Das Meer der Tränen - Claus-Peter Reisch - E-Book

Das Meer der Tränen E-Book

Claus-Peter Reisch

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Beschreibung

»Menschen wissentlich ertrinken zu lassen – das soll mit unseren europäischen Werten vereinbar sein?« Südliches Mittelmeer, Juni 2018. 235 Menschen drohen auf offener See zu ertrinken – ihr viel zu kleines Schlauchboot ist leck geschlagen und verliert seit Stunden an Luft. Claus-Peter Reisch, Kapitän des Schiffes Lifeline, handelt sofort und rettet mit seiner Crew den verzweifelten Flüchtlingen das Leben. Doch seinem Schiff wird überall die Landung verwehrt. Kein europäischer Staat will die Schutzsuchenden aufnehmen. Erst nach fünf langen Tagen, in denen Europa einmal mehr über die Verantwortlichkeiten streitet, darf Reisch endlich in Malta anlegen. Er wird verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt. Was den selbstständigen Kaufmann und ehrenamtlichen Seenotretter nur noch mehr darin bestärkt, sich für die Rechte der Schwachen einzusetzen. Ein bewegendes, ein aufrüttelndes, ein wichtiges Buch. Ein Buch, dass das Versagen Europas und der Politik anprangert, Rettern wie Geretteten eine Stimme gibt und deutlich macht: Wahre Humanität kennt keine Ländergrenzen. Mit einem Vorwort von Udo Lindenberg

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Seitenzahl: 280

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Claus-Peter Reisch

DASMEERDERTRÄNEN

Claus-Peter Reisch

DASMEERDERTRÄNEN

Wie ich als Kapitän desSeenotrettungsschiffes LifelineHunderte Leben rettete –und dafür angeklagt wurde

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Bildnachweis: © Danilo Campailla: S. 2–3, 4 oben, 5, 6 unten, 8, 11 oben, 13–15 / © Johannes Filous: S. 16–23, 24 oben / © Hermine Poschmann: S. 1, 4 unten, 6 oben, 7, 9–10 / © Claus-Peter Reisch: S. 11 unten, 12, 24 unten

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Originalausgabe

2. Auflage 2020

© 2019 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

»Sachstand: Internationale Seenotrettungsabkommen«, S. 248–253: © Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutsches Bundestages, Fachbereich WD 2 - Auswärtiges, Völkerrecht, Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Verteidigung, Menschenrechte und humanitäre Hilfe

Karte, S. 242/243: © ii-graphics/Shutterstock

Redaktion: Christoph Leischwitz, Dr. Annalisa Viviani

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildung: Nils Schwarz

Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1133-7

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0788-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0789-4

Weitere Informationen zum Thema finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

INHALT

Vorwort

I. Raus aus der Hölle

II. Lindenberg und Ritzelwellen

III. Die Odyssee

IV. Retten – oder soll man es lassen?

V. Unsere »schottische Lady«

Bildteil

VI. Malta – Insel der Hoffnung

VII. Afrika – Armut und Perspektivlosigkeit

VIII. Freunde und Widersacher

IX. Ein Schiff wird kommen

X. Sizilien

Glossar

Anhang

VORWORT

Als mich Anfang 2018 CePe’s Fax erreichte, war sofort völlig klar, was ich mache. Den Menschen auf dem Todes-Mittelmeer muss geholfen werden. Ich habe keine Ahnung, wohin die Willkommenskultur von 2015 eigentlich versickert ist. Da kommen Menschen aus Katastrophengebieten, sind gerade dem Tod entronnen, viele sogar mehrmals, da ist es doch völlig klar, dass man diese Menschen mit Respekt und Sensibilität empfängt. Es ist eigentlich eine Schande, dass Privatpersonen einspringen müssen, um diesen Job zu machen. Alle offiziellen staatlichen Dinger wurden ja eingestellt.

Das Schlimme ist: Es dreht sich alles im Kreis. Hat’s alles schon gegeben, kommt immer wieder. Damals mit der Cap Anamur zum Beispiel. Irgendwann schrien einige: Das Boot ist voll. Es geht jedes Mal darum, ob man die Augen verschließt oder ob man sich reinhängt und den Menschen hilft, die in Lebensgefahr schwimmen. Es geht jedes Mal darum: Wenn es anstrengend wird, hast du dann Bock zu helfen oder machts du es dir ego-easy? Jetzt ist es mal wieder soweit: Helden oder Arschloch, dazwischen gibt es nicht mehr viel. Vor ein paar Jahren habe ich mal gesagt: »Zivilcourage und Kreativität werden an der Garderobe abgegeben, wir steuern auf Schlappland zu.« Manchmal habe ich das Gefühl, wir haben da schon angelegt.

Aber Claus-Peter Reisch ist einer, der Schlappland den Rücken zugekehrt hat. Wie wir mit Schutzsuchenden umgehen, zeigt, wie wir in unserem Inneren wirklich drauf sind. CePe und die Jungs und Mädels von »Mission Lifeline« sowie die Helfer der anderen NGOs, sie sind mutige Menschenretter. Sie sind aber auch so was wie die Moral-Feuerwehr unserer Menschen-family: Dank ihnen ist diese kaputte Welt ein bisschen weniger kaputt, ein bisschen humaner.

