Das Meer mit dir - Lisa Radtke - E-Book

Das Meer mit dir E-Book

Lisa Radtke

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Beschreibung

Sarah weiß schon lange, dass sie anders ist als andere Frauen in ihrem Alter. Nicht nur der frühe Tod ihres Vaters und ihre Probleme damit, Gefühle zu zeigen und Vertrauen aufzubauen, machen ihr zu schaffen, vor allem die Tatsache, dass sie Frauen liebt und niemand davon weiß, verunsichert sie.Bis sie Alice begegnet. Die junge Frau zieht Sarah magisch in ihren Bann und führt sie in eine völlig neue, faszinierende Welt ein. Sarah ist zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich glücklich, doch die ersten Wolken ziehen bereits am Horizont auf ...

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Das Meer mit dir

Eine junge Frau entdeckt sich selbst ...

... und die Liebe zu einer Frau

ROMAN

Lisa Radtke

o

Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.herzsprung-verlag.de

www.papierfresserchen.de

[email protected]

© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag + Herszprung-Verlag

Mühlstraße 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten. Originalausgabe 2018.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

Coverfoto: © Dajana Welz

ISBN: 978-3-96074-020-9 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-129-9 - E-Book

*

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

*

Prolog

Sarah,

ich hoffe, dass dich diese Zeilen erreichen werden. Ich habe sehr lange überlegt, ob ich dir schreibe. Unser Abschied war ja sehr frostig und bitte glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich dir nie wehtun wollte. Die Zeit, die wir miteinander verbracht haben, zähle ich immer noch zu den schönsten Momenten, die ich bisher erleben durfte.

Deine liebevolle Art und dein schwarzer Humor haben mich immer wieder strahlen lassen. Ich liebte deine schusselige Seite so sehr. Vor allem vermisse ich es nun, dieses Leuchten in deinen wunderschönen blauen Augen zu sehen. Du bist ein liebenswerter Mensch, was du mir immer wieder aufs Neue bewiesen hast. Ich bin froh, dass du ein Teil meines Lebens warst und es immer bleiben wirst.

Als ich dich damals auf dem Gnadenhof kennenlernte, war ich mir nicht sicher, wie ich mit dir umgehen sollte. Du hast den Tieren so viel Liebe und Aufmerksamkeit geschenkt und warst gegenüber anderen Personen kalt und distanziert. Ich brauchte eine Weile, um aus dir schlau zu werden, und begriff letztendlich, dass du nur zu deinem eigenen Schutz so warst. Niemand sollte dir wehtun.

Als du dich etwas geöffnet hattest und wir auch zusammen lachen konnten, nachdem Colorado die Zuckerwürfel aus deiner Tasche stibitzt hatte ... für einen kurzen Moment konnte man hinter deine Fassade sehen und spüren, wie viel Wärme und Liebe in dir steckt, die du auch Menschen schenken kannst. Ich werde niemals unsere Strandbesuche vergessen, wie wir uns im Wasser bekriegt haben und uns danach in Handtücher eingewickelt den Sonnenuntergang ansahen.

Du bist für mich ein besonderer Mensch und ich hoffe, dass du mir verzeihen kannst. Ich wollte dir nie wehtun, als ich dir erzählte, dass ich nach Neuseeland gehen würde. Wie du vor mir standst und deine Augen sich mit Tränen füllten, hat sich in mein Gedächtnis gebrannt. Manchmal wache ich nachts auf und denke an dich. Du fehlst mir. Du hast dich damals einfach umgedreht und bist die Dünen hochgelaufen. In diesem Moment zersprang mein Herz in tausend Teile. Bitte, glaube mir, ich wollte dich niemals verletzen.

Ich sitze jetzt hier und verdränge meine Tränen, so gut ich kann. Es tut mir unendlich leid. Vielleicht wirst du mir nie verzeihen können, aber ich hoffe, dass du jemanden findest, der dein Herz behütet und dich so lieben kann, wie du bist. Du bist eine wundervolle Frau, die sich selbst sucht und auch finden wird. Gib dir die Zeit, deinen Weg zu finden. Manchmal muss man auch durch die Welt irren, um sich über etwas klar zu werden.

Ich hoffe, dass du bis hierher gelesen hast. Ich würde mich freuen, wenn ich irgendwann eine Antwort von dir erhalte.

Ashlyn

Ich faltete den Brief zusammen und schob ihn zurück in den sorgsam beschrifteten Umschlag.

*

Kapitel 1

„Sarah, raus!“ Ich hatte es geschafft. Innerhalb von einer Woche wurde ich nun das dritte Mal des Unterrichts verwiesen.

Ich schlenderte aus dem Klassenraum, wohl wissend, dass die Blicke meines BWL-Lehrers mir folgten. Er seufzte, als ich hinter mir die Tür schloss. Ich suchte etwas Kleingeld in meiner Hosentasche und fütterte den in die Jahre gekommenen Kaffeeautomaten damit.

„Na, stellst du einen neuen Rekord im Aus-dem-Unterricht-Fliegen auf?“

Ich schrak zusammen und drehte mich zu der Stimme um. Alice grinste mir breit entgegen. Verdammt, ich verlor mich schon wieder in ihre wundervollen grünen Augen, und das auch noch in Rekordzeit.

Hastig versuchte ich, ein Gespräch anzufangen. „Ähm, eigentlich nicht, Herr Fürst fand wohl nur meine Definition von Kaufverträgen nicht so supertoll. Zumindest kann ich jetzt in Ruhe einen Kaffee trinken, er wird mich wohl kaum zehn Minuten vor Unterrichtsende wieder reinrufen.“

In Gedanken schlug ich mir mit der flachen Hand an die Stirn. „Sarah, diese Erklärung war so sinnlos.“

Doch Alice schmunzelte. Wie süß sie dabei aussah mit ihrem leicht schief gelegten Kopf und den langen blonden Haaren, die sie zu einem lockeren Zopf gebunden hatte. „Du bist ein Rebell und das macht dich irgendwie liebenswert. Ich muss leider ins Sekretariat, Unterlagen für das Praktikum holen. Wir sehen uns.“ Sie bog um die Ecke und ich blieb mit meinem Kaffee in der Hand zurück.

Ich seufzte leise und grinste in mich hinein. Wie schaffte sie es, mich immer wieder sprachlos zu machen? Ich strich mir durch die Haare und lehnte mich an die Wand, während ich mir die Zunge am Kaffee verbrannte. Scheiße! Diese Frau hatte eine Wirkung auf mich, deren ich mir erst jetzt wirklich bewusst wurde. Energisch schüttelte ich den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Nur eine Frau hatte bisher so eine Wirkung auf mich gehabt.

Es klingelte zum Unterrichtsende und wenig später kam Sam aus dem Klassenraum herausgestürzt. „Sarah, ernsthaft, wenn du deine Ausbildung erfolgreich abschließen willst, musst du dir den einen oder anderen Kommentar verkneifen. Einen Kaufvertrag eine Selbstgeißelung zu nennen, war echt dumm. Hol deine Tasche, sonst verpassen wir den Bus.“

Ich musste schmunzeln, während seine braunen Augen mich böse anfunkelten. Kaum einen halben Kopf größer als ich und ein wenig stämmig gebaut, aber sich wie ein Vater aufspielen, der viel zu früh von uns ging.

„Ja, Vati, ich geh ja schon.“ Ich wuselte zwischen den Leuten hindurch in den Raum und griff nach meiner Tasche.

In dem Moment erspähte mich Herr Fürst, nahm mich beiseite und fragte mich, ob ich Probleme hätte und darüber reden wolle. „Du warst doch sonst nicht so, Sarah. Wenn du Hilfe brauchst, komm gerne auf mich zu.“ Besorgt sahen mich seine grauen, müden Augen an. Scheinbar war auch er nicht so der Frühaufsteher. Ich verließ den Raum, ohne weiter darauf einzugehen.

Sam stand im Flur und zupfte nervös an seinem Ziegenbart herum. „Na endlich, ich dachte, du kommst nie wieder. Los, wir sind spät dran.“

Die Berufsschule lag in einem abgelegenen Waldstück. Ich mochte die Ruhe, die der umliegende Birkenwald ausstrahlte. Schon als Kind hatte ich es geliebt, durch Wälder zu spazieren, verloren in meinen Gedanken und Gespräche planend, die niemals stattfinden würden. Ich war gern auf Bäume geklettert und die angenehme Stille hatte mich den Alltag für einen Moment vergessen lassen. Ich war zwar oft heruntergefallen, doch zu meinem Glück hatte ich mir nie was gebrochen. Schade eigentlich, dass ich so eine Erfahrung niemals hatte machen dürfen.

„Wollen wir in der Stadt noch einen Kaffee trinken gehen?“ Sam riss mich aus meinen Tagträumen.

„Hm? Ja, klar, können wir machen. Coffee Unlimited?“

„Deal!“

*

Kapitel 2

„Ich will ans Fenster!“, rief ich übertrieben kindisch, als ich mit Sam in den Bus stieg.

