Die letzte Geisel - John J. Nance - E-Book

Die letzte Geisel E-Book

John J. Nance

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Beschreibung

Hoch über den Rocky Mountains wird ein Routineflug zum Alptraum für die Passagiere, denn ein unbekannter Entführer hat das Flugzeug in seiner Hand und er stellt ein unerhörtes Ultimatum. Er verlangt den Mörder eines jungen Mädchens – innerhalb von acht Stunden. Andernfalls jage er sich selbst und das Flugzeug mit seinen 130 Passagieren in die Luft. Während der Entführer den Flugkapitän im verschlossenen Cockpit in Richtung Salt Lake City zwingt, schickt das FBI die junge Agentin und Psychologin Kat Bronsky zu Hilfe … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 534

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John J. Nance

Die letzte Geisel

Roman

Aus dem Englischen von Karin Dufner

FISCHER Digital

Inhalt

Für George Wieser und [...]Prolog123456789101112131415161718192021222324252627282930313233Epilog

Für George Wieser und Olga Wieser von der Wieser und Wieser Agentur in New York

Prolog

Unweit von Fort Collins, Colorado, 23:43

Bradley Lumins Kopf mit dem struppigen Haar war durch das Zielfernrohr des Gewehrs deutlich zu erkennen, sein linkes Auge befand sich genau im Fadenkreuz.

Die dunkle Gestalt lud sorgfältig die Winchester .36 und entsicherte die Waffe. Nachdem der Mann tief Luft geholt hatte, krümmte er den Zeigefinger um den Abzug. Seit Stunden lag er nun schon hinter den Bäumen in etwa dreißig Metern Entfernung auf der Lauer und wartete geduldig darauf, daß sich der Besitzer des abgetakelten Wohnwagens endlich an seinen altersschwachen Computer setzte. Das tat Lumin nämlich jeden Abend, nur daß er heute ein wenig später dran war als sonst.

Der Kopf im Fadenkreuz schwankte ein wenig, als der beleibte Mann sein vergilbtes Unterhemd zurechtzupfte, sich kratzte und sich dann wieder vorbeugte.

Bradley Lumin, ich verurteile dich zum Tode.

Plötzlich durchfuhr ein Schauder den Heckenschützen. Er nahm den Finger vom Abzug und wandte kurz den Blick ab, um sich wieder zu sammeln. Im schwachen Mondlicht war nur das zornige Funkeln in seinen Augen zu erkennen; er hatte das Gesicht mit einer schwarzen Skimaske vermummt und war dunkel gekleidet.

Aus der Ferne hörte er das unablässige Dröhnen des Verkehrs auf dem Interstate zwischen Cheyenne und Denver. Von dort aus bis zu der heruntergekommenen Farm, die Lumin nach seiner überstürzten Flucht aus Connecticut gemietet hatte, waren es gut sieben Kilometer. Aus dem nahe gelegenen Fort Collins drang Sirenengeheul herüber – anscheinend wurde die Polizei zu einem Einsatz gerufen.

Der Heckenschütze atmete durch, hob wieder das Gewehr und stützte es auf eine Astgabel, um besser zielen zu können. Als sich Lumins Kopf genau im Fadenkreuz befand, strich er mit dem Zeigefinger erst zart, dann ein wenig fester über den Abzug. Er spürte kalten Stahl unter dem Fingerballen und den Widerstand der Federn, als er sein Opfer noch einmal ins Visier nahm. Dann begann er den Abzug durchzudrücken.

1

An Bord der AirBridge 90, Colorado Springs International Airport, Flugsteig 8, 9:26

Der Kapitän hatte sich verspätet.

Annette Baxter, Chefstewardeß des AirBridge-Fluges Nummer 90 nach Phoenix, warf ihr schulterlanges, rotes Haar zurück, sah auf die Uhr und drehte sich dann zum Cockpit um. Der Copilot betätigte einige Knöpfe auf der Instrumententafel und traf die letzten Startvorbereitungen. Doch der linke Sitz, der des Kapitäns, war noch immer leer.

Obwohl AirBridge nur eine kleine Fluggesellschaft war, wechselten die Piloten ständig. Annette schloß kurz die Augen und versuchte, sich an den Namen des Copiloten zu erinnern. Er war gerade erst Mitte Zwanzig und galt nach zwei Jahren bei AirBridge bereits als altgedienter Mitarbeiter. Sein gesetztes Auftreten – er hatte Annette beim Einsteigen die Hand geschüttelt und sie steif und förmlich begrüßt – paßte so wenig zu seinem kecken Blondschopf, daß sie ein Kichern hatte unterdrücken müssen.

David! David Gates, wie der Musiker. Sie schmunzelte. Der andere David Gates war etwa in ihrem Alter und hatte wahrscheinlich schon mehrere Enkelkinder. Der junge Mann auf dem rechten Sitz hingegen war noch nicht ganz trocken hinter den Ohren. Sie beugte sich ins enge Cockpit und wies auf den leeren Sitz des Kapitäns.

«David, wer ist denn heute unser Captain? Kommt er noch vor dem Start, oder sehen wir ihn erst in Phoenix?»

Der junge Copilot drehte sich überrascht und gekränkt um.

«War nur ein Witz!» meinte Annette mit einer beschwichtigenden Handbewegung. «Ich habe eben eine Schwäche für schlechte Scherze. Sie werden sich noch dran gewöhnen.»

«Er ist sicher bereits unterwegs», antwortete Gates zögernd. «Ich habe ihn schon in der Einsatzzentrale gesehen.»

«Sehr gut. Ich habe schon befürchtet, er wäre im Stau steckengeblieben – oder noch was Schlimmeres.» Sie tätschelte dem Copiloten die Schulter, wobei sie sich Mühe gab, nicht zu mütterlich zu wirken – eine Rolle, die ihr überhaupt nicht gefiel. «Ich lasse mich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Schließlich haben wir noch zwanzig oder dreißig Sekunden, bevor wir Verspätung kriegen und unsere Firma Konkurs anmelden muß.»

Gates lächelte schüchtern.

Annette warf wieder ihre rote Mähne zurück. «Und wer ist heute der Boß?»

«Captain Wolfe.»

Unwillkürlich zuckte sie zusammen. «Ken Wolfe?»

«Ja … Kennen Sie Ken?» fragte er.

Sie nickte und blickte hinaus aufs Rollfeld. «Wir sind schon oft miteinander geflogen. Und Sie?»

Gates nickte. «Ein paarmal.» Er musterte sie fragend, fügte aber nichts hinzu.

Annette blickte ihn mit einem spöttischen Grinsen an. «Nun denn, falls Ken sich hereinschleicht, ohne daß ich ihn bemerke, können Sie ihm etwas von mir ausrichten. Wir haben heute nämlich ein hohes Tier von der Staatsanwaltschaft in der ersten Klasse. Und als Dreingabe sitzt in der zweiten ein neureicher Nörgler, der an allem herummeckert. Bestimmt macht er uns Ärger.»

«Soll ich mal ein Wörtchen mit ihm reden?»

Sie schüttelte den Kopf. Schon bei der Vorstellung, wie der bubihafte, nur ein Meter fünfundsiebzig große Erste Offizier dem eingebildeten Großkotz auf Platz 6C die Leviten las, konnte sie sich ein Lächeln kaum verkneifen.

«So schlimm ist es noch nicht. Mit Zuckerbrot und Peitsche bringe ich ihn schon zur Räson. Ich wollte nur, daß der Kapitän im Bilde ist.»

«Und wer ist das hohe Tier?» wollte der Copilot wissen.

«Überraschung! Das erfahren Sie beide später.»

«Was für eine Überraschung?» Eine tiefe Männerstimme drang Annette ans Ohr, und als sie sich umdrehte, stand Ken Wolfe vor ihr.

«Ken! Schön, Sie zu sehen. Ich habe nur …» Sie wies auf den Copiloten und bemerkte im selben Augenblick, daß sie dem Kapitän den Weg versperrte. «Moment … ich gehe erst mal zur Seite.»

«Sie sprachen eben von einer Überraschung.»

Sie nickte. «Setzen Sie sich, dann erzähle ich Ihnen alles.»

Mit einem Lächeln trat Ken Wolfe ins Cockpit, stellte seine Tasche links neben seinen Sitz und schüttelte dem Copiloten die Hand, bevor er Platz nahm.

Während er Annette zuhörte, ließ er routiniert seinen Blick durch das Cockpit schweifen. Nun war er ganz Flugkapitän und einzig auf die Aufgabe konzentriert, die Maschine sicher ans Ziel zu bringen. Es war ein vertrautes Ritual: Anweisungen an den Copiloten und die Flugbegleiter, die letzten Vorbereitungen und der Papierkram. Auch die Anwesenheit eines übellaunigen Geschäftsmanns an Bord konnte einen Profi wie ihn nicht aus der Ruhe bringen; es war ein Flug wie jeder andere.

«Soll ich mit dem Mann sprechen?» fragte er.

«David hat mir das auch schon angeboten. Aber lieber nicht. Mein Instinkt sagt mir, daß es unseren bedauernswerten Passagier noch viel mehr frustrieren wird, wenn er es nicht schafft, sich und anderen gründlich den Tag zu vermiesen. Statt Erdnüssen verlangt er eine warme Mahlzeit. Er findet unseren Kaffee abscheulich und die Sitze unbequem. Außerdem ist er sauer, weil ich ihm verboten habe, sein Mobiltelephon zu benützen und den Aktenkoffer während des Starts zwischen seinen Füßen stehenzulassen.

«Ach, mehr nicht?» entgegnete Ken mit einem säuerlichen Lächeln. «Was ist denn das für ein Idiot?»

«Der Unsympath besitzt ein Busunternehmen in Seattle. Außerdem veranstaltet er Fahrten in die kanadischen Rockies. Er schäumt vor Wut, weil er nicht gratis in der ersten Klasse sitzen darf. Aber zum Ausgleich ist ein Bundesanwalt an Bord – ein echter Gentleman. Das ist übrigens die Überraschung.»

