Das Merkel-Lexikon - Andreas Rinke - E-Book

Das Merkel-Lexikon E-Book

Andreas Rinke

4,3

Beschreibung

Angela Merkel hat nach mehr als zehn Jahren Amtszeit als Bundeskanzlerin längst internationalen Kultstatus erreicht. Eigentlich müsste die Welt nach einer so langen Amtszeit alles über die Politikerin und promovierte Physikerin aus der ehemaligen DDR wissen. Aber gerade ihr Verhalten in der Flüchtlingskrise hat das Interesse neu geweckt – auch beim politischen Gegner: Wie tickt die Kanzlerin? Was denkt sie über die Türkei und was über Seehofer? Wieso reist sie einmal im Jahr nach China? Wie ist das mit ihren Blazern, was bedeuten Begriffe wie »merkeln«? »Das Merkel-Lexikon« beantwortet diese Fragen aus dem Blickwinkel eines Insiders der Berliner Politikszene. Das Merkel-Lexikon wird online weitergeführt: Auf seinem Blog https://merkel-lexikon.de aktualisiert der Autor Andreas Rinke regelmäßig seine Einträge zum Buch. So bleibt das Nachschlagewerk immer auf dem neuesten Stand.

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Andreas Rinke

Das Merkel-Lexikon

Die Kanzlerin von A–Z

© 2016 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Hildendesign · München · hildendesign.de

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

Das Merkel-Lexikon wird online weitergeführt: Auf seinem Blog https://merkel-lexikon.de aktualisiert der Autor Andreas Rinke regelmäßig seine Einträge zum Buch. So bleibt das Nachschlagewerk immer auf dem neuesten Stand.

ISBN 978-3-86674-485-1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.dnb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Zeittafel Angela Merkel

Merkel A–Z

Abschottung

AfD/Pegida

Affären

Alkohol

Alter

Alternativlos

Amtseid

Amtszeit

Andenpakt

Angst

Anspruch

Antisemitismus

Antrieb

Applaus

Arbeitstag

Asymmetrische Demobilisierung

Atomausstieg

Ausdauer

Auslandsreisen

Aussehen

Außenpolitik

Aussitzen

Austerität

Auto

Basis

Bayern

Berater

Berlusconi, Silvio

Beruf

Betreuungsgeld

Bibel

Bier

Bildung

Blazer

Böhmermann, Jan

Brille

Bücher

Bundesländer

Bundespräsident

Bundestag

Bürger

Büro

Bush, George W.