Ich weiß, dass wir schnell handeln können. Wir haben das zum Beispiel bei der Flutkatastrophe 2002 getan. Es wurde superschnell gehandelt, als es um die Banken ging. Und jetzt: dauert’s und dauert’s und dauert’s. Die dumpfen Hirntoten grölen: »Brennt das Flüchtlingsheim nieder und schickt sie zurück«, das ist für manche schon normaler als »Willkommen« zu sagen. Und das in einem Land, das selbst so viel Leid und Unterdrückung erfahren (und verursacht) hat.

Ich glaube, es macht auch ganz harte Menschen sensibel, wenn man Einzelschicksale erzählt. Deswegen habe ich mit Abdulahmid aus Syrien ein Video zu »Wir werden jetzt Freunde« aufgenommen. Deswegen habe ich Flüchtlinge auf Konzerte eingeladen, die Leute sollen sich kennenlernen und zusammen singen. Die Schicksale der Flüchtlinge, die von der Lifeline aufgenommen wurden, haben mich stark beeindruckt, sie erzählen so viele Geschichten aus einer anderen, traurigen Welt.

Aber es gibt zugleich auch keinen anderen Weg als über die Politik. Man muss es mit Europa hinbekommen. Deswegen ist CePe und die Crews der Lifeline oder der Eleonore auch wichtig für die Politik: Sie zeigen den anderen, dass das nämlich schon geht, wenn man will. Dass man sich moralisch gar nicht verbiegen muss für das bessere Ergebnis bei den nächsten Wahlen, sondern dass es zwar anstrengend, aber eben auch ziemlich cool ist, für die Menschlichkeit einzustehen.

Vielleicht ist es noch ein verdammt weiter Weg. Bis dahin: Hut ab vor Seenotrettern! Ihr seid keine Piraten, ihr seid Helden!

Udo Lindenberg, im September 2019

I. RAUS AUS DER HÖLLE

Der Mann wirft sich auf den Boden und packt mich an den Knöcheln: »Nicht zurück nach Libyen, bitte, nicht zurück! Lieber springe ich ins Wasser und ertrinke!« Er meint es ernst. Viele sagen das, manche haben es schon getan. Dutzende Augenpaare starren mich an. Bloß keine Unsicherheit zeigen, jeder Fehler, jedes falsche Wort kann Panik auslösen. Ich ziehe den Mann wieder hoch und blicke ihm fest in die Augen: »Ich verspreche, dass alles gut wird«, sage ich. In Wahrheit kann niemand sagen, was in den kommenden Minuten passieren wird.

Es ist der 21. Juni 2018, halb zehn Uhr morgens, es ist heiß, das Meer reflektiert das Sonnenlicht, es ist gleißend hell. Es dämmerte noch, als wir das erste Schlauchboot mit Flüchtlingen fanden. Das zweite eine gute Stunde später. Beide waren völlig überladen und verloren schon Luft. Jetzt haben wir 235 Menschen an Bord. Die Geretteten dachten, sie seien in Sicherheit, wir haben ihnen das ja auch so gesagt. Um sie zu beruhigen. Aber jetzt sehen sie schon wieder dem Tod ins Auge.

Ich schaue rüber auf das Achterdeck. Einige fangen an zu beten, eine Frau steht auf und fragt mit besorgter Stimme: »Aber ihr gebt uns doch nicht heraus, oder?« Die meisten sitzen nur apathisch da und starren auf den Boden. An der Backbordseite sitzt eine Frau mit einem Baby im Arm. Ihr Kopf lehnt gegen die Schiffswand, sie hat die Augen geschlossen. Doch ganz sicher hört sie den Motor des nahenden Patrouillenboots.

654 Sabratah hält direkt auf uns zu. Die Libyer sind da. Sie fahren bis auf wenige Meter an uns heran, im letzten Moment drehen sie ab. Acht Männer in blauen Hemden stehen breitbeinig an Deck, stützen ihre Hände auf die Reling und starren uns an. Die Schergen der sogenannten libyschen Küstenwache sind unberechenbar wie kleine Kinder, extrem launisch. Ganz sicher haben sie Waffen an Bord. Es ist völlig offen, was sie tun werden. Es fielen auch schon Schüsse, wenn Libyan Coast Guard (LCG) und Seenotretter aufeinandertrafen. Einige von unserer Crew haben das sogar miterlebt. Ungewissheit kann nervös machen. Nervosität führt zu Fehlern. Gar nicht erst eintreten in diesen Teufelskreis.

Ich war mein Leben lang ein guter Verhandlungsführer. Jetzt steht eine sehr wichtige Verhandlung an. Es geht um Menschenleben. Einer der Libyer kramt ein Tau hervor und schickt sich an, es auf unser Deck zu werfen. »No, nooo«, schreien wir. Denn damit könnten sie sich an uns heranziehen und entern.

Sie wollen die Flüchtlinge zurück nach Libyen bringen. Das ist ihr Job, gefördert von der EU: Flucht verhindern. Formal haben sie von der Seenotrettungsleitstelle, dem Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC), den Fall zugewiesen bekommen. Aber für unsere Passagiere würde das bedeuten: Sie haben die Wahl zwischen Tod und Folter. In diesen Minuten erleben wir das ganze Dilemma der Seenotrettung wie unter einem Brennglas: Die Libyer sind Verbrecher, die sich nicht um Menschenleben scheren. Gleichzeitig erzählen manche Politiker in Europa, Seenotretter seien Verbrecher. In der Zwischenzeit saufen Menschen ab. Die Welt ist völlig verrückt geworden.