Der Kapitän sah sie erstaunt an. «Entschuldigung … Von wem reden Sie?»

«Nun», meinte Annette gedehnt und reichte dem Kapitän die Visitenkarte des Mannes wie eine Trophäe.

Ken betrachtete das goldene Siegel oben an der linken Ecke, das Emblem des amerikanischen Justizministeriums. Dann las er die gestochen scharfe, schwarze Schrift, blinzelte und las den Namen noch einmal.

«Rudolph Bostich.»

«Vor ein paar Tagen stand in der Zeitung, daß er der aussichtsreichste Anwärter für den Posten des Justizministers ist», erklärte Annette. «Der Präsident will ihn noch in dieser Woche dem Kongreß vorschlagen.»

Erstaunt stellte sie fest, daß der Kapitän schwieg. «Stimmt etwas nicht?»

Wolfe war leichenblaß geworden. Die Hand, in der er die Karte hielt, zitterte leicht. Er holte tief Luft und schluckte.

«Alles in Ordnung, Annette. Nur ein Kratzen im Hals», sagte er dann mit gepreßter Stimme und hob den Kopf. «Wo sitzt … Mr. Bostich?» fragte er bemüht ruhig und lächelte gezwungen, während er an Annette vorbeiblickte.

«Auf Platz 1A. Soll ich ihm etwas ausrichten?»

«Nein!» Mit spitzen Fingern gab Wolfe ihr die Karte zurück und schüttelte heftig den Kopf. «Bitte nicht!»

Als sie etwas erwidern wollte, streifte Ken mit einer abrupten Bewegung den Sicherheitsgurt ab und stürmte auf sie zu, so daß sie erschrocken zurückwich. «Jemand da drin?» zischte er und wies auf die Bordtoilette hinter dem Cockpit.

Verblüfft blickte Annette zur Toilettentür. «Ist frei», brachte sie noch heraus, aber schon drängte er sich an ihr vorbei und schlüpfte hinein. Sein kreidebleiches Gesicht wirkte völlig verstört.

Der Türriegel rastete ein. Dann hörte sie, wie er sich erbrach.

2

An Bord der AirBridge 90, 9:44

Die Maschine war mit Verspätung gestartet. Copilot David Gates kontrollierte die einzelnen Klappen, während die 737 mit voller Kraft zum Steigflug ansetzte, in gut dreihundert Metern Höhe über die Vororte von Colorado Springs schwebte und sich in den klaren, blauen Himmel erhob. Zu seiner Rechten hatte David einen malerischen Ausblick auf Pikes Peak.

Heute war der Copilot für den Flug zuständig, und er freute sich über die Gelegenheit, die Boeing selbst zu steuern und ihre Kraft zu spüren. Allerdings beschäftigte ihn immer noch die Frage, warum der Kapitän vor dem Start so bestürzt reagiert hatte.

«Okay, Klappen hoch», wiederholte Ken Wolfe. «Ich halte Geschwindigkeit zwei-zehn Knoten, bis die endgültige Flughöhe erreicht ist.»

Seine Stimme klang zwar nicht gerade vergnügt, aber er schien sich wieder beruhigt zu haben.

Warum war er so außer sich geraten? Weil ein Politiker an Bord war?

Gates grübelte darüber nach, weshalb der Kapitän so plötzlich aufs Klo gestürzt war. Bei Abflugszeit war er immer noch nicht wieder erschienen, so daß David an die Tür geklopft und gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei. Und das gepreßte Stöhnen, das er als Antwort erhielt, hatte ihm erst recht einen Schrecken eingejagt. David hatte schon die Einsatzzentrale anrufen wollen, um eine Vertretung für den erkrankten Kapitän anzufordern, als sich die Toilettentür auf einmal öffnete. Seltsamerweise wirkte Ken völlig erholt und gefaßt. Er lächelte seinem Copiloten zu und nahm Platz, als wäre nichts geschehen.

«Wieder auf dem Damm, Captain?» erkundigte sich David.

Wolfe schien durch ihn hindurchzusehen. Nach einigen beklommenen Sekunden lächelte er entschlossen und wies mit dem Daumen hinter sich. «Jetzt fühle ich mich viel besser, David. So gut, wie schon lange nicht mehr.»

«Ausgezeichnet. Ich habe mir Sorgen gemacht.»

«Manchmal eröffnet Gott uns seltsame und wunderbare Wege. Finden Sie nicht auch?»

Die Stimme des Fluglotsen in Denver riß David aus seinen Gedanken.

«AirBridge 90, Flugbereichskontrolle Denver, guten Morgen. Drehen Sie jetzt nach rechts mit Ziel zwei-sechs-null und halten Sie Flughöhe drei-drei-null.»

Automatisch griff David nach dem Sendeknopf, falls der Kapitän nicht antworten sollte. Bei AirBridge war man nämlich daran gewöhnt, daß Wolfe Funksprüche ignorierte, obwohl der Funkverkehr mit den Flutlotsen eigentlich Aufgabe des Kapitäns war, wenn der Copilot die Maschine lenkte. In seiner langen Dienstzeit bei AirBridge war Ken oft launisch und zerstreut gewesen. Manchmal sprach er kaum ein Wort, dann wieder redete er wie ein Wasserfall. Obwohl er es nie an Höflichkeit fehlen ließ, galt er inzwischen als anstrengend und unberechenbar, weshalb es nicht unbedingt ein Vergnügen war, mit ihm zu fliegen.

Heute jedoch antwortete Ken wie aus der Pistole geschossen. «Okay, Denver, zwei-sechs-null und drei-drei-null für AirBridge 90.»

David schaltete auf Autopilot und überprüfte die Instrumente. Mittlerweile hatten sie eine Geschwindigkeit von zweihundertfünfzig Knoten erreicht und flogen die gewohnte Route über Durange, Colorado, und Four Corners nach Phoenix.

Der Copilot warf einen Blick auf den Kapitän und fragte sich wieder, was wohl in ihm vorging. Er wußte, daß Ken eingestellt worden war, als die neue Fluggesellschaft expandierte, und auch, daß er aus Connecticut stammte. Kapitän Wolfes weitere Lebensgeschichte war unbekannt.

Dann stellte er fest, daß der Kapitän, der inzwischen ein wenig entspannter wirkte, seinen Blick erwiderte.

«Sicher fragen Sie sich, warum wir heute morgen vollgetankt haben», sagte Ken.

«Weil der Treibstoff in Colorado Springs billiger ist als in Phoenix?»

Ken nickte und wandte sich wieder den Instrumenten zu. «Richtig. Aber eigentlich ist es Schwachsinn, auf dieser Route für mehr als vier Stunden Treibstoff an Bord zu haben.»

Er sah seinen Copiloten an. «David, haben Sie diese Maschine in letzter Zeit geflogen?»

Der Copilot schüttelte den Kopf. Ein unangenehmer Gedanke beschlich ihn. «Nein, ich glaube nicht.»

«Also wissen Sie nichts von dem Ölleck in Triebwerk zwei?»

David Gates verzog beunruhigt das Gesicht. Im Bordbuch stand nichts von einem Problem mit Triebwerk zwei, doch bei AirBridge war es nicht weiter ungewöhnlich, daß Piloten Wartungsprobleme mündlich weitergaben, anstatt sie – wie eigentlich angebracht – schriftlich festzuhalten.

«Von einem Ölleck weiß ich nichts, und im Bordbuch ist auch nichts verzeichnet. Tut mir leid, falls ich was übersehen habe.»

Ken drückte zweimal auf den Bitte-Anschnallen-Knopf, um der Crew mitzuteilen, daß sie die Dreihundertmetergrenze überschritten hatten. Dann wandte er sich wieder dem Copiloten zu.

«Sie haben nichts übersehen. Niemand hat es aufgeschrieben, auch ich nicht, aber uns allen kommt es komisch vor. Entweder geht die Schmieröldichtung bald in die Brüche, oder es liegt etwas anderes im argen. Letzte Woche hat es während des Flugs angefangen, seltsame Geräusche von sich zu geben, und ich habe ernsthaft daran gedacht, es abzuschalten.»

David schwieg eine Weile und stellte sich die riesige CFM-56-Turbine vor. «Und die Instrumente zeigen keinen Fehler an?»

Ken zuckte die Achseln. «Überhaupt nichts. Wir müssen eben vorsichtig sein.»

 

Von ihrem Klappsitz aus warf Annette einen ärgerlichen Blick auf die bunten Signallampen an der Decke. Gerade erst dreihundert Meter Flughöhe, und schon meldete ein Passagier die ersten Wünsche an.

Sie beugte sich vor und spähte an der Wand vorbei, die die erste von der zweiten Klasse trennte, als der Mann auf Platz 6C erneut den Rufknopf drückte.

In aller Seelenruhe öffnete Annette ihren Sicherheitsgurt und klappte ihren Sitz hoch, bevor sie der Aufforderung folgte.

«Was kann ich für Sie tun, Sir?» fragte sie ruhig.

Der Mann brüllte so laut, daß man ihn in der ganzen Kabine hören konnte.

«Würde die gnädige Frau mir jetzt endlich gestatten, aufzustehen und meinen Computer aus dem Gepäckfach zu holen? Ich habe nämlich zu arbeiten», schimpfte er gereizt. «Außerdem könnte ich einen Wodka Tonic gebrauchen, wenn es Ihnen nicht zuviel Mühe macht. Schließlich werden Sie dafür bezahlt.»

«In ein paar Minuten werden meine Kollegen mit dem Getränkeservice beginnen. Bis dahin muß ich Sie bitten, angeschnallt sitzenzubleiben. Aber wenn Sie mir eine Frage beantworten, hole ich Ihnen gerne Ihren Koffer herunter.»

«Was?» Er musterte sie argwöhnisch.

«Sind Sie je mit einer Linienmaschine geflogen?»

Einige Passagiere auf den angrenzenden Sitzen mußten ein Grinsen unterdrücken, einer kicherte sogar.