Er rollte mit den Augen. Selbst meine Mutter konnte es nicht ansatzweise so gut wie er. „Dann setz dich einfach ans Fenster und gib Ruhe. Der ganze BWL-Kram macht mich kirre im Kopf, so viel kann sich doch kein Mensch merken. Und ...“

„Sam, mach endlich Feierabend! Man könnte meinen, du lebst nur noch für deine Ausbildung zum Buchhalter.“ Ich nahm seine Hände und hob sie hoch in die Luft. „Einatmen“, befahl ich ihm forsch.

„Willst du mich verarschen?“

„Einatmen!“, wiederholte ich schroff. Genervt atmete er ein. „Braver Junge. Und jetzt ausatmen.“ Ich lächelte und ließ seine Arme wieder sinken.

„Oh, Sarah, ich wusste gar nicht, dass du Privatsitzungen zu Entspannungsritualen gibst.“ Alice saß hinter uns und lehnte sich zu uns nach vorne. „Bekomme ich eventuell auch ein paar Tipps zur Entspannung? Ich hab’s momentan etwas im Nacken, weißt du. Die Bürostühle im Computerraum sind echt der Horror.“

„Wo du es gerade sagst, Alice“, grätschte Sam dazwischen.

„Du Arsch, halt die Klappe, ich will ihre angenehme Stimme hören, die mir eine Gänsehaut nach der anderen verpasst ...“

Sam wandte sich wieder mir zu. „Hast du schon deine Unterlagen für den Ergonomie-Vortrag vorbereitet?“

„Willst du eine ehrliche Antwort oder darf ich lügen?“

„Sarah.“

„Nein, ich habe sie nicht vorbereitet.“

„SARAH! Der Vortrag ist in zwei Tagen. Ich habe dir alle Themen, die du besprichst, geschickt. Mach das endlich fertig!“

Ich seufzte und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Draußen schien die Sonne. Nur ein paar kleine Wolken waren am Himmel zu sehen. Meinen Strandspaziergang, den ich für heute Abend geplant hatte, konnte ich wohl vergessen.

Ich hörte, wie Alice leise lachte. Meine Lippen formten ein kleines Lächeln. Sie war schon anders als die anderen.

Als wir am Café ankamen, brauchte ich auf den Schreck erst mal einen großen Karamell-Macchiato, den ich mir sofort bestellte. Sam trank wie immer einen Milchkaffee. Ich hatte nie verstanden, wie man so was trinken konnte.

Dieses Café war etwas Besonderes. Die Stühle wurden durch alte, ausgestopfte Kaffeebohnensäcken ersetzt und die Tische waren alte Fässer, die neu lackiert worden waren. Es roch wundervoll nach frisch gemahlenem Kaffee und wir ließen uns auf die bequemen Sitzmöglichkeiten fallen. Zunächst besprachen wir noch einmal die Themen des Vortrags und ich versuchte, mir alles zu merken, damit ich zumindest eine halbwegs gute Note bekommen würde.

„Mach dir Karteikarten mit den wichtigsten Stichpunkten. Das wird dir sicherlich helfen. Du bist ja immer so aufgeregt, wenn es um Vorträge geht“, schlug Sam vor, während er in seinem Milchkaffee herumrührte.

„Ich stehe halt nicht gerne im Mittelpunkt, auch wenn viele das Gegenteil behaupten. Ich erstelle heute Abend die Stichpunkte und schreibe sie mir morgen auf die Karteikarten.“ „Bitte versau es nicht, ja?“

„Ich gebe mir die größte Mühe.“ Ich quälte mich zu einem Lächeln und bezahlte. „Wir sehen uns morgen.“ Anschließend verließ ich das Café und kramte meine Kopfhörer aus meinem übervollen Rucksack. Ich mochte es nicht, ohne Musik irgendwohin zu gehen.

Ich wohnte nur 15 Minuten Fußmarsch vom Coffee Unlimited weg, doch heute ging ich besonders langsam. Mir ließ Alice’ subtile Bemerkung einfach keine Ruhe. Es war schon so für mich schwer, in ihrer Nähe die Fassung zu bewahren. Ich mochte ihre langen, leicht lockigen, blonden Haare und ihre grünen Augen. Sie war ungefähr so groß wie ich, vielleicht ein wenig größer. Was aber noch viel schöner an ihr war, war ihr Charakter. Sie hatte eine liebevolle und warmherzige Art, gepaart mit Humor und Sarkasmus. Sie war smart. Sie war tollpatschig. Einfach eine liebenswerte Person.

Eigentlich hatte ich sie zum ersten Mal gesehen, als wir mit den Bürokaufleuten nach Schwerin gefahren waren, um uns den Landtag im Schloss anzusehen. Sie wirkte ein wenig verloren und unsicher zwischen ihren neuen Mitschülern. Sam war leider – oder Gott sei Dank – krank, sodass ich nicht mal mit ihm irgendwelchen Unsinn hätte machen können. Als dann endlich der Bus kam und ich mir einen Platz im Mittelfeld gesucht hatte – hinten saßen bereits die „Coolen“, die sich lauthals über irgendwelche Bands unterhielten –, stand sie plötzlich vor mir. Schüchtern sah sie mich an und fragte mich, ob es in Ordnung wäre, wenn sie sich zu mir setzen würde.

„Klar“, antwortete ich und räumte meinen Rucksack vom Nebensitz.

Lächelnd bedankte sie sich bei mir und kramte aus ihrer Tasche einen iPod und Kopfhörer hervor. Scheinbar suchte sie kein Gespräch, ich hatte auch nicht wirklich Lust, mich zu unterhalten. Ich hasste solche Fachexkursionen sowieso. Sie waren langweilig, eintönig und ich interessierte mich nicht dafür, was im Landtag passierte. Das Einzige, was für mich zumindest ein wenig interessant werden könnte, war der Schlossgarten. Vielleicht würde ich mich in irgendeiner ruhigen Ecke etwas entspannen können.

Obwohl die Fahrt nur eine knappe Stunde dauerte, lag irgendwann Alice’ Kopf auf meiner Schulter, sodass ich sie in Ruhe mustern konnte. Ihre weichen Gesichtszüge waren wirklich schön, ihre Lippen erstrahlten in einem zarten Rot, das ich gerne geküsst hatte.

Sofort kräuselte sich meine Stirn. „Sarah, was ist mit dir los? Wie kannst du nur so was denken? Lass das, dir wurde doch schon mal das Herz gebrochen, es würde dir nicht guttun.“

Vorsichtig weckte ich sie, indem ich ihr sanft über die Wange streichelte. Mein Gott, wie konnte man nur so weiche Haut haben?

Seufzend rieb sie sich die Augen und starrte mich ungläubig an. „Habe ich die ganze Zeit auf deiner Schulter geschlafen? Das war echt keine Absicht, es tut mir furchtbar leid“, entschuldigte sie sich hastig und räumte ihren iPod zurück in ihre Tasche.

Ich grinste sie frech an. „Nun mach mal keine Welle, ist doch alles in Ordnung“, winkte ich ab.

Sie lächelte mich an, bevor sie ausstieg. Auch ich verließ den Bus, der genau vor dem Schloss gehalten hatte. Schlanke tausend Jahre hatte das Gemäuer, in dem unser Landtag saß und irgendwelche Beschlüsse durchdrückte, bereits auf dem Buckel. Zahlreiche kleine Türmchen mit dunkelblauer Spitze ragten in den wolkigen Himmel empor. Über dem Reiter – Niklot I. –, der seinen Speer in die Luft reckte, befand sich die große Goldkuppel, die mich schon als kleines Mädchen beeindruckt hatte. Kaum zu glauben, dass dieses Gebäude einst eine Slawenburg gewesen war.

Wir trotteten in den Eingangsbereich, wo uns eine in Schwarz gekleidete Dame in Empfang nahm. Vor mir ging Alice, die von einigen Jungs umringt war und immer wieder mit plumpen Anmachsprüchen belästigt wurde.

„Hey, Püppchen, ich kann dir auch das Schloss zeigen und noch andere schöne Dinge, wenn du verstehst, was ich meine“, raunte ihr der mit dem grauen Basecap grinsend zu.

„Kevin, halt einfach die Klappe, es kommt sowieso nur Müll raus“, fuhr ich ihn augenrollend an. Wie ich es hasste, wenn jemand so niveaulos mit einer Frau sprach. Waren wir denn schon wieder in der Brunftzeit? Für mich war es der absolute Horror.

Alice drehte sich zu mir um und zwinkerte mir zu. Ich lächelte verlegen zurück und der Typ mit dem Basecap hielt auch tatsächlich die Klappe, als wir durch das Schloss geführt wurden. Ich hörte nicht zu, sondern trabte einfach nur hinterher.

Endlich war die Führung vorbei und wir durften uns frei bewegen. Schnell fand ich eine ruhige Ecke unter einer Weide am Ufer des Sees, der das Schloss einkesselte. Zumindest war es dort ruhig, bis die anderen Mitschüler dazukamen. Ich ging ein paar Meter weiter, wo sich eine alte Grotte befand, die aus unzähligen Felssteinen geformt war. Bei der drückenden Hitze brauchte ich ein wenig Schatten. Kurz zuckte ich zusammen, als ich bemerkte, dass dort noch jemand Schatten suchte. Alice. Ein wenig erschöpft sah sie zu mir hoch, als ich auf sie zuging.

