Gegen die Uhr - John J. Nance - E-Book

Gegen die Uhr E-Book

John J. Nance

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Beschreibung

Der Schrecken von »Hot Zone«, die unerträgliche Spannung von »Speed« und der hintergründige Nervenkitzel von »Airport« … Weihnachtsstimmung auf Frankfurt Rhein-Main. Doch für die 250 Passagiere von Flug 66 nach New York fliegt das Grauen mit, als ihre Maschine abhebt. In zehntausend Metern Höhe stirbt ein Mann – er trägt ein tödliches Virus. Ein erbarmungsloser Wettlauf gegen die Zeit beginnt … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 647

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John J. Nance

Gegen die Uhr

Roman

Aus dem Englischen von Christel Rost und Till R. Lohmeyer

FISCHER Digital

Inhalt

Für Captain James J. Nance – [...]Prolog12345678910111213141516171819202122232425262728Epilog

Für Captain James J. Nance – meinen Vetter Jim, den Pilotenkollegen und mehrfach preisgekrönten Bildhauer von Weltrang, für Reverend Gerald A. Priest – meinen Schwager Jerry … und für meine beiden Brüder

Prolog

Professor Ernest Helms verließ den verschneiten Waldweg und kehrte zum Ausgangspunkt seines Spaziergangs zurück. Er kam gerade rechtzeitig. Fünfzig Meter vor ihm brach jemand seinen Wagen auf.

Daran hatte er zuallerletzt gedacht, als er vor einer Stunde hier anhielt, um für seine Familie noch ein paar Videoaufnahmen von der bayerischen Schneelandschaft zu machen. Sein Wagen war der einzige auf dem Parkplatz.

Die Absichten des Mannes waren unverkennbar. Er war untersetzt, trug eine Art Overall, wie ihn Firmen an ihre Angestellten ausgaben, und feilte mit irgendeinem Werkzeug am Türschloß herum. Daß Helms ihn beobachtete, merkte er nicht.

Helms zögerte und wog die Risiken ab. Seine körperliche Verfassung war nicht die beste, und der Automarder war vermutlich zwanzig Jahre jünger als er. Doch die Unverfrorenheit des Kerls brachte ihn in Rage.

Er hatte sich noch nicht aus seiner Schreckensstarre gelöst, als von hinten das Geräusch eines Hubschraubers an seine Ohren drang und rasch lauter wurde. Sein Blick fixierte den Dieb. Dann ließ er, ohne weiter nachzudenken, die Kameratasche fallen und stürzte aus seiner Deckung hinter den Bäumen hervor. Bemüht, auf dem schneeglatten Boden nicht auszurutschen, rannte er auf den Mann zu und schrie: «He, Sie, was machen Sie da? Lassen Sie die Finger von meinem Wagen!»

Der Automarder fuhr herum und starrte ihn an. Helms blieb stehen, auf alles gefaßt. Aber der Mann wirkte unbeholfen und verwirrt. Nervös blickte er in den Himmel, dann wieder auf Helms, während seine rechte Hand ziellos an der Autotür herumfingerte.

Der Hubschrauber war inzwischen näher gekommen. Jetzt hörte ihn auch der Dieb. Mit einer Hand schirmte er seine Augen ab, blickte suchend in den Himmel, ging ein paar Schritte rückwärts, stolperte, fing sich, ging noch ein paar Schritte zurück. In diesem Augenblick schwebte der Helikopter ein. Er kam hinter Helms über den Wald, verlangsamte die Geschwindigkeit und verharrte über dem Parkplatz in der Luft. Es stand außer Zweifel, daß die Insassen den Dieb entdeckt hatten. Dieser machte unverzüglich kehrt und verschwand, so schnell er konnte, auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Wald.

Der Pilot zögerte einen Moment, als wollten er oder seine Flugbegleiter noch den Wagen inspizieren, der inzwischen fast gänzlich von einer durch die Rotorblätter aufgewirbelten Schneewolke eingehüllt war. Helms sah, wie jemand auf dem Rücksitz angestrengt nach unten blickte. Dann beschleunigte der Helikopter wieder und verschwand in der gleichen Richtung, in die der Mann geflohen war, über dem Wald. Allmählich wurden die Geräusche von Rotorblättern und Triebwerk leiser.

Ernest Helms war beim Eintreffen des Hubschraubers instinktiv ein paar Schritte zurückgetreten und hatte unter den Bäumen am Waldrand Deckung gesucht. Dabei war er über seine Kameratasche gestolpert und hatte einen kleinen Gepäckanhänger mit seiner Adresse abgerissen. Als er jetzt wieder auf den Parkplatz ging, nahm er die Tasche an sich, doch der Gepäckanhänger fiel, ohne daß Helms es merkte, auf den Waldboden.

Der Türgriff war von dem Metallwerkzeug, dessen sich der Mann bedient hatte, übel zerkratzt. Wer immer es sein mochte – ein professioneller Autodieb war er nicht. Eigentlich …

Helms drehte sich um und blickte in die Richtung, aus der noch immer die Helikoptergeräusche zu hören waren. Das kleine Wappen auf der Seite des Hubschraubers fiel ihm ein – und der Overall des Mannes, der ihn an Firmen- oder Behördenkleidung erinnert hatte.

Auf einmal war ihm alles klar.

Ein entsprungener Häftling, jede Wette! Der Kerl wollte meinen Wagen stehlen …

Sein Herz klopfte vor Aufregung. Helms fühlte sich auf einmal schwach und schwindlig und spürte Schmerzen in der Brust. Er klaubte den Autoschlüssel hervor, riß die Tür auf und ließ sich auf den Fahrersitz fallen, um wieder zu Atem zu kommen.

Der Hubschrauber hielt sich noch immer irgendwo in der Nähe auf, kaum weiter als vielleicht einen Kilometer entfernt. Er schien zu kreisen. Ob der Pilot den Mann zurücktreiben will, dachte Helms, zurück auf den Parkplatz? Er schwang die Beine unters Lenkrad und schlug die Tür zu. Kaum hatte er den Zündschlüssel berührt, schlug etwas gegen die linke Wagenseite.

Helms riß den Kopf herum und starrte in die Augen des wild dreinblickenden Mannes, der die Lichtung noch vor wenigen Minuten in heilloser Flucht verlassen hatte.

In Panik drehte Helms den Zündschlüssel um. Der Motor reagierte nicht.

Die Augen vor Angst weit aufgerissen, trommelte der Mann gegen die Fensterscheibe. Irgendwo im Hintergrund hörte Helms das Stakkato des Hubschraubers, das jedoch von den heftigen Fausthieben gegen das Fenster übertönt wurde.

Helms schüttelte den Kopf, versuchte das Zittern der Hände unter Kontrolle zu bekommen, um erneut den Zündschlüssel umzudrehen, aber irgend etwas stimmte nicht. Es war der klassische Alptraum: Man möchte vor einer Erscheinung davonlaufen, kann sich aber nicht rühren.

Das Gesicht des Angreifers verschwand und tauchte eine Sekunde später wieder auf. Helms hörte ein Klirren und wußte im selben Moment, daß der Mann mit einem Stein die Scheibe eingeschlagen hatte. Glassplitter streiften Helms’ Hals. Noch einmal drehte er den Zündschlüssel bis zum Anschlag um – und realisierte erst dann, daß der Motor bereits lief.

Ein kalter Lufthauch traf seine linke Wange. Helms zwang seine Hand an die Schaltung, trat die Kupplung durch, rammte den ersten Gang ein. Ein Schauer von bröckelndem Sicherheitsglas explodierte vor seinem Gesicht, und eine Hand griff durch die entstandene Öffnung und packte Helms am Kragen.

Unwillkürlich riß Helms den Arm hoch und befreite sich mit einem heftigen Ruck. Der Wagen setzte sich in Bewegung.

Helms gab Gas, erreichte die Parkplatzausfahrt. Ein letzter Blick in den Rückspiegel zeigte ihm, daß der Angreifer in die Knie gesunken war. Sein Arm war blutverschmiert.

Helms raste über die schmale Landstraße in Richtung Autobahn. Nach ein paar Kilometern – sein Herzschlag hatte sich wieder beruhigt – hielt er am Straßenrand an und zog Bilanz. Seine Videokamera lag unversehrt auf dem Rücksitz. Sie enthielt das Band für seinen Sohn und seine Schwiegertochter daheim in Maryland. Er hatte einen sechsmonatigen Forschungsaufenthalt an der Universität Heidelberg hinter sich. Von Anfang an war es sein Wunsch gewesen, in Bayern ein paar Videofilme zu drehen, aber dann hatte er die Rundreise bis zur letzten Minute aufschieben müssen. Inzwischen bereute er es, aber es ließ sich nicht mehr ändern. In zwei Tagen würde er ohnehin wieder zu Hause in den Staaten sein.

Er drückte die Kupplung durch und wandte sich nach links, um zu sehen, ob die Straße frei war. Sein Blick fiel auf die unteren Zacken des Lochs in der Türscheibe.

Blut.

Das Glas war voller Blut. Es stammte zweifellos von dem Angreifer.

Aber da war auch ein anhaltendes Brennen an seiner linken Hand. Ernest Helms sah hin und entdeckte einen tiefen Schnitt.

 

 

 

Der in diesem Buch verwendete, in Fliegerkreisen übliche Ausdruck «Z»-(oder «Zulu»-)Zeit bezeichnet die Koordinierte Weltzeit (Universal Coordinated Time), früher bekannt als Greenwich Mean Time.

Die Ortszeit von Washington, D.C., liegt außerhalb der Sommerzeit fünf Stunden hinter Zulu (mit anderen Worten: 16 Uhr in Washington entspricht 2100Z und 3 Uhr in Washington 0800Z). In London sind die beiden Zeiten außerhalb der Sommerzeit identisch; in Deutschland ist es eine Stunde später (Zulu + 1 Stunde).