Der Mann lehnte sich zurück, schnaubte verächtlich und musterte Annette abfällig. Als er auf die Uhr schaute, bemerkte sie, daß es sich um eine goldene Rolex handelte.

«Was für eine dumme Frage, Sie unverschämtes Weibsstück! Ich besitze ein Reiseunternehmen und bin ständig mit dem Flugzeug unterwegs.»

Annette nickte. «Ein Reiseunternehmer, der regelmäßig fliegt, sollte eigentlich mit den Abläufen an Bord vertraut sein. Also frage ich mich, warum es Sie so wütend macht, daß ich auf der Einhaltung dieser Vorschriften bestehen muß.»

Mit hochgezogenen Augenbrauen beugte sich der Mann vor; sein kantiges Gesicht lief knallrot an. «Wie können Sie es wagen, mir Vorträge zu halten?» tobte er.

Annette lächelte nur. «Und wie können Sie es wagen, mit einem verbilligten Ticket zu fliegen und mir dann die Hölle heißzumachen, weil ich Sie nicht in die erste Klasse lasse?»

«Jetzt reicht’s! Sobald ich in Phoenix ein Telephon finde, sind Sie Ihren Job los, Süße!»

«Warum so lange warten?» entgegnete Annette so freundlich wie möglich. «In Ihrer Armlehne befindet sich ein Apparat. Und falls Sie Ihren Sicherheitsgurt öffnen, bevor das Lämpchen ausgeht, wird Sie der Erste Offizier mit einem Paar Plastikhandschellen aufsuchen. In Phoenix erwartet Sie dann das FBI. Verstanden?»

Ohne auf die wüste Schimpfkanonade des Mannes zu achten, kehrte Annette in die Bordküche der ersten Klasse zurück. Erst als sie den Vorhang hinter sich zugezogen hatte, schwand ihr Lächeln, und sie ballte zornig die Fäuste. Es war überflüssig, Ken Wolfe mit dem jüngsten Wutausbruch des Mannes zu behelligen. In einer guten Stunde würde der Idiot die Maschine verlassen haben. Und dann würde sie ihre Pause damit zubringen müssen, einen rechtfertigenden Bericht über den Vorfall zu schreiben, denn der Brief mit dem Inhalt «Schmeißen Sie das Miststück raus» würde ganz sicher in der Firmenzentrale von AirBridge eintreffen.

 

«Haben Sie das bemerkt?»

Besorgt sah Ken Wolfe seinen Copiloten an.

«Was?»

«Diese Vibrationen. Es ist zwar nur schwach, kommt aber immer wieder.»

David neigte den Kopf zur Seite, schloß kurz die Augen und versuchte zu ergründen, was der Kapitän aus den üblichen Vibrationen einer fliegenden Maschine herausgehört haben mochte.

«Ich … spüre nichts Außergewöhnliches, aber …»

«Vielleicht sind Sie mit dieser Art von Vibrationen nicht vertraut», erwiderte Ken.

«Kann sein. Klemmt da etwas?»

Ken nickte. «Ja, doch das Geräusch ist nicht sehr laut. Es passiert alle paar Sekunden. Jetzt! Merken Sie was?»

Davids Miene wirkte jetzt noch besorgter. «Nein … nun ja, möglicherweise.»

«Ganz im Hintergrund. So eine Art schwaches Knarzen und Rumpeln mit kleinen Pausen dazwischen.»

«Ja! Jetzt spüre ich es auch.»

Wolfe nickte und beugte sich über die Mittelkonsole, um die Instrumente zu überprüfen. Dann blickte er auf.

«Okay. Sie gehen jetzt ganz unauffällig nach hinten und sehen sich durch die Kabinenfenster die Triebwerke an. Und zwar Vorder- und Rückseite. Schauen Sie, ob Ihnen etwas auffällt.»

Mit einem Nicken verließ David das Cockpit und schloß die Tür hinter sich, während Ken sich wieder den Instrumenten widmete und besonders aufmerksam den Öldruck überprüfte. Anschließend holte er die Notfall-Checkliste heraus und schlug sie bei der Rubrik «Vorsorgliches Abschalten der Triebwerke» auf. Danach zog er den Hebel des zweiten Triebwerks.

Hebel ziehen, schließen, murmelte er vor sich hin.

Er griff hinter die Mittelkonsole und legte die Hand um den Starthebel des Triebwerks.

Starthebel aus.

Mit einer raschen Bewegung zog er den Hebel hoch und drückte ihn in die Aus-Position. Das Triebwerk blieb stehen.

Eine halbe Minute später war der Copilot zurück. «Was ist passiert?»

Ängstlich blickte Ken zu ihm auf. «Kurz nachdem Sie weg waren, ist die Temperatur drastisch gestiegen. Die Vibration wurde zwar nicht stärker, aber der Öldruck fiel ebenfalls. Ich mußte das Triebwerk abschalten.»

David nahm Platz und setzte so rasch wie möglich den Kopfhörer auf. Noch nie hatte er in der Luft ein Triebwerk abschalten müssen, und trotz aller Lehrgänge zu diesem Thema spürte er, wie er nervös wurde. «Wollen Sie einen Notruf absetzen?»

Ken Wolfe lächelte. «Zuerst möchte ich, daß Sie weiterfliegen. Es ist Ihr Flug. Ich kümmere mich um den Funk und werde den Tower gleich informieren.»

«Also zurück nach Colorado Springs?»

Ken schüttelte den Kopf. «Wir sind bereits näher an Durango, wir können dort landen.»

David sah Ken ungläubig an. Er wußte nicht, wie er die entschlossene Miene und das Lächeln des Kapitäns deuten sollte.

«Captain, haben wir eine Wartungshalle in Durango?»

«Nein, es gibt zwar eine, aber die gehört nicht zu unserer Firma. Sie wollen mir doch nicht vorschlagen, daß wir, nur um Geld zu sparen, umkehren, anstatt den nächstgelegenen Flughafen anzusteuern?»

«Nein, nein … so habe ich das nicht gemeint.»

«Laut Vorschrift der Luftfahrtbehörde muß man bei Triebwerksausfall auf dem nächstgelegenen Flughafen landen.»

«Das ist mir bekannt.»

«Unsere Firma andererseits …»

David hob abwehrend die Hand. «Ich habe wirklich nur laut gedacht. Durango geht in Ordnung. Würden Sie bitte für mich den Computer programmieren, Durango anfunken und uns eine Landegenehmigung besorgen?»

«Soll ich einen Notruf absetzen?»

«Ja, Sir. Setzen Sie den Notruf ab, informieren Sie die Passagiere und geben Sie unserer Firma Bescheid.»

Ken nickte und drückte auf den Funkknopf.

 

Von der hinteren Bordküche aus hatte Flugbegleiter Kevin Larimer den Copiloten beobachtet, der sich über die sitzenden Passagiere beugte, um den rechten Flügel zu betrachten. Und kurz bevor David ins Cockpit zurückkehrte, spürte Kevin ein leichtes Schlingern.

Er warf seiner Kollegin Bev Wishart einen Blick zu und zog die Augenbrauen hoch, als die 737 noch einmal ins Schwanken geriet, wodurch sich die Bremsen des schweren Getränkewagens lösten, den sie gerade aufgefüllt hatten. Der Wagen rollte langsam auf die hintere Tür der Bordküche zu, wo Bev ihn leise fluchend stoppte. Sie ließ die Fußbremse einrasten und sah Kevin stirnrunzelnd an.

«Turbulenz oder technische Probleme?» fragte sie.

Schmunzelnd wies Kevin zum Bug der Maschine. «Wahrscheinlich erlauben die Herren Piloten sich ein Spielchen.»

Bev lachte auf und warf ihr Haar zurück, was Kevin genüßlich beobachtete. Sie war eine vollbusige Blondine und mit einem Glückspilz von Piloten verheiratet, der für American Airlines flog. Also Finger weg! Doch Kevin schwärmte schon seit Beginn ihrer jahrelangen Freundschaft für sie. Am besten gefielen ihm Bevs staunend aufgerissene Kulleraugen, und nun stellte er erschrocken fest, daß sie genau auf ihn gerichtet waren.

«Gibt es Schwierigkeiten, Kev? Du siehst so besorgt aus.»

«Ich erkundige mich mal.»

Er griff nach dem Hörer der Gegensprechanlage.

Im selben Moment war Ken Wolfes Stimme über die Lautsprecher zu hören.

«Meine Herrschaften, hier spricht der Kapitän. Wahrscheinlich ist Ihnen aufgefallen, daß die Maschine eben leicht geschwankt hat.»

Die Stimme klang tief, gelassen und beruhigend.

«Aufgrund einiger Instrumentenanzeigen, die sich auch als fehlerhaft herausstellen können, haben wir beschlossen, unser rechtes Triebwerk vorübergehend abzuschalten. Denn unser Motto lautet: Vorsicht ist besser als Nachsicht. Obwohl kein Grund zur Beunruhigung besteht, werden wir vorsorglich in Durango, Colorado, landen und das Problem überprüfen lassen. Wir werden Sie über die weiteren Entwicklungen auf dem laufenden halten. Ich bitte Sie, nach der Landung im Flugzeug und auf Ihren Plätzen zu bleiben. Außerdem sollten Sie wissen, daß diese Maschine auch mit nur einem Triebwerk sicher fliegen, landen und sogar starten kann. Aber gewiß möchten Sie nicht, daß wir den Flug fortsetzen, ohne uns die Sache gründlich anzusehen.»

Kaum war die Durchsage zu Ende, da drückten schon mindestens ein Dutzend Passagiere auf den Rufknopf, daß das Klingeln in der Kabine widerhallte.

AirBridge Airlines, Einsatzzentrale, Colorado Springs, International Airport, 9:57

Soeben hatte der für den Flug AirBridge 90 zuständige Telephonist sein Gespräch mit dem Flughafengeschäftsführer in Durango beendet. Nun lehnte er sich zurück und überlegte, warum ihm die Angelegenheit bloß so merkwürdig vorkam. In einem Notfall war es Sache des Kapitäns zu entscheiden, welchen Flughafen er ansteuerte. Aber Durango war dennoch eine seltsame Wahl.

