Turbulenz - John J. Nance - E-Book

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John J. Nance

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Beschreibung

Die Passagiere an Bord von Flug Nr. 6 sind am Ende. Der inkompetente Service des Personals zerrt an den Nerven, bedroht sogar das Leben eines Babys. Als der unfähige Pilot das Flugzeug durch eine riskante Notlandung in Gefahr bringt, greifen die Fluggäste zu dramatischen Mitteln – Meuterei. Was sie jedoch nicht wissen: Durch ein Missverständnis ist der US-Geheimdienst davon überzeugt, dass Flug Nr. 6 von Terroristen gekidnappt worden ist … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 596

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John J. Nance

Turbulenz

Roman

Aus dem Englischen von Karin Dufner

FISCHER Digital

Inhalt

Im Gedächtnis an meinen [...]Prolog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647EpilogDanksagung

Im Gedächtnis an meinen Vater Joseph Turner Nance 1917–1977 Fachanwalt für internationales Recht beim US Army Air Corps, Veteran der US Air Force und ehemaliger Pilot außerdem der beste Dad, den ein Junge sich wünschen kann, und die größte Inspiration.

Prolog

Dr. Brian Logan schoss in seinem Lexus an einem verängstigten Patienten vorbei und verließ mit quietschenden Reifen die Parkgarage des Krankenhauses, das ihm gerade den Laufpass gegeben hatte. Brodelnd vor verletztem Stolz und Wut, trat er das Gaspedal bis zum Anschlag durch und raste wie ein Verrückter über den Charles River nach Cambridge. Wehe dem Verkehrspolizisten, der es wagen sollte, ihn anzuhalten! Unterwegs überfuhr er sämtliche roten Ampeln und bog schlitternd um die Ecken ruhiger Wohnstraßen, bis er endlich vor seinem eigenen Haus stehen blieb, dem zweistöckigen, nun leeren georgianischen Gebäude, das seine Frau und er so geliebt hatten.

Logan gelang es nicht, den Motor abzustellen oder die Tür zu öffnen. Als er an sich hinunterblickte, stellte er fest, dass er noch den grünen OP-Anzug trug. Er hatte ihn für die Bypass-Operation übergezogen, die man dann ohne Vorwarnung abgesagt hatte. Nur noch verschwommen erinnerte er sich daran, wie er durch die Flure gestürmt war, um den Chefarzt zur Rede zu stellen. In seinem Kopf wirbelten Gedankenfetzen durcheinander wie in einem Kaleidoskop, sodass er den schönen Frühlingsnachmittag überhaupt nicht wahrnahm.

Seit unzähligen Jahren operierte er inzwischen im Mercy Hospital. Es würde zwar ein Kinderspiel sein, eine neue Stelle zu finden, doch so einfach vor die Tür gesetzt zu werden, empfand Brian Logan dennoch als unglaubliche Demütigung.

Immer noch sah er die missbilligende Miene von Dr. Jonas Kinkaid vor sich, und die Reaktion seines früheren Mentors auf seinen heutigen Wutausbruch hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt: «Sie haben sich nicht mehr im Griff, Doktor Logan, und heute war es das letzte Mal, dass Sie in diesem Krankenhaus derart aus der Rolle gefallen sind.»

Tief in seinem Innersten ahnte Logan, dass Kinkaid Recht hatte. Doch es kam überhaupt nicht in Frage, das zuzugeben. Chirurgen durften keinerlei menschliche Schwächen zeigen oder gar die Beherrschung verlieren. Aber in dem Jahr seit Daphnes Tod hatte Brian keine Ruhe und keinen Trost mehr gefunden. Er fühlte sich benommen und verwirrt, und seine häufigen Zornesausbrüche richteten sich nur allzu oft gegen die Krankenschwestern.

Brian Logan zwang sich, aus dem Wagen zu steigen und ins Haus zu gehen. Nachdem er die Tür geschlossen hatte, blieb er eine Weile im Flur stehen und lauschte dem blechernen Ticken der Standuhr. Daphnes wohlklingende Stimme hallte ihm wieder in den Ohren, und er erinnerte sich, wie sie ihm stets zur Begrüßung zugejubelt und sich ihm in die Arme geworfen hatte – manchmal hatte sie nichts getragen außer einem Lächeln auf dem Gesicht. Erschöpft schleppte er sich ins Wohnzimmer, ließ sich in seinen Lieblingssessel sinken und stellte sich wieder einmal vor, wie sie die Arme um ihn schlang. Sie war die einzige wahre Liebe seines Lebens gewesen, wunderschön, unvorstellbar erotisch und gleichzeitig mit einer sprühenden Intelligenz und einer uneingeschränkt lebensbejahenden Einstellung ausgestattet – ein himmelweiter Unterschied also zu Rebecca, seiner ersten Frau.

Brians Blick fiel auf den Ohrensessel neben dem Klavier, wo er gesessen hatte, als damals das Telefon läutete. «Es tut uns Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, Herr Doktor», hatte der Vertreter der Fluggesellschaft gesagt, «dass Ihre Frau während des Fluges Opfer eines medizinischen Notfalls geworden ist.» Daphne Logan, der Mittelpunkt seines Universums, war auf einer Flughöhe von zwölftausend Metern verblutet und hatte ihr ungeborenes Kind, einen Jungen, verloren, weil der Kapitän der Maschine eine Notlandung verweigert hatte. Anderthalb Stunden lang hatte Daphne die Besatzung angefleht zu landen, doch weil sie noch kräftig genug war, um Forderungen zu stellen, hatte der Kapitän daraus geschlossen, dass ihr Zustand nicht so ernst sein konnte und keine teure außerplanmäßige Landung rechtfertigte. Die Hundert-Millionen-Dollar-Klage wegen unterlassener Hilfeleistung, die Brian angestrengt hatte, würde im nächsten Jahr verhandelt werden, aber die Beteuerungen seines Anwalts, der Sieg sei ihnen sicher, konnte ihn nicht aufmuntern. Eine Million oder eine Milliarde – was spielte das schon für eine Rolle? Das Geld konnte seine Frau und seinen ungeborenen Sohn nicht ersetzen.

Er hätte es geschafft, Daphne zu retten, selbst ohne die richtigen Instrumente und in der Luft; da war Brian ganz sicher. Warum hatte er sie bloß nicht zu diesem Besuch bei ihren Eltern begleitet? Aber er war in Boston geblieben, weil er arbeiten musste. Er hatte sich dumm und egoistisch verhalten, und nun war er allein und arbeitslos und stand vor den Trümmern seiner Existenz.

Brian sprang auf. Kurz spielte er mit dem Gedanken, Rebecca anzurufen, seine erste Frau, die inzwischen wieder verheiratet war und in Newport, Connecticut, lebte. Sicher würde sie von seinem Anruf nicht eben begeistert, aber auch nicht sehr überrascht sein, denn sie rechnete schon lange damit, dass er im Leben scheitern würde. Er war eine große Enttäuschung für sie gewesen, ein Projekt, das sie nicht hatte zu Ende führen können. Rebecca Cunningham, die schöne, gebildete Debütantin aus einer angesehenen und wohlhabenden neuenglischen Familie, war zu einem säuerlichen Pflichtmenschen erzogen worden. Und der junge Arzt, den sie vor so vielen Jahren mit nach Hause gebracht hatte, damit ihre Eltern ihn in Augenschein nehmen konnten, interessierte sie nur insoweit, als sie ihn zum Ebenbild ihres Vaters, eines Medizinprofessors in Harvard, umzuformen gedachte. Sie beschloss, dass Brian zehn Jahre lang praktizieren und sich dann ebenfalls um einen Lehrstuhl an der medizinischen Fakultät bewerben sollte. Er würde publizieren, Vorträge halten, Pfeife rauchen und sich die Abende mit gepflegter Konversation vertreiben. Und vor allem würde er anfangen, Spaß als etwas leicht Anrüchiges zu betrachten, so wie sie selbst es gelernt hatte.

Allerdings hatte Rebecca die Rechnung ohne die Lebenslust ihres jungen Ehemannes gemacht. So kam sie rasch zu dem Schluss, dass sein Verhalten verantwortungslos und untragbar war, und zog einen Schlussstrich unter das gescheiterte Projekt, indem sie sich von ihm scheiden ließ.

Fünf Jahre nach der Scheidung war Daphne wie ein tropischer Wirbelsturm in Brians Leben gebraust und hatte ihn und sein im Dämmerschlaf versunkenes Herz wieder zum Leben erweckt. Daphne war trotz ihres Doktortitels eine verträumte Romantikerin, eine Aussteigerin in Designerkleidern und ein Mensch, der alles für möglich und das Leben für wunderschön hielt. Sie nahm Brian so, wie er war – und bald hatte er sich bis über beide Ohren in sie verliebt.

Mühsam wuchtete Brian sich aus seinem Sessel hoch und schlenderte geistesabwesend in die Küche, wo er das längst vergessene Flugticket auf dem Tisch entdeckte. Schon vor Monaten hatte er sich bereit erklärt, im südafrikanischen Kapstadt eine Vorlesungsreihe zu chirurgischen Themen zu halten. Eigentlich hätte er in zwei Tagen von Boston aus abfliegen sollen. Die Tickets waren schon gebucht, und es gab keinen Grund, sie zu stornieren. Schließlich winkte für die Vorträge ein fettes Honorar, das er brauchen würde, während er sich eine Stelle an einem anderen Krankenhaus suchte.

Da er das Bedürfnis hatte, etwas zu tun, ging Brian zur Kaffeemühle und setzte dann eine Kanne frischen Kaffee auf. Es war ein beruhigendes und vertrautes Ritual wie das Händewaschen vor einer Operation. Nachdem er sich eine Tasse eingeschenkt hatte, ließ er sich auf einen Stuhl fallen, blätterte das Ticket durch und las die Aufschrift mit der Verbissenheit eines Frühaufstehers, der auf das Kleingedruckte der Cornflakesschachtel stiert.