1

Mainz, Deutschland · Freitag, 22. Dezember · 13.50 Uhr (1250 Z)

Flugkapitän James Holland hielt den Telefonhörer nervös ans andere Ohr und sah auf die Uhr neben seinem Bett. Die Zeit wurde langsam knapp. Seine Verärgerung über die langsame Überseeverbindung wuchs – fast so sehr wie seine Sorgen wegen des Fax, das er erhalten hatte.

In zehn Minuten würden sich zehn Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter in Ferienstimmung in der Lobby versammeln, um gemeinsam den kurzen Fußmarsch über die Straße zur Bahnstation anzutreten. Die Fahrt zum Frankfurter Flughafen war nur kurz. Die Crew hätte den Weg auch allein gefunden, doch das Protokoll verlangte, daß der Flugkapitän pünktlich zur Stelle sein und die Parade anführen müsse.

Es klickte mehrfach in der Leitung, aber niemand meldete sich. Wo steckte der Arzt bloß? Die Nachricht war eilig gewesen.

Holland entfaltete das Fax und las es noch einmal aufmerksam durch. Enthielt es vielleicht doch irgendwelche Hinweise?

To: Cpt. J. Holland, c/o MAINZ HILTON. Dr. David Wilingham nahm heute morgen mit uns Kontakt auf und bat um Ihren Rückruf betr. jüngste medizin. Untersuchung. #214-361-1076/Pers.ltg./DFW.

Endlich quäkte eine weit entfernte, unpersönliche Stimme durch die atmosphärischen Störungen: «Dr. Wilingham ist zur Zeit leider nicht erreichbar. Wollen Sie ihm eine Nachricht hinterlassen?»

Verdammt! Ein Ansagedienst! «Richten Sie ihm aus, daß Captain James Holland angerufen hat. Sagen Sie ihm, daß ich in Deutschland bin und in einer Stunde noch einmal anrufen werde. Ich bin … Ich muß mit ihm sprechen, es ist dringend.» Er wollte schon den Hörer auflegen, nahm ihn dann aber wieder ans Ohr. «Äh … können Sie ihn denn nicht über den Piepser erreichen?»

Doch die Verbindung war bereits unterbrochen.

Holland legte den Hörer auf. Seine Beklemmung wuchs. Vor drei Tagen hatte er sich einer Ultraschalluntersuchung der Prostata unterzogen, eine reine Routinesache, wie er geglaubt hatte. Er hatte keinerlei Symptome, nichts, was auf eine Krebserkrankung oder irgend etwas anderes hindeutete. Doch wenn der Arzt sich auf diese Weise meldete …

Er sah wieder auf die Uhr. 13.54 Uhr. Er hatte noch sechs Minuten Zeit.

Holland faltete das Fax wieder zusammen und steckte es in die Tasche. Dann zog er seine Krawatte zurecht, schloß die Reisetasche, zog seine Uniformjacke mit den vier goldenen Schulterstreifen, die ihn als Flugkapitän auswiesen, über sein weißes Uniformhemd und stellte seine beiden Taschen auf das aufklappbare Gepäckwägelchen. Neben der Tür befand sich ein mannshoher Spiegel. Holland zögerte einen Augenblick und warf noch einen kritischen Blick auf sein Äußeres. Er war sich der dunklen Ringe um seine Augen nur allzu bewußt, die von seinen sechsundvierzig Jahren kündeten.

Die erste, der aufgefallen war, daß sein Gesicht allmählich schlaff und faltig wurde, war seine Frau Sandra gewesen – seine ehemalige Frau, wie er sich korrigierte. Wäre es nach ihr gegangen, hätte er sich einer Gesichtsliftung unterziehen müssen. «Ich will nicht mit einem Mann verheiratet sein, der Lyndon Johnson täglich ähnlicher wird», hatte sie, nur halb im Scherz, gesagt.

Doch dann hatte sie ihn verlassen – und zwar aus Gründen, die mit seinem Äußeren nichts zu tun hatten.

James Holland öffnete die schwere Tür zum Flur. Er fühlte sich alt, müde und besiegt. Ein qualvolles, einsames Weihnachtsfest stand ihm bevor. Die Stewardessen hatten den ganzen Vormittag mit Weihnachtseinkäufen verbracht. Schon auf dem Herflug von New York waren sie ziemlich aufgeregt gewesen. Humbug, dämlicher, dachte er und hätte sie am liebsten zusammengestaucht, aber er hatte sich vorgenommen, ihnen nicht die Stimmung zu verderben.

Der sechsstündige Flug über den Atlantik versprach kein Vergnügen zu werden. Nicht allein, daß ihn die Nachricht des Arztes beunruhigte, auf dem Kopilotenstuhl würde ausgerechnet Dick Robb sitzen.

Holland spähte in den Gang. Zu seiner Erleichterung war Robb nirgends zu sehen. Arrogant wie er war, wartete er wahrscheinlich längst unten in der Lobby, flirtete mit den jüngeren Stewardessen und sah unentwegt auf die Uhr wie ein Fahrdienstleiter bei der Eisenbahn. Robb war ein junger Checkpilot von der Ausbildungsabteilung und hatte den Auftrag, Flugkapitän James Holland auf einem ersten Qualifikationsflug mit der Boeing 747–400 zu begleiten. Die vergangenen beiden Tage hatte er damit verbracht, alles, was Holland auch tat, vehement zu kritisieren, und diesen damit schier zur Verzweiflung gebracht.

Aber James Holland würde, wie üblich, den Mund halten.

Er erinnerte sich, wie er einmal versucht hatte, Sandra zu erklären, was ein Checkpilot war. «Das sind Piloten von der Ausbildungsabteilung. Einige von ihnen sind vorzeitig zu Flugkapitänen befördert worden, manchmal Jahre, bevor sie von den Dienstjahren her eigentlich dran wären. Sie fliegen als Prüfer mit und beurteilen die Kompetenz von uns anderen, die wir regelmäßig im Liniendienst fliegen.»

«Du magst sie nicht, oder?» hatte Sandra gefragt.

«Die meisten sind echte Gentlemen, aber einige von ihnen werden mit der Zeit arrogant. Sie werden rechthaberisch, und ihre Macht steigt ihnen zu Kopf. Der Richter in ihnen verdrängt den Ausbilder. Am schlimmsten sind arrogante junge Checkpiloten.»

Robb entsprach dieser Beschreibung aufs Haar.

Holland betrat den Fahrstuhl, sah auf die Uhr und stellte mit grimmiger Zufriedenheit fest, daß er zwei Minuten zu früh kommen würde.

 

Als der Captain den Aufzug verließ, kam Dick Robb auf ihn zu, sah demonstrativ auf die Uhr und fragte, ob die Maschine pünktlich starten würde.

«Soweit ich weiß, ja, Dick», erwiderte Holland und merkte sofort, daß er in eine Falle gelaufen war.

«Falsch, der Abflug wurde verschoben!» sagte Robb mit kaum verhohlener Schadenfreude. «Ich habe vor einer halben Stunde die Einsatzzentrale angerufen und mich informiert. Ich dachte, Sie hätten sich längst erkundigt, und war ganz schön überrascht, als man mir sagte, Sie hätten nicht von sich hören lassen.»

Ein hängengebliebenes Ventil in der Treibstoffversorgung müsse ersetzt werden, fuhr Robb fort. Flug 66 würde daher dreißig Minuten später mit einer mittleren Last von 245 Passagieren an Bord starten.

Vor den Fenstern rieselte der Schnee auf eine wunderschöne Winterlandschaft. Robbs Blick blieb jedoch nach innen gerichtet. Wichtigtuerisch erinnerte er Holland auf der Bahnfahrt zum Flughafen daran, daß es zu den Pflichten des Flugkapitäns gehöre, auf Interkontinentalflughäfen mit der Einsatzzentrale in Kontakt zu bleiben. Holland blieb höflich und nickte immer an den richtigen Stellen. Aber es fiel ihm schwer, die Ruhe zu bewahren. Er preßte die Lippen zusammen, bis alles Blut aus ihnen entwich, und Robb blieb das nicht verborgen. Kurz vor dem Flughafen gab Robb es auf. Er seufzte verhalten. Insgeheim hielt er Holland für ausgebrannt und faul.

Und Holland hielt Robb für einen selbstgerechten Idioten.

Vor der Quantum-Geschäftsstelle trennten sie sich. Holland überließ Robb die Überprüfung der Systeme – eine Tätigkeit, die normalerweise vom Kopiloten erledigt wurde – und begab sich zum Abfluggate. Das geschäftige Treiben im Terminal nahm er nicht wahr. Er zerbrach sich den Kopf über den Anruf des Arztes. Die Sorge nagte an ihm und verdrängte alle anderen Gedanken. Schon immer hatte er jene Piloten beneidet, die offenbar imstande waren, während des Fluges ihre privaten Probleme in einem geistigen Schließfach abzulegen. Ihm selber gelang das nie. Als Sandra auf und davon gegangen war, entstand in seinem Innern eine schmerzhafte Leere, die seither seine ständige Begleiterin war.

Vor den Fenstern von Gate 34 ragte die gewaltige 747–400 auf. Die Tragflächen waren mit Schnee überstäubt, doch daneben standen bereits die Enteisungsfahrzeuge. Holland dachte gerade an die Air-Florida-Maschine, die 1982 in Washington an den Folgen einer Tragflächenvereisung abgestürzt war, als ihm eine freie Telefonzelle auffiel. Er schlüpfte hinein und fingerte die Nummer von AT & T Direct heraus. Ich muß checken, ob Robb die nach der Enteisung vorgeschriebene Inspektion korrekt durchgeführt hat, erinnerte er sich.