Flug 90 hatte die Hälfte der Strecke zwischen Colorado Springs und Durango bestimmt noch nicht hinter sich gebracht, als das Triebwerk abgeschaltet wurde. Warum kehrte der Kapitän nicht nach Colorado Springs um, wo die Passagiere rasch auf andere Maschinen verteilt werden konnten? Die Notlandung in Durango würde ziemlich ins Geld gehen.

Verne Garcia stand auf, nahm den Kopfhörer ab und betrachtete Judy Smith, die diensthabende Leiterin der Einsatzzentrale. Offenbar tief in Gedanken versunken, saß sie an ihrem Schreibtisch in dem überfüllten Großraumbüro. Leise trat er neben sie, wobei er sich fragte, ob sie wohl schon Zeit gehabt hatte, ihre E-Mail zu lesen. Schließlich mußte sie sechzig weitere Flüge im Auge behalten.

«Judy, haben Sie meine Mitteilung zu Flug 90 gekriegt?»

Sie schüttelte den Kopf und beugte sich sofort über den Bildschirm.

«Durango?» Sie blickte auf. «Warum zum Teufel Durango? Hoffentlich haben Sie ihnen vorgeschlagen umzukehren.»

Verne nickte. «Klar. Aber der Pilot sagte, Durango sei der nächste geeignete Flughafen.»

«Schwachsinn!»

«Ich weiß. Aber ich bin ja nur Flugdienstberater, und Kapitän Wolfe hat bereits mit dem Landeanflug begonnen.»

Judy Smith, die sich schon mit dem Cockpit hatte in Verbindung setzen wollen, hielt verblüfft inne.

«Ken Wolfe?»

«Ja. Warum fragen Sie?»

Sie lehnte sich erstaunt zurück. «Das paßt nicht zu Ken. Ich kenne ihn. Normalerweise trifft er keine übereilten Entscheidungen und … nimmt große Rücksicht auf die Wünsche seines Arbeitgebers.» Sie wies auf den Bildschirm. «Hier steht, er habe das Triebwerk vorsorglich abgeschaltet. Was ist passiert?»

«Der Öldruck ist gesunken, die Temperatur stieg. Offenbar war das Problem schon vorher vorhanden.»

«Wurde bei der Wartung ein Defekt festgestellt?»

«Nicht, soweit ich weiß. Aber da fragen Sie den Falschen.»

Judy verzog das Gesicht und blickte auf die Uhr. «Und natürlich haben wir keine Werkstatt in Durango, so daß niemand sein Okay geben kann, falls doch alles in Ordnung sein sollte. Kurz gesagt: Wir haben Ärger.»

«Jetzt malen Sie mal den Teufel nicht an die Wand.»

«Es ist aber so.»

«Ich habe schon mit der Wartung gesprochen. Sie schicken ein paar Mechaniker nach Durango.»

«Verdammt!» Judy schleuderte ihren Bleistift auf den Schreibtisch. «Haben Sie schon den Passagierservice informiert?»

«Natürlich, Judy. Ich mache diesen Job nicht erst seit gestern.»

«Tut mir leid. Ich bin einfach genervt. Gerade hatte ich noch so gute Laune, und jetzt müssen wir jemanden hinschicken, der über hundert erboste Fluggäste rettet. Es wird uns ein Vermögen kosten, und die Leute werden trotzdem sauer auf uns sein. Und dabei hätte sich alles so einfach lösen lassen, wenn er umgekehrt wäre. Aber sicher hatte Ken seine Gründe.»

«Bestimmt», erwiderte Verne ausweichend. Der seltsame Ausdruck auf Judys Gesicht gefiel ihm gar nicht.

3

An Bord der AirBridge 90, County Airport Durango/La Plata, Colorado, 10:24

David Gates hakte den letzten Punkt der Lande-Klarliste ab und sah den Kapitän an, der gerade das technische Logbuch studierte.

«Rufen Sie jetzt die Zentrale an?» fragte David.

Ken blickte nicht auf. «Noch nicht. Ich habe einen kleinen Auftrag für Sie.»

«Schießen Sie los.»

Ken sah seinem Copiloten in die Augen. «Am südlichen Ende des Rollfelds gibt es eine kleine Werkstätte. Sie gehört einem Triebwerksmechaniker, den ich kenne und dem ich vertraue. Er heißt Gus Wilson. Besorgen Sie sich jemanden, der Sie hinfährt, und sagen Sie Gus, er soll sich unser Triebwerk ansehen, bevor wir endgültig das Handtuch werfen.»

«Könnte er uns ein offizielles Okay geben, obwohl er keiner von unseren Mechanikern ist?»

Der Kapitän nickte. «Das könnte er. Falls unsere Instrumente sich irren.»

«Aber Sie sagten doch, die Instrumente zeigen …»

«David, holen Sie ihn einfach her. Einverstanden? Die Einzelheiten können wir erörtern, wenn er da ist.»

Der Copilot schnallte sich zögernd los. «Am südlichen Ende?»

«Ja. Gus Wilson. Das ist so ein Dicker. Sagen Sie ihm, er soll sich beeilen. Wahrscheinlich liege ich falsch, doch ich möchte es wenigstens versuchen, damit unsere Firma die Passagiere nicht abholen lassen muß.»

Langsam stand David auf und wies auf das Fenster neben dem Kapitän. «Ein Glück, daß wir die einzige Maschine in unserer Flotte erwischt haben, die über eine eigene Treppe verfügt. Normalerweise haben private Terminals keine fahrbaren Treppen, die groß genug für eine Boeing sind.»

«Richtig, es ist ein Glück», erwiderte Ken tonlos.

David öffnete die Tür des Cockpits und schlüpfte an Annette Baxter vorbei, die gerade hereinkommen wollte. Annette blickte dem Copiloten nach, der kurz stehenblieb, seine Mütze aufsetzte und mit verstörter Miene die Maschine verließ.

Komisch, dachte sie. Aber wahrscheinlich forderte die mißliche Lage inzwischen ihren Tribut. Schließlich war es kein Wunder, wenn einem Piloten angesichts eines Flugzeugs voller erboster Passagiere die Laune verging.

«Also, großer Häuptling, wie lautet unser Plan?» wandte sie sich an Kapitän Wolfe. «Ich melde, daß die wilden Horden wie befohlen brav auf ihren Plätzen verharren.»

«Geben Sie Ihnen was zu essen und zu trinken, Annette. Und halten Sie sie bei Laune, während unser Copilot den Mechanikern Beine macht. Möglicherweise handelt es sich ja um falschen Alarm, so daß wir weiterfliegen können.»

Annette musterte ihn zweifelnd. «Wirklich? Obwohl Sie ein Triebwerk abgeschaltet haben?»

«Vielleicht lag es nur an den Instrumenten.»

Annette lächelte. «Falls Sie beschließen weiterzufliegen, hoffe ich, daß Sie unseren Passagieren die Hintergründe erläutern werden.»

«Wie ist denn die Stimmung da draußen?»

«Es geht so.»

Ken blickte aus dem Seitenfenster, und als er weitersprach, hallte seine Stimme von der Glasscheibe wider. Er griff nach dem Mikrophon der Bordsprechanlage. «Ich glaube, ich rede mal mit ihnen.»

Während Ken langsam das Mikrophon an die Lippen hob, verließ Annette das Cockpit. Mit geschlossenen Augen legte der Kapitän sich seine Worte zurecht, bevor er auf den Knopf drückte.

«Meine Herrschaften, hier spricht wieder Ihr Kapitän. Da wir noch eine Weile warten müssen, bis die Techniker sich unseres Problems annehmen, lade ich alle an Bord anwesenden Piloten ein, sich einmal im Cockpit umzusehen. Bitte befriedigen Sie die Neugier Ihres Kapitäns, indem Sie ihm einen kleinen Besuch abstatten. Ich habe gehört, daß heutzutage mindestens ein Passagier in jeder Maschine Inhaber eines Pilotenscheins ist. Wer sich angesprochen fühlt, möchte bitte die Flugbegleiterin rufen, die ihn dann zu mir bringen wird.»

Überrascht blickte Annette zum Lautsprecher hinauf und stellte fest, daß ein Passagier den Knopf gedrückt hatte.

Seltsam, daß Ken mir nichts davon gesagt hat, dachte sie.

Ein wenig verblüfft und verärgert sah sie den Gang entlang. Kevin näherte sich bereits dem Mann auf Platz 18D, der aufgestanden war, um der Einladung zu folgen. Während Kevin den jungen Mann zum Cockpit lotste, fing Annette Rudy Bostichs Blick auf.

«Ja bitte?» fragte sie.

«Ich möchte Ihnen ja nicht lästig fallen, aber ich wollte Ihnen meine Hilfe anbieten. Was hielten Sie von einer Unterlassungsklage gegen das kaputte Triebwerk oder einer gerichtlichen Anordnung zur Räumung der Startbahn?»

Lachend schüttelte Annette den Kopf. «Soweit sind wir noch nicht.»

«Ich muß zugeben, daß ich eigennützige Gründe habe», fuhr Bostich fort. «In zwei Stunden muß ich in Phoenix eine Rede halten, und allmählich befürchte ich, daß ich zu spät kommen werde.»

«Ein offizieller Empfang, Herr Justizminister?»

«Danke für die Blumen, doch es ist noch ein wenig zu früh für diese Anrede. Nein, es handelt sich nur um ein juristisches Seminar. Und wenn ich es nicht rechtzeitig schaffe, ist das auch kein Weltuntergang.»

«Wir warten auf den Mechaniker. Bevor er sich den Schaden angesehen hat, dürfen wir laut Gesetz nicht starten. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie lange es noch dauert.»

Rudy Bostich lächelte. «Schon gut. Ich wollte Ihnen keine Umstände machen.»