Von Boston nach London würde er mit Virgin Atlantic fliegen, doch von London nach Kapstadt hatte ihn seine Sekretärin auf Meridian Airlines gebucht.

Oh, mein Gott, nein!, dachte Brian und sprang auf. Das Herz klopfte ihm bis zum Halse. Meridian war die Fluggesellschaft, die vor zwölf Monaten seine Frau und seinen Sohn umgebracht hatte. Das durfte doch nicht wahr sein!

Im Umschlag steckte auch ein handgeschriebener Zettel, den er nun entfaltete.

 

Dr. Logan, Virgin Airways fliegt nicht nach Kapstadt. Es tut mir wirklich sehr, sehr Leid, aber niemand außer Meridian hatte noch freie Plätze. Also nehmen Sie die Virgin nach London, haben dort eine Nacht Aufenthalt und reisen dann mit der Meridian nach Kapstadt weiter.

 

Brian knüllte den Zettel zusammen und warf ihn an die Wand. Er würde es schon überstehen, auch wenn es hieß, zehn Stunden im Bauch eines Ungeheuers verbringen zu müssen, dem er am liebsten die Gedärme aus dem Leib gerissen hätte.

Brian hatte gebetet, dass Meridian Pleite gehen würde. Zu seinem eigenen Entsetzen hatte er sich dabei ertappt, dass er jeden Morgen die Nachrichten einschaltete, in der Hoffnung, ein qualmendes Wrack mit dem deutlich sichtbaren Emblem von Meridian auf dem Bildschirm zu sehen. Dieser Gedanke stieß ihn zwar einerseits ab, löste andererseits aber Aufruhr in ihm aus. Ein Teil von ihm sehnte sich noch immer danach, Meridian wehzutun, sich zu rächen und Vergeltung in ihrer ursprünglichsten Form zu üben. Es war ein Bedürfnis, das ihn beinahe auffraß.

Und jetzt …

Dr. Brian Logan spürte, wie sich plötzlich eine Gelassenheit über ihn senkte wie ein dunkler Schleier aus undurchdringlicher Wut. Zum ersten Mal seit Daphnes Tod war er auf einmal ganz ruhig, kühl und berechnend. Und aus dem Strudel aus unbeschreiblichem Schmerz und Todesangst vor der bevorstehenden Begegnung mit dem Feind entstand etwas völlig Neues.

1

LUFTFAHRTBEHÖRDE, FLUGSICHERUNGSTOWER, FLUGHAFEN O’HARE, CHICAGO, ILLINOIS, 11:30 ORTSZEIT

«Das ist doch idiotisch!»

Schichtleiter Jake Kostowitz schüttelte entnervt den Kopf und murmelte Verwünschungen vor sich hin. Heute ging wieder einmal alles schief.

Er sehnte sich nach einer Zigarette, die Nachwehen, wenn man nach zwanzig Jahren mit dem Rauchen aufhörte. Aber am von der Luftfahrtbehörde erlassenen Rauchverbot gab es nun einmal nichts zu rütteln.

Ringsherum und etwa siebzig Meter unterhalb der neuen verglasten klimatisierten Kanzel des Towers standen die verspäteten Flugzeuge in der Gluthitze und krochen zentimeterweise die überfüllten Rollbahnen entlang, vorbei an Kreuzungen, auf denen der Asphalt in der gnadenlosen Sommersonne kochte.

Was war das für eine Zahl, die er einmal gehört hatte?, überlegte Jake. Waren es fünfzig oder sechzig Maschinen, die laut Plan genau zur gleichen Zeit in O’Hare starten sollten? Doch ganz gleich, wie die genaue Anzahl nun lautete, wenigstens hatte sich die Branche inzwischen von der landesweiten Panik unter den Fluggästen erholt, die auf die Zerstörung des World Trade Centers gefolgt war. Jake schüttelte fast unmerklich den Kopf. Er konnte gerne darauf verzichten, dass es auf seinem Flughafen aussah wie in einer Geisterstadt. Allerdings hatte der Andrang der Maschinen mittlerweile schon wieder nicht zu bewältigende Ausmaße erreicht, und die Fluggesellschaften weigerten sich, irgendetwas daran zu ändern.

Der Duft nach heißem Zimt stieg ihm in die Nase. Als Jake sich zur Treppe umdrehte, sah er einen seiner Fluglotsen, der gerade Pause machte und grinsend in ein gewaltiges Zimtbrötchen biss. Jake schüttelte gespielt missbilligend den Kopf. Der Kollege hatte mindestens vierzig Kilo Übergewicht und war gewissermaßen ein Herzinfarktrisiko auf zwei Beinen. Genüsslich leckte sich der Mann die Finger und kam die letzten Stufen hoch und auf Jake zu.

«Tja, Boss, meinen Sie, die packen es noch?»

Jake drehte sich zu ihm um. «Wie bitte?»

«Ich rede von Amerikas unfähigster Fluggesellschaft, der guten alten Meridian Air.»

Jake schüttelte den Kopf. «Hoffentlich machen sie nicht ganz dicht. Zurzeit beherrschen sie sechsundzwanzig Prozent des Marktes. Das wären viele gestrandete Passagiere.»

«Die würden keinen großen Unterschied bemerken», lachte der dicke Fluglotse. «Außerdem müssten wir auf diese Weise sechsundzwanzig Prozent weniger Maschinen abfertigen.»

«Schon gut», kicherte Jake. «Doch United und American würden sich den Kuchen sofort teilen, und wir hätten genauso viel Arbeit wie vorher.» Jake deutete auf das halb verzehrte Brötchen. «Gibt es im Pausenraum noch mehr davon?»

«Ja, ich habe eine ganze Schachtel gekauft. Bedienen Sie sich», antwortete der Mann und blickte Jake nach, als dieser die Treppe hinunterlief.

In einer Ecke des Pausenraums dudelte der Fernseher. Jake marschierte zur Tür hinein und steuerte auf die Schachtel mit den Brötchen zu, als eine Meldung, die die Flugsicherung behandelte, ihn aufmerken ließ.

Auf dem Nachrichtensender wurde gerade eine Anhörung im Kongress übertragen. Wie Jake sich erinnerte, war das Thema bereits am Vortag erörtert worden. Ein Kongressabgeordneter hatte wegen der jüngsten gewalttätigen Übergriffe von Fluggästen die Anhörung verlangt.

Wieder mal ein Politiker, der sich wichtig machen muss, dachte Jake. Doch der Anblick eines Offiziers der Air Force, der in einer Anhörung über die zivile Luftfahrtindustrie allein am Zeugentisch saß, weckte seine Neugier. Der Offizier trug das Emblem mit dem silbernen Adler, das ihn als Colonel auswies.

«Herr Vorsitzender», sagte der Colonel in diesem Moment, «Jeden Tag sitzen Hunderte, wenn nicht gar Tausende erboster Passagiere, die ihre Wut kaum noch im Zaum halten können, in unseren Linienmaschinen. Übermäßiger Alkoholkonsum führt zwar häufig zu einer Zuspitzung der Situation, aber die hauptsächlichen Gründe sind die drangvolle Enge und der miserable Umgang mit den Passagieren, weshalb erhöhte Sicherheitsmaßnahmen sicher auch keine Abhilfe schaffen würden.»

«Was also sollen wir unternehmen, Colonel?», erkundigte sich der Vorsitzende. «Hat Ihre Arbeitsgruppe bereits Vorschläge entwickelt?»

Auf einem kleinen Schild auf dem Zeugentisch stand, dass es sich bei dem Offizier um den U.S. Air Force Colonel David Byrd von der Luftfahrtbehörde handelte.

Aha! Ein Verbindungsoffizier der Air Force also, dachte Jake. Er erinnerte sich gern an seine Zusammenarbeit mit einem Verbindungsoffizier der Navy, der vor einigen Jahren zur Flugsicherung versetzt worden war.

«Nein, Sir», erwiderte Colonel Byrd. «Wir können noch keinen Abschlussbericht herausgeben. Doch eines kann ich Ihnen aufgrund meiner Erfahrungen bestätigen: Eine Verschärfung der Strafgesetze wäre zwecklos, da die Leute schließlich nicht im Voraus planen, wütend zu werden und die Beherrschung zu verlieren. In anderen Worten: Wir können die menschliche Natur nicht ändern, indem wir sie kriminalisieren, denn die genannten Vorfälle spiegeln das vorhersehbare Verhalten von Menschen wider, wenn man sie unter großen Stress setzt. Solange man durchgeschwitzte Passagiere in überfüllte Flughäfen pfercht, sie wie den letzten Dreck behandelt, sie belügt und ihre Behandlung vom Preis des Tickets abhängig macht, werden die durch Wutausbrüche ausgelösten Zwischenfälle zwangsläufig zunehmen. Herr Vorsitzender, es handelt sich hier um eine tickende Zeitbombe.»

Während der Vorsitzende des Ausschusses eine Pause anordnete und den nächsten Zeugen aufrief, kehrte Jake zur Treppe zurück und stieg wieder in die Kanzel hinauf. Oben drang das gedämpfte Dröhnen einer startenden 727 an sein Ohr. Eine Weile blickte er der abhebenden Maschine nach und fragte sich, wie lange die Besatzung wohl am Ende der Startbahn hatte warten müssen.

Seiner Ansicht nach hatten sie es wirklich mit einer tickenden Zeitbombe zu tun, denn mit den Verzögerungen und der Überfüllung wurde es immer schlimmer. Der heutige Tag bildete da keine Ausnahme: Den ganzen restlichen Nachmittag lang würde es keinen einzigen pünktlichen Start geben, und dennoch schickten die Fluggesellschaften ihre voll gestopften Maschinen von den Flugsteigen los, sodass sie sich in die endlos langen Warteschlangen einreihten. Denn jedes Abstoßen vom Flugsteig konnte man als pünktlichen Start verbuchen. Nur auf Anordnung der Flugsicherung blieben die Maschinen am Flugsteig stehen, und selbst dann schob man sie häufig beiseite, um Platz für einen ankommenden Flug zu machen. Die «Strafbank», wie man die Rampe für wartende Flugzeuge nannte, war inzwischen meistens voll besetzt, und die Fluggesellschaften wussten für gewöhnlich ganz genau, welche Flüge Verspätung haben würden. Die Passagiere durften das natürlich nicht erfahren.