 

In der Nähe von Gate 34 stand Rachael Sherwood, bürstete ihr schulterlanges kastanienbraunes Haar zurück – und merkte auf einmal, daß sie den Fremden genauso unverhohlen anstarrte wie er sie. So etwas gehört sich nicht für die Assistentin eines Botschafters, ermahnte sie sich. Verlegen rückte sie ihren Rock zurecht und blickte wieder den Gang hinunter. Es ärgerte sie ein wenig, daß US-Sonderbotschafter Lee Lancaster sich so verspätete. Sie hatte schon zehn Minuten in diesen engen Pumps vor dem Gate gestanden und die nicht enden wollende Flut der Weihnachtsreisenden inspiziert, als ihr plötzlich der hochgewachsene amerikanische Pilot aufgefallen war. Einen Arm über die Oberkante der Trennwand gelegt, lehnte er an einer offenen Telefonzelle; seine Finger trommelten nervös auf das Rauchglas. Der Mann hatte offenbar Sorgen. Daß er Flugkapitän war, erkannte sie an den vier Schulterstreifen seiner Uniform, doch was sie faszinierte, waren seine tiefblauen Augen. Daß er im Moment weder sie noch irgend etwas anderes bemerkte, stand außer Frage. Rachael schlüpfte unauffällig in eine andere Telefonkabine, um ihn besser beobachten zu können. Eine seltsame Erregung, gemischt mit einer gewissen Beschämung, überkam sie. So etwas hatte sie noch nie getan.

Er war mindestens 1,90 m groß, mit dicken Augenbrauen über schweren Lidern; die dunkelbraunen Haare über dem glattrasierten Gesicht mit der markanten Kieferpartie waren grau meliert. Rachael ließ ihren Blick auf seinen breiten Schultern verweilen und dann über seinen Oberkörper gleiten. Offensichtlich ein Mann, der sich fit hält, dachte sie. Und offensichtlich einer, der Sorgen hat. Doch in diesem Augenblick glättete sich die tiefgerunzelte Stirn, und der Pilot seufzte fast hörbar auf. Rachael verspürte das unerklärliche, aber um so nachdrücklichere Verlangen, zu ihm zu gehen und ihn zu trösten. Daß James Holland bei Frauen immer solche Reaktionen auslöste, konnte sie nicht ahnen.

Was immer ihn bedrückt hatte – der Anruf hatte seine Sorgen beseitigt, das war unverkennbar. Sie sah, wie er seine Schultern reckte, den Hörer einhängte und sich aufrichtete. Als er die Kapitänsmütze mit dem goldverbrämten Schirm aufsetzte, lag ein leises Lächeln auf seinen Lippen.

Rachael wandte den Blick ab, als er an ihr vorüberging. Hoffentlich hat er nicht gemerkt, wie ich ihn angestarrt habe, dachte sie und riskierte einen weiteren Blick. Ein Hauch von Eau de Cologne begleitete ihn; es war ein angenehmer, an frisches Holz erinnernder Duft, den sie bisher nicht kannte, der aber ihre Phantasie von neuem beflügelte. Welche Maschine wird er übernehmen? fragte sie sich – und hoffte dabei, daß es ihre sei.

Wo, um alles in der Welt, bleibt nur Lee? Sie nahm das Funktelefon aus ihrer übergroßen Handtasche, steckte es aber gleich wieder ein. Im Eilschritt kam Lancaster durch den langen Gang auf sie zu.

Eine Viertelstunde später befand sich Captain James Holland allein im Cockpit von Flug 66 und begann mit der vor jedem Flug durchzuführenden Überprüfung der Systeme und Geräte. Seine Gedanken waren noch bei dem Telefonat, das er soeben geführt hatte.

Endlich war es ihm gelungen, den New Yorker Arzt zu erreichen.

«Auf Ihrem Ultraschall war ein Schatten», hatte der Doktor gesagt. «Ich dachte, wir machen besser noch ein Bild, und wollte Sie bitten, noch mal vorbeizukommen. Ich wollte Sie nicht erschrecken.»

«Ich … ich war etwas verunsichert, Doktor. Ich bin gerade unterwegs, in Deutschland. Die Einsatzleitung erwischte mich und sagte mir, daß Sie angerufen haben. Offen gesagt, ich war zu Tode erschrocken.»

«Tut mir echt leid, Captain.»

«Sie sagten was von einem Schatten. Ein Tumor?»

Er war aufs Schlimmste gefaßt: Prostatakrebs. Eine von der Angst diktierte Selbstdiagnose. Wahrscheinlich mußte er operiert werden. Und danach? Er hatte entsetzliche Geschichten über die Folgen von Prostataoperationen gehört. Er konnte sich ein Leben ohne Sex, ohne die Fähigkeit, eine Frau zu befriedigen, nicht vorstellen. Daß er seit der Trennung von Sandra so gut wie im Zölibat lebte, war nebensächlich.

Solche Phasen gingen vorüber.

Das andere bedeutete: lebenslänglich.

«Captain, es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, daß meine Nachricht auf einem Fehler beruhte», sagte der Arzt. «Ich habe mir das Ultraschallbild noch einmal angesehen. Ich hatte es schlichtweg fehlinterpretiert.»

«Dann fehlt mir also nichts?» fragte Holland.

«Überhaupt nichts. Sie sind kerngesund.»

«Dann brauche ich also nicht noch mal zu kommen?»

«Frühestens in einem Jahr wieder. Machen Sie sich jetzt bloß keine Sorgen mehr. Und fröhliche Weihnachten!»

Holland hatte erleichtert aufgeseufzt und sich bedankt. Jetzt richtete er die Ruderpedale auf seine Beinlänge ein und überprüfte die Schalterstellungen auf der Mittelkonsole. Nun mußte er nur noch mit Robb zurechtkommen; davon abgesehen, fühlte er sich wie ein begnadigter Gefangener – wiederauferstanden von den Toten.

Als er das Radargerät auf Testbetrieb stellte, traf er eine Entscheidung, die er lange vor sich her geschoben hatte. Er wollte wieder ausgehen, wieder flirten. Er hatte das Alleinsein satt, genauer gesagt: Er wollte nicht mehr alleine schlafen.

Eine Etage tiefer löste sich vor Tür Nr. 2 auf der linken Seite ein kleiner Mann mit schütterem Haar und einer ramponierten Aktentasche aus der Schlange der einsteigenden Passagiere und lehnte sich schwer atmend gegen die Wand der ausziehbaren Passagierbrücke. Wie aus dem Nichts tauchte eine große, rothaarige Stewardeß neben ihm auf, ergriff seinen Arm und fragte ihn mit eindringlicher Stimme, ob ihm etwas fehle.

Ehe er antwortete, blickte Professor Ernest Helms eine Sekunde lang zu Brenda Hopkins auf.

«Es … es geht schon wieder, danke. Ein kleiner Schwächeanfall, sonst nichts …»

«Ihre Sitznummer, Sir? Ich helfe Ihnen.»

«… möchte Sie aber nicht anstecken … bin erkältet …»

Er spürte ihren festen Griff an seinem Arm. Seine Füße gehorchten. Er merkte, wie sie ihm die Aktentasche abnahm.

Brenda führte den Mann durch die Tür und geleitete ihn vorsichtig nach rechts auf seinen Sitz. Unterwegs zwinkerte sie der Chefstewardeß zu. Der Fluggast schwitzte heftig, obwohl es im Passagierraum kühl und draußen kalt war. Brenda spürte den rasenden Puls an seinem Arm. Wahrscheinlich eine Grippe, dachte sie. Wenn ich ihn angeschnallt habe, wasch ich mir besser die Hände …

 

Im gleichen Augenblick steckte Dick Robb gut zwölf Meter unter ihnen auf dem verschneiten Beton die Hände in die Manteltaschen und betrachtete gedankenverloren die prächtige Boeing 747. Auf dem schimmernden Aluminium brach sich das gefilterte Licht der Sonne, die gerade versuchte, die schneereiche Wolkendecke über Frankfurt zu durchbrechen. Quantum hatte vier «Wale», wie die Maschinen bei den Piloten hießen, für insgesamt mehr als 700 Millionen Dollar eingekauft. Der Innenraum war für 365 Passagiere ausgelegt und in drei Klassen unterteilt. Wie eine Luftspiegelung steht er da, dieser große Vogel, dachte Robb – eine unglaublich riesige Maschine, die imstande war, bis zu vierhundert Tonnen an Menschen, Material und Treibstoff in die Luft zu befördern. Und damit sie das tat, bedurfte es im entscheidenden Moment lediglich einer einzigen, zugartigen Bewegung aus dem Handgelenk heraus.

Und er war verantwortlich! Obwohl er erst zweiunddreißig Jahre alt war und nicht auf eine militärische Fliegerlaufbahn zurückblicken konnte, hatte er als verantwortlicher Captain den Flugplan unterzeichnet.

Ein Gepäckzug dröhnte vorbei, eine Bugwelle von Schneematsch vor sich herschiebend. Robb trat rasch ein paar Schritte zurück.

Er dachte an Holland, der jetzt vierzehn Meter über ihm im Cockpit saß. Robb hatte sich widerwillig eingestanden, daß der Mann ein kompetenter Pilot war – doch er gehörte bereits einer anderen Generation an und paßte nicht mehr in diese Welt.

Er lächelte vor sich hin. Daß er in Pilotenkreisen gefürchtet war, gefiel ihm. Sein Job in der Ausbildungsabteilung ersparte ihm den Einsatz auf Linienmaschinen, wo er bei seiner geringen Flugerfahrung stets damit rechnen mußte, daß ihm ein ernster Fehler unterlief. Mit Vorliebe suchte er nach Gelegenheiten, den Linienpiloten auf die Finger zu klopfen, vor allem den älteren mit vielen tausend Flugstunden auf dem Buckel. Flugsaurier wie Holland waren ganz in Ordnung, nur ging es nicht an, daß sie sich immer nur auf ihre Erfahrung verließen. Ab und zu brauchten sie einen Dämpfer, und den verpaßte Robb ihnen nur allzu gerne. Er hatte immerhin auch einen Ruf als «scharfer Hund» zu verteidigen.

