Aber sie ist nicht unsere Hauptkundin», zischte Scott. Sogleich bereute er seinen scharfen Ton. «Wir haben ihren Kram nur mitgenommen, weil sie uns so auf den Wecker gegangen ist. Und außerdem hatte sie recht. Laut Vertrag sind Beiladungen zulässig.»

Eine Weile herrschte beklommenes Schweigen, bevor Jerry wieder das Wort ergriff.

«Immer läßt du dich von schönen Frauen um den Finger wickeln», witzelte er, in der Hoffnung, Scott aufzuheitern.

Doch das gelang ihm nicht, denn Scott war in Gedanken längst anderswo. Er dachte daran, daß all seine Bemühungen des vergangenen Jahres nichts weiter waren als ein Kartenhaus, das nun in sich zusammenzustürzen drohte. Welcher Teufel hatte ihn geritten, eine eigene Fluggesellschaft zu gründen? Genausogut hätte er sein ererbtes Vermögen zum Fenster hinauswerfen können. Und er konnte vielleicht nichts mehr tun, um die Katastrophe aufzuhalten.

Plötzlich fuhr er hoch. «Was?»

«Nichts», antwortete Jerry rasch. «Ich … äh … wollte nur sagen, daß sich die Frau Doktor bestimmt furchtbar aufregen wird, wenn wir umkehren.»

Scott nickte knapp. Und da stand zu seiner Überraschung auf einmal Linda McCoy vor ihm, zwischen der linken Kabinenwand und den beiden Paletten, die sie unbedingt hatte an Bord bringen wollen. Wegen des Luftschraubenstrahls hatte sie das Gespräch sicher nicht mitgehört, aber Scott fühlte sich trotzdem ertappt. Und daß er sich seitlich an ihr vorbeiquetschen mußte, machte die Sache auch nicht besser, denn als sich ihre Körper berührten, wurde Scott sich ihrer üppigen Formen nur allzu bewußt. Unter normalen Umständen hätte er darüber geschmunzelt. Doch im Augenblick konnte er nur an die fehlende Ladung und die drohenden Konsequenzen denken.

«Entschuldigen Sie, Dr. McCoy», sagte er und wich ihrem Blick aus. «Ich muß telephonieren.»

«Kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein?» fragte Linda McCoy. Sie drückte sich an die Bordwand, um einen noch engeren Körperkontakt zu vermeiden.

Scott schüttelte den Kopf und eilte zur Tür des Cockpits. Jerry Christian wollte ihm folgen, doch Linda McCoy blieb neben ihren Paletten stehen und versperrte ihm den Weg.

«Wie schwerwiegend ist denn das Problem?» fragte sie.

Jerry war sich nicht sicher, wieviel er ihr verraten durfte. Stur und unerbittlich hatte sie sich einen Platz an Bord erzwungen. Es hatte eine halbe Stunde gedauert, den zuständigen Beamten in Washington ans Telephon zu bekommen. Und dieser hatte Scott dann mitgeteilt, daß McCoy ganz und gar im Recht war.

«Der Vertrag gestattet Beiladungen der NOAA», hatte er gesagt. «Wenn Sie ein Profi wären, hätten Sie vorher den verdammten Vertrag gelesen.»

Scott war vor Scham fast im Erdboden versunken. Und jetzt bemerkte Jerry in Linda McCoys Augen denselben stahlharten Ausdruck wie vorhin am Flughafen. Er mußte sich zwingen, nicht den Kopf wegzudrehen.

«Na ja …», druckste er herum.

Sie sah in Richtung Cockpit. «Von Ihrer Gesellschaft habe ich noch nie gehört. Ist er der Besitzer?»

Jerry nickte. Er stellte fest, daß ihr undurchdringlicher Blick wieder auf ihm ruhte.

«Er ist doch noch ein bißchen jung für so was.»

Jerry zuckte die Achseln. «Scott ist einunddreißig. Aber er war früher Pilot auf einem Flugzeugträger der Navy. Lieutenant Commander. Er hat Tomcats geflogen und ist ein großartiger Pilot.»

«Wie viele Maschinen haben Sie?»

«Äh, das hier ist die einzige. Sie ist geleast. Wir sind ein sehr kleines Unternehmen.»

McCoy nickte. «Wahrscheinlich hat er sich deswegen so dagegen gesträubt, meine Paletten mitzunehmen.»

«Scott wollte den Vertrag nicht gefährden. Das Geschäft ist … sehr wichtig für uns.»