Ich schaue mir das Patrouillenboot genauer an. Es ist viel zu klein, um so viele Flüchtlinge aufzunehmen. Dass sie nicht wirklich an Rettung interessiert sind, sieht man schon daran, dass die LCG nie Rettungswesten dabeihat. Und überhaupt: Wo waren sie eigentlich, als wir die untauglichen Boote evakuierten? Wo waren sie, als die Flüchtlingsboote ablegten? Die sogenannte Küstenwache hat ja nicht mal ihre eigene Küste im Griff.

Die Schlauchboote legen meistens in der Nacht ab. So war das auch diesmal.

Um Viertel nach vier kommt Clemens, der Dienst auf der Brücke hat, in meine Koje und weckt mich. »Ich glaube, wir haben was gefunden«, sagt er. Schnell ziehe ich mir eine Hose drüber und Flip-Flops an die Füße. Ich eile die steile Treppe hinauf zur Brücke, brumme »Guten Morgen« und gehe zum Radarschirm. Ich muss erst einmal zwinkern. Drei kleine Punkte, die sich mit konstanter Geschwindigkeit fächerförmig auseinanderbewegen. Ein Blick auf den GPS-Navigator über meinem Kopf: Wir befinden uns 14 Seemeilen von Libyen entfernt. Es wird eine Weile dauern, bis wir die Boote einholen. »Na, dann mal Hebel auf den Tisch«, sage ich. Das bedeutet: Vollgas. Die Boote fahren mit ungefähr vier Knoten Richtung Norden, eines Richtung Nordwest. Die Lifeline hat 9,5 Knoten Höchstgeschwindigkeit drauf, das sind 17 Kilometer pro Stunde. Der Mond ist schon untergegangen, noch ist es dunkel und unheimlich diesig. In ungefähr einer Stunde geht die Sonne auf. Das würde uns helfen, sie zu finden.

Hermine und Clemens gehen aufs Deck und drücken sich die Ferngläser an die Augen. Hermine ist eigentlich die Bordfotografin und für Öffentlichkeitsarbeit zuständig, aber in der Praxis hat hier jeder sehr viele Aufgaben. Um 4:45 Uhr ist es so weit. Wir sind noch ungefähr 300 Meter entfernt, als Clemens zum ersten Mal einen dunklen Schatten im fast genauso dunklen Wasser sieht.

Jetzt ist auch die Crew geweckt. Der Kran auf dem Achterdeck hebt Christa und Hülse über die Reling ins Wasser. Die beiden Einsatzschlauchboote mit festem Rumpf, RHIB genannt (rigid-hulled inflatable boats), sind das Herzstück einer Rettungsmission. Man kann nicht einfach mit dem großen Schiff an das Flüchtlingsboot heranfahren, das wäre viel zu gefährlich.

Die Abläufe sind dutzendfach geübt. Zuerst steigt der Crewführer ein und wirft den Motor an, danach klettern zwei weitere Menschen hinunter. Sie packen zwei Bigpacks mit über 100 Schwimmwesten ein, 20 in Kindergröße, dazu Funkgeräte, eine Beatmungsmaske für den akuten Notfall, Überlebensanzüge, falls die Crew ins Wasser muss. Dann startet die Aufholjagd.

Die Rettung naht – aber die Flüchtlinge fliehen erst einmal vor ihren Rettern. Völlig planlos versuchen sie, uns im Zickzackkurs abzuhängen. Aber mit 40 PS gegen 115 PS hätten sie im mit etwa 120 bis 180 Personen hoffnungslos überfüllten Schlauchboot sowieso keine Chance. Sie glauben, wir seien die LCG. Unser Schiff, die Lifeline, war für sie erst einmal nur ein dunkler, bedrohlicher Umriss.

Aline spricht fünf Sprachen, sie sitzt ganz vorne in der Christa, die sich jetzt seitlich nähert und das Schlauchboot umrundet. Es wird allmählich heller. Die RHIB-Crew winkt und lächelt aufmunternd. »Hallo, wir sind aus Deutschland«, ruft Aline auf Englisch, »wir sind hier, um euch zu helfen«, sie wiederholt es auf Französisch. Skeptische Blicke. »Ihr seid nicht aus Libyen?« – »Germany«, wiederholt Aline, »bleibt ruhig, okay? Wir wollen euch auf das große Schiff bringen.«

Man darf sich Flüchtlingsbooten niemals von der Seite nähern. Sofort würden einige aufstehen und versuchen aufzuspringen, das Boot könnte kentern. Die Christa nähert sich dem Heck, Aline bittet, den Motor auszumachen und fragt: »Wer spricht Englisch? Du? Wie heißt du? Samir? Okay, ich bin Aline.« Samir muss jetzt für alle übersetzen.

Im Eiltempo reicht die Crew die Rettungswesten hinüber. Es folgt eine Standard Operating Procedure (SOP), Fragen in fester Reihenfolge: Habt ihr Notfälle an Bord? Wie lange seid ihr schon unterwegs? Wie viele Kinder, Frauen, Babys? Von wo seid ihr losgefahren? Von wie vielen anderen Booten wisst ihr? Drei Boote hätten gemeinsam abgelegt, sagen sie. Für den Moment ist das eine gute Nachricht: Laut unserem Radar ist noch keines untergegangen.

