Höllenflug - John J. Nance - E-Book

Höllenflug E-Book

John J. Nance

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Beschreibung

Flughafen Hongkong in der Abenddämmerung: Eine Boeing 747 wartet auf ihre Starterlaubnis. Um 19.12 kommt das Signal vom Tower: «Start freigegeben.» Das Flugzeug beschleunigt, hebt ab, das Fahrwerk verschwindet im Rumpf, die Maschine steigt in die Wolken. Wenig später durchzuckt ein unnatürlicher Blitz den Himmel. Verzweifelt versucht der Pilot, die schlingernde Maschine unter Kontrolle zu bringen – vergeblich … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 626

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John J. Nance

Höllenflug

Roman

Aus dem Englischen von Karin Dufner

FISCHER Digital

Inhalt

Für meine Mutter, die [...]Anmerkung des AutorsProlog1234567891011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647Dank

Für meine Mutter, die texanische Dichterin Peggy Zuleika Lynch, deren Dynamik, Kreativität und Liebe meinen Lebensweg erleuchten.

Anmerkung des Autors

In den Kapitelüberschriften dieses Romans werden die Ortszeit und dahinter nach einem Schrägstrich die Zulu-Zeit angegeben. In der Luftfahrt steht Z-Zeit – oder Zulu-Zeit – für die Weltzeit, früher Greenwicher Zeit (GTM) oder westeuropäische Zeit (WEZ) genannt.

In den Sommerzeit-Wochen ist es an der Ostküste der Vereinigten Staaten fünf Stunden früher als in Zulu-Zeit. Ist es zum Beispiel sechzehn Uhr in Washington, beträgt die Zulu-Zeit 2100Z. Drei Uhr morgens wäre 0800Z. Die Winterzeit in London stimmt mit der Zulu-Zeit überein. In Deutschland ist es dann eine Stunde später (Zulu plus eine Stunde). In Hongkong ist es acht Stunden und in Vietnam sieben Stunden später.

Prolog

AN BORD VON SEAAIR 122, ÜBER DEM GOLF VON MEXICO, 270 KILOMETER SÜDWESTLICH VON TAMPA, FLORIDA 11:43 ORTSZEIT/1643 ZULU

Karen Briant musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Jim Olson reckte seinen eins achtzig großen, muskulösen Körper zu voller Länge, sein Jeansschoß direkt vor ihrem Gesicht. Er stand auf den Zehenspitzen und rüttelte an der Gepäckklappe. Als er sie endlich auf hatte, hörte Karen, wie er einen Reißverschluss öffnete und in seiner Reisetasche wühlte. Schließlich brummte er zufrieden und schloss die Tasche wieder.

»So, jetzt fühle ich mich besser.« Er sah Karen an und klappte das Gepäckfach zu.

»Und was genau, Sir, befürchteten Sie vergessen zu haben«, fragte sie theatralisch, während sie sich auf dem Fensterplatz niederließ. »Hoffentlich nicht etwa wieder eines Ihrer eigennützigen Geschenke aus dem Dessousladen?« Noch ein Bikini wäre wirklich zu viel gewesen. Sie fühlte sich in dem tief ausgeschnittenen Strandkleid, das er ihr gekauft hatte, schon wie nackt.

Er grinste nur und schüttelte den Kopf. Durch ihr Fenster in dem riesigen, dreimotorigen Boeing/McDonnell-Douglas-MD-11-Jet sah er die gewaltigen Kumuluswolken in der Ferne. Dann schaute er ihr wieder in die funkelnden grünen Augen und lachte jungenhaft. Dieses Lachen hatte sie an ihm besonders gern.

»Nichts Wichtiges, junge Frau«, entgegnete er unbeschwert.

»Klar ist es wichtig!«, neckte ihn Karen weiter. »Wenn ich mich schon bereit erkläre, eine Woche mit einem Mann auf den Kanarischen Inseln zu verbringen, will ich wenigstens sicher sein, dass er die richtigen Sachen eingepackt hat.«

»Was meinst du mit ›richtige Sachen«‹?, fragte Jim mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Du bist ein Pilot und von einem Piloten erwartet man, dass er ordentlich packen kann.«

»Und?«

»Offenbar hast du in dieser Tasche da oben etwas, das du auf keinen Fall vergessen wolltest.«

»Und ich habe es dabei.« Jim war sehr erleichtert, dass er den Verlobungsring nicht in Houston liegen gelassen hatte. Am liebsten hätte er ihn ihr sofort überreicht.

Nein, sagte er sich dann jedoch, es hängt alles davon ab, wie diese Woche läuft.

Er musste ganz sicher sein.

Sie kicherte und drückte Jims Hand, während er aus dem Fenster schaute und die Entfernung zu den zwanzigtausend Meter hohen Gewitterwolken abschätzte, die sich nördlich ihres Kurses über dem Golf von Mexiko auftürmten. Er fragte sich, was die Piloten wohl auf dem Radarschirm sahen. Der kleine, aber heftige Hurrikan bedrohte New Orleans, doch nach der Wetterkarte, die er sich vor ein paar Stunden angesehen hatte, konnten sie ihn in einem sicheren Abstand südlich umfliegen.

Immer mit der Ruhe, ermahnte sich Jim. Du arbeitest nicht bei dieser Fluggesellschaft. Außerdem sind wir im Urlaub. Die Piloten werden schon ohne dich klarkommen.

Er berührte Karens Hand, schnupperte einen Hauch ihres Parfüms und spürte ein erwartungsvolles Prickeln.

Es würde eine wundervolle Woche werden.

MARINEFLUGHAFEN KEY WEST, FLORIDA 11:43 ORTSZEIT/1643 ZULU

Der pensionierte Stabsfeldwebel Sergeant Rafe Jones blickte von den komplizierten Instrumenten der mobilen Teststation auf, die er als privater Subunternehmer im Auftrag der Air Force bediente, und schaute durch seine Sonnenbrille zu dem altersschwachen F-106-Abfangjäger, der am Ende der Rollbahn darauf wartete, von Jones’ Mannschaft per Fernsteuerung gestartet zu werden.

Rafe Jones holte tief Luft und schmeckte die salzige Brise, die vom Golf von Mexiko hereinwehte. Er genoss die Hitze. Er überprüfte noch einmal die Datenverbindung zwischen Teststation und Drohne und stellte zufrieden fest, dass alle Kanäle standen. Sein Mund war trocken, jedoch nicht, weil er durstig war, sondern weil er, wie immer in dieser Phase eines Versuchs, unter Hochspannung stand. Schließlich sollte hier ein echtes, unbemanntes Flugzeug, das nur von einem Datenstrom und Funkbefehlen in der Luft gehalten wurde, über einem Wohngebiet gestartet werden. Manchmal hatten die F-106-Zieldrohnen, die seine Mannschaft steuerte, einen Testpiloten der Air Force an Bord. Doch heute saß nur ein Dummy, voll gestopft mit Sensoren, im Cockpit.

»Rafe, wo war noch mal der Wartepunkt?«, fragte einer seiner Techniker durch die Gegensprechanlage.

»Kreuzung Fluffy, etwa fünfundvierzig Kilometer im Süden«, erwiderte Rafe und führte sich das eigens für diese Versuche eingerichtete Manövergebiet vor Augen.

»Ist das nicht schrecklich nah vor Onkel Fidels Haustür?«

»Wir wissen von nichts«, grinste Rafe. »Offiziell hat niemand die Absicht, Havanna auf die Füße zu treten.«

Der Fluglotse erteilte der Mannschaft der F-16 Starterlaubnis. Rafe nickte seinen Männern zu und sah zu, wie einer von ihnen den Hebel auf volle Kraft stellte und die Lösung der Bremsen vorbereitete.

AN BORD VON SEAAIR 122, 345 KILOMETER SÜDLICH VON TAMPA 11:43 ORTSZEIT/1701 ZULU

Das ständige Funken aus den Gewitterwolken im Norden flackerte durch die Backbordfenster der MD-11. Jim bemerkte, wie Karens linke Hand die Armlehne umklammerte, während sie das Schauspiel beobachtete.

»Wir sind weit genug südlich«, beruhigte er sie, doch dann blitzte es plötzlich rechts von ihnen und die MD-11 rollte scharf nach links, bevor sie sich wieder stabilisierte.

Bestimmt hat der den Autopiloten ausgeschaltet und der Vogel ist aus der Trimmung geraten, dachte Jim. Mit einem unbehaglichen Gefühl blickte er Karen an.

»Offenbar haben wir Turbulenzen vor uns, Schatz.« Er lächelte gezwungen. »Die Piloten haben wohl überlegt, wie sie darum herumfliegen sollen, und dann ihre Meinung geändert. Wir wären alle gerne etwas sanfter am Steuerknüppel.«

Die Querneigung betrug nun über dreißig Grad, normalerweise das Maximum für einen Jet.

Aber warum nimmt sie immer noch zu?

Der Bug zeigte nach oben, doch um wirklich zu steigen, brauchten sie mehr Schub. Und die Triebwerksgeräusche waren nicht lauter geworden. Ein erneutes Schlingern, diesmal nach links, und der Bug senkte sich wieder.

Jim spürte, wie die Schwerkraft nachließ, als der Pilot im Cockpit die Leistungshebel nach vorne schob. Er schauderte, als er darüber nachdachte, welche Manöver solche Rollbewegungen zur Folge haben konnten.

Es gab keine. Irgendetwas stimmte nicht.

Jim warf einen Blick auf die rechte Tragfläche und bemerkte zu seinem Erstaunen nicht eine einzige Wolke vor dem Fenster. Gerade eben hatte es dort doch noch geblitzt!

»Jim?« Karens Stimme klang gepresst. Sie hatte bestimmt gemerkt, dass der Bug sich weiter senkte und sie schneller wurden..