„Das war echt fad“, merkte sie an, bevor sie an ihrer Wasserflasche nippte.

Ich zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Jetzt kommt ja der schöne Teil. Freizeit“, entgegnete ich trocken und beobachtete, wie einige Wildenten am flachen Ufer vorbeischwammen. Ich setzte mich zu Alice auf den Boden. Gemeinsam verharrten wir in angenehmer Stille, bis ich Schritte hörte. Ich drehte mich um, um zu sehen, wer diese himmlische Ruhe störte.

„Hey, du musst Alice sein“, ertönte eine aufgeregte Stimme, die zu einer androgyn wirkenden Person, die nun zwischen uns stand, gehörte. Alice lächelte sie an und nickte kurz. „Ich bin Chrisy“, stellte sie sich vor und setzte sich zu uns. Ihre kleine, aber dennoch sportliche Statur und ihre verstrubbelten, kurzen, dunkelblonden Haare machten sie auf eine gewisse Art und Weise sympathisch, das schwarze Unterlippenpiercing gab ihr zudem einen frechen Touch.

„Moin“, murmelte ich ihr zu. Eine solch offene Art war mir fremd. Gerne hätte ich weiterhin hier gesessen, doch irgendwie fühlte ich mich nicht mehr wohl und zog deshalb weiter durch den Schlossgarten. Einige Touristengruppen flanierten über die Kieswege, die sich um das prunkvolle Schloss herumschlängelten. Bei diesem Spaziergang verliebte ich mich regelrecht in das wundervolle Gemäuer, das im Stil der Neurenaissance gehalten war. Die sandsteinfarbene Fassade mit ihren filigranen Zinnen und Skulpturen verströmte zusammen mit den tiefblauen Spitztürmen schon fast französisches Flair. Man nannte das Schloss nicht umsonst Neuschwanstein des Nordens.

In einem gemächlichen Tempo schlenderte ich an der Statue von Friedrich Franz II. vorbei, hinein in den von schier endlosen Weidenbögen überspannten Wandelgang, der kühlen Schatten spendete. Dort ließ ich mich ächzend auf eine Bank fallen und schloss die Augen. Ruhe. Endlich.

Ich stieg in den Bus ein und warf noch mal einen letzten Blick auf das Schloss und den See. Schön war’s, keine Frage. Gerne wäre ich noch geblieben und hätte mich weiter umgesehen, doch wir mussten wieder los. Schade eigentlich. Neben mir teilten sich Chrisy und Alice eine Sitzbank und unterhielten sich eifrig. Ich jedoch steckte mir meine Kopfhörer in die Ohren und lauschte den sanften Klängen von Philipp Poisel. Immer wieder sah ich zu Alice hinüber. Sie war eine sehr hübsche, attraktive Frau, die ich nicht aus meinem Kopf bekam. Zwischendurch lächelten mich ihre schönen grünen Augen an, in denen ich mich ein wenig verlor. Ich zog die Augenbrauen zusammen und schloss die Lider. Ich kannte sie doch gar nicht, wusste absolut nichts von ihr. Die Sonne strahlte mir ins Gesicht, während der Bus sich in den Verkehr einfädelte. Sie sprach mich nicht an, doch ich konnte ihre Blicke auf meiner Haut spüren und sie fühlten sich nicht mal unangenehm an.

Langsam tauchte ich aus meiner Erinnerung an die erste Begegnung mit Alice auf. Zu meiner Verwunderung dudelte in dem Moment eine Ballade durch meine Kopfhörer, von der ich nicht mal gewusst hatte, dass sie sich auf meinem Handy befand. Grinsend bog ich ins Wohnviertel ein. War das Schicksal? Wir wohnten in einem ruhigen Viertel, das gut an die Innenstadt angebunden war. Die schmalen Straßen waren voll mit kleinen Läden und Cafés, die von kreativen Köpfen geleitet wurden. Ich mochte diese Atmosphäre sehr und musste schmunzeln, als ich vor einem Laden eine Pferdekopfmaske auf der Treppe liegen sah. In keinem anderen Stadtteil fand man beispielsweise selbst gestrickte Mützen für die unzähligen Poller am Straßenrand. Ich konnte mir nicht erklären, warum man so was machte, aber es hatte Charme, gab den vielen ineinander verschachtelten Straßen ein einzigartiges Flair. Die alten Bürgerhäuser und Flachbauten mit ihren grazilen Giebeln und den unzähligen Graffiti zauberten mir immer wieder ein Lächeln ins Gesicht.

Ich kam an einem sonnenblumengelben Haus an und klingelte bei Fischer.

„Hast du schon wieder deinen Schlüssel vergessen?“, seufzte meine Mutter genervt in die Gegensprechanlage.

„Ja“, murrte ich zurück. Dämliche Frage, wieso sollte ich sonst klingeln? Die Tür surrte und ich stapfte in den zweiten Stock. „Warum bist du eigentlich schon zu Hause? Sonst bist du nie vor 17 Uhr hier“, fragte ich sie, während ich meinen Rucksack in die nächste Ecke schmiss.

„Ich musste deinen Bruder von der Schule abholen, der hat die Noroviren. Bitte desinfiziere deine Hände immer, okay?“

„Marco, die Virenschleuder. Ja, mach ich. Was gibt es denn zu essen?“, kommentierte ich schmunzelnd ihre Aussage.

„Ich habe dir einen Salat gemacht. So viel Pizza, wie du momentan in dich reinstopfst, ist ja nicht mehr normal. Irgendwann rollst du die Treppen hoch.“

Ich sah an mir hinunter. Ja, ich hatte ein wenig zugenommen, trotzdem hatte ich eine sehr schlanke Statur. Als kleines Mädchen war ich schon recht schlank gewesen, egal, wie viel ich gegessen hatte, ich hatte kaum zugenommen. Na ja, damals hatte ich mich auch noch ein wenig gesünder ernährt als jetzt. Ich gab meiner Mutter einen Kuss auf die Wange, schnappte mir die Salatschale und ging in mein Zimmer. Es war sehr minimalistisch eingerichtet, aber es strahlte Wärme und Gemütlichkeit aus. An den Wänden hingen Plakate von meinen Lieblingsserien und Lieblingsbands. Man hätte denken können, hier lebte ein aufstrebender Rockstar. Aber es war ich und ich war absolut kein Rockstar, eher die Person, die die Ruhe genoss.

Ich stellte meine Schale auf den selbst gebastelten Tisch aus Treibholz. Er war ein Andenken an meinen verstorbenen Vater. Wir waren viel am Strand, Angeln oder Segeln gewesen, Hauptsache, am Wasser. Wir liebten das Meer und das Rauschen der Wellen. Wir sammelten Treibholz und bauten daraus alles Mögliche: Regale, Tische, Schränke. Irgendwann wurde er krank und erlag der Krankheit. Damals war ich acht. Die Ärzte wussten bis heute nicht, was für eine Krankheit das gewesen war.

Ich schaltete mein altes, in die Jahre gekommenes Radio ein. Leise dröhnte Rockmusik durch die Lautsprecher. Ich summte vor mich hin und startete meinen Computer. Gedankenverloren suchte ich die Mail von Sam heraus und staunte nicht schlecht, als ich bemerkte, dass es 14 Seiten waren. Beim Durchscrollen der Unterlagen stellte ich fest, dass das die 14 Seiten waren, die ich vortragen sollte. Ich seufzte und ging in die Küche, in der meine Mutter gerade putzte. Marco, mein kleiner Bruder, nahm soeben seine Medizin.

„Na, kleine Virenschleuder? Husch mal gleich wieder in dein Zimmer, sonst putzt Mutti noch die ganze Nacht“, scherzte ich, aber der Witz kam bei Marco nicht gut an.

„Halt die Klappe, okay? Ich bin hier der Babo“, maulte er mich an.

Die Pubertät musste grauenhaft sein, ich konnte mich zumindest nicht erinnern, dass ich so gewesen war. Marco wollte immer der Chef sein und wurde als Küken der Familie ohnehin stets bevorzugt. Das Resultat davon konnte man jetzt sehr gut erkennen. Sein Kleiderschrank bestand nur aus Markenklamotten und monatlich wechselte sein Lieblings-YouTuber beziehungsweise seine Lieblingsband. Wenn etwas nicht mehr taugte, warf man es weg. Einmal hatte Oma ihm einen selbst gestrickten Schal geschenkt und Begeisterung sah anders aus. Ich hatte noch nie so viel Ekel und Abneigung im Gesicht eines 13-jährigen Jungen gesehen. Babo heißt wohl Anführer oder Chef. Google weiß ja bekanntlich alles.