«Keine Ursache.»

AirBridge Airlines, Einsatzzentrale, Colorado Springs, International Airport, 10:25

Als Judy Smith lautlos hinter Verne Garcias Stuhl trat und ihm die Hand auf die Schulter legte, zuckte er zusammen.

«Verne, wir werden in etwa zehn Minuten ein Ersatzflugzeug losschicken. Haben Sie schon Kontakt mit Wolfe?»

Garcia schüttelte den Kopf. «Eigentlich hätte er sich gleich nach der Landung in Durango bei mir melden sollen. Ich habe gerade mit dem Geschäftsführer des dortigen Flughafens gesprochen. Er sagt, der Copilot habe vor etwa zehn Minuten die Maschine verlassen, aber auch von ihm habe ich bis jetzt noch nichts gehört.»

Judy richtete sich auf und schürzte nachdenklich die Lippen. «Gut. Wenn er Lust auf einen kleinen Plausch mit uns bekommt, teilen Sie ihm mit, daß Verstärkung naht. Wir schicken auch zwei Mechaniker mit.»

Sie drehte sich um, doch Garcia hielt sie am Arm fest.

«Judy?»

«Ja?»

Nachdem er sich vergewissert hatte, daß niemand sie belauschte – alle Kollegen wurden von Telephonaten in Anspruch genommen –, musterte er sie prüfend.

«Mir ist vorhin Ihr erschrockenes Gesicht aufgefallen, als Sie erfuhren, daß Ken Wolfe der Kapitän ist. Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?»

Judy schwieg eine Weile. «Warum interessiert Sie das?» fragte sie schließlich.

Wieder zuckte Garcia die Achseln. «Als ich ihm heute morgen seine Unterlagen gab, machte er einen etwas seltsamen Eindruck auf mich. Vielleicht sehe ich schon Gespenster, aber auf mich wirkte er irgendwie geistesabwesend. Er hatte so einen leeren Blick, schien durch mich hindurchzuschauen. Aber da ich erst seit letzten August hier arbeite, kenne ich die meisten Leute noch nicht besonders gut.»

Ohne es zu bemerken, trommelte Judy mit den Fingern auf die Trennwand zwischen ihrem und Garcias Schreibtisch. Dabei musterte sie ihn nachdenklich.

«Er wirkte also geistesabwesend?»

«Ziemlich. Hat das was zu bedeuten?»

Zögernd schüttelte sie den Kopf und betrachtete die gegenüberliegende Wand. «Ken Wolfe ist ein merkwürdiger Mann. Sehr sympathisch und ein guter Kapitän, doch er hat das unglückliche Talent, seine Copiloten vor den Kopf zu stoßen. Es ist, als hätte er drei oder vier verschiedene Persönlichkeiten. Manchmal ist er locker und freundlich, dann wieder launisch und wortkarg und zuweilen verängstigt und voller Mißtrauen. Ich … ich weiß nicht genau, was ich von ihm halten soll. Obwohl er recht schwierig sein kann, war er immer ein zuverlässiger Kollege.»

«Ich verstehe.»

«Bestimmt hatte er heute wieder eine seiner Stimmungsschwankungen.»

«Okay. Ich dachte bloß, ich sollte es erwähnen.»

Judy schickte sich wieder zum Gehen an, drehte sich dann aber noch einmal um.

«Verne …»

«Ja?»

«Ich habe einen Vorschlag. Am besten rufen Sie noch einmal den Geschäftsführer in Durango an. Sagen Sie ihm, er soll sofort zum Flugzeug gehen und Kapitän Wolfe persönlich mitteilen, daß er bitte die Maschine verlassen und mich anrufen möchte.»

An Bord der AirBridge 90, County Airport Durango/La Plata, Colorado, 10:28

Annette, die den Servicewagen bis in die Mitte des Ganges geschoben hatte, um die Getränke zu servieren, horchte erstaunt auf, als die Cockpittür laut zugeschlagen wurde. Der Knall hallte durch die ganze Kabine. Zu ihrer Überraschung sprang im nächsten Moment der Bordlautsprecher an, und Wolfes Stimme war zu hören:

«Meine Herrschaften, hier ist Ihr Kapitän. Ich habe gute Nachrichten. Die Mechaniker sind so schnell wie möglich gekommen und haben festgestellt, daß das Problem in einer elektronischen Schalttafel steckt, wodurch wir im Cockpit fehlerhafte Signale empfangen haben. Mein Copilot besorgt gerade bei der Flugbereichskontrolle die Startfreigabe. Sobald die Flugbegleiter alles vorbereitet haben, geht es weiter nach Phoenix. Natürlich möchte ich mich bei Ihnen für den außerplanmäßigen Zwischenstopp entschuldigen. Flugbegleiter, schließen Sie die Türen und machen Sie alles startklar. Die Bugtreppe und die vordere Tür sind bereits gesichert.»

Annette sah sich nach ihren Kollegen um und stellte zu ihrer Zufriedenheit fest, daß Bev und Kevin gerade dabei waren, den Servicewagen in die hintere Bordküche zu ziehen. Sie baute sich vorne in der Kabine auf, lächelte die verunsicherten Passagiere an und rief so laut sie konnte: «Tut mir leid wegen der Drinks, meine Herrschaften.» Auch wenn ihre Stimme nicht kräftig genug war, um bis in den hinteren Teil der Kabine zu dringen, würde die Mehrheit sie schon verstehen. «Wir servieren gleich nach dem Start weiter.»

Die Maschine erzitterte, als das linke Triebwerk ansprang. Annette überprüfte, ob Ken die linke Vordertür verschlossen und den Riegel vorgelegt hatte; alles war vorschriftsmäßig erledigt. Dann ging sie in die erste Klasse. Sie hatte ein seltsames Gefühl, das sie einfach nicht loswurde. Vielleicht lag es an dem unterbrochenen Getränkeservice, denn es gefiel ihr gar nicht, daß die Hälfte der Passagiere nun auf ihren Drink warten mußte. Möglicherweise war es auch nur ein komisches Gefühl, wieder in Durango zu sein, einer Stadt, die sie mit unerfreulichen Erinnerungen an ein verpatztes Wochenende verband. Es war ein peinliches Rendezvous mit einem angeblichen Single gewesen, der sich jedoch als verheiratet entpuppt hatte.

Sie hatte Verständnis dafür, daß der Kapitän den Flug unbedingt fortsetzen wollte. Allerdings überraschte es sie, wie schnell das Problem gelöst worden war. Wann waren die Mechaniker an Bord gekommen, um das technische Logbuch abzuzeichnen? Aber wahrscheinlich war sie zu beschäftigt gewesen, um es zu bemerken.

Sie ließ sich wieder von den immer gleichen Handreichungen und Phrasen beim Bedienen der Passagiere einlullen, die ihr inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen waren: Was möchten Sie trinken, Sir? Milch und Zucker oder schwarz? Möchten Sie Salzstangen oder Erdnüsse? Wir haben drei Sorten Bier, Sir. Drei Dollar die Dose.

Nun sprang auch das zweite Triebwerk an, das Heulen der Turbinenrotoren wurde lauter. Sie hörte, wie die Triebwerke sich stabilisierten. Als sie die Schränke in der Bordküche verschloß, fiel ihr ein, daß sie den Piloten noch gar nichts zu trinken angeboten hatte, und während die Maschine zu rollen begann, versuchte sie, die Cockpittür zu öffnen. Doch sie war verschlossen.

Die 737 schwenkte scharf nach rechts und entfernte sich rumpelnd von der Rampe, so daß Annette sich festhalten mußte. Das Bordtelephon piepste; sie nahm ab: «Was ist?»

«Annette, ich bin es, Kevin. Wo steckt denn der Mann von 18D?»

«Warum?»

«Er sitzt nicht an seinem Platz, und seine Frau macht sich Sorgen.»

«18D?»

«Der Kapitän hat sich erkundigt, ob weitere Piloten an Bord sind, und der Typ hat sich gemeldet. Erinnern Sie sich?»

«Ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Ist er vielleicht auf der Toilette?»

«Hier hinten nicht. Wir haben nachgesehen.»

«Moment.» Annette warf einen Blick auf die Toilettentür, während die 737 leicht nach links schwenkte. Die Toilette war nicht besetzt. Annette griff wieder zum Hörer. «Hier ist er auch nicht. Warten Sie, ich frage im Cockpit nach.» Es dauerte eine Weile, bis Wolfe antwortete. «Cockpit.»

«Ken? Ich bin es, Annette. Kann ich reinkommen?»

Eine kurze Pause entstand. Dann meldete Wolfe sich wieder. Seine Stimme klang seltsam gepreßt. «Äh … lieber nicht, Annette. Es … ist ein bißchen eng hier drin. Ich habe unserem Gastpiloten den Notsitz angeboten.»

Annette lächelte erleichtert. «Gut. Dadurch beantwortet sich meine Frage. Seine Frau fühlt sich nämlich ein bißchen einsam.»

«Richten Sie ihr aus, daß er bald zurückkommt. Er amüsiert sich großartig.»

«In Ordnung. Was möchten Sie trinken, wenn Sie fertig sind?»

Wieder Schweigen.

«Ken?»

«Äh, Annette, wir reden besser später weiter. Ich bin ziemlich beschäftigt.»

«Klar. Entschuldigen Sie die Störung.» Annette legte den Hörer auf. Sie hatte den Eindruck, eine Grenze überschritten und sich aufgedrängt zu haben. Natürlich war das Unsinn, aber sie hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen.

Zwei Signaltöne aus dem Cockpit sagten ihr, daß die Maschine gleich starten würde. Sie nahm auf dem Notsitz hinter dem Cockpit Platz und schnallte sich automatisch an.

Warum behält er einen Passagier im Cockpit, ohne mich zu informieren? Und das so kurz nach einer Notlandung.

Vielleicht war das der Grund für ihr mulmiges Gefühl. Nein, das hatte sie schon gehabt, bevor Kevin sich nach dem Mann auf 18D erkundigt hatte.