Was für ein Riesenschwindel! Und wir müssen dann den Kopf hinhalten. Immer war die Luftfahrtbehörde der Sündenbock.

Jeden Tag war es dasselbe, und zwar mit deprimierender Regelmäßigkeit. Zu allem Überfluss zogen heute aus Springfield, Illinois, einige schwere Gewitter heran, die den täglichen Stau noch verschärfen würden. Denn wenn das Gewitter O’Hare erreichte, würde sämtlicher Verkehr zum Erliegen kommen.

Als Jake nach Westen blickte, sah er in hundertfünfzig Kilometer Entfernung Blitze zucken. Zwischen den schwarzen Gewitterwolken und dem Flughafen hing eine schier endlose Schlange von Flugzeugen am Himmel, deren Aluminiumleiber sich stetig auf die unter der Wolkendecke funkelnden Landebahnbefeuerungen zubewegten. Wie Jake wusste, mühten sich die Piloten damit ab, die Fluggeschwindigkeit genau einzuhalten, die ihnen von der Anflugskontrolle in Chicago angewiesen worden war. Die gestressten Männer und Frauen, die dort arbeiteten, saßen in einem fensterlosen Raum unterhalb der ruhigen Towerkanzel.

Ein Pilot, der zu schnell flog oder zu spät das Tempo drosselte, landete in der Pilotenhölle: Der Fluglotse, der irgendwann eine Lücke finden musste, damit er sich wieder in den Verkehr einfädeln und eine erneute Landung versuchen konnte, ließ ihn gnadenlos eine halbe Stunde lang im Kreis herumkurven – während die Passagiere vor Wut kochend auf die Uhr sahen. Auf dem Boden stieg die Hitze flimmernd von der glühenden Außenhaut der Boeings und Airbusse auf, die zwischen kleineren Regionalmaschinen und Turboprops untätig herumstanden. Die viele Millionen teuren Warteschlangen erstreckten sich rings um die Flughafengebäude und bis zum Horizont.

Jake fing den Blick eines seiner Fluglotsen auf und nickte ihm verständnisvoll zu. Der Mann lächelte und erwiderte das Nicken.

Das gereizte Stimmengewirr der Piloten ging Jake stets auf die Nerven, vor allem wenn die Besatzungen auf die abgehackten Anweisungen der Fluglotsen, die so schnell wie nur möglich sprechen mussten, verärgert reagierten.

«Also gut, United Zwei-Dreizehn, O’Hare Bodenkontrolle, ich sehe Sie, und ich habe Sie bereits angewiesen, auf Position zu bleiben. Meridian Eins-Eins-Acht, stoppen Sie sofort und machen Sie der Eagle ATR Sieben-Zwei rechts von Ihnen Platz. Lufthansa Zwölf, Beeilung, Sir, Sie müssen sofort von dieser Rollbahn verschwinden. Delta Zwei-Siebzehn, sind Sie auf Frequenz?»

«Äh … Delta Zwei-Siebzehn hört.»

«Roger, Delta. Folgen Sie der Meridian Sieben-Sieben-Sieben links von Ihnen. Air France Zwölf, wechseln Sie auf Towerfrequenz und warten Sie, bis Sie gerufen werden.»

Diane Jensen, die Fluglotsin, mit der Jake – aus ausgesprochen sexistischen Gründen – am liebsten zusammenarbeitete, kam aus dem Pausenraum, setzte den Kopfhörer auf und schickte sich an, den Platz eines Kollegen zu übernehmen. Nachdem sie sich über das kurze honigblonde Haar gestrichen hatte, grinste sie Jake zu. «Heute ist da draußen wieder die Hölle los», witzelte sie.

«Und nicht nur dort: Herndon schränkt bereits die Landungen ein», antwortete er, womit er die Kommandozentrale der Luftfahrtbehörde in der Nähe von Washington meinte. «Außerdem haben wir bald keinen Platz mehr auf der Rampe.»

«Und irgendwo da unten treibt sich mein Bruder herum. Er ist sehr ungeduldig und muss unbedingt nach Dallas. Ich habe ihn gerade abgesetzt. Er hat sich aufgeführt, als zöge er in die Schlacht.»

«Das trifft ja auch irgendwie zu», meinte Jake.

«Ich habe ihm vorgeschlagen, den Zug zu nehmen», entgegnete sie und stöpselte ihren Kopfhörer neben dem Platz des Mannes ein, den sie ablösen sollte. «Doch er wollte nicht auf mich hören.»

Wieder läutete das Telefon, das sie mit der Anflugkontrolle verband. Als Jake zum Hörer griff, fiel sein Blick auf einen Sonnenstrahl, der sich draußen im Verkehrsstau in einem Auto spiegelte. Er war froh, dass er nicht da draußen unter all diesen gereizten Menschen sein musste.

Wirklich ausgesprochen froh.

BÜROGEBÄUDE RAYBURN HOUSE, WASHINGTON, D.C.

Colonel David Byrd packte die auf dem Zeugentisch ausgebreiteten Papiere zusammen und stopfte sie in seinen Aktenkoffer. Dann drehte er sich um und ergriff die ausgestreckte Hand von Julian Best, dem Leiter des Unterausschusses für den Luftverkehr.

«Gut gemacht, Colonel», meinte Best mit einem Lächeln auf dem wettergegerbten Gesicht.

«Danke», erwiderte David Byrd und klopfte auf seinen Aktenkoffer. «Übrigens habe ich nicht übertrieben, Julian», fuhr er mit ernster Miene fort. «Während wir gegen die Bedrohung durch Terroristen bereits einige Lösungen gefunden haben, hat die Gefahr, die von außer Kontrolle geratenen Fluggästen ausgeht, weiter zugenommen – und dabei hat der Sommer erst angefangen. Es ist wirklich keine fixe Idee der Luftfahrtbehörde.»

Best lächelte. «Ich weiß, dass Sie keinen Lärm um nichts machen, Colonel. Ich kenne Ihren Ruf. Ein Mann, der eine Spezialeinheit geleitet, sich so viele Orden verdient und derart wichtige Aufgaben gemeistert hat, ist eine Nummer zu groß, um ihn nur so zum Scherz nach Washington zu schicken.»

Das Läuten eines Mobiltelefons unterbrach sie. Mit einem Achselzucken wies Byrd darauf.

«Verzeihung.»

«Kein Problem, Colonel. Ich melde mich bei Ihnen», erwiderte Julian und wandte sich zum Gehen.

Nachdem Byrd das Gerät aufgeklappt hatte, drehte er sich zur Wand, um sich auf den Anrufer zu konzentrieren. Doch die zornige Stimme am anderen Ende der Leitung ließ ihn zusammenzucken.

«Hier spricht Lieutenant General Overmeyer, Colonel. Was zum Teufel bilden Sie sich eigentlich ein, ohne meine Erlaubnis und ohne einen Begleiter vom Pentagon vor dem Kongress auszusagen? Ich habe Ihre Visage gerade im Fernsehen gesehen, und das auch noch in Uniform! Wer hat Ihnen genehmigt, uniformiert im Fernsehen aufzutreten und sich politisch zu äußern?»

Colonel Byrd rief sich General Overmeyers Gesicht vor Augen. Der stellvertretende Stabschef der Air Force galt bei den meisten seiner Untergebenen als ziemlich aufbrausend. Er war ein mächtiger Mann, der die Karriere eines Offiziers, der sich ihm in den Weg stellte, rasch beenden konnte. Selbst die eines Colonels.

«General», begann David deshalb, «Sie haben mich der direkten Weisungsbefugnis der zuständigen Sachbearbeiterin bei der Luftfahrtbehörde unterstellt. Ich habe auf ihre Anweisung hin ausgesagt.»

«Byrd, es ist nicht Ihre Aufgabe, das Schoßhündchen einer Zivilistin zu spielen und auf ihren Befehl hin jedem an den Haaren herbeigezogenen Scheinproblem nachzujagen.»

«General, ich lasse mich nicht von Ihnen beleidigen. Ich bin kein Schoßhündchen …»

«Ich will Sie in dreißig Minuten bei mir im Büro sehen, Byrd. Haben Sie verstanden?»

«Wenn Sie darauf bestehen, Sir.»

«Genau das habe ich gerade getan. Das ist ein gottverdammter Befehl. Ach, falls Sie Ihre Wurzeln vergessen haben sollten, Colonel, helfe ich Ihnen gern, sie wieder zu finden. Beim Pentagon handelt es sich um das große Gebäude neben dem Ronald-Reagan-Flughafen.»

«General, Ihren Sarkasmus können Sie sich sparen.»

«BEWEGEN SIE JETZT GEFÄLLIGST IHREN HINTERN!»

Der General legte auf und ließ David Byrd erschüttert zurück. Dieser überlegte fieberhaft, wie er wohl am schnellsten auf die andere Seite des Potomac kommen sollte.

2

FLUGHAFEN O’HARE, CHICAGO, ILLINOIS, 11:30 ORTSZEIT

Auch an diesem Junimorgen herrschte in Chicago wie an jedem Wochentag Verkehrsstau. Um acht Uhr war es bereits über zwanzig Grad warm; um zwölf hatte die Quecksilbersäule dreißig Grad erreicht und stieg etwa in derselben Geschwindigkeit an wie die Gereiztheit der Menschen, die sich auf hoffnungslos verstopften Straßen per Bus, Taxi und Privatauto zum Flughafen O’Hare durchquälten.