Inzwischen war rings um sie herum besorgtes Stimmengewirr zu hören. Die Passagiere raunten und tauschten ängstliche Blicke aus. Die MD-11 neigte sich immer mehr nach links und der Bug senkte sich weiter. Der Düsenklipper hielt geradewegs auf die Gewitterfront im Norden zu.

»Jim, was machen die da oben nur?«, fragte Karen mit aschfahlem Gesicht. Sie umklammerte ängstlich seine Hand. Jim öffnete seinen Sicherheitsgurt. »Bleib hier. Ich gehe ins Cockpit.«

Sie ließ widerstrebend seine Hand los. Er stand auf und blickte sich noch einmal zu ihr um: Wie schön sie war.

Mittlerweile rollte die MD-11 wieder nach rechts. Der Bug hob sich leicht, doch die Ruderbewegungen waren ruckartig und viel zu heftig, als ob die Piloten die Kontrolle über das Flugzeug verloren hätten. Jim ging entschlossen auf die etwa fünfundzwanzig Meter entfernte Cockpittür zu. Er wusste, dass man über seine Einmischung nicht erfreut sein würde, doch er hatte keine Wahl. Zwei Flugbegleiter vor ihm versuchten, ihre Sorgen hinter einem professionellen Lächeln zu verbergen.

Die immer ungleichmäßigere G-Kraft ließ Jim gegen die rechte Sitzreihe stolpern. Er hatte Mühe, sich aufrecht zu halten. Das Flugzeug schaukelte wie eine Jacht in einem Sturm, kurz vor dem Kentern. Die Rechtskurve der MD-11 wirkte vollkommen ungeplant, als wäre jemand versehentlich an das linke Ruderpedal gekommen.

Was ist nur los da vorne, fragte sich Jim. Während er sich mühsam voranarbeitete, schnappten die anderen Passagiere erschrocken nach Luft. Irgendetwas stimmte nicht, doch ein Versagen der Steuerung konnte es nicht sein. Die Kontrollhebel funktionierten offenbar, wurden aber willkürlich hin und her gerissen.

Aus der Bordküche hörte er, wie Teller und andere Gerätschaften durch die Gegend fielen. Er ging unbeirrt weiter, doch dann entdeckte ihn eine junge, großäugige Blondine in Stewardessenuniform.

»Sir!« Sie hielt ihm ihre Handflächen entgegen. »SIR! Setzen Sie sich sofort wieder hin und schnallen Sie sich an!«

»Ich bin Pilot«, erwiderte er und bedauerte die lahme Erklärung sofort.

»Das ist mir egal. Sir …«, begann sie, doch dann sank die Schwerkraft plötzlich auf null und sie schwebte vor seinen Augen Richtung Decke.

Die Sonnenstrahlen, die durch die Kabinenfenster der ersten Klasse fielen, wanderten langsam nach oben, während die Maschine nach rechts rollte. Jim stieß sich an den Unterteilungswänden ab und glitt an der Stewardess vorbei wie ein Astronaut im schwerelosen Raum. Aus dem Augenwinkel sah er durch die Fenster den Ozean.

Wir stehen auf dem Kopf!, erkannte er plötzlich. Trotz der immer unwirklicheren Situation konzentrierte er sich voll auf die kaum noch zehn Meter entfernte Cockpittür. Ganz sicher war sie verschlossen, doch er musste zu den Piloten und aufhalten, was immer dort vorn im Gange war.

Die riesige MD-11 rollte weiter nach rechts und die wieder einsetzende Schwerkraft ließ Passagiere, Besatzung und Servicewagen durcheinander purzeln. Etliche Gepäckfächer hatten sich geöffnet und der Inhalt ergoss sich über die Menschen in der Nähe.

Eine ältere Frau war aus ihrem Sitz gehoben worden, als die Schwerkraft aussetzte. Nun stürzte sie krachend zu Boden und versperrte Jim den Weg. Als er versuchte, über sie zu klettern, kam er zu Fall. Die G-Kräfte wurden immer stärker und das Kreischen der Luftströmung immer lauter. Durch die Geschwindigkeit des Sturzes wurde der Bug schließlich nach oben gedrückt, während die Maschine stetig weiter rollte. So schlingerten sie auf den Golf von Mexiko zu.

Jim klammerte sich an eine Sitzlehne und berührte dabei einen Mann am Kopf. Um ihn herum hörte er schrille Angstschreie. Noch einmal nahm er all seine Kraft zusammen, stieß sich ab und prallte schmerzhaft gegen die Cockpittür, die wie erwartet, veschlossen war.

Die Zeit schien stillzustehen. Sekunden wirkten wie Minuten. Jim wusste num, dass es kein Entrinnen gab. Er konnte nicht mehr sagen, ob die Maschine auf dem Kopf stand oder auf der linken Seite lag. Jedenfalls sackte sie: Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln.

Jim stemmte die Füße gegen den Türrahmen und zog.

Die Tür gab nicht nach.

Auch dem zweiten Versuch hielt das stabile Schloss stand.

Die Geschwindigkeit nahm weiter zu. Sie waren höchstens noch dreitausend Meter über dem Meer. Das Heulen der Luftströmung war ohrenbetäubend. Jim dachte an seine Verlobte, die allein hinten in der Kabine saß, und das steigerte seine Entschlossenheit. Er umklammerte den Türknopf und warf sich mit aller Kraft nach hinten. Er spürte einen scharfen Schmerz in der Hand, doch das Kreischen des fast schallschnellen Sturzflugs überdeckte alle anderen Wahrnehmungen.

Die Tür sprang auf und Jim zwängte sich ins Cockpit. Durch die Frontscheibe sah er weiße Schaumkronen und blaues Meer. Sein letzter Herzschlag fiel mit dem Augenblick zusammen, als die MD-11 auf das glasharte Meer prallte.

1

HONGKONG, CHINA ZWEI MONATE SPÄTER 12. NOVEMBER – TAG EINS 19:12 ORTSZEIT/1112 ZULU

Special Agent Katherine Bronsky fiel hintenüber und verschwand hinter ihrem großen Hotelbett. Sie landete schmerzhaft genau auf dem Hüftknochen.

Na, prima!, dachte sie. Noch ein Bluterguss.

»Kat? KAT!«

Die Männerstimme aus dem Lautsprecher ihres Notebooks war über dem ohrenbetäubenden Verkehrslärm Hongkongs, der durch die einen Spalt weit offen stehenden Balkontüren hereindrang, gerade noch zu hören.

Kate rappelte sich auf, spähte über die Bettkante und pustete sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Sie kam sich dumm vor.

Ein Glück, dass er mich nicht sehen kann.

Das verdatterte Gesicht des stellvertretenden FBI-Direktors Jake Rhoades in Washington prangte auf dem Bildschirm, während er vergeblich nach Kat Aussschau hielt. In den Deckel des Laptops war eine winzige Kamera eingebaut, doch sie hatte beim Anziehen ein Höschen darüber gelegt. Die Videofunktion war zwar ganz praktisch, aber Washington brauchte doch nicht alles zu sehen.

»Aus Gründen der Offenheit sollte ich vielleicht sagen, dass das Poltern gerade ich war. Ich bin gestolpert«, erklärte sie laut, verschwieg jedoch den Umstand, dass sie sich in ihrer Strumpfhose verheddert und sich selbst ein Bein gestellt hatte.

»Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe. Sie wollten mich gerade ermahnen, unsere Behörde nicht in Verlegenheit zu bringen. Was meinen Sie damit genau?«

Er ging nicht auf ihre Frage ein. »Sind Sie sicher, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist? Ich kann Sie immer noch nicht sehen. Auf meinem Bildschirm ist nur ein weißer Schleier.«

»Ich will nicht, dass Sie mich sehen«, lachte Kat und hüpfte auf einem Bein über den flauschigen Teppich zum Schreibtisch, während sie noch einmal versuchte, den anderen Fuß in die Strumpfhose zu stecken. »Ich bin leider nicht vorzeigbar.«

Eine Pause und ein spöttisches Kichern aus Washington. »Nun … wenn Sie es selbst sagen … einige bei uns würden Ihnen da zustimmen, Kat.«

Inzwischen war es ihr gelungen, in die Strumpfhose zu schlüpfen. Sie schüttelte in gespieltem Ärger den Kopf, war aber froh, dass diese Geste ihm verborgen blieb. »Damit meinte ich, Sir, dass ich nicht angemessen bekleidet bin, um auf einem Computerbildschirm vor meinen Kollegen zu erscheinen. Einige von denen bemerken vielleicht, dass ich eine Frau bin.«

»Ach, da bin ich aber erleichtert. Ich will mich schließlich nicht der sexuellen Belustigung schuldig machen.«

»Es heißt Belästigung, Jake. Sexuelle Belästigung.«

»Schon gut. Hören Sie, befassen wir uns wieder mit dem Absturz in Kuba, okay?«

Kat trat hinter den Schreibtisch und musterte sich im Spiegel. Obwohl sie Jake aufmerksam lauschte, freute sie sich über den Anblick, der sich ihr bot. Siebeneinhalb Kilo weniger in einem halben Jahr. Dazu endlich ein flacher Bauch, auf den sie stolz sein konnte. Der sichtbare Beweis der Selbstdisziplin, die sie von sich erwartete.

»Ich dachte, die MD-11 wäre eine amerikanische Verkehrsmaschine gewesen«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Notizen, während sie ihren Büstenhalter zurechtrückte und ihren schulterlangen, kastanienbraunen Haarschopf in Form brachte. Jake Rhoades war ein wichtiger Mann im FBI-Hauptquartier; sie selbst arbeitete in der Washingtoner Niederlassung und musste ihm bei Sonderaufträgen Bericht erstatten. Dennoch war Jake ein angenehmer Gesprächspartner. Ihr Verhältnis war zwar professionell, aber herzlich. Zwischen ihnen herrschte ein lockerer Umgangston.