Die Lifeline hält noch gebührenden Abstand, 100 Meter vielleicht. Um 5:20 Uhr funkt Christa zur Brücke: »Circa 120 Personen. Zehn Frauen, ein paar Kinder, ein Säugling. Ein Schlauch sieht instabil aus.« Die anderen beiden Boote entfernen sich in der Zwischenzeit immer weiter. Schon deshalb muss das erste so schnell wie möglich evakuiert werden. Im Prinzip gilt das eigentlich jedes Mal, deswegen verteilen wir auch die Westen: Falls jetzt noch etwas passiert, kann niemand mehr ertrinken. Es gibt Aufnahmen von einer früheren Mission, da platzte der Schlauch just in dem Moment, als das RHIB ankam. Weißer Schaum blubberte unter den Füßen der Flüchtlinge hervor. Fünf Minuten später am Einsatzort hätte die Crew nur noch Leichen geborgen.

Frauen und Kinder zuerst. Christa shuttelt eine Mutter und ihr Baby hinüber zur Lifeline. Das Kind sieht aus wie eine starre, hilflose Puppe, als Aline es hochhebt und sich ihr vom Deck zwei Arme entgegenstrecken. Sein Blick sucht die Mutter, die wenige Sekunden vorher an Bord gegangen ist.

Die meisten Rettungen finden im Sommer statt. In diesen Monaten herrscht oft ruhiges Wetter mit südlichen Winden und wenig Seegang. Es ist heiß. Bis zum Abend hätten die Menschen auf dem Schlauchboot einen Hitzschlag erlitten. Doch immerhin ist es windstill. Das hat gleich zwei Vorteile. Erstens haben wir die Boote überdurchschnittlich früh entdeckt. Das Einzige, was an einem billigen Schlauchboot ein Radarecho auslöst, ist der Außenborder. Bei hohem Seegang verschwinden die Motoren oft im Wellental. Jetzt aber ist das Meer so glatt wie ein Baggersee. Und das bedeutet zweitens, dass wir das Flüchtlingsboot längsseits an die Lifeline herandrücken können. Boot und Schiff werden vertäut. Es ist kurz nach sechs, als die Flüchtlinge auf wackligen Beinen ihre ersten Schritte in die Freiheit machen.

Als Kapitän bin ich auch für die Formalitäten zuständig. Um 5:57 Uhr hatten wir die erste E-Mail mit dem Betreff »Rubberboat in distress« (Schlauchboot in Notlage) an die Seenotleitstelle in Rom abgeschickt. In der Mail stand auch, dass wir sofort mit der Evakuierung beginnen würden, weil das Schlauchboot in schlechtem Zustand ist und zu sinken drohte. Das sollte noch wichtig werden.

Das Team steht in der gelb markierten Aufnahmezone bereit. Einer links, einer rechts neben der Tür, die Flüchtlinge setzen einen Fuß auf die Leiter, dann packt die Crew an und zieht sie hoch, alle paar Sekunden einer. »Wie geht’s dir? Kannst du selbst gehen?«, das sind typische erste Fragen. Auch eine Personenkontrolle gibt es. Richard, der Maschinist, durchsucht die Männer auf Waffen. Die Flüchtlinge haben meistens gar nichts dabei, nicht einmal Handys.

Dahinter wartet Georg, der Schiffsarzt. Georg ist Herzchirurg, seit drei Monaten Rentner, es ist seine erste Mission. Absolute Notfälle hat er erst einmal nicht zu behandeln. Einige humpeln, einige verzerren das Gesicht vor Schmerzen, sie werden sich bald in seine Obhut in unser 20-Quadratmeter-Krankenhaus begeben. Ein Junge erzählt, er sei im Lager mit einer Stange geschlagen worden. Später zeigt sich, dass er eine Lungen- und eine Nierenquetschung hatte, noch Monate später hatte sich ein Erguss gebildet. Ein anderer kam mit einem gebrochenen Arm an Bord. Der Normalfall ist eher, dass Brüche schon schief zusammengewachsen sind, wenn wir die Menschen aufnehmen. Denn viele wurden jahrelang misshandelt, bis ihre Flucht endlich ein Ende fand.

Es geht ruhig zu, das ist ungewöhnlich. Die Flüchtlinge an diesem Morgen sind noch nicht so gezeichnet wie andere. Das liegt einzig und allein daran, dass wir recht nah an die libyschen Hoheitsgewässer herangefahren sind. Wenn wir, wie die Libyer es gerne hätten, noch mal 40 Seemeilen weiter draußen blieben, würden es viele Schlauchboote bis dahin nicht schaffen. Dann gäbe es viel mehr lebensbedrohliche Notfälle zu versorgen. Aber um das Wohl der Menschen geht es der LCG sowieso nicht.

Langsam füllt sich das Schiff. Die Passagiere realisieren allmählich, dass sie in Sicherheit sind. Einige fangen an zu lachen. Manche werfen sich auf den Boden und küssen ihn, schicken dankende Stoßgebete zum Himmel. Hermine lotst die Menschen an der Brücke vorbei zum vorderen Deck. Ein Kauderwelsch in vielen verschiedenen Sprachen dringt durch die offene Tür zur Brücke herein. Und während wir um den Radarbildschirm stehen und versuchen, die Route des zweiten Bootes zu berechnen, springen uns die Ersten schon vor den Ferngläsern herum. »Go away, please, sit down«, rufe ich mehrmals von der Brücke.