Der Flughafen selbst war ein Hexenkessel, überfüllt, überhitzt und überlastet. Es war keine Erlösung in Sicht, denn der Druck, weitere Flüge und zusätzliche Passagiere abzufertigen, wuchs ständig, sodass es ein täglicher Kampf war, das komplizierte System Flughafen reibungslos am Laufen zu halten. Für Fehler gab es kaum Spielraum, und jede Störung von außen führte zu einer Lawine aus stornierten oder verspäteten Flügen, deren Folgen in den gesamten Vereinigten Staaten spürbar wurden.

Doch die erbosten Flugbegleiter von Meridian Airlines planten ausgerechnet an diesem heißen Sommermorgen, genau so eine Störung herbeizuführen.

Als die Passagiere den Check-in-Bereich von O’Hare betraten, wurden sie sofort von zornigen Stewardessen umringt, die Protestschilder schwenkten. «Wir sind noch nicht im Streik!», stand darauf. «Meridian-AUSBEUTERFIRMA!» Einige Passagiere hielten aufmunternd die Daumen nach oben, doch die meisten drängten sich an den Protestierenden vorbei und taten, als wären diese nicht vorhanden.

Inmitten des Tohuwabohus wurden Tonnen von Gepäck polternd auf dem Gehweg abgestellt, da viele Passagiere von der Möglichkeit Gebrauch machten, ihre Koffer bereits vor dem Gebäude am Bordstein aufzugeben. Andere Fluggäste kämpften sich schwitzend durch das Gedränge und steuerten auf die Ticketschalter in der Halle zu, wo sich aufgrund des drastischen Personalmangels lange Schlangen gebildet hatten. Kordeln an mobilen Pfosten lenkten die schicksalsergebenen Massen in einem Zickzackkurs weiter, der nur schwache Hoffnung weckte, dass man noch vor Abflug seiner Maschine bedient werden würde. Die meisten wussten, was es mit diesem bedrückenden Spiel auf sich hatte: Angestellte kosteten Geld, weshalb Meridian nach Kräften versuchte, deren Anzahl zu begrenzen.

Ein Kundendienstmitarbeiter von Meridian Airlines, der einen zerknitterten Blazer und eine nach einer Begegnung mit einem aufgebrachten Fluggast schief sitzende und fleckige Krawatte trug, sah auf die Uhr und musste enttäuscht feststellen, dass es erst viertel nach zwölf war. Als er das zerzaust wirkende Paar bemerkte, das sich nach einem Blick auf seine rote Jacke von rechts näherte, drehte er sich zu der Auffahrt um, wo eine Stretchlimousine vorgefahren war. Wer würde wohl aus dem langen, schwarzen Cadillac aussteigen? Vielleicht Madonna, die sich gerade in der Stadt aufhielt. Oder ein Mitglied der Politprominenz? Aller Wahrscheinlichkeit nach handelte es sich nur um irgendeinen Niemand mit zu viel Geld, aber wenigstens hatte der Mann so die Möglichkeit, das offenbar ratlose Ehepaar noch eine Weile zu ignorieren.

Er hasste Kunden. Er hasste Meridian. Und er hasste seinen Job. Aber am meisten wurmte ihn die Erkenntnis, dass er inzwischen zu lange bei Meridian arbeitete, um zu kündigen. Er hatte zu viel investiert, um einen Rausschmiss zu riskieren – auch wenn die Firmenleitung ihm und den meisten seiner Kollegen wöchentlich damit drohte.

Der Fahrer der Limousine stieg aus und öffnete die rückwärtige Tür. Der Kundendienstmitarbeiter beobachtete, wie ein junges asiatisches Paar ausstieg. Der Mann und die Frau blieben am Straßenrand stehen und betrachteten entgeistert das Durcheinander.

Niemand, sagte sich der Bodenmitarbeiter. Nur zwei zu groß geratene Kinder mit zu viel Geld. Er wandte sich seinen Kunden zu.

Draußen nahm Jason Lao seinen Aktenkoffer vom Rücksitz der protzigen Limousine und nickte dem Fahrer verlegen zu. Er hatte schon vor dem Aussteigen die Rechnung unterschrieben und ein ordentliches Trinkgeld gegeben und wollte sich nun so rasch wie möglich vom Wagen entfernen, ehe ihn jemand erkannte.

Linda Lao war ein paar Schritte vorausgegangen. Nun drehte sie sich um und lächelte ihm zu. Es war ein warmes und sinnliches Lächeln, das ihn schon während ihrer Zeit in Silicon Valley um den Verstand gebracht hatte. Sie wartete, bis er den Griff seines Koffers herausgezogen und sie eingeholt hatte.

«Na, Schatz, war das nicht viel besser so?», fragte sie dann.

«Nein. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken.»

«Jason …»

«Ich hatte eine Limousine bestellt, und die schicken mir ein Bordell auf Rädern.»

«Ich gebe zu, es war ein wenig übertrieben, aber dafür bequem und kühl. Außerdem vergiss nicht, dass du jetzt stinkreich bist. Wir können es uns leisten.»

Ein Gepäckträger hatte sie entdeckt und witterte Kundschaft, als sie ihre großen Rollenkoffer über die Einfahrt zogen.

«Kann ich Ihnen helfen?», meinte er.

Jason nickte und übergab ihm das Gepäck.

«Und wohin fliegen Sie heute?», erkundigte sich der Gepäckträger.

«Nach London», erwiderte Linda und warf ihr Haar zurück. Es war ihr gleichgültig, ob man ihr die Aufregung anmerkte.

Nickend verlud der Mann die Koffer auf einen Gepäckkarren, während Linda Jason am Arm nahm und ihn durch die automatischen Türen führte. Doch dann hielt sie ihn zurück.

«Was ist?»

«Okay, sprechen Sie mir nach, Mr. Vorsitzender: Ich werde es genießen.»

«Was?»

«Komm. Wiederhol es.»

«Das ist doch albern.»

«Mag sein, aber sprich es mir trotzdem nach. Ich … werde … Spaß … haben.»

«Ja, schon gut. Ich werde Spaß haben.»

Sie legte ihm die Hände auf die Schultern und sah ihn mit gespieltem Ernst an. «Willst du mich?»

«Natürlich will ich dich. Ich kann nicht genug von dir kriegen.»

«Also gut. Kein Lächeln, kein Spaß, kein Sex. Verstanden?»

Seufzend zwang er sich zu einem Grinsen. «Okay, ich werde mich amüsieren.»

«Und du wirst mal so richtig ausspannen. Abgemacht?»

«Jetzt übertreib mal nicht», erwiderte Jason und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.

Linda Lao wusste, dass sie auf einem Pulverfass saß, wenn sie mit Jason einen Flughafen betrat. Er stand beruflich unter großem Druck und verlangte sich selbst und seinen Mitmenschen eine Menge ab. Nur ihm allein war es zu verdanken, dass seine Computerfirma als eine der wenigen überlebt hatte, und das lag daran, dass der Dienst am Kunden bei ihm an erster Stelle stand. Und genau darin ließen – wie er selbst häufig sagte – die meisten Fluggesellschaften inzwischen einiges zu wünschen übrig.

Deshalb war jeder Aufenthalt auf einem Flughafen für Linda eine Qual, denn sie konnte es nicht ertragen, wie sehr sich ihr Mann wegen des wie immer miserablen Service aufregte. Also hatte sie ihn inständig angefleht, für den Flug nach London eine Privatmaschine zu chartern.

Die Reaktion war vorhersehbar gewesen. Jason war ein sparsamer Mann aus einer sparsamen Familie, die in Hongkong nur deshalb zu Wohlstand gekommen war, weil sie mit Geld umgehen konnte. Die Differenz zwischen dreißigtausend Dollar für eine Privatmaschine und knapp zweitausend Dollar für zwei Plätze in der Touristenklasse hatte für ihn sofort den Ausschlag gegeben.

«Dann fliegen wir doch wenigstens erster Klasse», beharrte sie.

«Solange unsere Angestellten nicht erste Klasse fliegen, brauchen wir es auch nicht zu tun», erwiderte er. «Schließlich müssen wir an unsere Aktionäre denken.»

«Wir selbst bezahlen diese Reise, nicht die Firma.»

«Na, siehst du. Sollen wir uns etwa zu fein sein, Touristenklasse zu fliegen?»

Aber zumindest hatte er sich breitschlagen lassen, eine Limousine zu mieten, auch wenn sie wusste, dass sie es in den nächsten zwei Wochen immer wieder zu hören kriegen würde: die Kosten, die Peinlichkeit, die falsche Botschaft, die man damit vermittelte. Manchmal amüsierte es sie, wie vorsichtig ihr Mann mit Geld umging und wie viel ihm daran lag, als Firmenvorstand den richtigen Eindruck zu hinterlassen.

Und nun würden sie eben Touristenklasse nach London fliegen. Inzwischen bereute Linda sehr, dass sie nachgegeben hatte.

Die Wartezeit in der Schlange schwitzender Passagiere und die entwürdigende Abfertigung am Ticketschalter hatten eine halbe Stunde beansprucht. Wie immer hatte Jason darauf bestanden, zwei Stunden vor Abflug zum Flughafen zu fahren, sodass die Zeit nicht drängte. Allerdings war es schwierig, dafür zu sorgen, dass er ruhig blieb.

Als Lindas Blick auf die Sicherheitsschleuse fiel, entspannte sie sich ein wenig beim Anblick der uniformierten Bundesbeamten, die die Kontrollen durchführten. Jason hatte sich sehr über diese Veränderung gefreut und sich beim letzten Mal sogar bereitwillig überprüfen lassen. Doch die Erinnerung an ihre letzte Begegnung mit dem alten System vor einigen Jahren ließ Linda noch immer erschaudern.

Sie waren auf dem Weg nach Los Angeles gewesen, als Jason wegen der wichtigtuerischen Art eines unverschämten Sicherheitsmitarbeiters der Geduldsfaden gerissen war.