Sie hörte ein Nuscheln aus dem Computer und schaute auf den Bildschirm, um zu sehen, ob die Verbindung noch stand.

»Entschuldigung, Jake. Könnten Sie das wiederholen?«

»Ich sagte, es ist wohl das Beste, wenn ich die Situation kurz für Sie zusammenfasse.«

»Gute Idee«, erwiderte sie. Sie sah auf die Uhr und dann zum Sofa, wo sie zwei Blusen ausgebreitet hatte. In einer halben Stunde wurde sie unten erwartet und musste zugleich professionell und weiblich wirken. Das teure anthrazitfarbene Kostüm, das sie sich eigens für den Vortrag gekauft hatte, lag schon bereit. Aber welche Bluse würde den richtigen Eindruck machen?

»Okay«, fuhr Jake fort. »Die grundlegenden Fakten kennen Sie, oder?«

Sie ging rasch zum Sofa, begutachtete die beiden Blusen und nickte in Richtung Bildschirm. »Ich glaube schon«, erwiderte sie, während sie die Rüschenbluse glatt strich, die noch leicht nach ihrem Lieblingsparfüm roch. »Eine amerikanische MD-11 ist aus unbekannten Gründen anderthalb Kilometer innerhalb des kubanischen Luftraums ins Meer gestürzt. Keine Überlebenden, dreihundertsechsundzwanzig Tote. Der Präsident hat eine Seeblockade des Bergungsgebiets angeordnet, was wiederum eine hysterische Reaktion von Castro zur Folge hatte. Das hat dann zu Mutmaßungen geführt, Kuba habe die Maschine wegen Eindringens in den kubanischen Luftraum abgeschossen, was angesichts der vielen Linienmaschinen, die täglich über Kuba fliegen, natürlich absurd ist. Der Voicerecorder und die Blackbox aus dem Cockpit wurden drei Wochen lang vermisst und tauchten dann auf geheimnisvolle Weise wieder auf. Sie lagen unter Wasser und piepsten sich fast die Seele aus dem Leibe. Die Verkehrssicherheitsbehörde vermutet stark, dass jemand sie geborgen und an dem Voicerecorder herumgespielt hat, denn es fehlen mindestens drei Minuten, obwohl es an Bord keinen Stromausfall gab.« Sie richtete sich auf und schaute zum Bildschirm. »Ist das in etwa richtig?«

Jake zog die Augenbrauen hoch. »Ich bin beeindruckt, Kat. Sie sind eine aufmerksame Zuhörerin.«

Sie hielt die schlichte weiße Bluse auf Armeslänge von sich. Sie mochte etwas spartanisch und langweilig wirken, doch schließlich würde sie darin einen Vortrag über Luftfahrtterrorismus halten. »Habe ich was ausgelassen?«, fragte sie dann.

»Wir sind sicher, dass Kuba über ein kleines U-Boot verfügt. Einiges weist darauf hin, dass die Kubaner die Blackboxes geborgen und manipuliert haben könnten, um die wahren Vorkommnisse zu verschleiern. Das FBI und die Verkehrssicherheitsbehörde arbeiten in dieser Sache Hand in Hand, was leider bedeutet, dass die Medien uns die Hölle heiß machen werden.«

›Keine Angst, ich rede nicht mit Journalisten.«

»Gut, aber es könnte Ihnen nichts anderes übrig bleiben. Ein wichtiger Kongress über Luftfahrtterrorismus, bei dem Sie die Abschlussrede halten, wird Journalisten, die die Story verfolgen, magisch anziehen. Ich verbiete Ihnen nicht, mit Reportern zu sprechen. Ich bitte Sie nur, sich die Mutmaßungen zu verkneifen! Zur Zeit kriechen alle möglichen Spinner aus ihren Löchern und verbreiten Verschwörungstheorien. Sie stellen Zusammenhänge mit dem Absturz der Swissair, der EgyptAir, der TWA 800 und weiß Gott sonst noch für Katastrofen her. Über kurz oder lang werden sie auch eine Verbindung mit dem Unfall der Challenger oder dem Untergang der Titanic sehen.«

»So sind Verschwörungstheoretiker nun einmal«, erwiderte Kat und musterte Jakes Augen, die außergewöhnlich müde wirkten. Er war erst sechsundvierzig, sah aber zehn Jahre älter aus.

»Richtig. Passen Sie auf, Kat. Der Präsident und seine Leute setzten die Verkehrssicherheitssbehörde und uns mächtig unter Druck. Wir sollen ein Szenario entwickeln, das weder auf Kuba noch auf Verschwörungen, Außerirdische oder Terroristen hinweist. Natürlich werden wir uns diesem Druck nicht beugen. Aber ich muss sagen, es wird allmählich lästig. Deshalb lege ich Ihnen ans Herz, kein Öl ins Feuer zu gießen, indem Sie sich auf eine Antwort festlegen.«

»Und wenn man mich fragt, ob es ein Terroranschlag gewesen sein könnte?«

»Dann sagen Sie, nach unseren derzeitigen Informationen könnten wir das noch nicht beantworten. Erklären Sie, ein massives technisches Versagen könne ebenso gut der Grund sein. Sie kennen ja den Lieblingsspruch der Verkehrssicherheitsbehörde: Es ist noch zu früh, um irgendetwas auszuschließen!«

»Okay, verstanden.«

»Ich meine es ernst, Kat. Seien Sie äußerst vorsichtig. Ein Versprecher gegenüber den Medien, und Ihr Name ist wieder in den Schlagzeilen.«

»Und das fänden Sie schlecht, nicht wahr?«

»Kat!«

Sie unterdrückte ein Kichern. »Nichts für ungut, Boss. Doch was ist, wenn es wirklich die Kubaner waren?«

»Nach der großen Invasion könnten Sie sich dann als Rechtssattaché des FBI in Havanna bewerben. Der arme Fidel täte mir Leid, selbst wenn er tatsächlich der Schuldige wäre.«

»Wie hoch stehen die Chancen, dass es sich um einen Terroranschlag handelt, Jake? Ich meine realistisch und ohne Parteipolitik.«

Ihr Chef sagte zunächst nichts. Dann hörte sie ihn seufzen.

»Falls es wirklich Terroristen waren – kein technisches Versagen und auch nicht die Kubaner –, sitzen wir ganz schön in der Tinte. Wir haben keine Ahnung, wie sie es geschafft haben, obwohl ein Raketenangriff nicht ausgeschlossen ist. Deshalb bezweifle ich …«

Im Hintergrund läutete das Telefon.

»Einen Moment bitte, Kat.«

»Selbstverständlich«, erwiderte Kat. Sie dachte an den Absturz der MD-11 und den frustrierenden Mangel an Hinweisen. Dann schweifte ihr Blick wieder zum Sofa.

Die Rüschenbluse. Ich sehe gerne weiblich aus. Wenn die Kerle ein Problem damit haben – Pech für sie! Sie streifte die Bluse über und erinnerte sich mit einem Lächeln an die Komplimente und Blicke, die sie stets damit erntete. Dann schlüpfte sie in den dunkelgrauen Rock und rückte ihn so zurecht, dass er knapp über dem Knie endete. Jetzt fehlten nur noch ein Hauch Haarspray und ein letzter Blick ins Manuskript. Dann wäre sie bereit.

»Sind Sie noch da, Kat?«, meldete sich Jake wieder.

Sie ging auf den Computer zu, weiter an ihrem Rock zupfend. »Ich warte, Jake.«

»Ich muss los. Jemanden fertig machen.«

Kat nahm das Höschen vor der winzigen Linse weg und grinste in die Kamera. »Danke für Ihre Hilfe, Sir! Ich erstatte morgen Bericht.«

»Äh, darf ich als Ihr Vorgesetzter anmerken, dass Ihr Erscheinungsbild der Tradition unserer Behörde alle Ehre macht?«

»Sie dürfen«, lächelte sie.

Ihre blauen Augen funkelten vor Freude über das Kompliment. Jake war zwar verheiratet und ein Mann von Moral, aber er war immer noch ein Mann.

»Äh, ich meine …«

»Ich weiß, was Sie meinen, Jake«, erwiderte sie. »Und ich freue mich sehr darüber.«

Kat brach die Verbindung ab und klappte den Laptop zu. Dann sah sie wieder auf die Uhr. Noch zwanzig Minuten!

Sie legte letzte Hand an ihre Aufmachung für das grelle Licht des Festsaals – Schminke, Haare, Ohrringe, dunkelgraue Pumps, Blazer – und überflog noch einmal rasch das Manuskript.

Wieder stieg ihr der Duft exotischer Hölzer in die Nase. Sie schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Zwischen Sandelholz- und Teakmöbeln prangte der frische Strauß tropischer Blumen, den jeder Redner erhalten hatte. Im Hintergrund lief leise ein Konzert von Bach.

Sie trank ein Glas Mineralwasser und versuchte die Digitaluhr nicht anzusehen, die mahnend auf ihrem Nachttisch stand. Draußen über dem Hafen glühte ein unglaublich roter Sonnenuntergang. Die Farben, die sich im Wasser spiegelten, erinnerten an die Palette eines Malers. Kat musste an die Sonnenuntergänge denken, die ihr Vater ihr so oft gezeigt hatte, manchmal mitten in einer Gardinenpredigt, wie einmal als sie acht oder neun gewesen war.

Sie lächelte, als sie sich erinnerte, wie streng und autoritär er manchmal gewesen war und wie er in anderen Augenblicken die Schönheit der Natur bewundert hatte – ein mit allen Wassern gewaschener FBI-Agent mit der Seele eines Dichters.