Rein formal gesehen, mußte er Holland natürlich die Kommandos und Entscheidungen überlassen. Es war unter dem Strich ein Überprüfungsflug – ein Passagierflug mit dem Ziel, die Qualifikation eines Linienpiloten für einen bestimmten Flugzeugtyp zu überprüfen. Doch bis er die letzte Zeile in James Hollands Prüfbogen abgezeichnet und den Flug mit der Erklärung beendet hatte, daß Holland allein zur Führung dieser Maschine imstande war, blieb er, Richard Robb, von Rechts wegen der verantwortliche Flugzeugführer und Captain der Maschine.

Robb sah auf seine Armbanduhr und erkannte, daß er sich in Tagträumereien verloren hatte. Bevor der Schlepper die Maschine vom Terminal wegzog, mußte er noch die Funkgeräte, die Instrumente und das Abflugverfahren überprüfen, was ungefähr zwanzig Minuten in Anspruch nehmen würde. Dann folgten fünf Stunden, in denen er Holland schwitzen und schmoren lassen konnte, bevor er ihm sein Placet gab. Die Machtfülle stimulierte ihn, genauso wie die Beherrschung eines Riesenvogels wie der 747.

Das rasch näher kommende Röhren von vier kraftvollen Triebwerken erregte seine Aufmerksamkeit. Am Fuß der Treppe blieb er stehen, verzaubert vom Anblick einer anderen 747, die gerade die Rollbahn entlangdonnerte und ihren riesigen Leib in die Lüfte erhob.

Besser als Sex! dachte er.

 

Die komplizierte Choreographie der Abflugvorbereitungen eines großen Linienflugzeugs trat kurz vor 16.30 in ihre entscheidende Phase. Die letzten schwerbepackten Passagiere wurden an Bord und an ihre Plätze geleitet; das Bodenpersonal am Gate trug Nikolaushüte und begrüßte die Fluggäste mit breitem Lächeln. Auch die Stewardessen waren in Ferienstimmung. Die meisten von ihnen waren schon so lange im Beruf, daß sie Anspruch auf freie Weihnachtsfeiertage hatten. Sie freuten sich an diesem winterlich kalten Nachmittag auf das Wiedersehen mit ihren Ehemännern, Freunden, Familienangehörigen, auf ein warmes Kaminfeuer und das bevorstehende Fest. Dazwischen lag nur noch der Flug über den Atlantik.

Die Türen wurden geschlossen, die Enteisung war beendet und von Robb überprüft worden. Kurze Zeit später donnerte Flug 66 über die Startbahn Süd und erhob sich majestätisch in den dunklen Himmel über dem Rhein-Main-Gebiet.

2

An Bord von Flug 66 · Freitag, 22. Dezember · 17.10 Uhr (1610 Z)

Als Quantum-Flug 66 die englische Küste überflog, ertönte im Cockpit die Klingel der Flugbegleitung – und zwar nicht nur einmal, sondern fünfmal hintereinander in schneller Folge.

Für ein solches Signal gab es keine Vorschriften.

James Holland nahm die Sprechmuschel des Intercoms, des internen Sprechfunkverkehrs, zur Hand und warf einen Blick auf Dick Robb, den das Signal offenbar ebenso aufgeschreckt hatte wie ihn.

«Flugdeck», sagte Holland.

Eine angespannte Frauenstimme drang an sein Ohr.

«Captain, hier spricht Linda an Tür 2B. Ich glaube, wir haben hier hinten einen Herzanfall!»

«Okay, wie ernst ist es?»

«Ein älterer Mann. Brenda gibt ihm Erste Hilfe. Ihm wurde gleich nach dem Start übel, und dann kippte er plötzlich in seinem Sitz vornüber. Wir haben ihm dann Sauerstoff gegeben, aber er hat kaum noch geatmet.»

«Haben Sie feststellen können, ob ein Arzt an Bord ist?» fragte Holland.

«Ja, haben wir. Ein Schweizer Arzt meldete sich. Er meint, der Mann muß ins Krankenhaus, sonst stirbt er.»

«Okay, Linda, halten Sie uns auf dem laufenden.»

Dick Robb hatte genickt. Hollands Entscheidung vorwegnehmend, nahm er bereits mit der Flugbereichskontrolle London Center Verbindung auf.

«London Center – Quantum Sixty-six. Wir haben einen medizinischen Notfall an Bord und brauchen sofort Kursvektoren für eine Dringlichkeitslandung in …» Robb sah sich nach Holland um und hob die Brauen. Er wußte, daß er vorschnell gehandelt hatte, und rechnete mit Hollands Protest. Welche Wahl blieb ihnen?

«London Heathrow!» fuhr Holland ihn an. «Ersuchen Sie um Priorität. Außerdem muß ein Krankenwagen bereitstehen.»

Robb wiederholte seine Forderung und bestätigte die Änderung des Flugplans. Holland stellte unterdessen den Kompaßkurs nach London Heathrow ein und ging aus einer Höhe von 33000 Fuß per Autopilot in den Sinkflug über. Gleichzeitig gab Holland «LON» in den Flugrechner ein und aktivierte den Ausführungsknopf. Die große Boeing reagierte sofort auf den neuen Kurs, indem sie in eine Linkskurve überging. Dick Robb hatte die Arme verschränkt und lehnte sich mit gewollt empörter Miene zurück.

«Sie wollen das also solo durchziehen?» fragte er.

Holland blickte ihn an; er begriff die Frage nicht. «Was?»

«In den Vorschriften heißt es, daß der nicht fliegende Pilot den Computer programmiert. Auf diesem Trip sitzen Sie am Steuer. Der nicht fliegende Pilot bin ich.»

Holland studierte Robbs Gesicht. Er meinte es ernst, doch dies war nicht der richtige Zeitpunkt für einen Streit, selbst wenn er einen gewollt hätte.

«Tut mir leid, Dick», sagte er. «Sie waren ja gerade mit dem Funk beschäftigt, und wir haben einen Notfall an Bord.» Er bemühte sich, seine Mißstimmung, so gut es ging, zu verbergen, und wies auf den Flugrechner. «Bitte geben Sie mir London direkt und lassen Sie uns den Instrumentenanflug vorbereiten.»

«Das klingt schon besser», erwiderte Robb.

 

Eine Etage weiter unten, in der neutralen Zone zwischen Touristenklasse und erster Klasse, drängte sich eine Gruppe von Stewardessen und besorgten Passagieren um einen kleinen Mann, der ausgestreckt auf dem Boden lag. Brenda Hopkins, die rothaarige Flugbegleiterin mit der Figur eines Top-Models, kniete vor Ernest Helms’ Kopf. Sie blies ihm Luft in den Mund und unterbrach die Beatmung nur, um in regelmäßigen Abständen eine Herz-Druckmassage durchzuführen und die Blutzufuhr zum Gehirn zu gewährleisten. Ihr Haar war in Unordnung, ihre Uniform verschmutzt. Sie hatte die Schuhe ausgezogen, die Strümpfe hatten Laufmaschen. Doch Brenda achtete nicht darauf. Sie kämpfte um das Leben ihres Passagiers.

Seit zehn Minuten war sie jetzt im Einsatz, doch obwohl sie regelmäßig joggte und täglich trainierte, spürte sie, daß ihre Kräfte nachließen.

Der Schweizer Arzt stand daneben und überwachte den Rhythmus der Wiederbelebungsversuche. Solange Brenda weitermachte, traf er keine Anstalten, sie abzulösen. Er hatte keinerlei Medikamente oder Geräte dabei, um dem Erkrankten zu helfen, und überlegte fieberhaft, ob es nicht irgendwelche Alternativen gäbe.

Eine andere Stewardeß hatte die medizinische Notfallausrüstung der Maschine geholt, die jedoch unglaublich primitiv ausgestattet war und keinen Defibrillator enthielt, das einzige Gerät, das man jetzt dringend benötigt hätte.

Im gleichen Augenblick, in dem sie alle merkten, wie das Flugzeug drehte und in den Sinkflug überging, spürten sie eine schwache Reaktion bei Helms. Es war eine Art Aufseufzen. Der Patient krümmte seinen Rücken ein wenig, als wolle er wieder selber atmen. Der Arzt horchte an seiner Brust und nahm einen schwachen, instabilen Herzschlag wahr, der jedoch gleich wieder erlahmte.

«Wir hatten ihn fast», sagte er zu Brenda.

Sie atmete tief durch, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und machte sich wieder an die Arbeit. Sie hielt den kahlen Kopf des Patienten, und ihr Mund bedeckte den seinen. Brenda versuchte den Gedanken zu verdrängen, daß der Mann möglicherweise an einer ansteckenden Krankheit litt. Sie fürchtete sich entsetzlich vor Aids, Grippeinfektionen und anderen Krankheiten, die durch direkten Körperkontakt übertragen wurden.

Andererseits wollte ich ja immer Ärztin werden, dachte sie, und dies hier ist sozusagen mein erster Fall … Ihr Passagier befand sich in einer verzweifelten Lage. Sie durfte jetzt nicht über die Folgen ihres Tuns nachdenken.

Flugbereichskontrolle London

Zweihundert Meilen südwestlich, in der Londoner Flugbereichskontrolle, war Flug Quantum 66 auf den Bildschirmen soeben auf Kurs Heathrow eingeschwenkt, als der für diesen Sektor zuständige Fluglotse seinen Vorgesetzten von dem Notfall unterrichtete. Sein Anruf löste eine Folge genau vorbereiteter Verfahren aus, deren Ziel es war, die Flughafendienststellen über den bevorstehenden medizinischen Notfall zu informieren: Sanitäter mußten alarmiert und der Zoll, die Einwanderungs- und Gesundheitsbehörden sowie die betroffene Fluggesellschaft benachrichtigt werden.