«Es gibt keinen vernünftigen Grund, meinen Computer noch gründlicher zu untersuchen, als Sie es bereits getan haben», hatte Jason geschimpft, als der Wachmann ihm den Aktenkoffer entreißen wollte. Daraus hatte sich ein Tauziehen entwickelt.

«Sir, wenn Sie den Computer nicht herausholen, müssen Sie den Sicherheitsbereich verlassen.»

Sofort waren zwei Beamte der Polizei von Chicago hinzugetreten. Es war ein langweiliger Vormittag; sie brannten darauf, jemanden festzunehmen, und Jason schien ein aussichtsreicher Kandidat zu sein.

«Jason», flüsterte Linda ihm ins Ohr. «Das ist hier nicht der richtige Ort. Diese Typen sind Vollidioten. Es ist zwecklos, mit ihnen zu streiten.»

Mit zusammengebissenen Zähnen drehte Jason sich zu ihr um, und er konnte seine Wut kaum noch zügeln, als sie weiter zischte: «Ich will nach Los Angeles fliegen, Schatz, und habe keine Lust, dich aus dem Gefängnis holen zu müssen. Sag jetzt kein Wort mehr. Nick einfach und zeig dem Trottel deinen Computer.»

Sie sah, wie die Muskeln an seinem Kiefer zuckten, als er sich mühsam beherrschte. Der Wachmann fummelte an dem Laptop herum und fand den Knopf zum Einschalten nicht.

«Hier!», stöhnte Jason entnervt und drückte darauf. «Und was zum Teufel soll das beweisen? Dass der verdammte Bildschirm hell wird, mehr aber auch nicht!»

Eine dicke Frau näherte sich von der anderen Seite. Sie nickte den Polizisten zu.

«Wollen Sie frech werden, Mister? In diesem Ton lassen wir nicht mit uns reden. Wenn Sie nicht gleich still sind, wird Ihnen die Polizei hier Benehmen beibringen. Wir lassen uns nicht von Ihnen beschimpfen.»

Linda umfasste Jasons Handgelenk fester und grub ihre Fingernägel hinein, bis es blutete. Er rang um Fassung, während die Polizisten darauf warteten, dass er noch einmal widersprach und ihnen damit einen Vorwand lieferte, ihn festzunehmen.

Linda erinnerte sich an ihre enttäuschten Blicke, als Jason plötzlich aufseufzte und seinen Computer wortlos wieder in den Aktenkoffer steckte. Er wich dem Blick der Wachleute aus, wandte sich zu Linda um und nahm ihren Arm.

«Danke», zischte er.

«Du musst ruhig bleiben, Schatz», flüsterte sie. «Auf Typen wie dich haben die nur gewartet.» Die Polizisten, die sich um ihren Spaß gebracht sahen, blickten ihnen verärgert nach.

«Welcher Flugsteig?»

Erschrocken blickte Linda auf. «Was?»

Jason lächelte. «Welcher Flugsteig?», wiederholte er, während er das Handgepäck vom Laufband nahm, und holte Linda damit in die Gegenwart zurück. Ihr wurde klar, dass sie die Kontrolle bereits hinter sich hatten, und zu ihrem Erstaunen war ihr sonst so aufbrausender Ehemann noch immer die Ruhe selbst.

«Flugsteig … 33 B», erwiderte sie nach einem Blick auf das Ticket. «Meridian Flug Sechs. Ich habe es auf dem Bildschirm gelesen. Angeblich sind sie pünktlich.»

Sie bogen in den nächsten Gang ein und mussten dabei einem schrill hupenden und mit Passagieren beladenen Elektrokarren ausweichen, der in halsbrecherischer Geschwindigkeit an ihnen vorbeiraste. Der Fahrer hatte ein verzerrtes Grinsen im Gesicht.

3

PENTAGON, WASHINGTON, D.C., 12:58 ORTSZEIT

Colonel David Byrd zupfte seine Uniform zurecht und betrat das Vorzimmer des stellvertretenden Stabschefs der Air Force. Der Befehl von Overmeyer, er solle seinen Hintern gefälligst bewegen, war zwar nicht gerade mit dem Ruf des Verteidigungsministers gleichzusetzen, gab aber dennoch Grund zur Besorgnis. Der General galt als aufbrausender Mann, war allerdings nicht nachtragend.

«Guten Morgen, Colonel», begrüßte ihn die Sekretärin wie aus der Pistole geschossen. «Der General erwartet Sie.» Sie begleitete ihn zu dem kleinen Konferenzzimmer, wo Lieutenant General James Overmeyer bereits, flankiert von zwei Männern im Anzug, am Tisch saß. David salutierte, was der General mit einer beiläufigen Geste erwiderte; dann wies er nach rechts.

«Colonel Byrd, ich möchte Ihnen Billy Monson von der DIA und Ryan Smith von der CIA vorstellen.»

Nachdem die Männer einander die Hand geschüttelt und Platz genommen hatten, bedachte David seinen Vorgesetzten mit einem fragenden Blick. Der General grinste selbstzufrieden. «Also, David, sicher sind Sie neugierig, warum ich diese kleine Besprechung anberaumt habe.»

«Ja, Sir, ich erinnere mich, dass Sie mich aufgrund meiner Aussage heftig beschimpft haben. Außerdem haben Sie mir befohlen, meinen Allerwertesten innerhalb von dreißig Minuten hierher zu bewegen.»

Lachend sah der General auf die Uhr. «Und Sie haben es sogar zwei Minuten früher geschafft. Gratuliere.»

«Darf ich mich verteidigen, Sir?», begann David.

General Overmeyer schüttelte den Kopf und beugte sich vor. «Nein. Die Sachbearbeiterin der Luftfahrtbehörde hat mich drei Minuten vor Ihrem Erscheinen angerufen und bestätigt, sie habe Sie angewiesen auszusagen. Doch das wusste ich bereits.»

«Dann … bin ich ein wenig ratlos.»

«Tja, Sie hätten mich wirklich zuvor anrufen sollen, aber das geht schon in Ordnung, David. Ich habe Ihnen schließlich nie erklärt, warum ich Sie vor einem Jahr an die Luftfahrtbehörde ausgeliehen habe.»

«Nein, Sir, das haben Sie nicht.»

«Nun, ich wollte, dass einer von uns vor Ort ist und die zunehmenden Probleme mit Übergriffen durch Passagiere im Auge behält, weil Zusammenhänge zum Terrorismus bestehen könnten.»

«Was?», fragte Byrd ungläubig.

Overmeyer nickte. «Die DIA und die CIA schwitzen Blut und Wasser, dass irgendeine Terrorgruppe in Rage geratene Passagiere in einer Linienmaschine aufhetzen und auf diese Weise einen Anschlag verüben könnte.»

David Byrd blickte zwischen den Anwesenden hin und her. «Wie soll denn das funktionieren? Gewalttätige Übergriffe von Fluggästen sind naturgemäß etwas Spontanes.»

«Wirklich?», gab Overmeyer mit ernster Miene zurück. «Dürfen wir da tatsächlich so sicher sein? Oder könnte man eine geeignete Gruppe von Passagieren vielleicht so provozieren, dass es jemandem, der andere Absichten verfolgt, gelegen käme?»

«Ich weiß nicht», räumte David ein.

«Das geht uns genauso.» Der General seufzte. «Mr Monson und Mr. Smith werden Sie über die albtraumhaften Möglichkeiten informieren, wie sie sich ihnen darstellen. Das alles ist natürlich streng geheim, und ich erteile hiermit den Befehl, Sie über alles in Kenntnis zu setzen. Wir unterhalten uns später.» Der General erhob sich. Auf dem Weg zur Tür nickte er Monson zu.

«Billy, Sie haben das Wort.»

CIA–ZENTRALE, LANGLEY, VIRGINIA, 13:00 ORTSZEIT

Von den vielen Nachrichten, die durch die zahlreichen Kanäle der CIA in Langley geschleust wurden, hatte es ein kurzes Schreiben von einem der vielen verdeckten Ermittler, die im Auftrag der Vereinigten Staaten tätig waren, geschafft, die Kontrollinstanzen zu passieren und im elektronischen Posteingang der zuständigen Arbeitsgruppe zu landen. Um halb sieben Uhr morgens hatte das Team, das aus zwei Männern und einer Frau bestand, die Information erhalten, für die der Ermittler vermutlich sein Leben riskiert hatte, und man kam zu dem Schluss, dass es sich um das fehlende Teilchen zu einem potenziellen Puzzlespiel handelte.

«Wir haben keine Ahnung, mit welchem Flugzeugtyp und welcher Art von Waffe wir es zu tun haben», sagte die Mitarbeiterin des Teams, als sie ihrem Abteilungsleiter Meldung erstattete.

«Aber», unterbrach einer ihrer Kollegen, «dieser Bericht gibt uns wertvolle Hinweise. Falls er auf Tatsachen beruht, kommt die Maschine mit der Waffe an Bord aus Afrika, damit meine ich das Afrika südlich der Sahara. Also ist es vermutlich ein Interkontinentalflug.»

«Zum Beispiel eine Boeing 777 oder eine 747 mit Ziel Europa?»

«Genau. Oder ein Airbus 340, eine DC-10 oder eine MD-11. Sie alle kommen in Frage. Das halten wir für ziemlich wahrscheinlich.»

«Doch wir kennen das Ziel nicht?»

Alle schüttelten gleichzeitig den Kopf. «Irgendeine europäische Stadt.»

«Zeitrahmen?»

«Innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden. Unserer Vermutung nach wird man einen biologischen Kampfstoff wie Anthrax oder etwas ähnlich Grauenerregendes einsetzen. Um die Einwohner einer ganzen Stadt zu verseuchen, braucht man nur einen Beutel mit dem Zeug im Fahrwerksschacht zu verstecken. Wenn das Fahrwerk ausgeklappt wird, fällt der Kampfstoff heraus.»