Kat beugte sich über die in den Nachttisch eingelassenen Radioknöpfe und drehte das Konzert lauter. Vor zwei Tagen, beim Betreten des Zimmers, war sie von Vivaldis lyrischen Klängen empfangen worden. Die Musik und der Sonnenuntergang über dem exotischen Hafen schufen eine Atmosphäre vollendeter Eleganz. Und schon der Name Hongkong klang nach Abenteuer.

Hier bin ich also, Dad, eine richtige FBI-Agentin mit einem Auftrag im Paradies, dachte sie. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie nicht mehr zum Telefon greifen und Momente wie diesen mit ihm teilen konnte, und ihr Stolz und ihre Freude waren sofort verflogen.

Du fehlst mir. Daddy. Aber ich werde es schaffen.

2

HONGKONG, CHINA 12. NOVEMBER – TAG EINS 21:05 ORTSZEIT/1305 ZULU

Kat Bronksy stand hinter dem Rosenholzpult in dem gewaltigen Vortragssaal und zählte im Geist bis fünf, um die dramatische Pause auszukosten. Die Zuhörer waren mucksmäuschenstill und hingen ihr an den Lippen. Sechzehnhundert Konferenzteilnehmer lauschten Kats dramatischer Schilderung der Flugzeugentführung, die in New York ein Ende gefunden hatte.

»Wir warteten achtzehn Stunden. Erst dann haben wir angegriffen«, fuhr Kat nun fort. Sie sprach langsam, um den verschiedenen Dolmetschern, die hinter einem Vorhang ihre Arbeit taten, genug Zeit zum Übersetzen zu geben.

»Achtzehn Stunden voller Forderungen und Drohungen der Entführer. In dieser Zeit hatten wir nur eine Waffe: Verhandeln – Verhandeln, um Zeit zu gewinnen. Doch in der achtzehnten Stunde …«

Sie hielt inne, schaute zu den riesigen Kronleuchtern auf und prägte sich alles gut ein – selbst den leichten Geruch nach Zigarettenrauch, obwohl das Rauchen hier eigentlich verboten war. Alle kannten das Ende der Geschichte, doch sie waren gebannt von Kats Erzählung.

»… Die linke Bugtür der 747 schwang auf und statt eines Kugelhagels oder Leichen kamen drei erschöpfte, resignierte Entführer mit erhobenen Händen zum Vorschein. Siebenundachtzig Passagiere überlebten unverletzt und konnten nach Hause zu ihren Familien. Und nur darauf kommt es – wie Sie wissen – an. Wir alle sind Menschen. Auch die schlimmsten Verbrecher sind nur Menschen. Natürlich kann nicht jede Geiselnahme so glimpflich enden. Doch selbst die Reaktionen des aufgebrachtesten und verzweifeltsten Menschen kann man bis zu einem gewissen Grad beeinflussen. Wir können Erfolg haben, wenn wir standhaft bleiben. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

Kat trat einen Schritt zurück, deutete eine Verbeugung an und wartete die Reaktion der Zuhörer ab. Die Tagung war fruchtbar gewesen, doch sie war die letzte Rednerin. Alle waren müde und wollten nach Hause. Nun sprangen sie jedoch auf und klatschten ihr Beifall.

Ach, du meine Güte, eine stehende Ovation! Der Applaus wurde immer lauter und Kat gab es bald auf, ihr Lächeln zu unterdrücken.

Der Konferenzvorsitzende erschien neben ihr, während der Beifall verebbte, und verkündete, in den nächsten zehn Minuten bestehe Gelegenheit, der Rednerin Fragen zu stellen. Eine Hand hob sich, allerdings so weit hinten, dass sie nicht sehen konnte, wer es war. Jemand reichte dem Mann ein tragbares Mikrofon.

Kat beantwortete viele Fragen über die Entführung der 737 der Fluggesellschaft AirBridge, die ihr beim FBI zu einiger Berühmtheit verholfen hatte. Immer noch benommen von dem rauschenden Beifall hätte sie fast den Namen und die Tätigkeit des letzten Fragers überhört.

»Robert MacCabe von der Washington Post. Agent Bronsky, wir alle wissen vom Absturz der MD-11 über kubanischen Hoheitsgewässern vor einigen Monaten. Bis jetzt gibt es noch keine eindeutige Erklärung dafür und Kuba streitet jede Verantwortung ab. Wie wahrscheinlich ist es, dass nicht die Kubaner, sondern Terroristen den Absturz herbeigeführt haben? Und wenn diese Möglichkeit besteht, welche Waffe könnte benutzt worden sein?«

Robert MacCabe? Sie versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Jake hatte Recht! Was macht der Starreporter der Washington Post hier in Hongkong?

Kat räusperte sich. »Wollen Sie meine persönliche Meinung, Mr MacCabe, oder die offizielle Version des FBI?«

»Ich nehme, was ich kriegen kann«, erwiderte er zur Belustigung der anderen Zuhörer. »Sagen Sie einfach, wie Sie den Fall einschätzen.«

»Ich bin nicht befugt, im Namen des FBI über laufende Ermittlungen zu sprechen«, entgegnete sie mit einem gezwungenen Lächeln. Sie wünschte, er würde sich wieder setzen. Er war im Begriff, die Zuschauer gegen sie einzunehmen. Die allgemeine Sympathie schien bereits nachzulassen. »Wie Sie sicher wissen, ist das FBI mit der Untersuchung befasst, weshalb ich nicht darüber reden kann. Weitere Fragen?« Sie wandte sich von ihm ab.

»Ja«, beharrte Robert MacCabe. »Dies war einer der wichtigsten Kongresse zum Thema Luftfahrtterrorismus, Agent Bronsky, und Sie sind hier, weil Sie zu den FBI-Experten auf diesem Gebiet gehören – weltweit.«

»Und Ihre Frage, Mr MacCabe?«, unterbrach Kat.

»Dazu komme ich gleich. Ihr ausgezeichnetes Referat hat gezeigt, dass niemand in diesem Saal mehr zu diesem Thema zu sagen hat als Sie. Und nun wollen Sie uns weismachen, Sie hätten keine Meinung über den Absturz vor Kuba?«

Nachdem die Frage übersetzt worden war, brach Geraune im Saal aus.

»Natürlich habe ich eine Meinung, Mr MacCabe, doch ich glaube, meine Zeit ist jetzt um.« Ein Flugzeug überflog das Gebäude und ließ den Saal erzittern.

»Ich bin neugierig«, sprach MacCabe weiter, »warum niemand zugibt, dass es sich vielleicht um einen Terrorakt handelt. Als 1996 die TWA-Maschine vor Long Island abstürzte, hat sich das FBI keinen Augenblick vor diesem Schluss gescheut.«

»Und das war ein Irrtum, nicht wahr?«, zischte Kat inzwischen merklich gereizt. »Hören Sie. Das hier ist nicht der geeignete Rahmen für Ihre Fragen, Sir. Und meine Zeit ist um. Vielen Dank.« Damit verließ sie das Rednerpult. Als sie sich noch einmal im Saal umsah, stellte sie fest, dass die Begeisterung nach ihrer Rede verflogen war.

Zum Teufel mit dem Kerl!, dachte sie. Dann bedankte sich der Tagungsleiter noch einmal bei ihr und erklärte den Kongress für beendet.

 

Vor der Bühne war Kat sofort von Delegierten umringt, die mit ihr sprechen und ihr zu ihrem gelungenen Vortrag gratulieren wollten.

Also hat er doch nicht so viel Schaden angerichtet!, sagte sie sich, doch weil sie das Bedürfnis verspürte, sich MacCabe auf der Stelle vorzuknöpfen und ihm den Kopf abzureißen, antwortete sie nur einsilbig und arbeitete sich, die Handtasche über der Schulter und ihre Konferenzmappe fest vor die Brust gedrückt, zum Ausgang vor.

Kurz vor der Tür stand Robert MacCabe plötzlich vor ihr. Er musterte sie mit seinen großen haselnussbraunen Augen und lehnte verlegen, die Hände in den Anzugtaschen, an einem Betonpfeiler. Einen kleinen Koffer, der offenbar einen Laptop enthielt, hatte er neben sich abgestellt.

Kat schob ihr Kinn vor und ging direkt auf ihn zu.

»Also, MacCabe, welchem Umstand verdanke ich diese Ehre? Weshalb mussten Sie mir das Wasser abgraben?«

Er lächelte schüchtern, ein entwaffnendes, blitzendes Kennedylächeln. Sein Gesicht war sonnengebräunt, sein dichter dunkler Haarschopf wirkte zerzaust. Einsfünfundsiebzig, Ende dreißig. Wahrscheinlich Harvard- oder Princeton-Absolvent schätzte Kat. Für seinen Pulitzerpreis war er noch ziemlich jung und er sah besser aus als auf den Zeitungsfotos.

Robert MacCabe nahm seine Hände aus den Taschen und hob sie schicksalsergeben. »Ehrenwort. Agent Bronsky, ich wollte Sie nicht sabotieren.«

Ihr Blick war eisig. »Ach nein!«

»Hören Sie …«, begann er.

»Nein, jetzt hören Sie mir zu, Mr MacCabe! Ich möchte wissen, warum …«

Sie stockte, weil er den Zeigefinger an die Lippen legte und zu einer Gruppe von Delegierten wies, die, in einer Wolke von Zigarettenqualm, ganz in der Nähe plauderten. Obwohl sie sich über seine Geste ärgerte, senkte sie die Stimme zu einem Flüstern. Sie war wütend, dass er wieder das Gespräch beherrschte. Und sie versuchte, sein angenehm nach Holz duftendes Rasierwasser zu ignorieren.