Auf einmal fühlte sich Jerry Christian sehr unbehaglich. Nachdem er sich mit der Hand durch den störrischen Haarschopf gefahren war, warf er einen Blick auf die Paletten.

«Was für Forschungen betreiben Sie denn, Dr. McCoy?»

Sie lehnte sich an die Kabinenwand und musterte ihn schweigend. Ihre rechte Hand spielte mit dem Reißverschluß an der Brusttasche ihres Overalls.

Jerry unternahm einen zweiten Anlauf: «Sie haben vorhin doch was über die Antarktis gesagt.»

Wieder schweifte ihr Blick ins Leere. Dann sah sie Jerry durchdringend an.

«Er will doch nicht etwa umkehren?» fragte sie.

«Na ja …» stotterte Jerry. Wie war sie bloß so schnell darauf gekommen?

«Natürlich ist es für Sie sehr unerfreulich, daß Sie die andere Ladung vergessen haben. Aber bevor Sie umkehren, müssen Sie mich in Denver absetzen. In diesen Paletten befinden sich hochempfindliche, batteriebetriebene Instrumente, denen irgendwann der Saft ausgeht.»

Jerry zuckte die Achseln. «Ich bin nicht der Kapitän. Das heißt … Ich will damit sagen, daß ich nicht die Entscheidungen treffe.»

Sie nickte mit einem verkniffenen Lächeln. «Okay, dann muß ich eben wieder ein Wörtchen mit dem Mann reden, der hier das Kommando führt.»

4

Miami International Airport – 12.30 Uhr

Der Navy-Techniker, der den unheilschwangeren Ausschlag in der Gammastrahlenkurve entdeckt hatte, saß auf seinem Platz in einer Ecke des Bürocontainers. Während der Lärm und das Durcheinander um ihn herum zunahmen, bekam er es immer mehr mit der Angst zu tun. Dabei beunruhigte es ihn weniger, daß sich im Augenblick vermutlich waffenfähiges Atommaterial im Umlauf befand. Vielmehr machte es ihm zu schaffen, daß er offenbar mitten in einer Büffelherde eine Papiertüte hatte platzen lassen und dadurch eine Massenpanik ausgelöst hatte. Nun waren die hohen Tiere losgestürmt, und er selbst würde dabei gewiß zertrampelt werden.

Auf dem Kommandotisch im Container lagen fünf Funktelephone, und momentan wurden alle benutzt – außerdem noch die drei Handys, die die Männer von der Luftfahrtbehörde und der soeben eingetroffene Beamte des FBI mitgebracht hatten. Inzwischen wußte der Navy-Techniker nicht mehr, wie oft er die Kurve den Anwesenden im Container und unzähligen Leuten in Washington erläutert hatte. Außerdem hatte er die Graphik auf einer geheimen Leitung an die Zentrale der Navy im Pentagon gefaxt. Mittlerweile hatten sich außer der Navy auch noch der Nationale Sicherheitsrat, die Nationale Atombehörde, der Geheimdienst und der Zoll eingeschaltet.

Man hatte alles unternommen, um herauszufinden, wo die Quelle der atomaren Strahlung abgeblieben war. Zum Zeitpunkt des Absinkens der Kurve auf Null waren nicht weniger als zweiundzwanzig Passagiermaschinen gestartet.

«Was passiert jetzt?» hatte der Techniker seinen Vorgesetzten gefragt. «Werden sämtliche Flugzeuge zurückgerufen?»

Der Commander hatte den Kopf geschüttelt. «Das versucht man gerade», antwortete er leise. «Aber wahrscheinlich sind viele bereits gelandet. Und selbst wenn eine Maschine abgefangen wird», der Commander zuckte die Achseln, «verfügt außer uns niemand über einen derartigen Detektor. Vermutlich wird ein Geigerzähler niemanden weiterbringen, da man davon ausgehen kann, daß das Atommaterial mit einer Schutzhülle umgeben ist. Genausogut könnte man eine Nadel im Heuhaufen suchen.»

«Vielleicht befindet sich das Zeug in einem Lastwagen, einem Bus oder einem Kleintransporter», wandte einer der Männer von der Luftfahrtbehörde ein.

Und ein Terrorexperte von der Atombehörde hatte ihre schlimmste Befürchtung auf den Punkt gebracht.

«Möglicherweise liegt es auch in irgendeinem privaten PKW», hatte er ihnen über eine sichere Leitung telephonisch mitgeteilt.