 

Einen knappen Kilometer entfernt stürmte ein Mann aus der Wartungshalle und rannte mit entsetzt aufgerissenen Augen auf den ankommenden Pick-up zu.

«Sind Sie von AirBridge?» fragte er den uniformierten Piloten, der gerade ausstieg.

«Ja, Sir. Was …»

«Sie müssen mir helfen. Meine Frau sitzt in diesem Flugzeug, und jetzt startet es ohne mich!»

«Wovon reden Sie da?»

«Von Ihrer Maschine, die hier notgelandet ist. Sie fliegt ab. Der Kapitän hat mich gebeten, etwas für ihn zu erledigen, und während ich weg war, hat er die Triebwerke angelassen und ist zur Startbahn gerollt.»

«Meinen Sie etwa Flug Nummer 90?»

«Genau!»

«Die Maschine fliegt nicht ab, Sir.»

«Doch. Sie steht schon auf der Rollbahn.»

Plötzlich war das Dröhnen zweier auf Hochtouren laufender Triebwerke zu hören. Die Maschine selbst wurde von einem Gebäude verdeckt. Der Pilot riß sich von dem bestürzten Passagier los und eilte zum Vorfeld. Die 737 war verschwunden, was absolut keinen Sinn ergab. Schließlich war sie vor kurzem wegen eines Triebwerksschadens notgelandet. Wahrscheinlich rollte sie nur zu einer Werkstatt irgendwo auf dem Flughafengebäude.

Das mußte es sein! David blickte nach Norden, obwohl er wußte, daß sich an diesem Ende des Flughafens keine Werkstätten befanden. Nur ein Flugzeug war zu sehen, und das setzte sich nun in Bewegung und wurde immer schneller – eindeutig ein Start.

Es war die AirBridge 90!

Der Erste Offizier David Gates stand entgeistert da, während seine Maschine ohne ihn abhob. Das Fahrwerk wurde vorschriftsmäßig eingezogen, und die 737 stieg mühelos in den Himmel empor. Sie flog nach Westen und gewann stetig an Höhe.

Kurz überkam ihn der absurde Gedanke, der Kapitän könnte schlichtweg vergessen haben, daß sich sein Copilot nicht an Bord befand.

4

An Bord der AirBridge 90, 10:44

Das Signal aus der hinteren Bordküche war eine willkommene Ablenkung. Annette griff zum Hörer des Bordtelephons. Im gleichen Moment verkündeten zwei Piepser, daß sie über siebenhundert Meter stiegen.

«Annette? Sind Sie es?» fragte Kevin.

«Ja. Was gibt’s?»

«Bev und ich machen uns Sorgen wegen einer unserer Reisegruppen vorne in der zweiten Klasse.»

Annette rieb sich irritiert die Augen.

«Welche Gruppe, Kevin? Soweit ich weiß, haben wir eine High-School-Kapelle an Bord.»

«Ja. Sie sitzen in den Reihen dreizehn bis zwanzig, aber es geht um eine andere Gruppe, Reihe acht aufwärts, etwa zwanzig Personen. Auf die müssen wir ein Auge haben. Ich habe mich kurz nach der Landung ein wenig mit den Leuten unterhalten. Da wir so überstürzt wieder gestartet sind, kriegen sie wahrscheinlich inzwischen die Panik.»

«Warum denn?»

Am anderen Ende der Leitung war ein leises Kichern zu hören. «Weil es sich um einen Abschlußflug handelt, Annette.»

«Noch eine High-School-Gruppe?»

«Nein, ein Seminar zur Überwindung von Flugangst.»

Kopfschüttelnd schloß Annette die Augen. «Na, dann gute Nacht.»

Sie hängte ein, stand auf und sah sich in der ersten Klasse um. Eine attraktive junge Frau, die in derselben Reihe wie Rudy Bostich auf der anderen Seite des Ganges saß, fing ihren Blick auf und lächelte. Annette ging auf sie zu, wobei sie sich fragte, was das elegante rote Kostüm mit dem atemberaubend kurzen Rock wohl gekostet haben mochte.

«Kann ich etwas für Sie tun, bevor ich mit dem Getränkeservice anfange?» fragte sie.

Die Frau lächelte wieder. «Nein, ich bin wunschlos glücklich. Wenn Sie später Zeit haben, hätte ich gerne einen Kaffee.» Mit einer Kopfbewegung wies sie in die zweite Klasse. «Ich habe den Unsympathen da hinten herumnörgeln hören. Sicher stehen Sie ganz schön unter Streß.»

Annette verdrehte die Augen. «Berufsrisiko.»

«Passiert so was öfter?»

«Meinen Sie …» Auch Annette wies auf die zweite Klasse.

«Nein, das mit der – wie hat es der Kapitän genannt? – vorsorglichen Landung. Das Abschalten des Triebwerks.»

«Oh.» Annette schüttelte mit Nachdruck den Kopf. «Mir ist das noch nie passiert, und ich arbeite jetzt schon seit drei Jahren bei dieser Fluggesellschaft. Davor war ich zwanzig Jahre lang bei TWA.»

Als die Frau geradeaus zur Tür blickte, schickte Annette sich zum Gehen an. Doch da spürte sie ein Zupfen am rechten Ärmel.

«Äh, entschuldigen Sie», meinte die Frau. «Darf ich Ihnen eine dumme Frage stellen?»

«Dumme Fragen gibt es nicht», erwiderte Annette. «Schießen Sie los.»

«Hat das Cockpit noch andere Eingänge?»

«Andere Eingänge?»

«Ja. Im Film sieht man öfter, daß Piloten durch eine Klappe im Boden klettern. Also habe ich mir gedacht …»

«Nein, es gibt nur diese Tür.»

«Danke für die Auskunft.»

Annette ging los, drehte sich dann aber noch einmal um. «Warum fragen Sie?»

Die Frau, der ihre Frage jetzt offenbar peinlich war, schüttelte verlegen kichernd den Kopf. «Vermutlich habe ich bloß nicht richtig aufgepaßt. Nach der Landung habe ich nämlich beobachtet, wie einer der Piloten das Cockpit verließ. Doch ich habe ihn nicht zurückkommen sehen. Deshalb habe ich mich gefragt, ob es noch eine andere Tür gibt.»

Annette lächelte sie an, um ihre Überraschung zu verbergen. Von Platz 1C hatte man zwar einen guten Blick auf die Tür, doch vielleicht hatte die Frau ja aus dem Fenster geschaut und David deshalb nicht bemerkt.

«Nun», sagte sie schließlich, «man muß nur einen Moment unaufmerksam sein. Außerdem sind Piloten hinterlistig; man darf sie keine Sekunde aus den Augen lassen. Aber keine Angst, man braucht zwei von ihnen, um diese Maschine zu fliegen. Da wir uns in der Luft befinden, ist er ganz sicher zurück.»

«Ich habe keine Angst. Ich war nur neugierig.»

Rasch kehrte Annette in die Bordküche zurück und zog den Vorhang zu. Dann lehnte sie sich an die Tür und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Irgend etwas ging hier vor. Und da der gewöhnliche Ablauf gestört war, wußte sie nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie überlegte, ob jetzt der Zeitpunkt für den Getränkeservice war.

Annette spähte durch einen Spalt im Vorhang zur Cockpittür. Sicher hatten sie die endgültige Flughöhe inzwischen erreicht. Die Piloten waren bestimmt durstig.

Also griff sie nach dem Bordtelephon und drückte den Knopf. Zu ihrer Erleichterung meldete sich Ken Wolfe sofort.

«Möchten die Herren etwas zu trinken?»

«Moment», entgegnete Ken. Dann herrschte eine Weile Schweigen. «Nein, Annette. Vielen Dank, wir brauchen nichts.»

«Gut. Machen Sie bitte kurz die Tür auf, Ken. Ich würde gern hereinkommen.»

Wieder Schweigen, Annettes Magen krampfte sich zusammen. Das paßte gar nicht zu Wolfe. Warum öffnete er die Tür nicht?

Endlich antwortete der Kapitän. «Äh … Annette, ich rechne mit Turbulenzen. Warum setzen Sie sich nicht und sorgen dafür, daß die Passagiere ebenfalls sitzen bleiben?»

«Okay, Captain. Aber machen Sie bitte zuerst die Tür auf.»

«Jetzt nicht, Annette.»

«Aber …»

«Später, in Ordnung?» Diesen gereizten Ton kannte sie bei ihm nicht. Als sie etwas erwidern wollte, versagte ihr aus irgendeinem Grund die Stimme. Mit einem unbehaglichen Gefühl legte sie den Hörer auf.

AirBridge Airlines, Einsatzzentrale, Colorado Springs International Airport, 10:45

Judy Smith hörte, wie etwas zersplitterte. Als sie aufblickte, sah sie, daß Verne Garcia aufgesprungen war und hektisch mit den Händen fuchtelte. Während sie zu ihm hinüberging, hielt er die Hand vor die Sprechmuschel und drehte sich zu ihr um, ohne die Scherben der Tasse auf dem Boden zu beachten. Sein Gesicht war kreidebleich.

«Judy, wir haben ein Riesenproblem. Flug 90 ist gestartet und hat den Copiloten vergessen.»

Judy erstarrte. Sie traute ihren Ohren nicht; ganz sicher hatte sie Garcia falsch verstanden.

«Der Copilot hat etwas vergessen?» fragte sie.

«Nein, nein! Der Kapitän ist gestartet, der Copilot steht noch auf dem Flughafen. Soweit ich informiert bin, wurde der Triebwerksschaden auch nicht von der Technik überprüft. Ich habe den Copiloten an der Strippe. Er ist ziemlich aus dem Häuschen.»

«Was für ein Copilot? Einer, der dienstfrei hat und auf dem Heimflug war?»

«Nein, er sollte eigentlich die Maschine fliegen. Er ist in Durango auf Leitung acht. Das Flugzeug befindet sich in der Luft, aber ohne ihn.»