»Ich will wissen, was Sie mit Ihren Fragen über den Absturz der MD-11 und zum Thema Terrorismus bezweckt haben.«

»Wir müssen miteinander reden«, erwiderte er knapp.

Kat zog die Brauen hoch. »Ich dachte, das täten wir bereits. Worüber denn?«

Sein Blick war zu einer anderen Gruppe von Delegierten gewandert, die sich in einiger Entfernung unterhielten. Trotz des Verkehrslärms und des Stimmengewirrs konnten sie alles mithören. »Über diesen Absturz. Und über den Grund, warum ich Ihnen vorhin diese Fragen gestellt habe.« Sie bemerkte, dass sein Lächeln verflogen war.

»Tut mir Leid, dass ich Sie enttäuschen muss«, schüttelte Kat den Kopf, »aber ich lasse mich nicht von Ihnen aushorchen!«

»Nein«, unterbrach MacCabe sie wieder, ich möchte Sie nicht interviewen. Ich möchte eine Information mit Ihnen teilen. Ich erinnere mich noch an Ihre Rolle bei der Flugzeugentführung in Colorado, und ich habe Sie seitdem beobachtet.«

»Sie sind mir seitdem gefolgt?«, staunte Kat.

»Nein, ich habe Ihre Karriere verfolgt. Die Washington Post hat mich dann beauftragt, über diese Tagung zu berichten. Deshalb bin ich hier.«

Kat erwiderte nichts und versuchte, in seinem Gesicht zu lesen. Er schüttelte den Kopf und schaute an die Decke, bevor er das Schweigen brach. »Es tut mir Leid, wenn ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe. Ich habe Sie nur mit meinen Fragen bedrängt, weil ich wissen wollte, ob Sie die Person sind, an die ich mich wenden muss.« Er schaute sich rasch um. »Und das sind Sie. Können wir uns vielleicht irgendwo unter vier Augen unterhalten?«

»Warum?«, entgegnete Kat. Sie bemerkte, dass einer der Delegierten in respektvollem Abstand auf eine Gelegenheit wartete, mit ihr zu sprechen. Sie lächelte dem Mann zu, bat ihn mit einer Geste um Geduld und wandte sich wieder MacCabe zu.

»Weil …« Er seufzte und schüttelte wieder den Kopf. Er schien sich nicht sicher zu sein. Er schaute sich noch einmal um, dann nickte er und beugte sich endlich zu ihr vor.

»Okay. Passen Sie auf. Es ist etwas passiert. Mir sind ein paar Informationen zugespielt worden, die mir echt Angst einjagen – eher Andeutungen, nicht einmal Informationen, aber die Quelle ist äußerst zuverlässig. Damals wusste ich nicht, was ich davon halten sollte, aber jetzt …«

»Was für Andeutungen?« Inzwischen wartete ein weiterer Delegierter auf sie.

»Über den Absturz der MD-11 und seine Ursachen.«

»Ich habe Ihnen bereits im Saal erklärt, Mr MacCabe, dass ich mit diesen Ermittlungen nichts zu tun habe.«

Wieder unterbrach er sie mit einer Handbewegung. »Hören Sie mich an. Bitte! Heute Morgen ist etwas passiert, doch hier möchte ich nicht darüber reden. Mittlerweile bin ich der Ansicht, dass besagte Informationen oder Andeutungen korrekt sind.« Er fuhr sich verlegen mit der Hand durchs Haar.

»Warum kommen Sie damit zu mir?«, seufzte Kat. »Ich bin nicht als Agentin in Hongkong, sondern als Delegierte.«

»Aber Sie sind vom FBI, Ms Bronsky. Auch unter der Dusche oder im Schlaf sind Sie eine FBI-Agentin. Soweit ich mich erinnere, haben Sie das in einem Interview nach der Flugzeugentführung in Colorado selbst gesagt. Ich wende mich an Sie, weil Sie gut über internationalen Terrorismus im Bilde sind. Bitte hören Sie mich an. Ich habe meinen Flug umgebucht. Ich fliege in wenigen Stunden, gegen Mitternacht, nach Los Angeles zurück. Dass ich als Einziger über diese Dinge Bescheid weiß, jagt mir eine Heidenangst ein – ehrlich.«

Kat erkannte an seinem Blick, dass er Angst hatte. »Haben Sie diese Informationen hier in Hongkong aufgeschnappt?«, fragte sie.

»Nein, daheim in Washington. Aber ich möchte wirklich nicht hier darüber reden. Einverstanden?«

»Sie fliegen also um Mitternacht. Haben Sie zufällig bei Meridian Airlines gebucht?«, erkundigte sich Kat kühl. Sie war immer noch misstrauisch.

»Ja«, erwiderte er.

»Dann sind wir in derselben Maschine.«

Er wirkte überrascht. »Wirklich? Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich wohne in einem Hotel ein paar Häuser weiter und muss noch meine Sachen abholen und auschecken. Anschließend besorge ich mir ein Taxi und hole Sie ab, sagen wir in etwa einer Dreiviertelstunde. Meine Zeitung lädt Sie zum Essen ein, und ich erkläre Ihnen alles.«

Kat schüttelte ablehnend den Kopf und lächelte ihrem wartenden Fanclub – inzwischen vier an der Zahl – entschuldigend zu.

»Bitte!«, raunte Robert MacCabe flehend.

»Ich habe eine bessere Idee, Mr MacCabe. Wir unterhalten uns im Flugzeug.«

»Nein. Bitte! Ich möchte nicht klingen wie in einem Spionageschmöker, aber die Informationen, von denen ich spreche, sind zu brisant, um sie in einem voll gepackten Flugzeug zu erörtern.« Er berührte sie zaghaft am Arm. »Ich flehe Sie an. Ich mache keine Witze. Die Sache könnte sehr ernst sein, und ich weiß nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.«

Kat musterte ihn eine Weile argwöhnisch und fragte sich, warum er es wohl so eilig hatte. Vermutlich falscher Alarm.

»Also gut, Mr MacCabe,« ließ sie sich endlich erweichen, in fünfundvierzig Minuten. Ich gebe es zwar nur ungern zu, aber Sie haben meine Neugier geweckt.«

»Danke!« Sie blickte ihm nach, wie er eilig das Gebäude verließ.

3

HONGKONG, CHINA 12. NOVEMBER – TAG EINS 21:40 ORTSZEIT/1340 ZULU

Robert MacCabe faltete die internationale Ausgabe von USA Today zusammen und steckte sie in eine Seitentasche seines Computerkoffers. Die Aufzugtür öffnete sich im zweiunddreißigsten Stock. Fünfundvierzig Minuten waren ziemlich knapp kalkuliert. Er würde sich sputen müssen, wenn er Kat Bronsky pünktlich abholen wollte.

Vor dem Aufzug wäre er fast mit einem kräftig gebauten Mann zusammengestoßen. »Pardon«, murmelte Robert und eilte den langen Flur hinunter. Nach etwa zehn Metern fiel ihm auf, dass er nicht gehört hatte, wie sich die Aufzugtüren wieder schlossen. Er blieb stehen und schaute sich um.

Der dunkle, kräftige Mann war noch da und schien Robert zu beobachten. Mit einer Hand hielt er eine weiße Plastiktüte mit dem Mercedesemblem. Mit der anderen blockierte er die Aufzugtür.

Sobald Robert stehen blieb, drehte der Mann sich wortlos um und verschwand im Aufzug, der sich dann hinter ihm schloss.

Seltsam, dachte Robert. Dann erinnerte er sich jedoch, dass er zwar kein Prominenter, aber wegen seines Pulitzerpreises ziemlich bekannt war.

Er ging um einen Putzkarren herum, der den Flur versperrte und nickte dem Zimmermädchen zu, während er seine Chipkarte herausholte. Und dann wunderte er sich, warum seine Zimmertür nach innen schwang, noch bevor er den Türknauf umgedreht hatte.

Was zum Teufel …? Verdattert blieb er auf der Schwelle stehen. Er hatte die Tür bestimmt ordentlich zugezogen. Auf diese Dinge legte er großen Wert.

Natürlich. Das Zimmermädchen! Sie musste die Tür aufgeschlossen haben.

Robert blickte sich um. Das Zimmermädchen und ihr Karren waren plötzlich verschwunden. Es wurde immer seltsamer. Er schob vorsichtig die Tür auf, knipste das Licht an – und schrak zusammen.

Das Zimmer war ein Trümmerfeld. Sämtliche Schubladen waren herausgerissen und ausgekippt worden. Der Inhalt seiner Tasche war überall verstreut. Die Nähte seines grauen Anzugs waren aufgetrennt. Seine Disketten lagen auf dem Bett, manche verbogen oder zerbrochen.

Gütiger Himmel!

Im Bad sah es nicht viel besser aus. Es stank nach Eau de Cologne. Die Scherben der grünen Flasche lagen über den Boden verstreut.

Er legte seinen Computerkoffer aufs Bett und schaute in die Schränke. Dann knallte er die Zimmertür zu und schloss ab. Sein Herz klopfte vor Angst.

Das Telefon läutete. MacCabe zuckte zusammen und nahm sofort ab, hörte aber nur ein Rauschen in der Leitung. Dann wurde langsam eingehängt. Als er auflegte, klingelte es sofort wieder.

Noch einmal vergingen etwa fünfzehn Sekunden, bevor die Verbindung abgebrochen wurde, ohne dass ein Wort gefallen war.

Robert MacCabe spürte kalten Schweiß auf dem Rücken. Er hatte das Gefühl, ihn beobachtete jemand, und zwar mit bösen Absichten. Nun wussten die Leute, die sein Zimmer durchsucht hatten, dass er zurückgekehrt war.