Der Routineanruf beim britischen Gesundheitsamt ging in einem weitläufigen Gebäudekomplex auf dem Flughafengelände von Heathrow ein. Dort überprüfte der stellvertretende Hilfsinspektor des britischen Gesundheitsdienstes die Ankunftszeit der Maschine und ihre augenblickliche Position und ließ sich von der Quantum-Dienststelle den Namen des erkrankten Passagiers durchgeben. Dann legte er den Telefonhörer wieder auf, schrieb den Namen auf ein gelbes Formular und überdachte das Verfahren. Eine amerikanische Linienmaschine, die in Deutschland gestartet war, hatte wegen eines erkrankten Passagiers zu einer ungeplanten Zwischenlandung auf britischem Boden angesetzt. Vermutlich nichts weiter als ein Herzinfarkt, doch Vorsicht war allemal geboten. Es war die Aufgabe des Beamten, zu verhindern, daß ansteckende Krankheiten nach England eingeschleppt wurden. Nach Inbetriebnahme des Kanaltunnels und angesichts des regen Fährverkehrs zwischen England und dem europäischen Festland kam es ihm zwar manchmal so vor, als bewache er das letzte Tor in einem weitgehend demontierten Zaun.

Er warf einen Blick auf den Computerbildschirm und erwog eine Rückfrage bei den deutschen Kollegen. Könnte nicht schaden. Per E-mail? Nein, lieber telefonisch, das war diskreter.

Er griff wieder zum Hörer, tippte die Nummer des Bundesgesundheitsministeriums in Bonn ein und war froh, als er hörte, daß der Mann am anderen Ende der Leitung englisch sprach. Nur eine Routineanfrage, ließ er den Deutschen wissen. Wahrscheinlich ein Infarkt, möglicherweise war der Patient bei der Landung schon tot. Nichts deute auf eine Infektion oder eine Viruserkrankung hin. Vorsichtshalber wolle er aber wissen, ob zufällig eine Krankengeschichte des Betroffenen oder Hinweise auf eine Infektion vorlägen.

«Stammt der Patient aus Deutschland oder ist er deutscher Staatsangehöriger?» fragte der Mann in Bonn.

«Äh … ich glaube, er ging in Frankfurt an Bord. Er ist Amerikaner und heißt nach meinen Unterlagen Helms, Ernest Helms. Sein Alter ist mir nicht bekannt.»

Auf einmal herrschte Schweigen in der Leitung. Der Beamte in London glaubte schon, die Verbindung sei unterbrochen, als sich der Deutsche plötzlich wieder meldete. Seine Stimme klang jetzt angespannt.

«Sind Sie ganz sicher, daß der Name Helms lautet, Ernest Helms?»

«Ja, ich habe das gerade bei der Fluggesellschaft überprüft. Warum?»

Der Deutsche überhörte die Frage. «Bitte geben Sie mir Ihre Telefonnummer. Ich rufe Sie zurück.»

«Gibt es ein Problem?»

«Ich muß noch etwas überprüfen. Bitte geben Sie mir Ihre Nummer.»

Der britische Beamte gab seine Telefonnummer durch und legte den Hörer wieder auf. Er stand vor einem Rätsel.

Bonn

Keine zehn Minuten später legte im Bonner Regierungsviertel jemand den Telefonhörer auf die Gabel und sank betroffen in seinen Schreibtischstuhl zurück. Horst Zeitner, Beamter des gehobenen Dienstes, starrte mit leerem Blick an die Wand, an der ein paar gerahmte Zeugnisse und Diplome hingen. Er fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. All seine Bemühungen, die bayerischen Ereignisse unter Kontrolle zu halten, drohten zu scheitern.

Nein, korrigierte er sich selbst, sie sind bereits gescheitert! Die schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten sich. Auf seinem Schreibtisch stand eine frisch aufgebrühte Tasse Kaffee, und auf der Couch saß eine junge, brünette Assistentin und wartete auf seine Anweisungen, doch Zeitner ignorierte beide. Auf seine Initiative hin war in ganz Deutschland vor einigen Stunden eine ebenso riskante wie diskrete Suchaktion nach einer «besonders gefährlichen Person» eingeleitet worden. Indem er die Polizeibehörden der Länder ersucht hatte, alle Autobahnen und Fernstraßen, die zu den internationalen Flughäfen führten, zu überwachen, hatte er seine Kompetenzen weit überschritten und damit seine berufliche Laufbahn aufs Spiel gesetzt. Nachdem ermittelt worden war, daß der Mann für den Spätnachmittag einen Flug von Stuttgart nach New York gebucht hatte, konzentrierte sich die Suche auf die baden-württembergische Landeshauptstadt. Zeitner hatte die Polizeibehörden wissen lassen, daß es sich um einen äußerst dringenden, die nationale Sicherheit berührenden Fall handele. Seit in und um Stuttgart alle denkbaren Fluchtwege abgesperrt worden waren, saß er wie auf Kohlen an seinem Schreibtisch und wartete auf die erlösende Nachricht, daß dieser Professor namens Ernest Helms abgefangen worden war, ehe er das Land verlassen konnte.

Und nun war er ihnen doch entkommen! Ernest Helms hatte umdisponiert und war bereits mit einer früheren Maschine von Frankfurt aus geflogen. Sein Mietwagen war soeben dort aufgefunden worden, und die andere Fluggesellschaft hatte das Ticket anstandslos akzeptiert.

Zeitner war wütend auf sich selbst. Die Möglichkeit einer Umbuchung hatte er nicht ernsthaft einkalkuliert. Die Sicherheitsmaßnahmen auf den anderen Flughäfen waren daher nicht annähernd so streng gewesen wie in Stuttgart. Jetzt blieb ihm kaum noch etwas anderes übrig, als seinen Minister zu informieren, was eigentlich schon vor vielen Stunden fällig gewesen wäre. Es bestand nicht mehr die geringste Chance, die Angelegenheit geheimzuhalten. Vor allem durfte England nicht in die Sache hineingezogen werden. Wenn eine aggressive Grippe-Epidemie nach England eingeschleppt würde und dort ein paar hundert Todesfälle verursachte, nur weil die deutschen Behörden ihre britischen Kollegen nicht gewarnt hatten, stand ein diplomatischer Feuersturm bevor, der seine, Zeitners, Karriere aufs höchste in Gefahr brachte. Es handelte sich um ein deutsches Problem, und Deutschland würde es innerhalb der eigenen Grenzen durch strikte Quarantänemaßnahmen lösen müssen.

Mit anderen Worten: Helms durfte weder tot noch lebendig in Großbritannien landen.

Zeitner seufzte und griff hastig zum Telefon. Die Angst lag ihm im Magen wie ein Kloß. Die Zeit verrann, die Ereignisse entglitten seiner Kontrolle.

Zeitner wählte mit zitternder Hand. Der Minister mußte die Briten umgehend warnen.

 

In der ersten Klasse des Quantum-Flugs 66 waren in diesem Augenblick die erschöpfte Flugbegleiterin und der Schweizer Arzt zu dem Schluß gekommen, daß die Hoffnungen für Helms wieder stiegen. Das Herz schlug wieder – zwar nur schwach und unregelmäßig, aber es schlug! Vielleicht schaffte er es doch noch.

Allerdings nur dann, wenn man ihn innerhalb kürzester Zeit in eine vollausgerüstete Herzinfarkt-Intensivstation bringe, warnte der Doktor.

Der Arzt hatte Brenda Hopkins mehrere Male bei den Wiederbelebungsversuchen abgelöst, doch die Hauptlast hatte auf Brenda geruht. Jetzt saß sie völlig aufgelöst auf dem Boden, Helms’ Kopf in ihrem Schoß, die Hand auf seiner nackten Brust. Eine Sekunde lang schloß sie die Augen, als wollte sie sein Herz mit reiner Willenskraft zum Weiterschlagen zwingen.

Der ganze Vorfall kam ihr unwirklich vor und hatte sie zutiefst erschreckt. Die Dramatik des medizinischen Ernstfalls überstieg alle ihre Vorstellungen. Vielleicht tauge ich doch nicht zur Ärztin, dachte sie bei sich und war heilfroh, daß sich ein echter Arzt gefunden hatte, an dessen Weisungen sie sich halten konnte.

Sie öffnete die Augen und betrachtete das Gesicht des Patienten. Helms hatte das Bewußtsein verloren.

«Bitte, lieber Gott, laß ihn nicht sterben!» murmelte sie.

Chefstewardeß Barb Rollins griff zum Mikrofon des Intercoms und informierte das Cockpit über den letzten Stand der Dinge. Zu ihrer Überraschung meldeten sich beide Piloten. Die Anspannung in ihren Stimmen war unüberhörbar. James Holland dankte ihr und unterbrach die Verbindung, um sich wieder Robb zuzuwenden. Die beiden lagen erneut im Clinch. Die Maschine befand sich inzwischen nur mehr fünfzig Kilometer nördlich von London, und Dick Robb wollte zunächst den Kanal ansteuern, um dort Treibstoff abzulassen.

«Dazu fehlt uns die Zeit», sagte Holland. «Wir haben einen todkranken Mann an Bord.»

Robb schüttelte ärgerlich den Kopf. «Sie wollen mit diesem hohen Gewicht eine Hundertsechzig-Millionen-Dollar-Maschine landen, nur weil Sie glauben, einem einzigen Passagier damit das Leben retten zu können? Wir müssen erst unser Landegewicht reduzieren. Die Vorschriften besagen, daß man in einem solchen Fall Treibstoff ablassen muß.»

Holland sah ihn skeptisch an und versuchte in Robbs gerötetem Gesicht zu ergründen, wie weit dessen Entschlossenheit ging. Landungen mit zu hohem Gewicht waren untersagt, Notfälle ausgenommen. Aber dies war ein Notfall, und wenn der Touchdown sanft genug war, bestand für die Struktur des Flugzeugs keinerlei Gefahr.

Doch Robb hatte das Sagen.

«Sie haben das letzte Wort, Dick, aber ich bin für eine sofortige Landung. Ich lande mit einer Sinkrate, die deutlich unter dreihundert Fuß pro Minute liegen wird, so daß von einer Überbeanspruchung der Maschine keine Rede sein kann.»