Während einer Mission gibt es viele Momente, die sich den Crewmitgliedern ins Gedächtnis einprägen und an die man sich vielleicht erst lange Zeit danach wieder erinnert. Georg erinnerte mich sehr viel später daran, dass wir einen der schönsten Momente an diesem Morgen erlebten, an ein etwa vierjähriges Mädchen, das einfach ganz unbekümmert zu tanzen anfing, als es an Bord kam. Es hüpfte, es warf die Arme in die Luft. Vielleicht tat sie das, weil es auf dem Schlauchboot so eng war. Vielleicht aber auch, weil sie spürte, dass sie jetzt in Sicherheit war.

Wir müssen die Angekommenen erst einmal dringend mit den Abläufen vertraut machen. Alle zusammentrommeln und um Ruhe bitten. »Die Fahrt kann jetzt eine Weile dauern«, teilen wir ihnen mit, viele wissen das gar nicht. Wir sagen ihnen, dass sie bald etwas zu essen bekommen. Jeder bekommt eine Flasche für Trinkwasser und wir zeigen ihnen, wo sie diese auffüllen können. Sie haben zwei Toiletten zur Verfügung.

Es geht ab der ersten Minute aber auch darum, ihnen das Gefühl von Sicherheit zu geben. Ein Lächeln zu schenken und im besten Fall sogar eins zu entlocken. Georg berichtet später, dass viele Flüchtlinge einfach nur deshalb zu ihm kamen, weil sie seit ewigen Zeiten keinen Arzt gesehen haben – und jetzt plötzlich einer da ist. Manchmal mit ganz banalen Problemen, die ihnen aber scheinbar große Sorgen machen. »Ach, das ist nur eine Blase«, sagt er einmal zu einem Passagier.

Danach verlaufen die ersten Stunden meist recht unspektakulär: Die Geflüchteten wollen oft einfach nur schlafen. Sie wickeln sich in eine unserer 275 Bundeswehrdecken ein und benutzen die Rettungsweste als Kissen. Das Letzte, worum es in dieser Phase geht, ist die Frage: Was hast du erlebt? Beim ersten Small Talk fragt man vielleicht noch, aus welchem Land sie kommen. »Sudan«, sagten diesmal viele, »Somalia«, »Eritrea«, ein paar aus der Elfenbeinküste und aus Togo.

Wir wissen genug von den Zuständen in Libyen. Nicht nur Journalisten und Menschenrechtsorganisationen, auch das Auswärtige Amt berichtete schon von »KZ-ähnlichen Zuständen«. Richtig schlimm wurde die Flüchtlingssituation im zentralen Mittelmeer nach dem Fall Gaddafis im Jahr 2011. Davor war weiß Gott nicht alles rosig. Aber jetzt ist es ein failed state. Tausende Migranten arbeiteten damals schon in Libyen. Menschen also, die ursprünglich gar nicht nach Europa wollten.

Während sich die anderen nordafrikanischen Staaten einfach dafür bezahlen lassen, dass sie Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa blockieren, herrschen in Libyen Chaos, Verbrechen und teils unvorstellbare Grausamkeit. In den Internierungslagern bekommen die Insassen nicht genug zu trinken, es wird von einer Literflasche Wasser pro Tag berichtet, bei oft 40 Grad im Schatten. Die einzige Mahlzeit des Tages besteht aus ein paar trockenen Nudeln und einem Stück Brot, erzählen viele übereinstimmend. Es gibt offizielle, von der Regierung geleitete Lager. Und es gibt inoffizielle Lager, von Milizen geleitet. Dort herrschen Zwangsprostitution und Folter. In einem Augenzeugenbericht heißt es, jeden Freitag finden Erschießungen statt. Willkürlich. Wen es trifft, der hat einfach Pech gehabt. Freitag ist nämlich meist der Tag, an dem neue Flüchtlinge ankommen. Dann muss Platz gemacht werden.

Die Menschen, die nun hier vor der Brücke auf dem Boden kauern, sind nichts anderes als moderne Sklaven. Zwangsarbeiter, nicht selten schon mehrfach weiterverkauft, für 100 Dollar vielleicht. Wenn sie irgendwann nur noch 45 Kilo wiegen – wie viele hier an Bord – sind sie kraft- und deshalb wertlos. Für Frauen, die gerade entbunden haben, hat man natürlich auch keine Verwendung mehr. Wenn eine Frau mit ihrem Säugling flieht, kann eventuell ein Lagerwärter dadurch auch verhindern, dass seine eigene Frau zu Hause etwas von dem unehelichen Kind mitbekommt.

Sie werden wie Legehennen gehalten, dennoch setzen sich viele noch nicht einmal freiwillig in die von Hand zusammengezimmerten Boote. Die Schlauchboote werden übrigens in der Regel in China hergestellt, man kann sie über die Internet-Handelsplattform Alibaba bestellen. Erst wenn sie diese sehen, verstehen sie, was das für ein Himmelfahrtskommando ist. Dafür haben sie oft mehrere Tausend Dollar gezahlt. Wenn sie sich aber einzusteigen weigern, kann es passieren, dass zwei oder drei einfach am Strand erschossen werden. Dann steigt der Rest schon ein.

Deshalb soll die Lifeline ein Ort sein, an dem die Flüchtlinge merken: Ihr seid wieder Menschen. Und jedes Menschenleben ist gleich viel wert.

Dann fällt plötzlich eine Frau ins Koma. Es ist die junge Mutter, die noch stillt. Georg bringt sie ins Krankenhaus, einen Raum mit direktem Zugang vom Achterdeck, in dem wir bis zu drei Personen gleichzeitig behandeln können. Der Arzt erkennt gleich: Unterzuckerung. Und wir haben die Befürchtung, dass es angesichts der Hitze minütlich noch mehr Gerettete treffen könnte. Sofort bröseln wir Energieriegel in Coffee-to-go-Becher, kippen Wasser und ein wenig Sirup drauf und verteilen es an alle.