Er hatte keine Zeit, die Hoteldetektive zu alarmieren. Er rollte seine Reisetasche zum Bett und stopfte so schnell wie möglich seine Sachen hinein. Was sollte er tun, wenn jemand an die Tür klopfte? Es gab keinen anderen Ausgang. Und er befand sich im zweiunddreißigsten Stock.

Wieder klingelte das Telefon. Jedes Läuten klang wie eine finstere Drohung.

Der graue Anzug war vollkommen ruiniert und er beschloss ihn zurückzulassen. Als Letztes warf er seinen Rasierapparat in die Tasche und kniete sich darauf, bis er den Reißverschluss schließen konnte.

Während er zur Tür eilte, läutete das Telefon unablässig weiter. Er spähte durch den Spion und betrachtete das verzerrte Abbild des Flurs auf der anderen Seite der Zimmertür: Niemand zu sehen.

Robert riss die Tür auf und trat, die Tasche in der einen, den Computerkoffer in der anderen Hand, auf den Korridor. Er fühlte sich wie ein Kind in einem Geisterhaus, solche Angst hatte er nun. Er rannte mit seinem Gepäck auf die etwa dreißig Meter entfernten Aufzüge zu. Das Telefon in Zimmer 3205 klingelte noch immer.

Endlich war er bei den Aufzügen und schlug auf den ABWÄRTS-Knopf. Während er wartete, sah er sich im Flur um: Ein kleiner Tisch, zwei Sessel, eine Topfpflanze und eine Plastiktüte, die jemand an die Wand gelehnt hatte – die Tüte mit dem Mercedesemblem, die er vor zehn Minuten in der Hand des großen Mannes gesehen hatte. Offenbar war er zurückgekommen – oder gar nicht erst fortgegangen. Wahrscheinlich hat er auch mein Zimmer verwüstet. Robert wurde immer mehr von Panik ergriffen.

Die Aufzüge waren alle unterwegs, doch ein paar Meter weiter sah Robert den Eingang zum Treppenhaus. Er rannte hin, riss die Tür auf, zerrte sein Gepäck über die Schwelle und eilte die Treppe hinunter. Zu seiner Erleichterung fiel die schwere Brandschutztür hinter ihm krachend ins Schloss.

Schon im neunundzwanzigsten Stock musste er stehen bleiben, um Luft zu schnappen, so stickig war es in dem Treppenhaus. Es stank nach Knoblauch und staubigem Muff, typisch für selten benutzte Räumlichkeiten. Er beschloss, es noch einmal mit dem Aufzug zu versuchen.

Er drehte am Türknauf, doch die Tür gab nicht nach, so heftig er auch daran rüttelte.

Von oben hörte er nun, wie eine Brandschutztür geöffnet wurde, und dann schwere Schritte auf der Treppe.

Robert zerrte verzweifelt an der Tür und presste das Gesicht gegen das kleine Drahtglasfenster, doch so sehr er sich auch anstrengte, die Tür ließ sich nicht öffnen. Der Flur dahinter war menschenleer.

Die Schritte näherten sich mit bedrohlicher Ruhe. Offenbar wusste sein Verfolger, dass die Beute ihm nicht entrinnen konnte.

So leise wie möglich ging Robert ein Stockwerk tiefer, doch auch dort war die Tür verschlossen. Auf einem Schild las er nun, dass der nächste Ausgang in Parterre zu finden war.

Robert lehnte sich an die Wand und versuchte nachzudenken. Beruhige dich, verdammt! Woher willst du wissen, dass, wer immer da die Treppe herunterkommt, hinter dir her ist?

Doch dann dachte er wieder an das verwüstete Hotelzimmer und das läutende Telefon und die Frage beantwortete sich von selbst.

Also nahm er sein Gepäck und eilte auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Die Schritte oben wurden ebenfalls schneller.

Robert klopfte das Herz bis zum Hals. Er stolperte und schlitterte über den Treppenabsatz im zweiundzwanzigsten Stock und plötzlich wurde die Brandschutztür vor ihm aufgestoßen. Er wurde umgeworfen und seine Tasche knallte gegen die Wand.

»Oh! Entschuldigung!« Eine Frauenstimme hallte durch den Nebel der Todesangst. Zwei junge Mädchen hielten die Tür auf und waren sich offenbar nicht schlüssig, was sie mit dem verängstigten Mann machen sollten, der da vor ihnen lag.

Robert rappelte sich auf, packte seine Tasche und rannte an den verblüfften Teenagern vorbei in den Flur, auf die Aufzüge zu.

»Alles in Ordnung, Sir?«, rief ihm eines der Mädchen nach, während er den ABWÄRTS-Knopf drückte.

»Ja, alles in Ordnung«, rief er. »Aber passt auf, dass niemand durch diese Tür kommt.«

»Ich verstehe nicht«, sagte das Mädchen.

Die Aufzugglocke läutete. In einer Sekunde würden sich die Türen öffnen und bald würde sein Verfolger vor der verschlossenen Brandschutztür stehen.

»Lasst niemanden durch diese Tür, okay«, bat er die Mädchen noch einmal. »Öffnet sie auf keinen Fall«. Ihre verdatterten Mienen versprachen jedoch nichts Gutes.

Endlich öffneten sich die Aufzugtüren. Die Kabine war leer. Robert sprang hinein und drückte mehrmals auf HALLE und TÜR ZU, doch die Türen blieben offen.

Und dann hörte er, wie die Brandschutztür aufging. Eine Männerstimme übertönte die erstaunten Fragen der Mädchen.

Als die Aufzugtüren schließlich in Bewegung kamen, näherten sich schon schwere Schritte. Robert drückte sich in eine Ecke des Aufzugs. Die Schritte wurden schneller und eine Männerhand schob sich durch den Spalt, den die Tür noch offen war. Es war jedoch zu spät und die Hand wurde zurückgezogen.

Das Pochen in Robert MacCabes Kopf war lauter als das Surren des Liftantriebs. Er stellte den Computer auf die Reisetasche und klappte den Tragegriff aus. Wenn er es schaffte, diesen panischen Gesichtsausdruck loszuwerden und wie ein normaler Gast durch die Vorhalle zu schlendern, konnte er vielleicht in den Menschenmassen untertauchen und zu einem Taxi durchkommen.

Die Vorhalle! Bestimmt warten die da schon auf mich.

Er drückte also auf ZWISCHENGESCHOSS, gerade noch rechtzeitig, um den Aufzug eine Etage über der Eingangshalle anzuhalten. Die Türen öffneten sich und er stieg aus. Vom Zwischengeschoss aus hatte er die Eingangshalle gut im Blick. Sofort bemerkte er zwei Männer in dunklen Anzügen, die, zwei Stufen auf einmal, die Rolltreppe hinaufliefen. Beide waren mit Sprechfunkgeräten ausgerüstet.

Robert stürmte einen Flur hinunter, durch eine Flügeltür, in den Servicebereich hinter dem Kongresssaal. Der Raum war voller Leute, aber niemand achtete auf ihn. Er rannte durch die nächste Tür in die Hotelwäscherei, auf eine enge Treppe zu. Niemand hielt ihn auf.

Und dann stand er plötzlich auf einer dunklen, feuchten Seitengasse hinter dem Hotel und hörte erleichtert, wie die schwere Stahltür hinter ihm zufiel.

Er lief die Seitengasse hinunter zur Hauptstraße. Dort mischte er sich unter die Leute und ließ sich von der Masse treiben, bis er bemerkte, dass er sich dem Haupteingang des Hotels näherte.

Eine Gruppe von Hotelgästen strömte fröhlich plaudernd auf wartende Busse zu. Fast jeder, den er sah, hatte eine Plastiktüte bei sich – eine Tüte mit dem Mercedesstern.

Robert blieb wie angewurzelt stehen und schüttelte den Kopf. Die Mercedes-Tüte, die er im zweiunddreißigsten Stock gesehen hatte, hätte also jedem gehören können.

Hatte er grundlos die Flucht ergriffen?

Doch was war mit dem Verfolger im Treppenhaus? Er war durch eine verriegelte Brandschutztür gekommen …

Mein Gott! Natürlich!, dachte Robert erschrocken. Er hatte einen Schlüssel, weil er zur Hotelpolizei gehört! Wahrscheinlich habe ich einen Alarm ausgelöst, als ich die Tür öffnete.

Er kam sich reichlich albern vor. Er holte tief Luft und ging mit zitternden Knien auf den Haupteingang zu. Es gab also keine Verfolger. Er hatte sich von seiner Fantasie mitreißen lassen und einen gewöhnlichen Einbruch mit Terrorismus, Flugzeugabstürzen vor Kuba oder einem möglicherweise belauschten Gespräch mit einer FBI-Agentin in Verbindung gebracht.

Die Düfte Hongkongs erweckten seine Sinne wieder zum Leben. Ein kräftiger Fischgeruch und der Gestank von Müll mischten sich mit dem köstlichen Aroma aus einem Steakhaus. Es hatte geregnet und auf der Straße spiegelten sich die bunten Neonreklamen.

Er schaute zum Hoteleingang, dann auf seine Uhr. Er würde sich beeilen müssen, wenn er den Einbruch noch anzeigen wollte. Auschecken konnte er auch telefonisch. Die Zeit reichte kaum noch, um sich ein Taxi zu besorgen.

Am Taxistand vor dem Hotel herrschte ein unglaubliches Gedränge. Robert musste sich gegen einen Strom ankommender Kongressbesucher schieben. Zwei Männer, einer rechts und einer links von ihm, ließen sich jedoch nicht beiseite stoßen. Sie klemmten ihn ein und drängten ihn vom Haupteingang ab.