Robb widersprach mit schriller, angespannter Stimme: «Wir müssen danach die entsprechende Sonderinspektion durchziehen, und die dauert Stunden!»

Holland lehnte sich zurück und schüttelte den Kopf. «Gut, okay! Was schlagen Sie vor?» Die Vorstellung, mit einem sterbenden Passagier an Bord dreißig Minuten lang über dem Meer zu kreisen, um Kerosin im Wert von mehreren zehntausend Dollar abzulassen, kam ihm idiotisch vor.

Robb reagierte wie ein geprügelter Hund. Holland wollte ihm die Verantwortung zuschieben. Er drehte sich um und kehrte die Handflächen nach oben.

«Nicht mit mir, Captain, nicht mit mir! Ich bewerte Ihre Entscheidungen, nicht umgekehrt! Sie wollen also keinen Treibstoff ablassen, sondern lieber das Flugzeug verbiegen. Bitte sehr! Dann tun Sie’s doch!»

«Sie sind derjenige, der für dieses Flugzeug unterschrieben hat», erwiderte Holland mit kalkuliert lakonischer Stimme.

«Aber Sie sind der diensthabende Captain», konterte Robb unverzüglich, «und ich nehme Ihnen diese Entscheidung nicht ab!»

Diesmal beugte sich Holland über die Mittelkonsole, sah dem jüngeren Piloten starr in die Augen und sagte: «Dann halten Sie jetzt bitte den Mund und hören Sie auf, mich herumzukommandieren!»

 

Der Direktor der Londoner Anflugskontrolle war unbemerkt hinter dem Fluglotsen aufgetaucht, der die Einweisung von Quantum 66 von der Londoner Flugbereichskontrolle übernommen hatte, und sah ihm über die linke Schulter. Der Controller gab gerade die Instruktion, auf fünftausend Fuß und einen Kurs von 180 Grad zu gehen. Die 747 sollte schon als nächste Maschine in Heathrow landen. Alle anderen Flüge waren so umgeleitet worden, daß sie den Quantum-Flug nicht mehr behindern konnten, und der Controller wußte, daß die Feuerwehr und ein Notarztwagen an der Piste bereitstanden. Vorsorgliche Landungen dieser Art waren zwar nicht ungewöhnlich, doch ein medizinischer Notfall schweißte alle Beteiligten immer wieder zusammen. Der Fluglotse konzentrierte sich voll und ganz darauf, eine möglichst schnelle Landung des amerikanischen Jumbos zu gewährleisten. Da ließ ihn ein unerwarteter Klaps auf die Schulter hochfahren.

Wütend drehte er sich um, um den Störenfried anzuschnauzen, sah sich aber zu seinem größten Erstaunen mit dem eigenen Chef konfrontiert.

«Wo ist Quantum?» fragte der Direktor.

«Ich habe ihn gerade auf dem Queranflug», antwortete der Fluglotse und wünschte sich, der Chef besäße die Höflichkeit, ihm schweigend bei der Arbeit zuzusehen.

«Lassen Sie ihn eine Warteschleife fliegen und sagen Sie dem Captain, er soll sich auf der Quantum-Company-Frequenz für Miami, Florida, mit uns in Verbindung setzen.» Er reichte dem Fluglotsen einen Zettel, auf dem die Zahl 124.35 stand. «Und erwähnen Sie diese Frequenz nicht über den Äther», fügte er hinzu.

Der Controller schüttelte leicht den Kopf, blickte mit gerunzelter Stirn auf den Bildschirm, sah kurz seinen Chef an und starrte dann wieder auf die Mattscheibe. Es mußte sich um ein Mißverständnis handeln.

«Es tut mir furchtbar leid, Sir … Was haben Sie gesagt?»

Der Direktor holte tief Luft und atmete wieder aus, ehe er antwortete. Seine Aufgabe war alles andere als leicht. Er beugte sich vor und raunte dem Fluglotsen die Wiederholung seiner Anweisungen direkt ins Ohr. Er war sich bewußt, daß ringsum andere Lotsen saßen und zuhörten.

«Bitte tun Sie, was ich Ihnen sage. Und zwar sofort.»

Der Kopf des Fluglotsen fuhr herum. Fragend sah er seinen Vorgesetzten an. Der starrte mit zusammengebissenen Zähnen zurück.

Die Stimme des Quantum-Piloten knisterte durch den Lautsprecher über der Konsole und war auch im Kopfhörer zu vernehmen.

«Approach – Quantum 66. Wir haben den Flughafen in Sicht. Erbitten Sichtlandeanflug.»

Einige Sekunden vergingen, bis der Fluglotse sein Mikrofon justiert hatte. «Quantum – London Approach. Fliegen Sie eine Standard-Warteschleife auf der Position zweihundert Grad, zehn Meilen von LON-Funkfeuer in fünftausend Fuß. Außerdem bitten wir Sie, sich auf der Company-Frequenz mit …»

Er vergewisserte sich mit einem fragenden Blick auf seinen Chef, der mit leiser Stimme antwortete: «Miami, Florida.»

«… Einsatzzentrale Miami, Florida, mit uns in Verbindung zu setzen. Wir müssen Sie vertraulich sprechen.»

Er ließ den Übertragungsknopf los. Nach kurzem Schweigen ertönte eine zutiefst bestürzte amerikanische Stimme.

«London … Sie wollen uns in die Warteschleife schicken? Wissen Sie nicht, daß wir das Opfer eines Herzinfarkts an Bord haben? Der Mann macht es nicht mehr lange …»

Der Fluglotse wirkte wie vom Schlag gerührt. Er wußte nicht mehr, was er sagen sollte. Der Flugkapitän hatte den Notfall erklärt!

In diesem Moment griff sich der Direktor einen Kopfhörer, stöpselte ihn ein und justierte das Mikro.

«Captain, hier London Approach. Haben Sie die Instruktionen verstanden?»

Die Stimme klang deutlich anders als die des Controllers, verriet Autorität und Entschlossenheit. James Holland im Cockpit von Quantum sah London Heathrow am linken Fenster vorbeiziehen. Fieberhaft suchte er nach einer Erklärung, konnte aber keine finden. Es gab keine andere Maschine, die ihnen ins Gehege hätte kommen können. Was, um alles in der Welt, war da faul?

Holland meldete sich. «Ja, London, wir haben Ihre Instruktionen erhalten, aber – verdammt noch mal – wir können nicht warten. Sie übernehmen die Verantwortung für den Tod eines Passagiers!»

«Captain, ich bitte Sie, die Instruktionen zu befolgen. Je schneller Sie sich auf der genannten Frequenz melden, desto schneller kann ich Ihnen alles erklären.»

James Holland warf einen Blick auf seinen Kopiloten. Robb war genauso perplex wie er selbst.

«Sie übernehmen das Steuer, Dick. Fliegen Sie in die genannte Position. Ich suche solange diese gottverdammte Frequenz heraus.»

Es entging ihm nicht, daß Robb erstmals widerspruchslos reagierte.

Die Frequenz war auf einem Merkblatt tief in Hollands Flugtasche verborgen. Es dauerte eine gute Minute, bis er es hervorgekramt und die Nummer eingegeben hatte. Sofort meldete sich wieder die entschlossene Stimme. Der Sprecher identifizierte sich mit Namen und Dienstrang und kam dann sofort zur Sache.

«Captain, es gibt noch ein anderes Problem als Ihren medizinischen Notfall. Das britische Gesundheitsministerium wurde von den Kollegen in Deutschland darüber informiert, daß einer Ihrer Passagiere einer besonders bösartigen und gefährlichen Grippe ausgesetzt war. Weitere Informationen liegen mir bisher nicht vor. Fest steht jedoch, daß Sie aus diesem Grund nach Frankfurt zurückkehren und sich den erforderlichen Quarantänemaßnahmen unterziehen müssen. Ihre Company wurde bereits darüber in Kenntnis gesetzt, daß Ihnen die britische Regierung die Landung im Vereinigten Königreich nicht gestatten kann.»

Holland schüttelte den Kopf. «Wegen einer Grippe? Ich fliege seit fünfundzwanzig Jahren, aber so etwas ist mir bisher noch nicht untergekommen. Einzelpersonen steckt man in Quarantäne, aber doch nicht ganze Flüge! Hören Sie, lassen Sie uns jetzt unser Infarktopfer ausladen, den Rest nehme ich wieder mit.»

Man hörte, wie ein Mikrofon eingestellt wurde. Danach ertönte ein Seufzer.

«Es tut mir leid, Captain, aber die Entscheidung wurde auf höchster Regierungsebene getroffen. Sie ist kein Thema für Verhandlungen.»

«Wieso bekommen wir nicht wenigstens Hilfe für unseren Herzinfarkt an Bord, verdammt noch mal?»

Der Direktor antwortete langsam; seine Stimme klang düster.

«Captain, haben Sie schon die Möglichkeit in Erwägung gezogen, daß es sich bei Ihrem Infarktopfer und dem infizierten Passagier um ein und dieselbe Person handeln könnte?»

«Sind Sie sich dessen sicher?» fragte Holland. «Ist Ihnen denn der Name des infizierten Passagiers bekannt?»

«Ich kann Ihnen nur so viel sagen, daß die beiden tatsächlich identisch sind, bin aber nicht befugt, den Namen über eine unverschlüsselte Frequenz zu nennen. Noch etwas anderes: Da Sie sich auf einem Transatlantikflug befanden, gehe ich davon aus, daß Sie mehr als genug Treibstoff an Bord haben, um nach Frankfurt zurückzukehren?»

«Ja, aber unser Passagier wird tot sein, wenn wir dort ankommen – ob er nun die Grippe hat oder nicht!»

«Das läßt sich dann wohl nicht vermeiden, fürchte ich. Wenn Sie jetzt wieder auf die alte Frequenz gehen, übergebe ich Sie wieder an London Center. Sie bekommen dann die Freigabe für den Rückflug.»

«Und was ist, wenn ich trotzdem in Heathrow lande?» fuhr Holland ihn an. «Wollen Sie uns vielleicht beim Endanflug abschießen?»