Der Abteilungsleiter nickte und stand auf.

«Gut. Wir geben Alarm und beobachten in den nächsten beiden Tagen jede Maschine, die über Afrika fliegt.»

4

FLUGSTEIG 33 B, FLUGHAFEN O’HARE, CHICAGO, ILLINOIS, 12:01 ORTSZEIT

Martin Ngume, der im überfüllten Wartebereich saß, erwachte mit einem Ruck und riss die Augen auf. Kurz wurde er von Angst ergriffen, sah sich suchend nach einer Uhr um und fragte sich, ob er wohl verschlafen und seinen Flug verpasst hatte.

Die Digitaluhr an der gegenüberliegenden Wand zeigte eine Minute nach zwölf Uhr mittags an. Seine Maschine würde erst um halb zwei starten.

Martin beruhigte sich, doch bald schoss ihm die schreckliche Nachricht wieder in den Kopf, die er aus Südafrika erhalten hatte: Die einzige Tür des winzigen Häuschens seiner Mutter war plötzlich mit einem Vorhängeschloss gesichert.

Was sollte dieses Schloss? Wo war seine Mutter?

Im Haus gab es kein Telefon. Nur wenige Hütten in Soweto verfügten über den Luxus eines Badezimmers, und wer telefonieren wollte, musste zum schmuddeligen Laden gehen, der einen halben Kilometer entfernt war. Das tat seine Mutter einmal im Monat, immer sonntags, um mit ihrem Sohn zu sprechen.

Doch diesmal war ein Fremder an den Apparat gekommen, der seine Mutter nicht kannte. Einige weitere Anrufe waren nötig gewesen, um einen Dorfbewohner aufzutreiben, der bereit war, nach dem Rechten zu sehen, und dann hatte Martin den Mann anschließend erst wieder erreichen müssen.

«Sie ist nicht da.»

«Hast du reingeschaut?»

«Das ging nicht. An der Tür ist ein Vorhängeschloss befestigt.»

«Ein was?»

«Ein kleines Vorhängeschloss mit einer Zahlenkombination.»

«Hast du dich bei ihren Nachbarn erkundigt?»

«Ja, aber niemand weiß etwas.»

Martin rieb sich die Augen. Seit zwei Tagen hatte er nicht geschlafen und stattdessen versucht herauszufinden, wo sie steckte. Wie konnte eine kranke alte Frau, die sich jeden Penny vom Munde abgespart hatte, um ihren Sohn zum Studieren nach Amerika zu schicken, einfach spurlos verschwinden?

Gegen seine Angst war er machtlos. Zwei Tage lang hatte er seine Seminare geschwänzt, um herumzutelefonieren und neben dem Apparat zu warten. Doch dann war er zu dem Schluss gekommen, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als nach Hause zu fliegen, denn offenbar gab es in Südafrika niemanden, der sich die Mühe machen wollte, nach seiner Mutter zu suchen.

«Entschuldigen Sie», sagte eine Frauenstimme von links. «Alles in Ordnung?»

Martin drehte um, und sein Blick fiel auf eine attraktive Frau, die ihn beobachtet hatte.

«Ja, vielen Dank.»

«Sie sahen so erschrocken aus, als Sie aufwachten. Ich hatte schon Angst, Sie hätten sich beim Schlafen den Hals verrenkt.» Die Frau lächelte.

Martin nickte und erwiderte ihr Lächeln. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er sich darüber gefreut, dass eine hübsche Amerikanerin sich Sorgen um ihn machte. Doch im Moment konnte er nur an die Münztelefone draußen auf dem Gang und an die Frage denken, ob seine Telefonkarte noch gültig war. Er steckte die Hand in die Hosentasche und ertastete die kleine Geldsumme, die sich darin befand. Achtzig Dollar und eine Visa-Kreditkarte mussten ihm in den nächsten Tagen genügen. Das Flugticket war eine andere Sache, und er hatte vor Rührung geweint, als seine Vermieterin meinte, er brauche sich keine Gedanken zu machen, da sie den Hin- und den Rückflug bezahlen werde.

«Es dauert bestimmt eine Weile, bis ich es Ihnen zurückzahlen kann», hatte Martin erwidert.

«Das Ganze kostet mich ja nichts», antwortete sie und fügte hinzu, seine drei Mitbewohner hätten ihr von seiner misslichen Lage erzählt. «Ich habe so viele Bonusmeilen angesammelt, Martin, und einfach keine Zeit, sie abzufliegen. Also ist wirklich nichts weiter dabei.»

Allerdings hatte sie ihn für die erste Teilstrecke nach London nur auf die Warteliste setzen lassen können. Nun näherte er sich wieder der Theke und blieb wortlos stehen, bis die Mitarbeiterin etwas in die Tastatur ihres Computers eingetippt hatte.

«Entschuldigen Sie, ich …»

«Ich bin noch nicht fertig, Sir. Die Durchsage kommt gleich. Bitte setzen Sie sich.»

«Ich stehe auf der Warteliste und befürchte …»

«Sir, ich habe Sie gerade aufgefordert, sich zu setzen. Ich mache eine Durchsage, wenn ich so weit bin, okay?»

«Okay.» Martin drehte sich um und steuerte auf eine unbenutzte Telefonzelle zu. Die Verbindung klappte, doch in dem kleinen Laden, in dem seine Mutter sonst einkaufte, hob niemand ab.

Er schloss die Augen und versuchte sich einzureden, sie habe nur einen kleinen Ausflug unternommen. Vielleicht war sie ja mit dem Zug nach Kapstadt gefahren. Doch er wusste es besser: Seine Mutter hatte Angst vor dem Reisen, und ihre Augen waren inzwischen so schlecht, dass sie sogar in ihrem eigenen Haus immer wieder stolperte.

Und dann war da auch noch das Vorhängeschloss.

Martin erinnerte sich an den Streit mit dem Vermieter. Der Mann hatte schon vor einem Jahr gedroht, seine Mutter vor die Tür zu setzen, und Martin hatte noch einen zusätzlichen Studentenjob annehmen müssen, um ihr Geld schicken zu können. Hatte der Vermieter sie nun dennoch hinausgeworfen und das Haus abgeschlossen?

Aber solange er auch darüber nachgrübelte, eine Tatsache blieb bestehen: Eine Frau, die seit dreißig Jahren ihr Dorf nicht verlassen hatte, wurde plötzlich vermisst, und ihr Haus war verschlossen.

Mit besorgt gerunzelter Stirn kehrte Martin zu seinem Platz zurück. Er bemerkte die Frau kaum, die ihn vorhin angesprochen hatte.

Sie hingegen beobachtete ihn immer noch. Als sich ihre Blicke erneut trafen, zwang er sich zu einem Lächeln, was ihm angesichts seiner niedergedrückten Stimmung schwer fiel. Die Frau war schätzungsweise Mitte dreißig, überdurchschnittlich groß, sehr gepflegt und nur leicht geschminkt. Zwar keine Schönheit, dachte Martin, aber eine ziemlich attraktive weiße Amerikanerin.

«Fliegen Sie nach London?», fragte sie.

«Nein, nach Kapstadt», erwiderte Martin und fing ganz automatisch an, ihr seine Geschichte zu erzählen. Als er ein paar Minuten später bemerkte, dass er im Begriff war, sich in seine Angst hineinzusteigern, hielt er inne.

«Sie befürchten, Ihre Mutter könnte noch im Haus sein», meinte die Frau. «Und Sie glauben, es ist ihr etwas zugestoßen. Ich kann es Ihnen nicht verdenken, aber es ist sicher alles in Ordnung.»

Als er ihr in die Augen sah, erkannte er dort eine Wärme, die seine Abwehrhaltung aufzuweichen begann und die so lange unterdrückte Angst und Einsamkeit wieder zu Tage förderte. Mit einundzwanzig Jahren war es häufig nicht leicht, ein starker und immer tüchtiger Musterstudent an der Northwestern University zu sein, aber seine Mutter war doch so stolz auf ihn! Kurz fielen ihm die Seminare ein, die er nun verpassen würde. Doch er musste auf dem schnellsten Wege nach Hause. Nur das spielte jetzt eine Rolle. Den versäumten Stoff konnte er auch noch später nachholen.

 

Wenige Meter entfernt studierte Jimmy Roberts die Aufschrift auf dem Umschlag seines Tickets, rückte seine Tasche auf der Schulter zurecht und warf einen Blick auf die Nummer des Flugsteigs. Der Essensgeruch von der völlig überteuerten Snackbar in der Nähe ärgerte ihn. Obwohl er Hunger hatte, fand er das Angebot hier im Terminal nicht sehr appetitanregend, vor allem dann nicht, wenn man die Preise mit in Betracht zog.

«Sind wir da, Jimmy?», fragte seine Frau, wollte ihre Tasche auf den schmutzigen Boden stellen, überlegte es sich dann aber anders und schulterte sie wieder.

«Ja, Schatz, ich glaube schon. Nummer 33 B.»

«Die Schlange ist aber lang», meinte Brenda mit einem Blick auf den Check-in-Schalter.

«Tja», erwiderte Jimmy, «warum suchst du dir nicht einen Sitzplatz, während ich mich anstelle.»

Als sie sich umsah, wurde ihr anfänglicher Eindruck bestätigt. «Es ist kein Platz mehr frei, Schatz. Ich bleibe einfach bei dir stehen und halte die anderen Frauen von dir fern.»

Jimmy betrachtete seine Frau und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen: Eigentlich war er ja derjenige, der allen Grund gehabt hätte, sich vor Konkurrenten zu fürchten. Sie war so wunderschön – blond, einen Meter fünfundsechzig groß, Traumfigur, eng anliegende Jeans. Jimmy war bereits aufgefallen, dass die meisten Männer sie mit Blicken auszogen, wenn sie vorbeiging.