Robert blieb stehen, um die beiden Männer vorbeizulassen, doch sie blieben an seiner Seite.

Im selben Moment spürte Robert, wie ihm etwas Hartes in die Rippen gedrückt wurde.

»Das ist eine Pistole«, flüsterte der eine Mann.

»Was … was wollen Sie?«, stammelte Robert.

»Weitergehen. Schauen Sie geradeaus.«

Robert versuchte, sich zu befreien, aber zwei kräftige Hände packten seine Arme und die Tasche wurde ihm aus der Hand gerissen. Dann hörte er wieder die Stimme. »Ich habe auch einen Schalldämpfer, Mr MacCabe.«

Amerikanischer Akzent, registrierte Robert, und seine Angst wurde noch größer.

»Die Waffe ist genau auf Ihr Rückgrat gerichtet. Noch ein Fluchtversuch und Sie werden ein kleines Ping hören, wenn die Kugel Ihnen das Rückenmark durchtrennt. Wir verschwinden dann einfach und Sie sitzen für den Rest Ihres Lebens im Rollstuhl.«

»Schon gut, schon gut. Wer sind Sie?«

Der Lauf wurde fester in seine Seite gestoßen. Robert zuckte vor Schmerz zusammen. »Maul halten«, zischte die Stimme.

»Hören Sie, ich werde nicht …«

»MAUL HALTEN, HABE ICH GESAGT!«

Sie gingen auf eine schwarze Limousine zu, die am Straßenrand parkte. Der kräftige Mann, den er im zweiunddreißigsten Stock gesehen hatte, stieg aus und öffnete die rechte Hintertür.

»Wo ist sein Gepäck?«, fragte er.

»Alles hier«, erwiderte der Mann mit der Pistole. Der andere ließ Robert los und ging auf die andere Seite des Wagens.

Robert hatte das Gefühl, alles in Zeitlupe zu erleben. Ganz gleich, wer diese Männer waren, wenn er in diesen Wagen stieg, war es aus mit ihm. Ihm blieben nur noch ein paar Sekunden. Wenn er handeln wollte. Doch was sollte er tun?

Der Gorilla vom 32. Stock glitt auf den Beifahrersitz. Nun konnte nur noch der Pistolenschütze Robert an der Flucht hindern. Robert wandte sich nach rechts und sah ihn an.

»Sie haben doch meinen Computer mitgenommen?«

Der Mann grinste böse. Offenbar war ihm gleichgültig, ob Robert sein Gesicht sehen konnte oder nicht. Er hatte also nicht vor, seinen Gefangenen lange genug am Leben zu lassen, dass er der Polizei eine Personenbeschreibung liefern konnte. Das Todesurteil war schon gefällt.

»Nett, dass Sie danach fragen, MacCabe. Ein Jammer, dass Sie ihn nicht im Zimmer gelassen hatten.« Er hielt den Computerkoffer mit der linken Hand hoch. Dabei senkte sich seine rechte Hand, die die Pistole hielt, sodass Robert den Lauf sehen konnte.

Kein Schalldämpfer.

Robert MacCabe legte seinen ganzen Lebenswillen in den Tritt, den er nun wagte, und er zielte gut. Seine Schuhspitze traf den Mann mit solcher Gewalt im Unterleib, dass er in die Luft gehoben wurde. Er schrie auf und ein Schuss löste sich, als dem Mann die Pistole aus der Hand fiel. Leute zuckten zusammen und drehten sich nach ihnen um.

Die Wucht seines Tritts hatte Robert rückwärts gegen den Wagen taumeln lassen, doch nun hechtete er vor, um seinen Computerkoffer aufzufangen, den der Mann fallen gelassen hatte. Er erwischte den Koffer im Flug, rollte sich ab und sprang gleich wieder auf. Dann rannte er buchstäblich um sein Leben, am Hoteleingang vorbei und Haken schlagend, unter Hupen und Reifenquietschen, über die belebte Straße. Nach etwa dreißig Metern bog er schlitternd in eine Seitengasse ein, rannte einen Stapel Pappkartons um und fand sich zwischen Marktständen wieder, wo ihn die Menschen erstaunt angafften.

Hinter sich hörte er schnelle Schritte und Rufe, doch die Überraschung war – wenigstens für den Augenblick – noch auf seiner Seite. Und wenigstens wusste er nun, dass er keine Gespenster sah. Jemand wollte ihm tatsächlich ans Leder.

Die mit Waren voll gepackten Karren und Tische vor den kleinen Läden waren wie ein Hinderniskurs. Unter den bunten Markisen drangen alle möglichen Klänge hervor, von asiatischem Rap bis zu den Beatles, und Robert stiegen die verschiedensten Essensdüfte in die Nase. Er spähte in jede Tür und hielt nach einem Hinterausgang Ausschau, denn er wusste, dass die Killer ihm dicht auf den Fersen waren oder am Ende der Gasse auf ihn warteten – oder beides.

Er musste verschwinden, und zwar schnell.

Er duckte sich zwischen Stoffballen und rannte in einen Laden. Am Ende des Verkaufsraums riss er einen Perlenvorhang auf und stand plötzlich vor einem verdutzten Paar, das dort beim Abendessen saß.

Der Mann sprang auf und schien mit seinen Essstäbchen auf Robert losgehen zu wollen.

»Tut mir Leid, wenn ich beim Essen störe«, keuchte Robert. »Wo ist der Hinterausgang?«

»Was?«

»Der Hinterausgang! Haben Sie einen Hinterausgang?«

»Warum?«, fragte der alte Mann argwöhnisch. Er bedrohte Robert weiter mit seinen Essstäbchen.

»Weil jemand hinter mir her ist. Nicht die Polizei oder die Armee, sondern jemand, der mich umbringen will.

»Jetzt gleich?«

»Wie bitte?«

»Ist sie hinter ihnen her?«

»Ja«, antwortete Robert verwirrt.

Die Miene des alten Mannes erhellte sich. »Ich verstehe. Kommen Sie hier entlang!«

Er schob einen weiteren Perlenvorhang beiseite und hielt Robert die niedrige Tür auf, die dahinter verborgen war. Als Robert vorbeigehen wollte, hielt der Chinese ihn am Arm fest und flüsterte aufgeregt: »Zwei Blocks weiter in diese Richtung ist ein Einkaufszentrum. Gehen Sie dort ins Untergeschoss, in das Kino dort. Kaufen Sie sich eine Eintrittskart und schleichen Sie sich durch den Hintereingang neben der Leinwand wieder hinaus. Dann kommen Sie ganz woanders wieder auf der Straße raus. Großes Geheimnis. Klappt immer.«

Robert hielt inne und sah den Mann fragend an. »Passiert so etwas hier öfter?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, nein, aber so entkomme ich, wenn meine Frau hinter mir her ist.« Er grinste und zeigte Robert seine schlechten Zähne. »Sie jagt mich manchmal schreiend und zeternd durch die Straßen. Das ist Familientradition. Unsere Freunde lachen sich tot.«

»Ehrlich?«

»Ja, ja, es ist nur ein Spiel, aber wenn diese Frau wütend wird, bekommt man es mit der Angst zu tun.«

»Frauen«, lächelte Robert.

Der alte Mann nickte und äffte Roberts Zahnpastalächeln nach. »Frauen.«

 

Das Kino war ziemlich neu. Robert ließ sich von der Menge in den Saal schieben und fand bald den Hinterausgang, den der alte Mann ihm beschrieben hatte. Ein langer unterirdischer Tunnel führte zu einer Treppe, die wie versprochen auf einer anderen Straße endete.

Robert sprang in ein Taxi, nannte dem Fahrer Katherine Bronskys Hotel und duckte sich tief in den Sitz.

»Nur zum Hotel?«, fragte der Fahrer. Offenbar war er nicht sicher, überlegte, ob dieser schwitzende Amerikaner eine so kurze Tour wert war.

»Und dann zu einem Restaurant und anschließend zum Flughafen«, beruhigte ihn Robert. »Viele Meilen, viel Trinkgeld und keine Fragen mehr.«

Der Fahrer nickte und raste los.

4

HONGKONG, CHINA 12. NOVEMBER – TAG EINS 22:10 ORTSZEIT/1410 ZULU

Kat Bronsky stand vor dem überdachten Hoteleingang in einer Wolke von Auspuffgasen. Sie sah verärgert auf ihre Uhr.

Das war’s dann wohl. Man hat mich versetzt.

Sie hatte eigentlich nicht vorgehabt, in denselben Kleidern nach Los Angeles zu fliegen oder früher auszuchecken. Und nun hatte sie kein Zimmer mehr und stand mit ihrem Gepäck vor dem Hotel. Sie konnte es wieder hineinschleppen und in einem der Hotelrestaurants essen oder allein ein Taxi zum Flughafen nehmen. Die zweite Alternative gefiel ihr besser.

Wenn ich MacCabe im Flugzeug treffe, kann er sich auf etwas gefasst machen.

Kat machte den farbenfroh uniformierten Portier auf sich aufmerksam und gab ihm zu verstehen, das sie ein Taxi brauchte. Routiniert pfiff er eines herbei, hielt ihr die Tür auf und wies einen Pagen an, ihre beiden Taschen einzuladen. Kat saß schon fast im Wagen, als ein anderes Taxi mit quietschenden Reifen heranraste und hinter ihr anhielt. Eine Tür wurde aufgerissen und der verschollene Journalist sprang aus dem Wagen. Ihr fiel sofort sein verängstigter Blick auf.

»Ich … es tut mir Leid, dass ich so spät komme. Es ist etwas passiert.«

»Sieht ganz so aus«, erwiderte sie. Dann stieg sie ebenfalls aus ihrem Taxi und baute sich vor ihm auf. Er war außer Atem, seltsam für jemanden, der nur eine Taxifahrt hinter sich hatte. »Sie haben fünfundvierzig Minuten gesagt«, erinnerte ihn Kat.