Sein Gesprächspartner zögerte. Holland überlegte, ob er vielleicht die Lösung gefunden hatte, die sich sein Gegenüber von ihm erhoffte. Doch dann war die Stimme wieder da und klang noch autoritärer als zuvor.

«Das wäre äußerst töricht, Captain. Sie würden einen internationalen Zwischenfall auslösen. Ihr Flugzeug, die Crew und die Passagiere würden stundenlang auf der Rollbahn festgehalten und dann doch zur Rückkehr nach Deutschland gezwungen. Ihre Regierung würde Sie schließlich wegen Verletzung der luftfahrtrechtlichen Bestimmungen einer ausländischen Regierung zur Rechenschaft ziehen. Ich denke, das dürfte Sie am Ende Ihre Pilotenlizenz kosten. Ihr erkrankter Passagier wird in Frankfurt versorgt. Hier hilft ihm niemand.»

«Ich hoffe, Ihre Tonbandgeräte zeichnen unser Gespräch auf!» erwiderte Holland aufgebracht.

«Das tun sie in der Tat, Sir. Und damit auch dies für die Nachwelt erhalten bleibt: Ich bedauere das, was ich hier zu tun gezwungen bin, genauso wie Sie.»

Nach einigen Sekunden, in denen sie beide schwiegen, meldete Holland sich wieder. Der Ärger in seiner Stimme war verflogen.

«Dann wird man uns also alle in Quarantäne stecken? Zweihundertfünfundvierzig Passagiere und zwölf Besatzungsmitglieder? Und das nur wegen einer dämlichen Grippe?»

«In Frankfurt, ja. Ich weiß nichts Genaueres, aber Sie müssen sich beeilen. Wie man mir sagte, müssen alle Menschen an Bord sofort behandelt werden, wenn eine Ansteckung verhindert werden soll.»

«Okay.» Das war alles, was Holland zu dieser Nachricht noch hervorbrachte. Die Sache war grotesk. Unwirklich. Aber welche Alternative blieb ihnen noch?

Er wählte wieder die Frequenz der Anflugkontrolle, gab Dick Robb mit einem Wink zu verstehen, er möge das Gespräch führen, und versuchte sich auf das, was der Direktor gesagt hatte, zu konzentrieren.

Das Infarktopfer war also einem Grippevirus ausgesetzt gewesen. Na und? Der Mann befand sich noch immer in den Fängen einer Herzattacke, die kaum etwas mit der Grippe zu tun haben konnte.

Oder etwa doch?

Holland pflückte das Mikro des Intercoms aus seiner Halterung und gab die Nummer für Tür zwei links ein. Sofort meldete sich Barb Rollins.

«Barb, es geht um unseren Infarktpatienten. War er schon krank, als er an Bord kam?»

Die Chefstewardeß zögerte, bevor sie antwortete. Ihr fiel ein, daß sie gesehen hatte, wie Brenda Hopkins den Mann durch die Tür geführt hatte.

«Ja, war er. Wie schwer, kann ich allerdings nicht sagen. Warum fragen Sie?»

«Nichts, nichts. Nur ein paar kleinliche Fragen von unten. Ich erklär’s Ihnen in ein paar Minuten.» Holland hängte das Mikrofon wieder ein. Seine Beunruhigung wuchs. Die verschiedensten Gedanken schwirrten ihm durch den Kopf. Die Deutschen wollen uns in Quarantäne stecken, um einen Ausbruch der Krankheit zu verhindern. Das hört sich ja gut an …

Robb wiederholte mechanisch die Flugfreigabe für die Rückkehr nach Frankfurt und begann, den Flugrechner neu zu programmieren.

Holland grübelte noch immer über die Worte des Direktors nach.

Grippe entsteht doch durch ein Virus, oder? Wie behandelt man denn eine Viruserkrankung?

Irgend etwas war faul an der Geschichte.

3

In der Nähe von London Heathrow (1648Z)

Genau um 16.48 Uhr Ortszeit – Quantum 66 befand sich nach der Landeverweigerung durch die britischen Behörden auf dem Rückflug nach Frankfurt – saß der Bewohner einer kleinen Hochhauswohnung zehn Kilometer nördlich des Flughafens London Heathrow am Telefon und tippte die Nummer des dreißig Kilometer entfernten Londoner Büros des amerikanischen Fernsehsenders CNN ein.

Der junge Mann zitterte buchstäblich vor Erregung, als er auf den Anschluß wartete. Er besaß inzwischen die meisten Geheimnummern von BBC und CNN – das Ergebnis von mehreren Jahren verläßlicher Tips und dem gelegentlichen Verkauf von Tonbändern, auf denen er den Funkverkehr rund um den Flughafen aufgenommen hatte. Niemand kannte sich in und um Heathrow besser aus als er.

Der junge Querschnittgelähmte bediente die Bremse seines Rollstuhls und nahm den Telefonhörer von der einen in die andere Hand. Er war stolz darauf, daß es ihm schneller als dem Captain von Flug 66 gelungen war, die Frequenz der Quantum-Filiale in Miami herauszufinden. Ein kurzer Blick in den «World Aviation Guide» und ein Anruf bei der Zentrale der Fluggesellschaft in Dallas hatten genügt. Als der Flugkapitän den Tower anrief, hatte der junge Mann längst die richtige Frequenz eingestellt und seine Tonbänder liefen bereits.

Lächelnd betrachtete er die Kassette in seiner Hand. Er hatte das gesamte Gespräch aufgenommen. Jetzt kam es nur noch darauf an, das Höchstgebot einzuholen. Dieser Notfall war in seiner Art einzigartig: Sämtliche Passagiere und Crewmitglieder einer Linienmaschine seien einem bösartigen Grippevirus ausgesetzt, hatte der Controller behauptet. Eine absolut heiße Information, ganz nach dem Geschmack von CNN. Schon sah er in Gedanken den Moderator in Atlanta die sensationelle Nachricht – seine Nachricht – verkünden.

An Bord von Flug 66

Botschafter Lee Lancaster trommelte mit den Fingern auf die ledergepolsterte Armlehne von Sitz 2 A und versuchte, aus den verschiedenen Informationsbrocken ein klares Bild zu gewinnen. Die erste Ankündigung des Captains, in London zwischenzulanden, um einen lebensgefährlich erkrankten Passagier versorgen zu lassen, war glaubwürdig. Die zweite jedoch ergab keinen Sinn: Die Maschine, so der Flugkapitän, müsse nach Frankfurt zurückfliegen, weil das Infarktopfer dort besser versorgt werden könne.

Zehn Meter hinter seinem Sitz bemühten sich der Arzt und die Crew um das Leben des Patienten. Lancaster hatte ihnen zugesehen und wußte, daß der arme Kerl nicht mehr lange durchhalten würde. Offenbar kam es auf jede Minute an – und nun blieb der Pilot, obwohl er schon fast in Heathrow gewesen war, noch eine Stunde länger in der Luft, um nach Deutschland zurückzukehren. Warum?

Nein, da stimmte etwas nicht. Dem Botschafter schoß der ebenso aberwitzige wie beunruhigende Gedanke durch den Kopf, die Sache könne mit ihm zu tun haben. Immerhin wünschte ihn die Hälfte der arabischen Welt zum Teufel. Kaschierte der Captain mit der Rückkehr nach Deutschland vielleicht eine Flugzeugentführung?

Er spürte, daß Rachael Sherwood ihn beobachtete. Sie konnte beinahe seine Gedanken lesen, und irgendwie gefiel ihm das. Rachael war hochintelligent, Rhodes-Stipendiatin und eine brillante Redenschreiberin, die eigentlich in den Stab des Präsidenten gehört hätte und nicht in seinen.

Doch im Umgang mit dem konzentrierten Furor der islamischschiitischen Welt und bei der Einschätzung der Entschlossenheit seiner Gegner hatte sie noch wenig Erfahrung. Diesmal errät sie meine Gedanken nicht, dachte er.

Flugzeugentführung – das ist doch lächerlich! versuchte er sich zu beruhigen. Aber …

Und wie so oft spielte sich wieder die grauenhafte Szene vor seinem geistigen Auge ab. Der zerfetzte Wagen … Es war jetzt ein knappes Jahr her. Er hatte sich an jenem Frühlingstag in Madrid entschlossen, zu Fuß zu gehen, und es einem Botschaftsangestellten überlassen, den Mietwagen zurückzubringen. Man hatte ihn gewarnt; gerade in Madrid müsse er besonders vorsichtig sein. Doch dann hatten ihn das schöne Wetter und schieres Draufgängertum zu einem Spaziergang bewogen – schließlich war ihm zehn Jahre lang trotz ständiger Drohungen nicht ein Haar gekrümmt worden, so daß er sich inzwischen einbildete, seine Willenskraft allein mache ihn unverwundbar.

Er befand sich knapp achthundert Meter vom Ort des Geschehens entfernt, als er die Detonation hörte. Eine Höllenmaschine hinter dem Armaturenbrett hatte Fahrer und Wagen zerfetzt. Der Öffentlichkeit gegenüber erklärte man das Attentat als Protestaktion gegen die spanische Regierung und ließ Lancasters Namen aus dem Spiel. Für Eingeweihte bestand jedoch kein Zweifel daran, wem der Anschlag gegolten hatte.

Lancaster schüttelte den Kopf und rieb sich die Schläfen, um die Erinnerungen zu vertreiben. Dann sah er Rachael an. Sie ist so schön, dachte er, selbst ihre konservative Art, sich zu kleiden, kann das nicht verhüllen. Er mochte die Gesellschaft schöner Frauen auf rein physischer Ebene. Selbst wenn er Augen und Ohren geschlossen hielt, nährte ihre nur wenige Zentimeter entfernte körperliche Präsenz ein stilles Feuer in ihm.