Die Crew besteht aus 18 Personen, 17 Deutschen und einem Italiener. Fast alle sind gerade mit den Flüchtlingen beschäftigt. Auf der Brücke versuchen wir in der Zwischenzeit, das große Ganze im Auge zu behalten. Wir achten auf den Funkverkehr, es könnte ja sein, dass in der Nähe andere Rettungsaktionen laufen oder jemand dieselben Boote entdeckt. Wir halten unsere Zentrale in Dresden auf dem Laufenden. Wir versuchen, die anderen Boote einzuholen. Und wir warten ziemlich lang auf eine Antwort der Seenotleitstelle in Rom.

Um 6:38 Uhr ist sie endlich da – zwei Minuten, bevor wir die Aufnahme der Flüchtlinge auf die Lifeline abgeschlossen haben. Darin steht: »Wir informieren Sie darüber, dass die libysche Küstenwache in diesem SAR-Fall Nummer 448 die Verantwortung übernehmen wird, und angehängt übersenden wir Ihnen erste Instruktionen.« Eine Stunde später, also viel zu spät, schreiben sie uns dann noch, dass wir uns mit den Libyern in Verbindung setzen sollen. Dazu die Fax- und Telefonnummern, die uns NGOs immer zugeschickt werden. Die Nummer der libyschen Küstenwache lautet: 00218214449488. Es klingelt immer, aber ich habe dort nie jemanden erreicht. Wir tun natürlich unsere Pflicht und rufen an. Aus Dokumentationsgründen, alle NGOs tun das. Aber es ist völlig nutzlos.

Ich klicke auf das PDF im Anhang. Ein Formular, ausgefüllt und unterschrieben von einem libyschen Kapitän namens Mahmoud Zabyd. Man werde mit der Zabratha gegen 7:30 Uhr am Ort des Geschehens eintreffen. Am Ende des Formulars steht eine offenbar vorgedruckte Mitteilung: »Teilen Sie allen in der Gegend mit, dass sie sich mindestens acht Meilen entfernt halten sollen, damit man nicht gesehen wird. Das ermöglicht es den Flüchtlingen, in Sicherheit zu bleiben.« Sie wollen wohl nicht, dass ihnen jemand bei ihrer sogenannten Rettung zusieht.

Gegen sieben Uhr schreiben wir die nächste Mail. Denn wir haben das zweite Boot jetzt im Feldstecher und begeben uns sofort auf Kurs. Christa und Hülse erreichen das Schlauchboot schon fünf Minuten später: circa 110 Personen, 15 Frauen, zwei Kinder oder Säuglinge. Die Ereignisse überschlagen sich, denn auch das zweite Boot sieht sehr wacklig aus, am Horizont haben wir auch das dritte Boot gesichtet. Wir beschließen, auch Boot Nummer zwei zügig zu räumen und zu zerstören, Christa und Hülse sollen so bald wie möglich Nummer drei hinterherfahren. Um den Ernst der Lage zu unterstreichen, schreiben wir um 7:25 Uhr: »Drittes Schlauchboot gesichtet, circa drei Seemeilen westlich von unserer Position. Um das dritte Boot zu retten, werden wir das zweite Boot sofort evakuieren und dann zum dritten Boot fahren. Wir brauchen Unterstützung durch die italienische Küstenwache oder durch ein Frachtschiff für 300 bis 400 Passagiere.«

Was die Libyer zu diesem Zeitpunkt vielleicht nur ahnten, war, dass schon 120 Flüchtlinge auf unserem Boot sitzen. Der Seenotrettungsdienst SAR (Search and Rescue), also unsere Hauptaufgabe, war für das erste Boot schon abgeschlossen. Wir sehen aber auch keine Veranlassung, das zweite Boot einfach vor sich hinfahren zu lassen. Das ist viel zu gefährlich für die Insassen, jederzeit könnte bei diesen billigen Booten, die nur etwa 800 US-Dollar kosten, einer der aus dünner Lkw-Plane bestehenden Schläuche platzen. Von den Libyern war zum versprochenen Zeitpunkt um 7:30 Uhr weit und breit nichts zu sehen.

Hätten sie uns früher geantwortet, hätten sie wohl behaupten können, dass wir uns über ihre Anweisungen hinweggesetzt hätten. Die libysche Küstenwache hatte uns ja via Italien ausrichten lassen, dass sie den Fall übernimmt. Doch selbst dann: Wenn man vor einem brennenden Haus steht, in dem Menschen um Hilfe schreien – wartet man dann, bis die Feuerwehr eintrifft? Wenn man weiß, dass sie noch weit entfernt ist?

Um Viertel nach acht ist auch das zweite Schlauchboot leer. Die Geborgenen bestätigen, was wir schon gehört haben: Um ein Uhr morgens hatten sie abgelegt, in der Nähe von Garabuli. Das liegt ziemlich genau südlich jener Region, in der wir unsere Route fuhren. Und es ist derselbe Ort, von dem aus wir nun die LCG erwarten. Schon seltsam, wie wenig die Küstenwache weiß, was an ihrer eigenen Küste vor sich geht. Drei dieser mindestens 10 Meter langen Schlauchboote an den Strand zu bringen, aufzublasen, die Motoren zu montieren und über 350 Menschen hineinzusetzten, das erfordert einen gewissen logistischen Aufwand, dazu Fahrzeuge und Personal. Das passiert nicht in einer Stunde und sollte eigentlich Aufsehen erregen.