„Hey, Mutti, magst du mir einen Kaffee machen? Ich habe voll vergessen, den Vortrag für die Berufsschule vorzubereiten und muss jetzt in zwei Tagen 14 Seiten durcharbeiten“, bat ich. Sie nickte und wischte dabei die Arbeitsfläche ab. „Danke. Ich geh schnell duschen.“

Anschließend ging ich zurück in mein Zimmer, um frische Klamotten rauszusuchen, entschied mich dann aber doch für meine Schlafsachen. Ich ging ins Badezimmer und stieg in die Dusche, wusch mir den heutigen Tag vom Körper. Dabei musste ich immer wieder an Alice denken. Ich ließ das Wasser laufen, bis es mir eigentlich viel zu kalt war, was ich in diesem Moment jedoch gar nicht wirklich wahrnahm. Wieso musste ich nur immer wieder an sie denken? Was war los mit mir? Was ging in mir vor? Ich wusste, dass ich auf Frauen stand. Männer langweilten mich nur, obwohl ich einige Beziehungen gehabt hatte, die aber nie lange hielten.

Ich stellte das Wasser aus und stieg aus der Dusche. Ich erschrak kurz, als ich mich im Spiegel sah. Meine kurzen schwarzen Haare standen nach allen Seiten ab und meine blauen Augen sahen im kalten Licht des Badezimmers müde aus. Ich wickelte mich in mein Handtuch ein und bändigte meine Haare.

Das Klopfen meiner Mutter riss mich aus meinen Gedanken. „Sarah, beeil dich bitte! Es wollen noch andere unter die Dusche.“

Ich schloss auf und ging in mein Zimmer. „Nicht mal in Ruhe duschen kann man hier“, fauchte ich.

„Solange du deine Füße unter meinem Tisch hast ...“, begann meine Mutter, doch ich unterbrach sie.

„Solange ich meine Füße unter deinem Tisch habe, besteht immer noch die Möglichkeit, den Tisch wegzuziehen, Mutti. Ich habe dich lieb und geh jetzt meinen Vortrag vorbereiten.“ Hastig ging ich in die Küche, nahm meinen Kaffee und trottete in mein Zimmer zurück. Ich hörte noch, wie sie leise schimpfte.

Als ich wieder vor meinem Rechner saß, druckte ich die Unterlagen aus und fing an, alles zu markieren, was mir wichtig erschien. Sam hatte mir Gott sei Dank den einfachen Teil gegeben. Ich arbeitete mich durch und war überrascht, dass von den 14 Seiten am Ende nur drei Seiten relevant waren. Oder Sam hatte es einfach wieder mal geschafft, mich zum Lesen zu zwingen. Dieser kleine Schlingel. Erschöpft und etwas entnervt von dem Vortrag beschloss ich, für heute Schluss zu machen. Ich legte mich ins Bett und dachte noch mal über Alice’ Worte nach. Sollte ich ihr wirklich eine Privatsitzung zur Entspannung geben? Ich musste schmunzeln und schlief ein.

*

Kapitel 3

Der Wecker riss mich aus meinem Traum. Es war sechs Uhr und die Sonne ging langsam auf. Ich schleppte mich ins Badezimmer und machte mich fertig für die Berufsschule. Ich versuchte mich an meinen Traum zu erinnern, mein Gedächtnis war jedoch einfach noch nicht wach. Enttäuscht über mich selbst machte ich mir eine Schüssel Cornflakes und einen Kaffee.

Meine Mutter kam in die Küche und raunte mir ein „Guten Morgen“ zu. Wir beide waren keine Morgenmenschen. Sie nahm sich ebenfalls einen Kaffee und setzte sich zu mir. Wir schwiegen uns eine Weile an, bis sie mich etwas fragte. „Sarah, wer ist Alice?“

Ich verschluckte mich an meinem Kaffee. „Was?“, hüstelte ich.

„Du hast im Schlaf nach einer Alice gerufen, das habe ich sogar in meinem Schlafzimmer gehört“, erklärte sie mit schief gelegtem Kopf.

Tja, was sollte ich darauf antworten? Die Situation war für mich schon peinlich genug. „Sie macht eine Ausbildung zur Bürokauffrau und wir haben manche Fächer zusammen“, antwortete ich kleinlaut. Ich hatte also von Alice geträumt. In meinem Kopf drehte sich alles. Mein Magen verkrampfte sich. Sie war also nicht mehr nur in meinen Gedanken, sondern auch in meinen Träumen. Das konnte doch nicht wahr sein, wie machte sie das? Ich wusste nicht mal, ob sie auf Frauen stand, aber so wie ihr die Typen hinterherpfiffen und sie es konsequent ignorierte, wäre es zumindest möglich. Verdammt, ich dachte schon wieder an sie.

„Sarah.“ Mutti riss mich aus meinen verwirrenden Gedanken.

„Hm? Oh Mist.“ Ich hatte meinen Kaffee verschüttet. Schnell wischte ich den braunen See auf, ich wollte keinen Streit am frühen Morgen. „Ich muss los, sonst verpasse ich den Bus. Wir sehen uns später.“ Ich schnappte mir meinen Rucksack, polterte die Treppen hinunter, indem ich fast eine ältere Dame überrannte, und lief zur Bushaltestelle. Was zum Teufel hatte Alice in meinem Traum zu suchen gehabt und wieso hatte ich ihren Namen so laut gerufen, dass meine Mutter es hören konnte?

Ich schaffte es nur durch einen Sprint, den Bus zu erreichen. Heute fuhr Gerd und erfahrungsgemäß wartete er immer ein wenig länger auf mich. Er lächelte mich müde an, als ich keuchend einstieg. Seine massige Statur und seine Zahnlücke machten ihn sympathisch. Wie immer trug er sein hellblaues Hemd mit dem Firmenlogo auf der Brust und die schwarze Stoffhose. Ein richtiges Knuddelbärchen.

„Na, Liebes, bist du wieder nicht aus den Federn gekommen?“, empfing er mich.

Ich lächelte ihn an, als ich mich in die vorderste Reihe schräg hinter ihm setzte. „Heute lag es mal nicht an der behaglichen Nestwärme“, witzelte ich, als ich mein Rucksack auf den freien Platz neben mir stellte. „Ich hatte einen Traum und der war irgendwie seltsam.“

„Magst du drüber reden?“, fragte der dickliche Busfahrer vorsichtig nach.

Er wusste, dass es mir schwerfiel, über meine Gefühle zu reden. Ich war noch nie gut in so was gewesen. Das war wohl auch der Grund, warum ein Typ nie lange an meiner Seite blieb. Ich war dominant, aber auch verletzlich und ich gab mir stets Mühe, diese Verletzlichkeit zu verbergen. Diese Eigenheit war in meiner Vergangenheit zu oft gegen mich verwendet worden. Ich konnte mir sowieso nicht erklären, wie ich überhaupt imstande war, eine Beziehung einzugehen, grundsätzlich war es mir egal, ob ich nun alleine im Bett schlief oder nicht.

„Nein, Gerd. Sei mir nicht böse, bitte.“

„Alles gut, Sarah. Manchmal möchte man einfach nicht reden, sondern handeln. Man glaubt es kaum, aber ich war auch mal so jung wie du“, sagte er zwinkernd.

Ich schenkte ihm ein herzliches Lächeln. Er hatte recht. Ich musste handeln. Ich musste meiner Mutter endlich gestehen, dass ich homosexuell war – und davor ich hatte Angst.

Der Unterricht zog einfach nur an mir vorbei. In meinem Körper war alles verspannt. Meine Familie wusste nicht, dass ich auf Frauen stand. Ich selbst hatte es auch nie wirklich wahrgenommen, bis eine bildhübsche Dame namens Alice um die Ecke kam und meine komplette Emotionslage auf den Kopf stellte.

Die einzigen Personen, die wussten, dass ich mich zu Frauen hingezogen fühlte, waren Sam und seine Mutter. Sie war aufgrund eines Schlaganfalls Frührentnerin und machte den besten Käsekuchen der Welt. Ihre herzliche Art erinnerte mich an meine Oma, die schon 86 Jahre alt und das wichtigste Bindeglied der Familie war. Ich bewunderte ihre ruhige Art, mit der sie auch die kompliziertesten Dinge anging und löste.

Als mein Vater starb, war Oma die Einzige gewesen, die nicht geweint, sondern gelächelt hatte. „Mein Sohn ist erlöst. Nun kann er endlich Ruhe finden und durch die Wolkenmeere segeln. Er wird immer bei uns sein.“

Ich hatte mit meinen acht Jahren nicht verstanden, was Oma meinte. Später, mit ungefähr 14, legte sich in meinem Kopf ein Schalter geräuschvoll um und ich begriff, was Oma ausdrücken wollte. Ein Mensch starb erst endgültig, wenn man ihn vergaß. Ich beschloss, nach dem Unterricht zum Grab meines Vaters zu gehen und dort zu überlegen, was ich tun sollte.

Es klingelte und ich war endlich frei. Ich stopfte meine Unterlagen in meine Tasche und ging zügig in Richtung Bushaltestelle.

„Hey, Sarah, warte kurz!“

Ich erstarrte. Alice’ Stimme ließ mich erschauern. Langsam drehte ich mich zu ihr um. Sie sah wieder mal fantastisch aus mit ihrer engen, dunklen Jeans und dem figurumschmeichelnden weißen Shirt. Ihre Haare hatte sie zu einem lockeren Zopf gebunden, der sich schon fast komplett aufgelöst hatte.