Die 747 änderte leicht den Kurs und sorgte dafür, daß Lancaster seine Aufmerksamkeit wieder dem aktuellen Problem zuwandte. Als amerikanischer Sonderbotschafter, dessen Hauptaufgabe in der Vermittlung von funktionierenden Waffenstillständen und dem Aufbau von Wirtschaftsbeziehungen zwischen Israel und den arabischen Ländern lag, brandmarkte man ihn in bestimmten Kreisen schon seit langem als Todfeind des Islam. Die Tatsache, daß er ein anerkannter Islamwissenschaftler war, interessierte die Schiiten nicht. Inzwischen hatte sogar er selbst den Überblick darüber verloren, welche und wie viele terroristische Organisationen, geächtete islamische Staaten, Splittergruppen und Einzelpersonen im Laufe der Jahre geschworen hatten, ihn zu töten. Lancaster hatte sich stets geweigert, zum Gefangenen der Sicherheitsvorkehrungen zu werden, doch der Preis dafür war hoch. Sein Leben war eine ständige Gratwanderung am Abgrund des Terrors – in dem vollen Bewußtsein, daß jeden Augenblick der Absturz drohte.

Lancaster seufzte und sah sich in der Erste-Klasse-Kabine um.

Dann haben sie mich also endlich erwischt – oder ist nur der Verfolgungswahn bei mir jetzt ausgebrochen?

Nein, sagte er sich. Terroristen verlassen sich nicht auf unvorhersehbare Gelegenheiten wie Herzinfarkte.

Doch was war es dann? Drohte ihm vielleicht in Frankfurt eine andere Gefahr?

Er wandte sich an Rachael und hob den Zeigefinger. «Rachael, ich brauche Ihre Hilfe.»

«Ja, Lee?»

Er beugte sich zu ihr und flüsterte, den Duft ihres Parfüms ignorierend: «Hier ist irgend etwas faul. Verdammt faul. Ich weiß nicht genau, was – nur … Ich meine, falls es mich persönlich betrifft …»

Alarmiert zog sie die Brauen hoch; der Blick aus ihren dunkelbraunen Augen bohrte sich in den seinen. Lancaster hob die Hand.

«Es ist eher unwahrscheinlich», wiegelte er ab. «Nur – dieser Rückflug nach Frankfurt ist doch sehr seltsam …»

«Soll ich mit den Piloten reden?» fragte sie.

«Wenden Sie sich erst einmal an die Chefstewardeß. Machen Sie ihr klar, wer wir sind, und versuchen Sie herauszufinden, was hier gespielt wird.»

Rachael war plötzlich nervös, er spürte es. Doch sie lächelte ihn an, öffnete unverzüglich ihren Sitzgurt, streckte die langen Beine aus, erhob sich und strich ihren Rock glatt.

 

Vier Meter über der Kabine der ersten Klasse legte James Holland die Hand über die Sprechmuschel des Satellitentelefons und wandte sich an seinen Kopiloten.

«Wir stehen offenbar im Mittelpunkt eines diplomatischen Feuergefechts, Dick. Wollen Sie jetzt übernehmen und mit der Firma reden?»

Wie der Schatten einer ziehenden Wolke huschte ein panischer Ausdruck über Robbs Gesicht und verschwand so schnell, wie er gekommen war. Er schüttelte den Kopf.

«Mir reicht’s, wenn Sie mir sagen, was die Firma von uns will», erwiderte er und war sich absolut im klaren darüber, wie dumm diese Antwort klingen mußte. Es war selbstverständlich, daß Holland alles wiedergeben würde, was Dallas ihm sagte.

Holland nahm das Gespräch wieder auf und beendete es nach kurzer Zeit. Als er den Hörer auflegte, schüttelte er den Kopf.

«Unsere Leute haben keine Ahnung, Dick. Das war der Einsatzleiter. Er bestätigt, daß die deutsche Regierung unsere Rückkehr verlangt hat. Allerdings behaupten die Deutschen, mit der verweigerten Landeerlaubnis in Heathrow nichts zu tun zu haben. Unser Außenministerium ist informiert, hat aber angeblich auch keine Ahnung. Dort heißt es, es liege ein Mißverständnis vor.»

«Wer hat hier etwas mißverstanden?» fragte Robb. «Und was?»

«Die Briten hätten die Landeerlaubnis nicht verweigert, sondern uns den Rückflug lediglich empfohlen.»

«Schöne Empfehlung!»

Holland nickte und runzelte die Stirn. «Das habe ich ihnen auch gesagt. Das Problem ist, daß sie uns keinerlei verläßliche Information geben.» Er zählte die Optionen an seinen Fingern ab. «Kein Mensch weiß, was für Vorkehrungen in Frankfurt getroffen werden. Niemand da unten kann uns etwas über Mr. Helms sagen. Niemand weiß, welche Maßnahmen diejenigen erwarten, die sich vielleicht schon bei Helms angesteckt haben. Niemand sagt uns, wie ernst dieses Grippevirus zu nehmen ist – und der Mann, der sich eigentlich um die Angelegenheit kümmern müßte, der Vizepräsident unserer Zentrale, sitzt auf seiner Ranch in Texarkana und hat das Telefon abgestellt! Der Einsatzleiter sagt, er ruft uns an, sobald sie Genaueres wissen.»

Die Glocke der Crew ertönte. Nervös betätigte Robb den Knopf.

Eine Frauenstimme drang an sein Ohr. Sie klang besorgt. «Spreche ich mit dem Captain?»

«Im Prinzip ja», erwiderte Robb. «Hier spricht der Checkpilot.»

Er bemerkte ihre Verwirrung und warf einen Seitenblick auf Holland. Der sah in die andere Richtung und tat so, als höre er nicht zu. Diese Unterscheidung ist doch albern, dachte Robb und rückte sich den Kopfhörer zurecht.

«Der Kopilot», sagte er. «Was gibt’s?»

«Hier ist Dee in der ersten Klasse. Wir … wir haben einen amerikanischen Botschafter an Bord. Seine Assistentin ist gerade bei mir und stellt mir Fragen, die ich nicht beantworten kann. Sie möchte wissen, was … äh … was eigentlich los ist. Darf ich sie raufbringen?»

«Natürlich. Die Tür ist offen.» Mit dem linken Zeigefinger tastete er nach dem Knopf, der die elektronische Türsicherung entriegelte. Die Entscheidung, ob jemand das Cockpit betreten durfte, lag eigentlich beim Captain. Hollands Intercom war angestellt. Er hatte das Gespräch im Kopfhörer mitgehört. Robb forschte in seinem Gesicht nach einer Reaktion, die jedoch ausblieb.

Der Flugkapitän war mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen, doch jetzt rührte er sich und blickte Robb mit unbewegter Miene an.

Sie hatten inzwischen wieder eine Flughöhe von dreiunddreißigtausend Fuß erreicht und näherten sich der holländischen Küste. Die niederländische Flugsicherung hatte ihnen soeben grünes Licht für den Rückflug nach Frankfurt gegeben. Mehr konnten sie im Moment nicht tun.

Die Stille wurde auf einmal peinlich, und Robb beschloß, sie zu unterbrechen. «Also, wohin?» fragte er.

Holland zögerte, dann deutete er, ohne ein Wort zu sagen, geradeaus. Ihm war klar, daß Robb nur aus Verlegenheit geredet hatte. Frankfurt war – und das wußten sie alle beide – die einzige Lösung, die einen Sinn ergab.

Bonn

Die Nachricht von einer Notfallsituation, in der es um eine ernstzunehmende Krankheit ging, war binnen einer Viertelstunde von der mittleren Behördenebene nach oben weitergeleitet worden. Ein Mann namens Zeitner, einer von vielen Beamten im Gesundheitsministerium, hatte seinen Minister gebeten, die Briten um die Verweigerung der Landeerlaubnis für Flug 66 zu ersuchen, nachdem er zuvor in Überschreitung seiner Kompetenzen eine ergebnislose polizeiliche Fahndung in die Wege geleitet hatte. Der Gesuchte war ein Mann, der ein gefährliches Grippevirus in sich trug. Die Tatsache, daß der Minister, ohne den Kanzler oder sonst irgend jemanden zu konsultieren, der Bitte des Beamten gefolgt war, hatte so etwas wie eine politische und diplomatische Krise ausgelöst. Inzwischen hatte die Furcht, die Presse könne Wind von der Sache bekommen und die Regierung bloßstellen, den Kanzler persönlich zur Einberufung einer Krisensitzung veranlaßt. Zeitner und sein Chef waren zum Rapport bestellt.

Zeitner rückte sich die gestreifte blaue Krawatte zurecht und erhob sich, als stünde er vor Gericht. Ringsum in dem üppig getäfelten Konferenzzimmer saßen die führenden Mitglieder des Kabinetts mit ihren engsten Mitarbeitern. Der Regierungschef thronte an der Schmalseite des langen Tisches. Sein finsterer Blick ruhte auf Zeitner, dem Mann, der seiner Regierung die vorläufig letzte einer nicht enden wollenden Reihe von Krisen beschert hatte.

«Berichten Sie, Herr Zeitner», sagte der Kanzler und preßte die Lippen zusammen. Seine Stimme troff vor Zynismus.

«Ein amerikanischer Professor … ein gewisser Professor Helms … er lehrt in Heidelberg, war vor zwei Tagen in Bayern einem, wie man uns sagte, extrem starken Grippevirus ausgesetzt. Er ist mit einem an diesem Virus erkrankten Angestellten der Hauptmann-Laboratorien in Berührung gekommen. Der Direktor von Hauptmann hat uns darüber informiert.» Zeitner zögerte und studierte die strengen Mienen um ihn herum, ehe er fortfuhr. «Wir dachten, wir könnten diesen Professor noch erwischen und in Quarantäne stecken, bevor er einen Flughafen oder ein dichtbevölkertes Gebiet erreicht. Leider schlugen unsere Bemühungen fehl, was zur Folge hatte, daß inzwischen ein ganzes Passagierflugzeug der Ansteckungsgefahr ausgesetzt ist.»