Was die Rettung auf See betrifft, so gibt es klare Gesetze: Jeder muss helfen, wenn er Menschen in Not sieht, alles andere wäre unterlassene Hilfeleistung. Wenn es den Italienern darum ginge, Menschenleben zu retten, hätten sie einfach ein Frachtschiff in dieser akuten Situation anfunken können. Doch das Einzige, was sie taten, war, unserem SAR eine Fallnummer zu geben und unsere E-Mail nach Tripolis weiterzuleiten. Es ist noch gar nicht so lange her, da bedankte sich das MRCC für eine erfolgreiche Rettung und lobte gerne auch mal die professionelle Hilfeleistung. Doch diese Zeiten sind spätestens seit Sommer 2018 vorbei.

Wir haben jetzt 235 Menschen an Bord. Darunter ein paar Teenager und rund 70 unbegleitete Minderjährige. Einer davon ist ein Zwölfjähriger, der von zwei 13-Jährigen begleitet wird. Es ist wahnsinnig voll an Bord, wir müssen über die Köpfe der sitzenden Flüchtlinge hinwegsteigen. Die Crew spannt Sonnensegel auf und versucht, die Stimmung zu lockern. Richard hat zwar viel zu tun als Maschinist, er schiebt zusätzlich Dienst auf der Brücke, aber er hat auch ein Talent dafür, den Menschen ein Lächeln zu entlocken. Und er bürdet sich selbst noch weitere Aufgaben auf. Alle zwei Stunden läuft er mit dem Hochdruckreiniger übers Deck und säubert die Toiletten. Aber schon am zweiten Tag halten ihn die Flüchtlinge am Arm fest und sagen: »Du musst das nicht machen. Wir machen das.«

Bis jetzt war es eine vergleichsweise reibungslose Rettung. Niemand schwebt in Lebensgefahr, das dritte Boot ist noch in Reichweite. In 24 Stunden könnten wir alle in Italien sein. Wir ahnten jedoch nicht, dass unser Schiff im Juni 2018 zum Spielball der politischen Großwetterlage werden sollte. Dass uns eine Odyssee bevorstand, die alle, unsere Gäste wie auch die Besatzung, an unsere physischen und psychischen Grenzen bringen würde.

Wo bleiben denn die Libyer? Zunächst behaupten sie per E-Mail, wir hätten unser Satellitentelefon ausgeschaltet. Das ist schon deshalb Unsinn, weil wir ohne Sat-Anlage keine E-Mails lesen oder abschicken könnten, außerdem verfügt die Lifeline über ein zweites Iridium-Telefon. Dann, gegen 8:20 Uhr, sind sie endlich in Funkreichweite. »Ändern Sie die Richtung, null null null« – das steht für null Grad, also exakt Richtung Norden. »Wir müssen erst unser RHIB an Bord holen, vorher können wir nicht nach Norden fahren«, antworten wir. Zweiter Funkkontakt um kurz vor neun: »Fahrt weg! Fahrt weg! Sofort!« Und dann bekomme ich tatsächlich zu hören: »Go away, helper, I kill you, I kill you.« Ich bin erstaunt über meine eigene Gelassenheit, ganz ruhig höre ich mich sagen: »I confirm your message.« Nachricht bestätigt.

Ein paar Sekunden ist es still auf der Brücke, dann frage ich Norbert: »Was hat der da gerade gesagt?« Er antwortet: »Irgendwas mit kill, oder?« Er hatte den Funkspruch mit seinem Handy aufgenommen, die Audiodatei haben wir aufgehoben. Er spielt es noch einmal ab: »I kill you, I kill you.« Völlig irre, diese Typen.

Es gibt verschiedene Theorien, wer diese hochgradig gefährlichen Leute eigentlich sind. Schlüssig finde ich folgende: Die LCG arbeitet mit den Schleusern zusammen – vielleicht handelt es sich im Einzelfall sogar um dieselben Personen. Dann kann man die Flüchtlinge abkassieren, wenn sie ins Boot steigen. Zweitens muss man sie zurückholen, weil das mit der EU ja so abgemacht ist – dann kann man dieselben Leute entweder noch mal als Sklaven verkaufen. Oder man schickt sie noch mal auf einem Boot raus. Am 21. Juni hatten wir einen Flüchtling dabei, der uns erzählte, dass er schon zum vierten Mal auf einem Schlauchboot saß und Libyen verließ. Im Übrigen habe ich schon 2017 die sogenannte libysche Küstenwache selbst fotografiert, als sie wenige Meter neben uns Motoren von zwei Holzbooten abmontierte und mitnahm. Erst danach konnten wir die Boote mit dem restlichen Benzin anzünden.

Man weiß nie, ob die Libyer nicht vielleicht ein bisschen Krieg spielen wollen. Wie sie von ihrem Vorgesetzten gebrieft wurden – und ob sie sich daran halten. Im November 2017 hat die LCG von einem kleinen Patrouillenboot aus auf eine deutsche Fregatte geschossen, die Mecklenburg-Vorpommern. Ziemlich lebensmüde, sich mit einer Fregatte anzulegen. Dort versetzte man das Schiff sogar vorsorglich in Gefechtsbereitschaft. Der Chef der Küstenwache soll sich danach entschuldigt haben, es habe sich um ein Versehen eines jungen Leutnants gehandelt. Aber wenn so ein »Versehen« selbst mit einer Fregatte passiert, dann kann es jeden treffen.