„Mein Gott, hast du einen Stechschritt“, schnaufte sie und brauchte ein paar Augenblicke, um zu Atem zu kommen. „Ich wollte fragen, was du morgen nach dem Unterricht machst. Ich schulde dir noch einen Kaffee, weil ich dich letztens am Kaffeeautomaten einfach stehen gelassen habe. Sorry noch mal.“

Mein Gehirn brauchte einen Moment, um die Information zu verarbeiten. Sie wollte sich mit mir treffen. In mir jubelte alles, doch warum? Wie schaffte sie es, mich dermaßen in ihren Bann zu ziehen, verdammte Hacke noch mal?

„Also, bisher habe ich nichts vor. Wann hast du denn Schluss?“, fragte ich vorsichtig nach.

„Nach deinem Ergonomie-Vortrag. Frau Schäfer hat mit Herrn Fürst gesprochen. Wir behandeln momentan das gleiche Thema und sie hat uns heute darüber informiert, dass die Buchhalter und die Bürokaufleute zusammen Unterricht haben.“

Mein Gesicht entgleiste. Ich war kein Freund von Vorträgen, schon gar nicht, wenn ich selbst vorne stand und auch noch das gesamte zweite Lehrjahr der Bürokaufleute anwesend war, inklusive Alice. Scheiße. Ich hatte den Vortrag kaum vorbereitet und mir blieb nicht mehr viel Zeit. Ich wollte mich nicht vor ihr blamieren.

„Wenn ich danach noch brauchbar bin, sehr gerne. Ich bin nicht so gut bei Vorträgen, musst du wissen“, stammelte ich vor mich hin. „Sarah, jetzt kneif den Arsch zusammen!“, schalt ich mich im Stillen.

„Du wirst super sein, ich weiß das. Dann sehen wir uns morgen“, lächelte Alice. Sie umarmte mich, ich erhaschte den angenehm süßlichen Duft ihres Parfüms und versuchte, mir diesen, so gut es mir möglich war, einzuprägen. Ihre Haut fühlte sich so weich an. Mein Unterleib zog sich zusammen und ich brauchte einen Moment, um mich zu fangen, bevor ich meinen Weg zur Bushaltestelle fortsetzte.

Ich hatte ein Date mit Alice und war absolut nicht vorbereitet. „Tut mir leid, Papa, aber heute kann ich dich wohl nicht besuchen. Ich komme bestimmt bald vorbei und erzähle dir alle Neuigkeiten“, nuschelte ich in mich hinein. Diese kleinen Selbstgespräche beruhigten mich immer etwas. Ich hatte Angst vor dem, was ich vorhatte, und vor dem Verlieben. Ich musste meiner Mutter endlich erzählen, dass ich auf Frauen stand.

Ich trottete zur Bushaltestelle und schrieb Sam eine kurze SMS.

Hey, tut mir leid, dass ich schon los bin. Ich muss noch so viel für den Vortrag machen. Wusstest du, dass die Bürokaufleute morgen mit uns gemeinsam Unterricht haben?

Fast schon automatisiert sendete ich die Nachricht ab. Mein Handy vibrierte einige Augenblicke später und ich las die Antwort von Sam.

Hey, ich kenne dich gar nicht so pflichtbewusst. Ist alles in Ordnung? Herr Fürst hat doch im Unterricht gesagt, dass wir beide morgen größeres Publikum haben. Lass uns heute Abend kurz telefonieren, damit wir uns ein bisschen absprechen können. Bis dann.

Ich ärgerte mich über mich selbst. Hätte ich dem Unterricht ein wenig mehr Aufmerksamkeit geschenkt, wäre ich nicht so überrumpelt gewesen, als Alice mich auf diese Neuigkeit ansprach.

Ich war schon immer unglaublich unorganisiert gewesen, was meine Ausbildung zu allem Überfluss erschwerte. Dass ich überhaupt den Beruf der Buchhalterin lernte, war dem Wunsch meiner Mutter geschuldet. Sie war Geschäftsführerin eines Exportunternehmens und wollte, dass ich irgendwann ihre Firma übernahm. Eigentlich hatte ich, wie viele andere Mädchen in meinem Alter auch, Tierärztin werden wollen. Damals hatten wir einen Kater gehabt, den ich als Kind immer untersuchte. Tierarztbesuche waren für mich die größte Freude. Ich hatte sogar ein Praktikum auf einem Gnadenhof absolviert. Kein Mensch konnte mir so viel Liebe schenken, wie Tiere es taten. Diese unendliche Dankbarkeit, weil man ihnen ein zufriedenes Leben schenkte, war unbeschreiblich schön und ließ die eine oder andere Träne über meine Wange rollen. Nur die Tiere durften meine emotionale Seite sehen.

Gedankenverloren stieg ich in den Bus ein und setzte mich in die hinterste Reihe. Warum hatte ich nicht einfach meinen Traum verwirklicht, anstatt den Wünschen der anderen nachzugeben? Manchmal verstand ich mich selbst nicht.

Mein Handy vibrierte. Meine Mutter rief an. „Sarah, bist du auf dem Heimweg? Ich muss mit dir reden, es ist wichtig. Bitte, beeile dich.“ Sie klang sehr besorgt.

„Ja, ich bin im Bus und in circa 15 Minuten da. Was ist denn los?“

Es herrschte kurz Stille und ich ahnte schon Schlimmes.

„Das möchte ich nicht am Telefon besprechen. Wir sehen uns ja gleich“, sagte sie und beendete das Telefonat.

Verwirrt von dem seltsamen Telefonat mit meiner Mutter, schaute ich aus dem Fenster. Der Himmel zog sich zu. Wie passend. Selbst er ahnte etwas und ich saß nichts wissend im Bus.

*

Kapitel 4

Als ich zu Hause ankam, saß mein Bruder, der etwas mitgenommen aussah, am Küchentisch.

Ich stellte meinen Rucksack ab. „Weißt du, was los ist?“, fragte ich vorsichtig nach.

Er zuckte mit den Schultern, würdigte mich keines Blickes und spielte weiter mit seinem Handy herum.

Meine Mutter stand plötzlich hinter mir und bedeutete mir, Platz zu nehmen. „Ich muss mit euch reden“, sagte sie, als sie sich an die Stirnseite des Tisches setzte.

Die Stimmung war kaum auszuhalten, es lag eine Anspannung in der Luft, die ich in meiner Familie nicht gewohnt war.

„Ihr wisst, dass euer Vater schon lange tot ist und ich mich wieder nach einem Mann sehne. Ich habe jemanden kennengelernt, der mir sehr gefällt, und ich möchte euch Martin gerne vorstellen. Er ist ein jahrelanger Geschäftspartner und beim letzten Geschäftsessen hat es zwischen uns gefunkt.“ Sie seufzte verliebt.

Marco jedoch verzog das Gesicht. „Aber, Mama, was wird denn aus uns? Was wird aus mir? Ich war doch immer der Mann im Haus und das soll auch so bleiben“, krächzte er empört. Natürlich musste so eine Aussage von ihm kommen. Er hatte Angst, die Rolle des Alphamännchens zu verlieren. Unsere Mutter hat schon mehrmals Männer heimgebracht, die er allesamt erfolgreich rausgeekelt hatte.

Mutti warf ihm einen strafenden Blick zu. „Marco, du bist mein Sohn, aber verstehe bitte, dass ich wieder einen Mann an meiner Seite haben möchte. Ich wünsche mir von dir, dass du Martin zumindest die Chance gibst, sich bei euch vorzustellen. Ihr werdet ihn bestimmt mögen“, verkündete sie zuversichtlich und mit glänzenden Augen. Da war jemand schwer verliebt.

Ich gönnte es ihr sehr. Sie hatte so lange mit dem Tod unseres Vaters gekämpft und ich freute mich, dass sie nach etlichen Affären endlich wieder etwas Festes gesucht und wohl auch gefunden hatte.

Ich ergriff das Wort, um diese angespannte Stimmung aus dem Raum zu fegen. Ich wusste, dass Mutti das gleiche Problem hatte wie ich: Wir konnten beide nicht wirklich über Gefühle reden. „Also, ich freue mich für dich und bin gespannt, wie Martin so drauf ist.“

Mutti schenkte mir ein herzliches Lächeln und ich überlegte, ob es der richtige Zeitpunkt war, um mit ihr über mich zu reden. Allein der Gedanke reichte, dass mein Magen sich verkrampfte. Es wäre zu früh gewesen. Abgesehen davon, hatte ich nicht mal eine Freundin. Ich schwärmte für eine Frau, die ich nicht mal wirklich kannte. Ich knetete nervös meine Hände, was nicht unbemerkt blieb.

„Sarah, stimmt etwas nicht? Du siehst so nachdenklich aus und bist auch ganz schön blass um die Nase.“

Sofort bedeckte ich diese, drehte mein Gesicht weg und wich schnell mit einem „Nee, nee, alles in Ordnung, ich war nur in Gedanken“ aus.