Mein Gott, ich bin wirklich ein Glückspilz, dachte er zum wohl tausendsten Mal. Er hatte das Glück, mit einer so wundervollen Frau verheiratet zu sein, die außerdem eine Schwäche für Lotterien und Verlosungen hatte – auch wenn er sie häufig deswegen auf den Arm nahm. Und dann war ein eingeschriebener Brief mit der Nachricht eingetroffen, dass sie einen kostenlosen Auslandsflug mit Meridian Airlines in ein Land ihrer Wahl gewonnen hatten.

«Warum Südafrika?», fragte Jimmy, nachdem sich der erste Schrecken gelegt und sie sich für ein Ziel entschieden hatte.

«Weil ich noch nie dort war, weil ein Onkel von mir vor vielen Jahren dort gelebt hat, weil ich das Land schon immer sehen wollte und weil …»

«Okay, okay», meinte er kichernd, «dann fliegen wir eben nach Südafrika. Schließlich bin ich bis jetzt noch nie weiter gekommen als bis nach Dallas, und das ist auch schon eine Weile her.»

«Ich sollte Roy anrufen und ihn fragen, ob alles in Ordnung ist», sagte Jimmy jetzt. Brenda kannte diesen Blick. Sie verdienten ihren Lebensunterhalt mehr schlecht als recht mit einer kleinen Autowerkstatt am Stadtrand von Midland, und Jimmys Bruder hatte versprochen, sich zwei Wochen lang ums Geschäft zu kümmern.

«Schatz, lass deinen Bruder in Ruhe. Er schafft das schon allein.»

Jimmy wies auf ein Schild. «Möchtest du es mal mit diesem Klo versuchen?» Das letzte war so schmutzig gewesen, dass Brenda es unverrichteter Dinge wieder verlassen hatte.

«Ich verdrücke es mir lieber», antwortete Brenda. «Du würdest nicht glauben, wie dreckig es dort war. Ich habe schon Plumpsklos gesehen, die in besserem Zustand waren.»

«Der ganze Laden hier ist ein Saustall», stimmte Jimmy zu.

Langsam bewegten sie sich in der Schlange zum Schalter vor, bis nur noch zwei Fluggäste vor ihnen warteten. Eine laute Stimme ließ Jimmy aufmerken. Er hob den Kopf und stellte zu seinem Erstaunen fest, dass eine Mitarbeiterin der Fluggesellschaft eine Passagierin anschrie.

«Gute Frau, Sie fliegen nicht mit dieser Maschine. Kapiert? Was gibt es an dem Satz ‹keine Reservierung› denn nicht zu verstehen?»

Die Dame, eine zierliche Frau in einem konservativen Kostüm, umklammerte ihren Computerkoffer und musste sich fast auf die Zehenspitzen stellen, um über die Theke blicken zu können.

«Schauen Sie noch mal nach. Da muss eine sein», erwiderte sie so leise, dass Jimmy sie kaum hören konnte.

«Wie war noch mal der Name?», fragte die Mitarbeiterin mit finsterer Miene und betrachtete die lange Schlange von Passagieren, die wegen der zierlichen Dame noch länger warten mussten.

«Douglas. Sharon Douglas.»

Die Mitarbeiterin tippte etwas in ihren Computer ein und stieß dann einen langen Seufzer aus.

«Wie ich Ihnen bereits sagte, Ms Douglas, sind Sie nicht auf diese Maschine gebucht. Ich habe keinen Sitz mehr frei. Alles ausverkauft. Wenn Sie jetzt bitte im Warteraum Platz nehmen würden. Sobald das Flugzeug weg ist, sehe ich zu, was ich tun kann, um Ihnen eine andere Reservierung zu besorgen.»

Die Frau, die in ihrer Tasche gewühlt hatte, blickte plötzlich auf und schob der Mitarbeiterin ein zusammengefaltetes Stück Papier zu.

«Was ist das?»

«Meine Buchungsnummer.»

Die Mitarbeiterin nahm den Zettel mit spitzen Fingern entgegen, als wäre er verseucht, studierte ihn und legte ihn dann beiseite.

«Die gilt für ein anderes Datum.»

«Haben wir heute nicht den sechzehnten?», erkundigte sich Sharon Douglas ruhig.

«Ja, Ma’am.»

«Dann haben Sie sich verlesen. Schauen Sie noch einmal hin.»

Jimmy warf einen Blick auf Brenda, die den Streit ebenfalls mit verdatterter Miene verfolgte. Sie zog ungläubig die Augenbrauen hoch.

Mit einem weiteren lauten Seufzen und einem angewiderten Kopfschütteln griff die Mitarbeiterin noch einmal nach dem Papier und musterte es erstaunt.

«Tja, das hätten Sie mir schon vorhin zeigen müssen.»

«Ich habe Ihnen meine Buchungsnummer doch genannt. Mehr braucht man als Passagier mit einem elektronischen Ticket nicht zu tun. Sie beweist, dass ich einen Platz in dieser Maschine gebucht habe, und zwar Sitz vierzehn C. Ich verlange, dass ich eine Bordkarte für diesen Platz bekomme.»

«Tja, Ms Douglas, das können Sie verlangen, bis Sie schwarz werden. Der Platz ist besetzt.»

Die Dame schüttelte leicht den Kopf, als wolle sie sich aus einem Albtraum befreien. «Gut. Wissen Sie was? Ich glaube, dass Sie mir nicht richtig zuhören. Deshalb möchte ich, dass Sie jetzt Ihren Vorgesetzten rufen.»

Die Mitarbeiterin schüttelte den Kopf. «Der ist beschäftigt.»

«Das war keine Bitte, sondern eine Anweisung. Rufen Sie Ihren Vorgesetzten. Ich kenne die Vorschriften bei Ihrer Fluggesellschaft. Die Entscheidung liegt in diesem Fall nicht bei Ihnen.»

«Rufen Sie ihn doch selbst», höhnte die Mitarbeiterin. «Für das bisschen Gehalt brauche ich mich nicht auch noch mit unhöflichen Kunden herumzuschlagen.»

«Ich bin unhöflich?» Sharon Douglas blieb der Mund offen stehen. Wie konnte diese Frau so dreist sein, ihr ihr eigenes Fehlverhalten vorzuwerfen? «Jetzt passen Sie mal gut auf», meinte sie dann. «Und spitzen Sie die Ohren. Hier geht es um Ihren Job, und Sie haben nicht das Recht, sich zu weigern. Rufen … Sie … Ihren … Vorgesetzten!»

Mit einem spöttischen Lächeln beugte sich die Mitarbeiterin zu Sharon Douglas vor und riss theatralisch die Augen auf. «Aber ich weigere mich trotzdem! Was halten Sie davon? Ich rufe meinen Vorgesetzten nicht. Und falls Sie noch einmal versuchen, mich herumzukommandieren, können Sie bis in alle Ewigkeit hier rumstehen. Ach, und wenn Sie Ihren albernen kleinen Beschwerdebrief schreiben, sorgen Sie dafür, dass mein Name auch richtig buchstabiert ist.» Mit einer abfälligen Geste streckte sie Ms Douglas ihre Namensplakette hin, als der nächste Kunde in der Schlange, ein hoch gewachsener Mann im Anzug, plötzlich vortrat und kräftig auf die Theke klopfte.

Verärgert sah die Mitarbeiterin ihn an. «Und was wollen Sie?»

«Was, glauben Sie, wird geschehen», meinte der Mann mit leiser Stimme, «wenn der Direktor Ihrer Fluggesellschaft und nicht zu vergessen Ihr Vorgesetzter erführen, dass Sie so mit Prominenten umspringen wie gerade mit dieser Dame?»

«Mischen Sie sich nicht ein, Sir!», zischte die Frau.

Er ging nicht auf ihre Bemerkung ein. «Und was würde wohl aus Ihrem Job werden, wenn die Person, die Sie gerade schikaniert haben, sich beispielsweise als Vorsitzender des Senatsausschusses für die Luftfahrt entpuppt, als einer der Senatoren also, die Ihrer Branche vor ein paar Jahren mit ein paar Milliarden Dollar Steuergeldern aus der Patsche geholfen haben?»

Sharon Douglas legte dem Mann beschwichtigend die Hand auf den Arm. «Schon in Ordnung. Es ist ja nichts passiert.»

«Und wer sind Sie, Sir?», höhnte die Mitarbeiterin. «Ein enger persönlicher Freund unseres Direktors, wie es so viele Leute angeblich sind? Oder vielleicht sogar selbst ein Senator?»

«Nein, Ma’am», erwiderte er und wies auf Sharon Douglas. «Ich bin kein Senator – ganz im Gegensatz zu dieser Dame, die Sie soeben beleidigt haben. Sie ist Senatorin aus Illinois.»

Die arrogante Miene der Airline-Mitarbeiterin wurde von Verwirrung und Argwohn abgelöst. Dann malte sich Angst in ihren Zügen, während der Mann fortfuhr: «Nachdem Sie sich ausführlich entschuldigt haben, schlage ich vor, dass Sie Ihren Vorgesetzten rufen, wie die Frau Senatorin Ihnen vorgeschlagen hat, und zwar am besten schon gestern.»

«Sind Sie wirklich Senatorin?», erkundigte sich die Frau bei Sharon Douglas.

Diese nickte. «Ja, aber das sollte eigentlich keine Rolle spielen. Sie haben kein Recht, mit irgendjemandem so umzuspringen wie mit mir. Und jetzt hätte ich gern meine Bordkarte.»

Der Passagier hatte sich zur Seite gedreht, wandte sich den übrigen Wartenden zu und bedachte Jimmy mit einem Nicken, bevor er mit lauter Stimme das Wort ergriff: «Frau Senatorin, so geht diese Fluggesellschaft täglich mit uns gewöhnlichen Passagieren um. Vor ein paar Jahren hat sie uns angefleht, zurückzukommen und Tickets zu kaufen. Wir haben es getan, und nun behandeln sie uns wieder wie den letzten Dreck.»