»Ich kann Ihnen alles erklären, aber nicht hier draußen.« Er sah sich besorgt um. »Wir müssen so schnell wie möglich weg.«

Sie luden ihr Gepäck in sein Taxi um. Kat nahm neben ihm auf dem Rücksitz Platz und schaffte es kaum, die Tür zu schließen, bevor der Fahrer davonsauste.

»Und wo essen wir jetzt zu Abend?«, fragte sie Robert.

»Äh … Zuerst bewundern wir den Blick über den Hafen. Ich kenne ein hübsches Plätzchen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich folge fremden Journalisten gewöhnlich nicht gleich zu ihren Lieblingsplätzchen, nicht einmal an einem Abend wie diesem.«

Er reagierte nicht auf ihre Bemerkung und schaute durch die Rückscheibe. »Ich glaube, es ist alles in Ordnung«, stellte er leise fest. »Es scheint uns niemand zu folgen.«

Sie rüttelte ihn am Arm. »Hallo! Erde an Robert MacCabe! Was wird hier gespielt? Warum sind Sie so verstört?«

Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schaute sich noch einmal um. Erst dann machte er es sich in seinem Sitz bequem und berichtete ihr, was in der letzten Stunde vorgefallen war.

»Meine Güte!«, konnte sie nur sagen. »Was wollten diese Männer denn von Ihnen?«

»Das haben sie mir nicht verraten. Aber es kann nichts anderes sein als … die Informationen, die ich Ihnen gegenüber erwähnt habe.«

Kat nickte. Sie fuhren an dem Aussichtspunkt vor. »Okay, wir sind da. Und nun erzählen Sie mir alles.«

Robert zuckte zusammen. »Verdammt! Sie haben meinen Koffer.«

»War was Wichtiges drin?«

Er schüttelte den Kopf. »Hauptsache, ich habe meinen Computer noch.« Robert drückte dem Fahrer ein paar Geldscheine in die Hand und bat ihn, den Motor abzustellen und zu warten. »Wenn jemand kommt, sagen Sie einfach, dass Sie den schönen Abend genießen. Keine anderen Fahrgäste, okay?«

»Okay.«

Kat folgte Robert MacCabe auf eine Baumgruppe abseits des Weges zu. Die Lichter der Stadt waren wie ein funkelnder, ferner Teppich. Die frische Brise trug den typischen Geruch einer geschäftigen Hafenstadt.

»Da.« Er führte sie auf eine kleine Lichtung zwischen hohen Büschen, immer noch hell im diffusen Schein der Großstadt. »Möchten Sie sich ins Gras setzen?«

»In diesem Kostüm?« Sie lachte und untersuchte eine Betonbank, bevor sie sich darauf niederließ. »Das sollte gehen. Ich glaube, sie ist sauber.«

Er setzte sich neben sie, legte den Arm auf die Rückenlehne der Bank und sah sie an. Seine Miene war ernst und angespannt. Er wartete, bis das Geräusch einer soeben gestarteten 747 verklungen war, die mit blinkenden Lichtern gemächlich in den Himmel stieg.

»Agent Bronsky, ich glaube …«

»Augenblick«, fiel sie ihm ins Wort. »Nennen Sie mich Kat, einverstanden? Agent Bronsky erinnert mich zu sehr an meinen Vater.«

»Ach, ja?«

»Mein Vater war auch beim FBI«, erklärte sie. »Er starb als stellvertretender Direktor. Entschuldigen Sie, dass ich Sie unterbrochen habe.

Er zuckte die Achseln. »Ich wollte unter vier Augen mit Ihnen sprechen, weil es meiner Ansicht nach Beweise dafür gibt, dass der Absturz der MD-11 über kubanischen Gewässern auf einen Terroranschlag zurückzuführen ist.«

Sie nickte ernst. »Ihrer Ansicht nach gibt es Beweise? Das ist eine seltsame Art, es auszudrücken. Was für Beweise?«

»Ich weiß es noch nicht mit Sicherheit«, entgegnete er.

Sie zog die Brauen hoch. »Was soll das heißen?«

»Das werde ich Ihnen erklären.«

»Ich bitte darum«, nickte Kat. »Warum tippen Sie auf einen Terrorakt und nicht auf technisches Versagen oder eine kubanische Rakete?«

»Weil in der letzten Stunde mein Leben bedroht wurde, Kat, vielleicht deshalb, weil ich mit Ihnen geredet habe, und ganz bestimmt wegen eines Zwischenfalls, der sich vor einigen Tagen in Washington ereignet hat. Meiner Meinung nach machen sich unsere Geheimdienste wegen einer Angelegenheit Sorgen, die sie nicht beeinflussen können und die sie deshalb lieber unter den Teppich kehren würden.«

Sie unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Mal langsam, noch einmal von vorne. Sie sagten, jemand habe Ihnen eine Information gegeben. Ist das der Beweis, den Sie meinen?«

»Ja und nein. Die Information kommt von Walter Carnegie von der Luftfahrtbehörde, einem Freund seit zwanzig Jahren. Damals ging er als Terrorismusexperte zum militärischen Abschirmdienst und ich als Volontär nach Washington. Nach fünfzehn Jahren beim Abschirmdienst und bei der CIA hat er dann zur Luftfahrtbehörde gewechselt, um dort Strategien zur Terrorbekämpfung zu entwickeln.

»Und was hat er Ihnen gegeben?«

»Nichts«, erwiderte Robert. »Er hat mir etwas gesagt.«

»Was?«

»Einen Monat nach dem Absturz der SeaAir-Maschine unweit von Kuba rief er mich eines Nachmittags total verängstigt von einer Telefonzelle aus an. Er sagte, er sei über etwas gestolpert, das mit dem Absturz in Zusammenhang stünde, etwas sehr Beunruhigendes.«

»Hat er Ihnen verraten, worum es genau ging?«

»Keine Einzelheiten oder Fakten. Er erzählte mir, er habe Fragen zum Thema SeaAir gestellt und damit offenbar in ein Wespennest gestochen. Denn er sei von ein paar Schlägern in einer U-Bahn-Station bedroht worden. Zuerst hielt er sie für Leute von der CIA. Doch als er mich anrief, war er nicht mehr so sicher. Er meinte, so etwas sei ihm noch nie passiert.«

»Was hatte er in der Hand, Robert? Woran arbeitete er? Wie war er an der Sache beteiligt? Sie sagten, er habe Fragen gestellt …«

»Im Auftrag der Luftfahrtbehörde in seiner offiziellen Rolle als Terrorismusexperte. Nach Wallys Worten waren die Geheimdienste wegen SeaAir völlig aus dem Häuschen.«

»Das erwähnten Sie bereits.«

»Lassen Sie mich ausreden. Er sagte, die Dienste hätten jegliche Mitarbeit verweigert. Der Absturz sei das Werk einer neuen, perfekt ausgerüsteten Terrorbande, über die weder CIA noch militärischer Abschirmdienst Informationen hätten. Die Behörden tappten völlig im Dunkeln und wollten es nicht zugeben.«

»Und weiter?«

»Wally meinte auch, die Fluggesellschaften hätten den Präsidenten unter Druck gesetzt, er solle öffentlich erklären, es wäre bestimmt kein Terroranschlag gewesen. Hat man dem FBI ebenfalls Druck gemacht?«

»Erzählen Sie mir mehr über Carnegie«, wich Kat der Frage aus.

»Wally sagte, er habe wasserdichte Beweise und er hätte Angst. Mehr wollte er mir nicht verraten. Er bat mich um ein vertrauliches Treffen, und wir verabredeten Uhrzeit und Ort. Er wollte mir unbedingt berichten, was er rausgekriegt hatte, bevor es zu spät wäre.«

»Was meinte er damit wohl?«

»Ich wünschte, das wüsste ich. Ich fragte ihn, ob er mir eine Kopie des Berichts zukommen lassen könnte, und er erwiderte, die Akte sei weggeschlossen. Er wiederholte das sogar.«

»Weggeschlossen?«, wunderte sie sich.

»Ja.« Robert hinderte sie mit einer Handbewegung am Weitersprechen.

»Ist Walter Carnegie glaubwürdig?«

»Absolut, obwohl er manchmal Verschwörungen witterte, wo keine waren.«

»Er hat Ihnen also nicht erklärt, um was für Beweise es sich handelt? Nichts Genaueres? Hat er Ihnen gesagt, welche Ziele diese angebliche Terrorgruppe verfolgt? Es ergibt keinen Sinn, ein Flugzeug zu sprengen, wenn man damit nichts erreichen will. Selbst Flugzeugentführer haben Ziele.«

»Keine Ahnung. Jedenfalls ist er nicht zu unserem Treffen erschienen. Den ganzen Tag lang und auch am nächsten konnte ich ihn weder telefonisch noch sonst irgendwie erreichen. Ich bin sogar zu ihm nach Hause gefahren. Er war nicht da. Einen Tag später musste ich dann nach Hongkong fliegen.«

»Haben Sie ihn von hier aus noch einmal angerufen?«, erkundigte sich Kat. Sie bemerkte seinen traurigen Blick.

»Kat, Walter Carnegie ist tot.«

Sie verschränkte die Arme und sah ihn an. »Wie ist er gestorben?«

»Selbstmord. Das hat mir seine Sekretärin gesagt.«

»Und Sie zweifeln daran?«

Er nickte. »Eher würde der Papst Selbstmord begehen.«

»Hat er was Schriftliches hinterlassen?«, fragte sie. »Aber das können Sie selbstverständlich nicht wissen. Sie waren ja noch nicht zu Hause.«