„Sarah, lüg mich nicht an, was ist los?“, herrschte Mutti mich an. Sie machte sich etwas größer auf ihrem Stuhl und musterte mich eindringlich.

„Können wir das unter vier Augen besprechen? Ich glaube, die Virenschleuder braucht ihr Bett“, stichelte ich in Marcos Richtung.

Er warf mir einen verächtlichen Blick zu und verschwand in seinem Zimmer. Ich sprach erst, als ich hörte, wie die Zimmertür ins Schloss fiel. Schüchtern sah ich Mutti an. Wie würde sie reagieren? Ein beklemmendes Gefühl beschlich mich. Scheinbar war es jetzt so weit, die Karten auf den Tisch zu legen.

Ich holte tief Luft. „Ich wollte es dir schon seit gefühlten Ewigkeiten erzählen, aber ich hatte einfach Angst vor deiner Reaktion. Bis ich selber begriffen habe, was mit mir los ist, hat es auch eine Weile gedauert. Du weißt, ich kann meine Gefühle nicht so gut äußern.“ Gespannt sah mich meine Mutter an, während ich aufstand und mich an die Arbeitsplatte lehnte.

Ihre Blicke verfolgten mich. „Du liebst Frauen“, sagte sie mir auf den Kopf zu und lächelte mich an.

Ich kniff die Augen zusammen und hoffte, dass ich gleich aus einem Traum aufwachen würde. Aber dem war nicht so. Meine Mutter lächelte mich immer noch an, als ich die Augen zögerlich öffnete, und füllte so den Raum mit Liebe und Wärme.

„Ja“, flüsterte ich. Ich wartete auf eine Reaktion von ihr, aber es passierte nichts. Schon wollte ich gehen, als Mutti meinen Arm ergriff.

„Setz dich bitte“, bat sie mich leise.

Innerlich erklärte ich diesen Tag zum emotionalsten des Jahres. Ich hatte es ihr gesagt, wieso konnte ich mich nun nicht einfach in Luft auflösen oder im Boden versinken?

„Ich ahne es schon seit zwei Jahren, als du Robert ohne ersichtlichen Grund den Laufpass gegeben hast. Du bist von klein auf dominant gegenüber männlichen Personen gewesen. Als du letzten Sommer mit Ashlyn heimkamst, habe ich es gewusst. Du hattest dieses Leuchten in den Augen, wenn du sie angesehen hast. Wie dein Vater, als wir uns kennengelernt haben. Ich habe dich neun Monate unter dem Herzen getragen, Sarah. Du wirst von mir all die Unterstützung erhalten, die du brauchst. Ich werde für dich da sein.“

Ich war sprachlos. Ein Kloß hatte sich in meinem Hals festgesetzt und ich konnte nicht anders, als meinen Gefühlen freien Lauf zu lassen. Ich weinte drauflos und versenkte den Kopf in meinen Händen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, wenn nicht sogar ein ganzer Felsen. Ich hatte so viele Szenarien im Kopf gehabt, aber nicht dieses.

„Danke“, schluchzte ich leise. Ich wollte ihr noch so viel sagen, ihr zeigen, dass ich froh war, es nicht mehr verheimlichen zu müssen, doch aus mir kam kein Ton heraus. Ich atmete rasselnd ein und wischte mir die Tränen aus den Augen. „Ich habe es schon gemerkt, als ich im Kindergarten war. Ich habe immer mit den Jungs gespielt und fand das eine oder andere Mädchen schön. Eigentlich hatte ich damals nur die ganzen Typen, damit du denkst, ich sei hetero. Ehrlich gesagt hatte ich nie das Bedürfnis, mit einem Mann zusammen zu sein. Wenn ein paar Freunde eine Frau heiß fanden, konnte ich das nachvollziehen. Ich habe mich nie nach Männern umgedreht, es waren ausschließlich Frauen, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ich konnte nicht ahnen, dass du bereits wusstest, dass ich lesbisch bin. Ich weiß, dass du dir Enkelkinder wünschst, und ich hatte Angst, dir damit das Herz zu brechen. Dich zu enttäuschen.“

Mutti kam um den Tisch herum und setzte sich neben mich. „Weißt du, ich liebe dich, so wie du bist, mein Kind. Enkelkinder für mich kannst du trotzdem bekommen, es gibt ja auch für lesbische Paare genug Möglichkeiten.“ Sie streichelte beruhigend meinen Rücken und ich fing langsam an zu lächeln. Seltsam, dass sie gleich an Enkelkinder dachte und von den Möglichkeiten sprach, womit ich mich noch nie beschäftigt hatte.

Mutti war eigentlich immer für mich da. Der Tod meines Vaters hatte uns einander nähergebracht. Wir hatten so viel Unsinn angestellt, dass man hätte denken können, sie wäre noch ein Teenager.

„Magst du mir von Alice erzählen, deren Namen du im Schlaf gerufen hast?“, fragte sie leise und reichte mir ein Taschentuch.

Ich schnäuzte meine Nase und sah meine Mutter mit geschwollenen Augen an. Ich merkte erst jetzt, dass das Radio eingeschaltet war. „Piece by piece he collected me“, sang Kelly Clarkson. Genau das tat Mutti im Moment, indem sie die kleine, eigentlich so schlagfertige Sarah wieder aufsammelte und zusammensetzte. Ich war selten derart emotional.

Nun holte ich tief Luft, um mich zu beruhigen. „Alice ist eine angehende Bürokauffrau an meiner Berufsschule. Sie ist einfach ein Traum. Vielleicht steigere ich mich in etwas hinein, ich weiß ja nicht einmal, ob sie auf Frauen steht.“

Mutti streichelte mir sanft über den Kopf. „Wie heißt Alice denn mit Nachnamen?“, fragte sie neugierig.

„Henndriks“, antwortete ich.

Mutti fing an zu lachen. „Na, dann werdet ihr euch nächste Woche wohl auf der Arbeit besser kennenlernen. Sie macht bei uns ein Praktikum. Wirklich eine hübsche Frau, das muss ich ihr lassen. Dazu hat sie auch noch ein Spitzenabitur, eigentlich hat sie ihren Ausbildungsvertrag schon in der Tasche“, schmunzelte sie.

Mir stockte der Atem. Ich sah fassungslos meine Mutter an, die schelmisch grinste. „Ich hoffe, du kannst dann noch konzentriert arbeiten. Sie wird Frau Ritter am Empfang assistieren.“

„Also sitzt sie genau vor meinem Büro?!“, krächzte ich entsetzt. Ich konnte mich kaum beherrschen, wenn Alice nur kurz in meiner Nähe war, aber sie acht Stunden am Stück zu sehen, würde meine Konzentration immens beeinträchtigen. Ich stellte mir vor, wie Alice wohl im schicken Anzug aussähe, und mir entwich ein Seufzer.

Mutti drückte mich sanft an sich. „Du schaffst das. Samuel ist ja auch noch da. Ich werde ihm sagen, dass er die Jalousien runterlassen soll, sonst schaust du nur zu deiner Herzdame am Empfang“, lachte meine Mutter.

Ich warf einen Blick auf die Uhr. Scheiße! Es war schon acht.

„Mutti, ich weiß, es ist jetzt echt doof und absolut unpassend, aber ich muss den Vortrag vorbereiten. Den muss ich morgen mit Sam vor dem gesamten zweiten Lehrjahr der Bürokaufleute und Buchhalter halten und ich sollte mir noch Karteikarten mit Stichwörtern schreiben. Sam wollte auch noch mal anrufen und alles besprechen“, sprudelte es aus mir heraus.

„Warte“, unterbrach mich meine Mutter. Sie zog einen Stapel Karteikarten aus ihrem Blazer und schob ihn zu mir herüber. „Hier. Ich habe heute Vormittag deinen Schreibtisch aufgeräumt und die Unterlagen für den Vortrag gefunden. Du warst heute Morgen so zerstreut und ich dachte, ich greife dir ein wenig unter die Arme. Wenn du magst, können wir das Präsentieren gleich mal üben.“ Wieder lächelte sie.

Ich war so dankbar und überflog sofort die Karteikarten, die fein säuberlich von ihr beschriftet worden waren.

„Lass uns in dein Zimmer gehen, damit Marco uns nicht stört“, schlug Mutti vor und ging zielstrebig voran. Sie ließ sich auf mein altes, runtergerocktes Ledersofa fallen. „Dann leg mal los“, verkündete sie freudig.

Ich baute mich vor dem Sofa auf und stammelte den Text vor mich hin.

„Nein, nein, nein, Sarah. Allein schon deine Haltung ist falsch. Stell mal beide Beine fest auf den Boden“, unterbrach sie mich bereits nach den ersten beiden Sätzen. Ich befolgte ihren Ratschlag und fühlte mich tatsächlich etwas sicherer. „So, und jetzt drück deinen Rücken durch. Schultern nach hinten. Kriech nicht so in die Karteikarten rein, sie sind nur zur Unterstützung da, du bist doch nicht bei einem Vorlesewettbewerb. Am besten demonstriere, was du erklären willst.“

„Ich soll also den Begriff Ergonomie tanzen?“, unterbrach ich meine Mutter und grinste frech.