Niemand wagte, die Frage auszusprechen, die ihnen am meisten Kopfzerbrechen verursachte: Was würde geschehen, wenn man das Atommaterial nicht ausfindig machen konnte? Wohin wurde es gebracht? Und warum? Während die Minuten vergingen, stand den Männern das Bild des völlig zertrümmerten Regierungsgebäudes in Oklahoma vor Augen. Es war durch eine simple Mischung aus Düngemittel und Heizöl, die nur über den Bruchteil der Sprengkraft einer Atombombe verfügte, in Schutt und Asche gelegt worden.

NOAA-Zentrale, Washington – 12.30 Uhr

Schon seit dem frühen Vormittag fegte ein heftiger Sturm über die Hauptstadt der Vereinigten Staaten hinweg, und an der mittleren Atlantikküste tobte bereits ein Hurrikan. Schon seit Stunden hoffte der Logistikbeamte der NOAA, daß sämtliche Bundesbehörden heute früher Feierabend machen würden. Sein kleines Ferienhaus an der Chesapeake Bay, etwa neunzig Kilometer östlich von der Stadt, lag nämlich in der Gefahrenzone. Wenn der Wind stärker wurde, bevor er hinfahren und die Fensterläden schließen konnte, würde das schreckliche Folgen haben. Bereits jetzt wurde eine Windstärke von mehr als vierzig Knoten gemeldet, und jedesmal, wenn das Telephon klingelte, verpaßte er eine Meldung des Wetterberichts. Gerade überlegte er, ob er einfach den Hörer neben den Apparat legen sollte, als ein entnervter Speditionsangestellter aus Florida anrief. Und was er zu sagen hatte, war nicht unbedingt dazu angetan, die Stimmung des Logistikbeamten zu heben.

Warum, so fragte die Stimme gereizt, sei das Flugzeug, das eine dringende Ladung zur Außenstelle der NOAA in Colorado bringen sollte, ohne besagte Ladung abgeflogen?

Mit einem angewiderten Seufzer wandte sich der Logistikbeamte seinem Computer zu und bearbeitete die Tastatur. Es handelte sich um die ScotAir.

«Der Mann hat mich vor ein paar Stunden angerufen, und ich habe ihm die Genehmigung erteilt, zwei weitere Paletten der NOAA beizuladen», antwortete er.

«Schon gut, aber die Hauptladung hat er stehengelassen – nämlich die wöchentliche Lieferung aus Punta Arenas in Chile, wegen der wir seine Maschine eigentlich gechartert haben. Ich bin bereits eine Stunde im Verzug und muß das Zeug unbedingt losschicken. Sorgen Sie dafür, daß dieser Idiot auf der Stelle umkehrt! Und wenn Sie ihn schon in der Leitung haben, können Sie ihm gleich sagen, daß der zuständige Mann von der hiesigen Luftfrachtabteilung gern ein Wörtchen mit ihm reden würde. Anscheinend ist er mit einer Ladung abgehauen, die jemandem anderen gehört. Jetzt ist der Betreffende stinksauer und will seine Sachen zurück.»

Der Logistikbeamte schob sich einen Kaugummistreifen in den Mund und versuchte, seine Gier nach einer Zigarette zu unterdrücken. Rauchen war hier verboten. Dann ließ er wieder die Finger über die Tastatur tanzen, und als die Satellitentelephonnummer der ScotAir auf dem Bildschirm erschien, griff er nach dem Hörer.

An Bord der ScotAir 50 – 12.33 Uhr

Langsam legte Scott McKay den Hörer auf und starrte ins Leere. Er achtete nicht auf die schachbrettartig angelegten Straßenzüge von New Orleans, die gerade unter ihnen vorbeizogen. Doch ihm war klar, daß alle Augen im Cockpit auf ihm ruhten.

Die 727 würde ihm sehr fehlen.

Hör auf damit! sagte er sich dann. Er hat uns den Auftrag nicht entzogen, sondern uns nur eine Standpauke gehalten.

«Captain, wir müssen miteinander reden.» Die Frauenstimme, nur wenige Zentimeter hinter ihm, ließ ihn auffahren. Er hatte Linda McCoy ganz vergessen.

Scott öffnete widerstrebend seinen Sicherheitsgurt und schwenkte seinen Sitz zu ihr herum. «Einen Moment noch», sagte er und wandte sich dann seinem Copiloten zu.

«Doc, funk den Tower an und besorg uns eine Landeerlaubnis für Miami.»

Sofort streckte Doc die Hand nach dem Knopf des Funkgerätes aus.

«Nein!» Linda McCoy hatte ihm dieses Wort buchstäblich ins Ohr geschrien. Doc zog die Augenbraue hoch und drehte sich mit fragendem Blick zu ihm um.