«Wie zum Teufel konnte das passieren? Der Copilot! Das gibt es doch gar nicht!»

«Ich mache keine Scherze, Judy. Bitte nehmen Sie das Gespräch an.»

Sie griff nach dem Telephon und drückte einen Knopf.

«Hier ist die Leiterin der Einsatzzentrale. Wer spricht da?»

«David Gates, Erster Offizier, Ma’am.»

«Wo sind Sie?»

«In Durango. Am Flughafen. Die Maschine ist ohne mich abgeflogen. Soweit ich weiß, ist der Kapitän der einzige Pilot an Bord. Ich kann mir nicht vorstellen, warum er gestartet ist – außer er wurde dazu gezwungen.»

«Gezwungen? Glauben sie an eine Flugzeugentführung?»

«Eine andere Erklärung kann ich mir nicht vorstellen.» Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang verängstigt. Atemlos berichtete der junge Pilot von seinem ergebnislosen Ausflug ans südliche Ende des Rollfelds. Nach seiner Rückkehr habe er zu seinem Entsetzen feststellen müssen, daß sich die Maschine zum Start bereitmachte.

«Moment mal. Sie haben also keinen Mechaniker angetroffen?»

«Schon, schließlich handelt es sich um eine Werkstatt. Aber der Mann namens Gus, den ich holen sollte, ist vor einigen Jahren gestorben. Ich konnte niemanden auftreiben, der mich begleiten und sich das Triebwerk ansehen wollte. Als ich zurückkam, war Ken zur Startbahn gerollt und hatte mich und einen Passagier einfach stehengelassen.»

«Ein Passagier wurde also auch vergessen?»

«Ja, Ma’am. Sie können gleich mit ihm sprechen. Seine Frau sitzt noch im Flugzeug, und er ist ziemlich aufgebracht.»

«Wann ist die Maschine gestartet?»

«Vor höchstens fünf Minuten.»

«Moment.» Judy wandte sich an Verne Garcia. «Rufen Sie die Flugbereichskontrolle in Albuquerque an, stellen Sie fest, ob sie Kontakt zu Flug 90 haben, und erkundigen Sie sich, wohin Wolfe will. Ich möchte mit dem Fluglotsen reden.»

«Wird erledigt.» Verne Garcia machte sich an die Arbeit, während Judy ihr Gespräch mit dem verstörten David Gates fortsetzte.

«Haben Sie beobachtet, daß jemand sich an Bord geschlichen hat?»

«Nein. Aber da das Vorfeld nicht bewacht wurde, hätte jeder x-beliebige an Bord kommen können.»

«Denken Sie bitte gut nach, David: Was bringt Sie auf die Idee, daß jemand die Maschine entführt haben könnte?»

«Einen anderen logischen Grund kann ich mir nicht vorstellen. Kein vernünftiger Mensch würde freiwillig ohne Copilot ein solches Flugzeug fliegen, wenn es nicht um Leben und Tod geht.»

In Judys Kopf überschlugen sich die Gedanken. Der Copilot hatte recht. Wenn der Kapitän allein gestartet war, hatte sicher eine Flugzeugentführung stattgefunden.

«Was soll ich jetzt tun?» erkundigte sich Gates.

«Geben Sie mir Ihre Telephonnummer und bleiben Sie neben dem Apparat sitzen. Und … äh … bewahren Sie bis auf weiteres Stillschweigen.»

«Wird gemacht. Möchten Sie jetzt mit dem Passagier sprechen?»

«Sagen Sie ihm, ich rufe ihn später zurück.»

«Gut, aber er ist wirklich sehr besorgt. Seine Frau sitzt in der Maschine.»

Nachdem Judy aufgelegt hatte, warf sie einen Blick auf Verne Garcia, der angestrengt in die Sprechmuschel murmelte. Einige Flugberater, die schon dienstfrei hatten, versammelten sich und lauschten neugierig. Judy griff sich die Nächstbesten heraus.

«Jim, verbinden Sie mich mit dem FBI. Jerry, holen Sie das Notfallhandbuch aus meinem Schreibtisch und lesen Sie nach, was im Fall einer Entführung zu tun ist. Rashid, haben Sie gerade mal Zeit?»

«Ja. Was soll ich tun?»

«Rufen Sie den Chefpiloten und die Firmenleitung an und erklären Sie ihnen, was passiert ist.»

«Was ist denn passiert, Judy? Ich habe nichts mitbekommen.»

«Ach, entschuldigen Sie. Okay, alle mal herhören. Bis jetzt sieht die Situation folgendermaßen aus.»

Albuquerque, Flugbereichskontrolle, 10:50

Fluglotsin Avis Bair trank einen Schluck Kaffee und überprüfte noch einmal die Flughöhe von AirBridge 90. Wie angewiesen, hielt der Pilot Kurs zwei-eins-null und flog in siebentausend Metern Höhe über das nordwestliche New Mexico und den Südosten von Arizona. Er hatte sich mit der üblichen sachlichen tiefen Männerstimme gemeldet. Allerdings fand Avis es seltsam, daß er nach der Notlandung in Durango so rasch wieder gestartet war. Aber wenigstens war das Problem mit Flug 90 nun erledigt, so daß sie sich nun endlich mit dem Disput zwischen zwei Kapitänen von American und United Airlines befassen konnte. Beide Maschinen flogen nämlich in gleicher Höhe mit Kurs auf Los Angeles, und jeder wollte als erster am Ziel sein. Allerdings war der Pilot der vorderen Maschine eine wahre Schnecke und hielt den Betrieb auf.

Eben wollte sie auf den Funkknopf drücken, als sie plötzlich ein Alarmsignal hörte. Auf ihrem Bildschirm blinkte neben dem Symbol für AirBridge 90 ein kleiner Balken auf, und ein Transpondercode erschien, den sie in ihrer Berufspraxis noch nie gesehen hatte.

7500!

Bestimmt ein Fehler, dachte sie. Doch sie würde nicht um das vorgeschriebene Procedere herumkommen. Ihr wurde heiß und kalt, als sie im Raum umherblickte und sich fragte, ob einer ihrer Kollegen das Piepsen bemerkt hatte.

Aber nein, niemand drehte sich zu ihr um.

Avis beugte sich vor und betrachtete noch einmal den Balken auf ihrem Bildschirm, um sich zu vergewissern.

Die Botschaft blieb unverändert: Sieben-fünf-null-null.

«AirBridge 90, hier spricht die Flugbereichskontrolle Albuquerque. Ihr Transponder zeigt 7500 an. Ist das richtig, Sir?»

Ihr Herz klopfte, während sie auf die Antwort wartete.

«Korrekt. Ich habe 7500 durchgegeben, denn ich habe einen ungebetenen Gast im Cockpit.»

Entsetzt lehnte Avis sich zurück. Ein wirklicher Notfall. Keine Übung. 7500 bedeutete Flugzeugentführung, und es handelte sich um einen Linienflug.

«Roger, AirBridge 90. Ich registriere das Signal als gültig. Bitte halten Sie Flughöhe zwei-eins-null und bleiben Sie dran.»

An Bord der AirBridge 90, 10:55

Obwohl ihre Hände zitterten, gelang es Annette, ihre Angst zu verbergen, während sie die Passagiere in der ersten Klasse rasch mit Getränken versorgte. Gerade war sie in die Bordküche zurückgekehrt, als sie hörte, wie die Triebwerke heruntergefahren wurden. Dann erklang Ken Wolfes gepreßte Stimme über den Bordlautsprecher.

«Meine Herrschaften, hier spricht der Kapitän. Heute haben wir einen kleinen Leckerbissen für Sie. Ich weiß, daß wir mit Verspätung in Phoenix ankommen werden. Doch da der Tower uns noch keine Landegenehmigung erteilt hat, müssen wir eine Weile über dem Monument Valley in Utah kreisen, und wir haben Erlaubnis, ein wenig niedriger zu fliegen, um die Aussicht zu bewundern. Wir werden so bald wie möglich in Phoenix landen. Bis dahin genießen Sie den Anblick, der sich Ihnen gleich bieten wird.»

Als Annette zum Bordtelephon griff und das Cockpit anwählte, antwortete Ken sofort.

«Ken, ich muß mit Ihnen sprechen.»

«Schießen Sie los, Annette.»

«Persönlich.»

«Warum?»

«Als Chefstewardeß muß ich darauf bestehen. Was ist los, Ken?»

«Annette, im Augenblick ist es ein bißchen ungünstig. Wo drückt denn der Schuh?»

Den Hörer ans Ohr gepreßt, lehnte sie sich an die Tür und fragte sich, ob sie vielleicht unter paranoiden Wahnvorstellungen litt. Auch wenn sich ihr Verdacht als unbegründet erweisen sollte, hatte Ken sicher etwas zu verbergen, wenn er ihr den Zutritt zum Cockpit verweigerte. Sie wußte, daß Ken Wolfe sehr launisch und eigenbrötlerisch sein konnte, aber seine Flugbegleiter hatte er noch nie ausgesperrt. Als sie sich überlegte, welche Ursachen sein Verhalten haben konnte, wurde ihr noch mulmiger.

Was ist, wenn er den anderen Piloten ans Steuer gelassen hat, obwohl es verboten ist, und es mir verheimlichen will? Das wäre gefährlich. Ich muß etwas unternehmen.

«Captain, kann ich bitte mit David sprechen?»

Als wieder eine Pause entstand, bekam Annette es mit der Angst zu tun. Falls David auf dem Notsitz saß, anstatt die Maschine zu steuern, würde er vielleicht lügen, um den Kapitän und sich zu decken.

«Er ist beschäftigt, Annette. Er meldet sich später bei Ihnen.»

«Sofort, bitte. Ich will sofort mit ihm sprechen. Oder haben Sie Plätze getauscht? Verdammt, Ken, sagen Sie mir, was los ist.»

Eine erneute Pause, dann das Klicken des Sprechknopfes. Ken Wolfes Stimme klang auf einmal verändert – entschlossener.