Wir versuchen, uns nicht von unserem Weg abbringen zu lassen, im wahrsten Sinne. Die Christa ist gerade hinter dem dritten Schlauchboot her. Die Crew kann es nicht mehr sehen, was daran liegt, dass man aus dem RHIB einen niedrigeren Blickwinkel hat als von der Lifeline. Im Meer treiben leere Getränkepackungen, Kanister. Eine Müllspur, immerhin. Gleichzeitig muss die Crew im Beiboot immer darauf achten, dass sie sich nicht zu weit vom Schiff entfernt, der Funkkontakt darf nicht abreißen. Doch irgendwann versagt der »Radiocheck«, Christa erreicht uns nicht und sehen können sie uns auch nicht mehr. Und so muss das RHIB umkehren.

Der Flüchtling, der sich mir zu Füßen wirft, kommt aus Bangladesch. Er hatte auf einem Ölfeld gearbeitet und war gefeuert worden, als er sich erdreistete und nach seinem Lohn fragte. Danach wurde er zum Zwangsarbeiter. Auch für Asiaten gibt es nur den einen Weg raus aus Libyen: über das Mittelmeer. Aber mich treibt die Sorge um: Was machen wir, wenn die Libyer eintreffen? Wie können wir deeskalieren?

Wir treffen uns im Büro neben der Brücke für eine kurze Lagebesprechung. Einer Vorgänger-Crew auf der Lifeline ist es schon passiert, dass die Libyer das Schiff touchierten und dann einer einfach aufs Boot sprang. Sie hatten damals darüber nachgedacht, die Crew unter Deck in Schutz zu bringen. Als Kapitän muss ich alle möglichen Szenarien durchspielen. Den Maschinenraum ganz unten könnte man absperren. Dort gibt es sogar einen zweiten, von der Brücke aus unabhängigen Steuerstand, mit dem man das Schiff manövrieren kann. Zumindest solange die Batterie hält. Ein, zwei Tage etwa. Auf diesem Weg könnten wir vielleicht Schiff und Crew retten. Die Flüchtlinge aber sicherlich nicht. Das wäre nur die absolute Notlösung.

Die Lifeline ist dank ihrer Bauweise schwer zu entern. Die einzige Schwachstelle ist das Achterdeck. Ein Crewmitglied hat die Idee, die Hülse auf die Backbordseite zu packen, dann wäre dort wenigstens der Einstieg versperrt. Sie müssten die Hülsezerstören, um an uns heranzukommen. »Gute Idee, machen wir«, sage ich. In der Zwischenzeit führe ich das Schiff stur weiter nach Norden. Von dem Ort der ersten Bergung sind wir schon etwa zehn Meilen entfernt. Je weiter wir von der Küste entfernt sind, umso besser. Denn umso aufwendiger wird die ganze Aktion für die LCG.

Als die Libyer in Sichtweite sind und erkennen, wie viele Flüchtlinge wir schon an Bord haben, ändern sie anscheinend ihre Meinung: »Maschine anhalten.« Das bedeutet nichts anderes, als sich manövrierunfähig zum Spielball der Patrouille zu machen, die zu uns an Bord kommen will.

Der Kapitän bellt über Funk, dass er längsseits gehen und mit seinen Leuten zu uns an Bord kommen will. Mir ist klar, dass wir das auf gar keinen Fall zulassen dürfen. Falls diese Männer bewaffnet sind und plötzlich mit Pistolen zwischen 235 Flüchtlingen herumfuchteln, hätte ich völliges Chaos an Bord. Ich stelle mich an die Reling, schaue zu den Libyern hinüber und spreche ins Funkgerät: »Gehen Sie auf keinen Fall längsseits, das ist viel zu gefährlich.« Bei einem missglückten Versuch könnten beide Schiffe so schwer beschädigt werden, dass sie sinken würden. Nach einigem Hin und Her biete ich an, sie könnten mit ihrem Schlauchboot und einer unbewaffneten Person zu uns rüberkommen. Aus welchem Grund auch immer sind die Libyer allerdings nicht einmal in der Lage, ihr eigenes RHIB ins Wasser zu bringen. Ob sie es schlicht nicht können oder der Kran, ja vielleicht sogar das Boot selbst nicht funktioniert, wissen wir nicht. Wie wollen sie dann eine Rettung durchführen? Ohne funktionierendes Einsatzschlauchboot? Also funke ich: »Bitte gehen Sie nicht längsseits, wir holen eine Person mit unserem Beiboot ab. Und bitte unbewaffnet.« Als unser Schlauchboot am Heck des libyschen Patrouillenboots eintrifft, stehen schon sieben ungeduldige Besatzungsmitglieder und der Kapitän bereit zur Überfahrt. Wir sprachen aber von einer einzigen Person.

Der bullige Kameramann mit einer GoPro-Kamera auf dem Kopf versucht noch, beim Heranfahren direkt auf die Christa zu springen. Martin setzt sofort zurück, der Mann fällt beinahe um, er hängt mit einem Bein im RHIB und mit einem im Wasser. Riesengeschrei. Zum Glück beruhigt sich die Lage schnell wieder. So geht das nicht, machen Martin und Andreas unmissverständlich klar.

Letztlich einigen wir uns darauf, dass der Kapitän eine Begleitperson mitbringt. Die Christa