„Nein, aber du kannst demonstrieren, wie man richtig sitzt oder etwas anhebt“, empfahl sie mit einer weichen Handbewegung.

Nach kurzem Überlegen fand ich die Idee gar nicht schlecht. In dem Moment klingelte unser Festnetztelefon und unterbrach unsere Übung. Ich ergriff den Hörer und meldete mich: „Fischer?“

„Na endlich erreiche ich dich.“ Es war Sam. Den hatte ich ja total vergessen, kein Wunder bei der ganzen Aufregung. „Hast du die Karteikarten fertig und alles noch mal verinnerlicht?“, kam er umgehend zum Punkt.

„Meine Mutter gibt mir grad noch einen Präsentationscrashkurs.“

„Dann bist du ja morgen hoffentlich bestens vorbereitet. Treffen wir uns vor dem Unterricht am Kaffeeautomaten? Dann können wir noch mal schnell alles durchgehen“, schlug Sam vor.

„Machen wir. Bis morgen, schlaf gut“, antwortete ich grinsend. „Soll ich meine Mutter von dir grüßen?“

Sam lachte. „Ja, bitte.“ Er legte auf und ich stellte das Telefon zurück auf die Ladestation.

„Grüße von deinem Lieblingsazubi“, rief ich meiner Mutter zu, während ich dabei war, mein Handy aus meiner ziemlich zerschlissenen Jeansjacke zu kramen.

„Du hättest mir auch mal kurz das Telefon geben können, dann hätte er mir das selbst sagen können“, gab meine Mutter zurück. Das Augenrollen, das diese Worte begleitete, konnte man schon aus ihrer Stimme heraushören.

Ich sah auf mein Display. Fünf verpasste Anrufe von Sam und eine Nachricht von einer unbekannten Nummer, die ich neugierig öffnete.

Hey, ich freue mich schon auf deinen Vortrag morgen und aufs Kaffeetrinken. Wenn du magst, können wir durch den Wald spazieren. :* Alice

Ich ging langsam zurück in mein Zimmer, während ich unentwegt auf den Handybildschirm starrte.

„Stimmt was nicht?“, riss mich meine Mutter aus meinem Gedanken.

„Alice hat mir geschrieben. Ich möchte gerne mal wissen, wer ihr meine Nummer gegeben hat“, antwortete ich und wandte den Blick von meinem Handy ab.

„Vielleicht hat sie Samuel gefragt“, vermutete Mutti und tippte sich nachdenklich mit dem Finger ans Kinn.

Wenn er das gemacht hatte, hätte er mir wenigstens Bescheid sagen können, dann würde ich jetzt nicht total ahnungslos und vollkommen überfordert dastehen.

Wir übten noch ein paarmal das richtige Präsentieren und ich wurde von Mal zu Mal besser, sehr zur Freude meiner Mutter.

Nachdem wir um zehn Uhr die Übungen beendet hatten, legte ich mich ins Bett und nahm mein Handy mit. Ich las mehrmals die Nachricht von Alice und rang mich schlussendlich dazu durch, ihr zu antworten.

Hey. Sorry, dass ich erst so spät antworte. Wenn du magst, kann ich eine Decke mitbringen, du hattest ja letztens nach einer Privatsitzung bezüglich Entspannungstechniken gefragt. Bis morgen, gute Nacht. PS: Von wem hast du eigentlich meine Nummer bekommen?

Ich zögerte kurz und drückte dann auf Senden. In mir war ein großes Staunen ausgebrochen. Ich fing ja richtig an zu flirten. Ich hatte nicht mal gewusst, dass ich das konnte. Grinsend starrte ich die Decke an. Ich musste es zulassen, denn ich spürte, wie gut es mir tat. Mein Handy vibrierte. Es war Alice, was mein Grinsen noch breiter werden ließ. Keine Frage, niemand sonst schaffte es, mir so ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Super Idee! Ich freue mich auf die Privatsitzung. Ich habe die Nummer von Sam – reiß ihm bitte nicht den Kopf ab. Schlaf schön. :*

„Glaub mir, Alice, ich werde sehr gut schlafen“, flüsterte ich, bevor ich den Wecker stellte und mein Handy auf meinen Nachtschrank legte. Ich starrte wieder die Decke an und ließ den Tag Revue passieren. Ich hatte endlich mein Outing hinter mich gebracht und war immer noch überrascht, wie positiv es meine Mutter aufgenommen hatte. Ich hatte das Gefühl, sie würde jetzt mehr auf mich eingehen. Sie half mir sonst kaum bei Hausarbeiten oder Vorträgen. Bestimmt hatte sie was geahnt. Ich drehte mich auf die Seite und schlief ein.

*

Kapitel 5

Als ich unsanft vom Wecker aus dem Schlaf gerissen wurde, konnte ich noch Fetzen meines Traums wahrnehmen. Ich lag mit Alice auf einer Decke. Um uns herum waren Blumen und irgendwo in den Bäumen zwitscherten ein paar Vögel. Wir sahen uns an. Nicht mehr und nicht weniger. Ich spürte ein Kribbeln im Bauch und musste lachen. Verdammt, was, wenn das eine Vorahnung war?

Ich sprang aus meinem Bett und suchte mir ein paar Klamotten aus. Ich wollte zum Vortrag nicht zu lässig auftreten, aber auch nicht zu elegant, obwohl ich gerne im Anzug durch die Weltgeschichte lief. Selten fühlte ich mich so wohl in einem Kleidungsstück. Ich entschied mich für eine zerrissene Jeans, ein weißes Slim-Fit-Hemd und schwarze Halbschuhe. Dann huschte ich ins Badezimmer und machte meine Haare. Ich bürstete sie leicht schräg nach hinten und fixierte alles mit Haarspray und Wachs. Nach einem kritischen Blick in den Spiegel warf ich mir meine Klamotten über. Mein prüfender Blick urteilte, dass ich ganz passabel aussah und mich so in der Öffentlichkeit zeigen konnte. Ich drehte und wendete mich vorm Spiegel und war letztendlich zufrieden mit mir. Anschließend setzte ich meine schwarz gerahmte Brille auf, die ich nur selten trug, aber heute passte sie perfekt zu meinem Outfit.

Ich ging in die Küche und fand auf dem Tisch eine Tasse heißen Kaffee und eine Notiz von Mutti.

Hey, mein Schatz, ich wünsche dir maximalen Erfolg bei deinem Vortrag. Ruf mich danach kurz an und erzähl mir, wie es gelaufen ist.

Hab dich lieb.

Mutti

Ich machte mir ein paar Brote und räumte nebenbei meine Tasche ein. Anschließend suchte ich eine Decke raus und stopfte sie in meinen übervollen Rucksack. Ich war so voller Vorfreude, dass ich durch die Wohnung tänzelte und meine Lieblingslieder vor mich hin summte.

Schnell räumte ich noch die Küche auf, steckte mein Handy ein und eilte zur Bushaltestelle. Heute war ich ausnahmsweise mal vor dem Bus da. Die Sonne kletterte gerade über die Dächer und ich streckte mich genüsslich, um die ersten Strahlen des Tages auf meiner Haut zu genießen. Ich träumte von Alice. Wieder hatte ich dieses Kribbeln im Bauch. Ich fing an, es zu lieben. Fing an, mich in sie zu verlieben.

Gerd bog mit dem alten Schlenkerbus um die Ecke und sah mich lächelnd an. „Einen wunderschönen guten Morgen, mein Lieblingsbusfahrer“, begrüßte ich ihn überschwänglich, als sich die Türen öffneten.

„Immer hereinspaziert, junge Dame. Du hast aber gute Laune. Das Lächeln steht dir besser als das nachdenkliche Gesicht vom Vortag“, erwiderte er fröhlich, „Mann, du hast dich ja richtig rausgeputzt. Ist heute ein besonderer Feiertag?“, erkundigte sich der stämmige Busfahrer, während er mich von oben bis unten musterte.

„In gewisser Weise schon. Ich muss heute einen Vortrag halten und danach habe ich eine Art Date“, gestand ich Gerd halb schüchtern, halb freudig. Ich erzählte ihm die jüngsten Ereignisse und er hörte aufmerksam zu.

„Das klingt nach einem emotionalen Tag, den du da hattest. Ich finde es toll, dass deine Mutter es so positiv aufnimmt, dass du lesbisch bist. Mein Gott, jeder soll glücklich sein, so wie er es will und braucht. Mein Mann hatte auch lange zu knabbern, bis er sich outete.“

„Du bist also schwul?“, platzte es aus mir heraus. Ich hatte noch nie Taktgefühl in solchen Dingen besessen und spürte, wie mein Kopf rot wurde.

Gerd schmunzelte. „Ja, das bin ich. Wir sind nun unter einer Flagge“, scherzte er und zwinkerte mir zu.

„Gerd, ich wollte dir echt nicht zu nahe treten, glaub mir, ich bin in so was schon immer schlecht gewesen. Bitte, nimm es mir nicht krumm“, entschuldigte ich mich, doch er winkte ab.