«Gut, Annette. Sie haben recht. Hören Sie mir genau zu, denn ich stehe unter ziemlichem Druck. David ist nicht hier.»

«Was?»

«Wir haben einen Gast im Cockpit, der darauf besteht, die Flugroute zu bestimmen.»

Annette schloß die Augen. Das durfte doch nicht wahr sein!

Aber anscheinend hatte sie richtig verstanden, und sie mußte die Frage stellen, obwohl sie ihr fast in der Kehle steckenblieb. «Ken?»

«Ja.»

«Handelt es sich um eine … Flugzeugentführung?»

«Ja, Annette. Es ist in Durango passiert. Der Mann kam plötzlich hereingestürmt, hat die Tür zugeknallt und mir eine Pistole an den Kopf gehalten. Ist es nicht so, Sie Mistkerl?» fügte er, wohl an den Mann auf dem rechten Sitz gewandt, hinzu, denn Annette hörte, wie seine Stimme kurz leiser wurde.

«Mein Gott, Ken. Wie viele sind es?»

«Einer, und er fuchtelt mit einer Pistole herum, während ich mit Ihnen rede. Er sagt, die Passagiere dürfen nichts davon erfahren, und verspricht, daß niemandem etwas geschieht. Er verlangt nur, an einen bestimmten Ort geflogen zu werden.»

«Wohin? Nach Kuba?»

«Keine Ahnung. Jedenfalls will er nicht ins Monument Valley. Er möchte es sich nur aus der Nähe ansehen. Dann wird er mir sein Ziel mitteilen. Ich halte Sie auf dem laufenden. Bis dahin kein Wort zu irgend jemandem.»

«Was ist mit Bev und Kevin? Sie müssen doch Bescheid wissen.»

«Nein. Ich werde alle an Bord geführten Gespräche mithören und unser Gast auch. Sie dürfen es niemandem verraten. So lautet seine Anweisung.»

«Ist es der Mann von 18D, Ken? Der Typ, den Sie ins Cockpit gebeten haben?»

Keine Antwort.

«Sind Sie noch dran, Ken?»

Ein Klicken sagte ihr, daß die Verbindung unterbrochen war. Annette starrte den Hörer an wie eine Zeitbombe. Während sie langsam auflegte, versuchte sie, sich den Mann von 18D als Flugzeugentführer vorzustellen.

Doch es wollte ihr nicht gelingen. Er hatte so ein jungenhaftes Gesicht, und seine Frau wirkte ganz reizend.

Annette schwindelte, als sie sich in die Bordküche zurückzog und den Vorhang schloß. Sie spürte, daß die 737 an Flughöhe verlor. Ihre Gedanken überschlugen sich.

Durch das kleine Fenster erkannte sie, daß sich der Wüstenboden näherte. Hilflosigkeit und Verwirrung ergriffen sie, und immer wieder ging ihr dieselbe Frage im Kopf herum.

Was um alles in der Welt soll ich jetzt tun?

5

Albuquerque, Flugbereichskontrolle, 10:58

«AirBridge 90, bitte teilen Sie uns Ihre weiteren Absichten mit.»

Avis Bair nahm den Finger vom Funkknopf und sah ihren Vorgesetzten an, der auf den großen, runden Computerbildschirm starrte. Dann zeigte der beleibte Mann auf den Punkt mit der Bezeichnung AB90 und schüttelte den Kopf.

«Zweitausendachthundert Meter, und er geht immer noch runter. Haben Sie ihm etwa die Genehmigung erteilt?»

«Er hat mich gar nicht gefragt, sondern ist einfach in den Sinkflug gegangen. Ich habe ihn auf eine abhörsichere Leitung geschaltet und drei andere Flüge in den nächsten Sektor umgelenkt.»

«Wirklich seltsam. Was zum Teufel hat er vor?»

«Keine Ahnung. Er spricht nicht mit mir.»

«Die Gegend ist zum Großteil ziemlich eben. Die Wüste liegt etwa tausendfünfhundert Meter über dem Meeresspiegel. Aber einige der Gipfel in Monument Valley sind mehr als dreihundert Meter hoch.»

«Wie sieht es mit dem Wetter aus?»

«Optimale Bedingungen. Unbegrenzte Sicht. Er müßte es eigentlich bemerken, wenn vor ihm Hindernisse auftauchen. Außerdem scheint er absichtlich runterzugehen.»

«Funken Sie ihn nochmal an, Avis.»

«AirBridge 90, Flugbereichskontrolle Albuquerque, Funkkontrolle.»

Zuerst herrschte Schweigen. Dann hörte man, wie der Funk eingeschaltet wurde. Die Stimme des Piloten war von statischem Knistern unterlegt.

«Okay, Albuquerque, hier spricht AirBridge 90. Vermutlich fragen Sie sich, was wir vorhaben.»

Avis zog die Augenbrauen hoch und sah ihren Vorgesetzten an.

«Richtig, AirBridge 90. Wir wissen, daß Sie Höhe verlieren. Teilen Sie uns bitte Ihre Absichten mit.»

«Mein Gast hier oben möchte die Sehenswürdigkeiten bewundern und dann nach Salt Lake City weiterfliegen. Unterwegs wird er mich über seine weiteren Wünsche informieren. Ich gebe Ihnen dann sofort Bescheid.»

«Hört Ihr … Gast … mit?»

Eine lange Pause entstand. «Richtig, Albuquerque. Er ist bewaffnet, hört jedes Wort und schreibt mir vor, was ich zu sagen habe.»

«Können wir nichts für Sie tun?»

«Wenn Sie mich so fragen: Er verlangt, mit dem Justizminister der Vereinigten Staaten verbunden zu werden. Außerdem mit dem stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt von Stamford, Connecticut, dem Chef der Staatspolizei von Colorado, einem dortigen Richter und einem Bundesrichter.»

Drei weitere Fluglotsen waren hinter Avis und ihren Vorgesetzten getreten. Sie wechselten ungläubige Blicke, während Avis die Forderungen notierte.

«Verstanden. Wir tun unser Bestes. Sie haben Genehmigung für jede Flughöhe oberhalb von zweitausendachthundert Metern, solange niemand dabei gefährdet wird. Die genaue Route können Sie selbst entscheiden. Bitte erstatten Sie Meldung, wenn Sie nach Salt Lake City weiterfliegen.»

«Roger, Albuquerque. Ich werde es versuchen.»

«Ist das FBI schon in der Leitung?» wollte Avis von ihrem Vorgesetzten wissen.

Dieser nickte. «Sie stellen eine Telephonverbindung über Washington her.»

AirBridge Airlines, Einsatzzentrale, Colorado Springs International Airport, 10:58

Im karg ausgestatteten Gebäude, in dem die Einsatzzentrale von AirBridge Airlines untergebracht war, drängten sich immer mehr Menschen. Der Chefpilot und der Vizedirektor saßen in einer Ecke und erstatteten dem Generaldirektor Bericht, während ein Dutzend Mitarbeiter emsig telephonierte. Vier Flugdienstberater kümmerten sich ums Tagesgeschäft und versuchten gleichzeitig, so viel wie möglich über das Schicksal von Flug 90 in Erfahrung zu bringen. Die anderen AirBridge-Piloten hatte man nicht informiert.

«Judy, David Gates möchte noch einmal mit Ihnen sprechen.»

Judy, die mit den Herren von der Firmenleitung zusammengesessen hatte, stand zögernd auf, ging zu ihrem kleinen Schreibtisch hinüber und griff nach dem Hörer.

«Hallo?»

«Ms. Smith?»

«Hier geht es ziemlich rund, David. Ich muß Sie bitten, sich zu gedulden. Ich erwarte einen Anruf vom FBI.»

«Schon gut. Mir ist nur noch etwas eingefallen, das Sie wissen sollten.»

«Was denn?»

«Erinnern Sie sich noch an den Passagier, dessen Frau noch in der Maschine ist? Der Mann hat mir gesagt, daß Ken ihn gebeten hat auszusteigen. Er hat alle Piloten im Flugzeug aufgefordert, sich zu melden.»

«Was soll das heißen?»

«Augenblick, das soll er Ihnen selbst erzählen.»

Der Hörer wurde weitergereicht.

«Hier spricht Johnny Beck.»

Judy stellte sich vor. «Mr. Beck, ich bedaure, daß man Sie zurückgelassen hat. Können Sie mir schildern, wie das passiert ist?»

Während Beck berichtete, fing Judy an, ihren Notizblock mit Kreisen und Dreiecken zu bekritzeln.

Doch plötzlich hielt sie inne.

«Moment mal. Worum hat der Kapitän Sie gebeten?»

«Ich habe mich im Cockpit mit ihm unterhalten. Er sagte, er hätte vergessen, seinen neuen Flugplan abzuholen, und bat mich, das rasch für ihn zu erledigen.»

«Und deshalb sind Sie ausgestiegen?»

«Ja, Ma’am. Aber im Büro wußte niemand davon. Und als ich wieder rauskam, waren die Türen geschlossen, und die Triebwerke sprangen an.»

«Befand sich noch jemand im Cockpit, Mr. Beck? Oder stand vielleicht jemand in der Tür?»

«Nein. Außer mir und dem Kapitän war da niemand.»

«Und auf dem Vorfeld und der Treppe?»

«Nein, Ma’am. Als ich ausstieg, hielt sich niemand in der Nähe der Maschine auf.»

Judy schloß die Augen und versuchte, sich die Szene vorzustellen. Mr. Beck war hineingegangen, hatte ein paar Worte gewechselt und war wieder zurückgekehrt. Er hatte einen Flugplan holen wollen, obwohl Ken Wolfe ganz sicher gewußt hatte, daß ein solcher nicht existierte. Die Zentrale hätte nie einen neuen Flugplan für eine Maschine durchgegeben, die erst noch wartungstechnisch überprüft werden mußte.

«Wie lange waren Sie im Gebäude, Mr. Beck?»