«Wie uns heute wieder eindrucksvoll demonstriert wurde», fügte Senatorin Douglas hinzu, während sie beobachtete, wie die verdatterte Mitarbeiterin mit zitternden Fingern eine Nummer wählte.

Kurz darauf sprangen im ganzen Terminal Walkie-Talkies an, und einige Männer in roten Jacken bahnten sich durch die Menschenmenge einen Weg zu Flugsteig 33 B.

5

LONDON, ENGLAND, 18:10 ORTSZEIT

Flugkapitän Phil Knight öffnete die Terrassentür des klimatisierten Londoner Hauses, das einem Freund gehörte. Die stickige Luft des Spätsommernachmittags schlug ihm entgegen, und Blumenduft lag in der Luft. Phil Knight hatte keine Ahnung von Pflanzen, aber er genoss den angenehmen Geruch, während er seinen Daquiri mit Eis schlürfte und dabei die Kumuluswolken betrachtete, die über seinem Kopf dahintrieben. Es war nur allzu verständlich, warum jemand gerne in einer solchen Umgebung lebte, dachte Phil. Er musterte den üppig grünen kleinen, abgeschiedenen Garten mit dem gut gepflegten Rasen, der von einer über drei Meter hohen Backsteinmauer umgeben war. Allerdings galt diese Vorliebe nicht für ihn: Seit seiner Ankunft unterdrückte er schon das Bedürfnis, sich mit irgendeiner Ausflucht vom Abendessen zu entschuldigen und sich in sein Hotel in der Nähe von Heathrow zu flüchten.

Als Phil sich umdrehte, stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass Glenn Thomasson noch telefonierte. Kerzengerade stand der Mann, den Telefonhörer in der Hand, in der Küche.

Kapitän Thomasson war ein großzügiger Gastgeber und hatte wirklich nichts getan, damit sein viel jüngerer amerikanischer Besucher sich unwillkommen oder gar unwohl hätte fühlen müssen. Dennoch wurde Phil das Gefühl nicht los, dass er ein Fremdkörper war. Und das wurde noch dadurch verstärkt, dass er den Grund dafür nicht verstand.

Trotzdem musste er schmunzeln. Kapitän Thomasson kannte unzählige Geschichten, wie Piloten sie gern einander erzählten, und es machte Spaß, seinen lebendigen und reich ausgeschmückten Berichten zu lauschen. Der britische Kapitän hatte achtunddreißig Jahre im Cockpit und mehr als achtundzwanzigtausend Flugstunden hinter sich, anfangs als Copilot, später als Kapitän einer 747 im Dienst des BOAC-Nachfolgers British Air. Inzwischen war er sechsundsechzig, kerngesund und geschieden und behauptete wie Professor Henry Higgins aus My Fair Lady, sich nichts mehr aus Frauen zu machen – eine Aussage, die Phil ihm einfach nicht abnahm.

Phil Knight hatte schon einmal mit dem pensionierten Kapitän zu Abend gegessen und einige angenehme Stunden in einem mit Ledersesseln ausgestatteten Herrenclub im Zentrum von London verbracht. Sie hatten sich den Abend mit Anekdoten vom Fliegen und vom Angeln vertrieben und sich an Brandy und Zigarren gütlich getan, bevor Thomasson ihn wieder in seinem Hotel absetzte.

Heute jedoch war es anders. Vielleicht lag es an all den Plaketten und Fotos an den Wänden, die von Thomassons glücklichen Jahren in der zivilen Luftfahrt zeugten, dass Phils merkwürdiges Unwohlsein zunahm. Möglicherweise war der Grund auch darin zu suchen, dass Kapitän Glenn Thomasson in den vergangenen achtunddreißig Jahren kein einziges Mal an seinen eigenen Fähigkeiten gezweifelt hatte.

Diesen Zug bewunderte Phil an Thomasson am meisten.

Das Geräusch von riesigen Turbobläser-Triebwerken war über dem Haus zu hören. Phil blickte nach oben und sah einen Airbus A-340 in der Ferne verschwinden. Der viermotorige Jumbo stieg langsam und steuerte, eine schwere Last aus Treibstoff und Passagieren an Bord, auf ein unbekanntes Land zu. Im Cockpit saßen zwei Piloten, denen die komplizierten Abläufe des internationalen Flugverkehrs in Fleisch und Blut übergegangen waren. Es fiel ihnen nicht schwer, fremdländische Akzente zu verstehen und internationale Vorschriften zu entschlüsseln, und sie kannten die geheimen Tricks, die nötig waren, um wohlbehalten den afrikanischen Kontinent zu überqueren: indem man nämlich die Flugsicherung selbst in die Hand nahm. Kurz wurde Phil von Neid und auch ein wenig von Bedauern ergriffen. Es musste schön sein, sich so gut vorbereitet und kompetent zu fühlen. Wenn Meridian auch nur angedeutet hätte, welche zusätzlichen Kenntnisse für einen Überseeflug nötig waren, hätte er sich vielleicht nie für diesen Posten beworben.

Ein Schauder lief Phil den Rücken hinab, und er spürte, wie sich ihm der Magen zusammenkrampfte. Ständige Magenbeschwerden waren unter anderem der Preis, den er dafür bezahlte, dass er für Meridian Airlines als Kapitän einer 747 auf internationalen Routen flog. Vermutlich würde er sich auf diese Weise ein gewaltiges Magengeschwür einhandeln, doch darüber durfte er mit niemandem sprechen, am allerwenigsten mit einem anderen Piloten.

Phil sah auf die Uhr. Halb sieben Uhr abends, was hieß, dass es in Chicago kurz nach dem Mittagessen war. Also habe ich noch etwa elf Stunden, sagte er sich. Ich habe noch elf Stunden, bevor die Maschine startet und die Quälerei wieder losgeht.

Die Maschine, die er von London nach Kapstadt in Südafrika steuern sollte, würde um halb drei Uhr morgens aus Chicago eintreffen. Das hieß, dass er um drei Uhr geweckt werden und keine Zeit für ein Frühstück haben würde, bevor er sich um vier Uhr zum Dienst meldete. Inzwischen bereitete das Bodenpersonal der Meridian in Heathrow seine Boeing 747–400 darauf vor, das Rufzeichen Flug Sechs zu übernehmen, während die Boeing 777, die diese Flugnummer auf dem Flug aus Chicago geführt hatte, als Flug Fünf in die Vereinigten Staaten zurückkehren würde. Der Abflug nach Kapstadt war für kurz nach fünf Uhr morgens geplant.

Wieder erschauderte er.

Phil drehte sich erneut nach seinem Gastgeber um, doch Thomasson telefonierte immer noch in der Küche und führte gestikulierend ein angeregtes Gespräch. Phil kehrte ins Wohnzimmer zurück und schloss die Glastür hinter sich. Die klimatisierte Luft war angenehm. Er ließ sich in einen Ohrensessel sinken und blickte zum fernen Horizont. Ohne es selbst zu bemerken, zuckte er zusammen, als er an den bevorstehenden Flug dachte.

Phil sah auf die Uhr. In diesem Augenblick bereitete sich Flug Sechs vermutlich in Chicago auf den Start vor. Phil malte sich aus, wie die Piloten aus ihren Vorortshäusern in Chicago eintrafen und sich, so wie er selbst vor zwei Tagen, in der Meridian-Zentrale ihre Instruktionen holten. Der Nachtflug über das Meer nach London würde ein Kinderspiel sein, da sie sich mit nichts Schwierigerem würden befassen müssen als vielleicht mit einem kanadischen oder britischen Akzent. Außerdem standen sie unter dem Schutz der Bruderschaft der Fluglotsen, die den nordatlantischen Luftraum sorgfältig überwachten – kein Vergleich also mit der Aufgabe, die ihm bevorstand.

Beim bloßen Gedanken daran krampfte sich ihm der Magen zusammen, und er bekam Kopfschmerzen. Der afrikanische Luftraum war ebenso ein Dschungel wie ein Großteil der Landschaft am Boden. Jede Nation beharrte auf einem eigenen Flugsicherungssystem, um von den Fluggesellschaften Gebühren kassieren zu können. Allerdings unterschieden sich Ausrüstung, Ausbildung und Abläufe so stark, dass es wahrhaft eine Gefährdung darstellte, und mit den Vorschriften in den Vereinigten Staaten hatten sie nur wenig gemeinsam. Auch wenn es Phil gelang, die Verballhornungen der englischen Sprache zu entschlüsseln – sofern die Fluglotsen sich überhaupt die Mühe machten, auf Funksprüche zu antworten –, war das «System» absolut unzuverlässig. Also hatten die erfahrenen Piloten, die häufig Afrika überflogen, ihr eigenes improvisiertes Flugsicherungssystem installiert, indem sie ständig ihre Positionen durchgaben und auf offenen Frequenzen miteinander sprachen, in dem verzweifelten Versuch, einen Zusammenstoß in der Luft zu vermeiden.

Außerdem wusste Phil, dass im so genannten «IFBP» – dem Funkverkehr während des Fluges – ungeschriebene Regeln galten. Garth Abbott, sein Copilot, war damit vertraut und kannte die Frequenzen auswendig. Bei Meridian hingegen hatte Phil fast nichts in dieser Hinsicht gelernt.

Phils Hand begann, leicht zu zittern, und er zwang sich zur Ruhe. Es kam überhaupt nicht in Frage, dass Glenn Thomasson auch nur ahnen sollte, welche Ängste er ausstand.

6

FLUGHAFEN O’HARE, CHICAGO, ILLINOIS, 12:45 ORTSZEIT

Chuck Levy drückte die Hand seiner Frau fester und starrte auf die Autoschlange, die sich vor ihm erstreckte. Das Telefonat wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf – die Stimme des Arztes aus einer Notaufnahme in Zürich, die ihm meldete, seine Tochter sei in einen schweren Autounfall verwickelt gewesen; ihr Zustand sei kritisch.