„Alles gut. Mach dir keine Sorgen, Liebes. Du musst aussteigen. Viel Erfolg beim Vortrag und deinem Date“, verabschiedete sich der Busfahrer herzlich.

„Danke, mein Lieber. Fährst du nächste Woche auch wieder die 23er-Linie?“, fragte ich noch schnell. Ich wollte Gerd besser kennenlernen. Er begleitete mich schon eine Weile und ich wusste so wenig von ihm.

„Nächste Woche musst du pünktlich sein, ich bin erst die Woche darauf wieder auf der Linie. Mach dir ein schönes Wochenende.“

„Du auch!“ Die Türen öffneten sich und ich ordnete mich in den Fluss von Menschen ein, die in Richtung Berufsschule gingen.

„Guten Morgen, Sonnenschein. Na? Bist du aufgeregt?“, begrüßte mich Sam, der plötzlich neben mir stand, überschwänglich.

„Guten Morgen, Sahnepopo. Mir geht es blendend, bin aber trotzdem ein wenig aufgeregt. Ich muss mich ja eigentlich bei dir und deiner Mutter bedanken.“ Sam sah mich fragend an und ich grinste in mich hinein. Ich rückte etwas näher an ihn heran und flüsterte in sein Ohr: „Ich habe mich geoutet und meine Mutter hat es total positiv aufgenommen. Sie sagte, sie würde mich bei allem unterstützen. Ich war total überwältigt. So kenne ich sie nicht. Sie ist eigentlich die knallharte Geschäftsfrau, auch zu Hause.“ Ich grinste Sam an.

Er schien etwas länger zu brauchen, um diese Informationen zu verarbeiten. Schließlich hatte wohl auch die letzte Synapse mitbekommen, was los war. Er blieb stehen und umarmte mich, sodass ich sein Aftershave riechen konnte. „Ich freue mich so für dich! Ich dachte schon, ich würde dein Coming-out nicht mehr erleben. Das müssen wir später feiern.“

„Negativ“, grätschte ich dazwischen. „Ich habe nach dem Vortrag eine Verabredung“, flüsterte ich ihm zu.

Sams Kinnlade klappte nach unten. „Nein!“

„Doch!“

„Oh.“

Wir beide mussten lauthals lachen, konnten wir doch diese Szene aus Hasch mich, ich bin der Mörder in Perfektion nachahmen. Ich fühlte mich derart beflügelt, dass ich ein paar kleine Tanzschritte hinlegte.

„Sexy! Zeig mir mehr, Sarah.“ Diese Stimme. Meine Nackenhaare stellten sich auf und ich hatte wieder dieses Kribbeln im Bauch. Es war Alice. Sie grinste mich frech an und kam näher. „Versuch es mal mehr aus der Hüfte. So ungefähr“, schlug sie vor und fasste mich an der Hüfte an, die sie zum Kreisen brachte.

Ich war es nicht gewohnt, an dieser Stelle berührt zu werden, und stammelte verlegen: „Ähm, danke für den Tipp, ich werde es beherzigen.“

„Kein Problem, wir sehen uns nachher in der Aula. Ich freue mich auf euren Vortrag.“ Alice zwinkerte mir zu und Sam starrte ihr nach, als sie im Stechschritt von dannen zog.

„Sie ist lesbisch und sie will dich. Mein Gaydar zeigt vollen Ausschlag“, erklärte Sam langsam. Er sah mich mit ernster Miene an. „Ich glaub, ich bin Amor. Ich habe ihr gestern nach langem Bitten und Betteln deine Nummer gegeben.“ Wir schauten einander an und mussten kurz danach losprusten.

„Du bist nur Amor, wenn du dich in so ’nen sexy Griechenfummel schmeißt“, konterte ich.

„Du meinst eine Toga?“

„Ich merke, wir verstehen uns. Komm, wir sollten noch mal den Vortrag durchsprechen.“

Wir setzten uns in den leeren Klassenraum und ich kramte die Karteikarten hervor, während Sam uns den Kaffee organisierte.

„Also, ich mach den ganzen Theoriekram und du kannst die Beispiele vorstellen“, schlug er vor, als er mit zwei Bechern wieder in den Raum kam.

Ich sah ihn skeptisch an. „Das würde ja heißen, dass ich meine Karteikarten umsonst gemacht habe“, protestierte ich. Sam zog eine Augenbraue hoch. „Ja, gut, meine Mutter hat sie gemacht“, gab ich zu, woraufhin er mich grinsend schubste.

15 Minuten vor Vortragsbeginn einfach mal die ganze Planung umzuwerfen, war eigentlich genau meine Art, ich wollte jedoch eine gute Note und Herrn Fürst zeigen, dass ich meinen gewohnten Leistungsstandard halten konnte. Aber vor allem wollte ich bei Alice Punkte sammeln.

Plötzlich betrat meine Mutter den Klassenraum. „Na, meine beiden Buchhalter, seid ihr in den letzten Zügen?“, trällerte sie freudig.

„Was machst du denn hier? Musst du nicht arbeiten?“, unterbrach ich sie. Toll, alle kaufmännischen Auszubildenden, mein Tutor, meine Mutter und meine Herzdame in einem Raum. Und das, obwohl ich so megakrasses Lampenfieber habe.

Mein innerer Moralapostel ohrfeigte mich. „Reiß dich jetzt mal zusammen! Der Vortrag geht nicht mal zehn Minuten und danach kannst du dich immer noch blamieren.“ Ich schüttelte den Kopf. „Los, Sarah, kneif deinen Hintern zusammen und zieh das Ding durch. Danach gibt’s Kaffee.“

„Sorry, Mutti, ich wollte dich nicht so angehen. Ich bin bloß etwas nervös, du weißt, dass ich nicht so gut bin ...“, entschuldigte ich mich.

„Schatz, du bist großartig! Rede dir nicht so einen Unsinn ein. Ich wollte euch nur viel Glück wünschen. Obwohl“, sie überlegte kurz, „nein, ich wünsche euch viel Erfolg. Der ist wenigstens skalierbar“, korrigierte sie sich grinsend und verschwand durch die Tür.

„Sarah, du machst die Beispiele und ich erklär alles. Ich habe sowieso für dich mitgelernt.“ Sam stellte mich vor vollendete Tatsachen. Das machte er nur dann, wenn er kurz davor war, in Panik zu verfallen.

Wir gingen zusammen in die Aula hinüber. Sie war aufgebaut wie ein Theater, doch die Ränge waren gesperrt, nur die Schulleitung saß mit ihren Assistenten dort. Circa 65 Schüler saßen im Parkett. Ich fühlte, wie mir flau im Magen wurde. Schnell schickte ich ein Stoßgebet gen Himmel, dass ich es nicht versauen würde.

Herr Fürst und Frau Schäfer betraten die Bühne und begrüßten alle. Ich bemerkte, dass hinten in der Ecke der Bühne Bürostühle standen, und in meinem Kopf blitzte eine Idee auf.

„Sam, siehst du irgendwo einen Tisch rumstehen?“, fragte ich hastig. Ich wirbelte herum und fand einen, bevor Sam antworten konnte. „Komm, fass mit an. Den brauche ich für die Beispiele.“ Und gemeinsam schleppten wir den Tisch auf die Bühne.

Die Lehrer guckten uns skeptisch an. „Ja, dann fangen wir mal mit dem Ergonomie-Vortrag an. Die beiden konnten es ja kaum erwarten, zu uns zu kommen. Denkt bitte dran, dass es prüfungsrelevant ist. Viel Vergnügen!“

Die Schüler klatschten höflich Beifall. Meine Augen huschten über unser Publikum hinweg und ich entdeckte Alice. Unsere Blicke trafen sich und sie schenkte mir ihr schönstes Lächeln. Mein Herz schlug wie wild. Ich will diese Frau haben.

In dem Moment zog Sam seine Karteikarten aus der Hosentasche und räusperte sich kurz. Ich bereitete den Tisch vor, während er sich vorstellte und die wesentlichen Züge der Ergonomie erklärte. Es war, als würde man das Lehrbuch aufschlagen und es laut vorlesen. Sam war ein Meister im Auswendiglernen. Er sprach frei und wippte dabei von einem Fuß auf den anderen. Unsicherheit – das hatte mir meine Mutter gestern Abend beigebracht.

„Sarah wird euch nun ein paar Beispiele zeigen, wie man rückenschonend und gesund sitzt“, erklärte er zum Schluss dem leicht ermüdeten Publikum und wandte sich mir zu.

Aller Augen waren jetzt auf mich gerichtet. Ich sah, wie meine Mutter, die hinter Alice saß, sich auf ihrem Stuhl aufrichtete, um mich besser zu sehen, und mir zulächelte.

„Um die Beispiele vorzustellen, brauche ich jemanden von euch. Freiwillige vor“, begann ich.

Prompt erhob sich Alice von ihrem Stuhl und kam in ihrer eleganten und selbstsicheren Art auf die Bühne. Ein paar Jungs in der letzten Reihe pfiffen ihr hinterher. Was für Idioten waren das denn? Die benahmen sich ja wie die Affen im Zoo.