Castor

CDU

China

Christlich

CSU

Dame ohne Unterleib

Danken

Daten

Datsche

DDR

Dekolleté

Demografie

Demokratie

Detail

Deutschland

Dienen

Digitalisierung

Direkte Demokratie/Direktwahl

Direktvermarktung

Doktorarbeit

Drei-Wort-Politik

Duzen

Ehe

Ehrendoktorwürden

Ehrungen

Einkaufen

Einsam

Einwanderung

Elefantenrunde

Emotionen

Energiewende

Entspannung

Entwicklung

Erwartungsmanagement

Essen

EU/Europa

EU-Kommission

Euro

Euro-Bonds

Evangelisch

EZB

Facebook

Familie

Familienpolitik

Fanartikel

FDP

Fehler

Filme

Finanzmarkt

Fleisch

Fliegen

Flüchtlinge

Förderer

Forschung

Fortschritt

Fotos

Frankreich

Frauen

Frauenministerin

Frauenquote

Freiheit

Fremdsprachen

Freunde

Frisur

Führung

Fußball

Gabriel, Sigmar

Gastgeschenke, an Merkel

Gastgeschenke, von Merkel

Geburtsname

Geburtstage

Geld/Gehalt

Gentechnik

Geografie

Gerechtigkeit

Geschichte

Gesundheit

Gesundheitspolitik

Getränke

Girls-Camp

Glamour

Glauben

Gleichgeschlechtliche Beziehungen

Globalisierung

Grabschen

Griechenland

Großbritannien

Große Koalition

Grüne

Grußworte

Handkuss

Härte

Heimat

Historisch

Hollande, François

Holocaust

Humor

Hunde

Integration

Internet

Interviews

Irak

Islam

Islamismus

Israel

Italien

IWF

Juden/Judentum

Kanzlerkandidat

Kanzlermappe

Katharina die Große

Kerneuropa

Ketten

Kinder/Jugendliche

Kirche

Kleidung

Klima

Koalitionen

Koch

Kohl, Helmut

Köln

Kommunikation

Kompass

Kompromiss

Konsens

Konservativ

Körpersprache

Krisen

Kritiker

Küchenkabinett

Konfirmationsspruch

Landesverbände

Lebenseinstellung/Lebensweisheiten

Leipzig

Lernen

Libyen

Liebe

Links

Lob

Macht

Männer

Markenkern

Mauerbau

Mauerfall

Maya

Medien

Menschenrechte

Merkel

Merkeln

Merkels Kanzlerschaft I

Merkels Kanzlerschaft II

Merkels Kanzlerschaft III

Merkiavelli

Militär

Mimik

Mindestlohn

Missionen

Misstrauen

Mitte

Moderation

Morgenlage

Multikulti

Multinational

Musik

Mut

Mutti

Nachfolger

Nachhaltigkeit

Nationalhymne

Nationalsozialismus

Naturwissenschaften

Nervosität

Netzwerk

Neugier

Neuland

NGO

Niederlagen

NSA

Obama, Barack

Orden

Ostdeutsch

Österreich

Paparazzi

Papst

Parteien

Parteivorsitz

Personalentscheidungen

Pflanzen

Pkw-Maut

Polarisieren

Polen

Politiker

Pragmatisch

Pressekonferenzen

Primat der Politik

Privates/Privatsphäre

Privatisierung

Promifaktor

Promotion

Prozess

Putin, Wladimir

Queen

Ratingagenturen

Rauchen

Raute

Reden

Regierungspressekonferenz

Regionalpolitik

Reisen

Religion

Risikoabwägung

Roman- und Filmfigur, Lieder

Rote Linie

Roter Teppich

Rücktritt

Russland

Sanktionen

Sarkozy, Nicolas

Satire

Sauer, Joachim

Schäuble, Wolfgang

Schlafen

Schmidt, Helmut

Schoah

Schröder, Gerhard

Schuhe

Schulpolitik

Schwäbische Hausfrau

Schwarz-Gelb

Schwarz-Grün

Schwarze Null

Schweigen

Schwerste Stunde

Seehofer, Horst

Selfie

Sicherheit

Soziale Marktwirtschaft

Sparen

SPD

Spitznamen

Sport

Sprache

Spreads

Stammzellenforschung

Stärke

Statistik

Steinmeier, Frank-Walter

Sterben

Sternzeichen

Steuern

Stil

Stimme

Stoiber, Edmund

Syrien

Telefon

Terror

Tiere

Titelbilder

Trauer

Träume

TTIP

Türkei

Ukraine

Umfallen

Umfragen

Umweltministerin

Umweltschutz

UN

Unschärfe

Unterschätzt

Urlaub

USA

Verhandlungen

Verschwiegenheit

Vertrauensfrage

Visionen

Vorbilder

Wahlen/Wahlabende

Wahlergebnisse

Wahlkampf

Wahlkreis

Wehrpflicht

Weiblichkeit

Weltsicht

Werte

Westerwelle, Guido

Wir schaffen das

Wirtschaft

Wohnung

Wut

Zahlen

Zaudern

Zeit

Zivilisationsbruch

Zonenwachtel

Zufriedenheit

Zukunft I, Person

Zukunft II, Land

Zusammenhalt

Zutiefst

Zwei-Wort-Politik

Anhang

Literatur

Nachweise

Der Autor

Einleitung

Es war im Jahr 1993, als sich die junge Politikerin Angela Merkel eindeutig festlegte: Die Bundesrepublik habe zwar im Jugoslawien-Krieg zehnmal so viele Flüchtlinge aufgenommen wie vergleichbare EU-Staaten. Manche Menschen in Deutschland seien sicherlich verunsichert und sähen die ersten Anzeichen einer großen Wanderungsbewegung »der Not und des Elends unserer Zeit«. Einige ließen sich auch von der Demagogie rechter Ideologen verführen. Man habe das Asylrecht zu Recht verschärft und schicke Menschen ohne Bleiberecht wieder zurück in ihre Heimat. Aber eines sei ebenfalls klar: »Auch jetzt und in Zukunft gewähren wir Menschen Asyl, die tatsächlich verfolgt werden«, betonte die junge Ministerin und stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende damals mit Entschiedenheit.

Das war im Jahr 1993. 23 Jahre später, bei der Entstehung dieses Buches im Jahr 2016, bin ich immer noch verblüfft über die Parallelen der Flüchtlingsdebatte in den neunziger Jahren und heute – und über den um sich greifenden kollektiven Gedächtnisverlust. Denn wie man auch immer zur Flüchtlingspolitik Merkels und der Bundesregierung steht: Überraschend war im Jahr 2015 vielleicht das Ausmaß der Wanderungsbewegung in die EU. Aber der Umgang Merkels mit der Krise war alles andere als erstaunlich. Ein Blick in ihre frühere Amtszeit als Jugend- und Frauenministerin, als Umweltministerin sowie auf ihre 2005 begonnene Kanzlerschaft zeigt das. Sowohl ihre inhaltliche Positionierung als auch die Art ihres Vorgehens entsprechen in großen Teilen einer seit vielen Jahren verfolgten politischen Linie und dem persönlichen Stil der ostdeutschen Protestantin.

Deshalb ist dieses Buch entstanden. Fast jeder hatte eine feste Vorstellung der mittlerweile 62-Jährigen, ganz gleich, ob positiv oder negativ. Erst die Euro- und dann die Flüchtlingskrise haben die festgefügten Urteile über die laut Forbes »mächtigste Frau der Welt« nachhaltig erschüttert. Also häufen sich wieder die Fragen: Was wissen wir eigentlich über diese Kanzlerin? Was treibt sie an? Wie passt der jahrelange Vorwurf des Zauderns und der Vermeidung von Risiken zu der entschiedenen, nach Meinung ihrer Gegner sogar »sturen« Haltung der Kanzlerin in der Flüchtlingskrise? Wieso engagierte sich Merkel so ungewöhnlich stark in der Ukraine? Ist sie nun überzeugte Europäerin oder nicht? Was heißt eigentlich ›merkeln‹?

Angesichts einer sich mittlerweile über drei Legislaturperioden erstreckenden Kanzlerschaft beschäftigen viele aber auch Alltagsfragen: Wie behauptet sich Merkel überhaupt so lange in der Welt der mächtigen Männer? Wie funktionieren die vielen Auslandsreisen, die sie macht? Wo und wie arbeitet sie? Und warum nur stehen zwölf übergroße Schachfiguren in ihrem Büro im Kanzleramt?

Auch deshalb lohnt ein neuer Blick. Denn international hat sie mittlerweile einen neuen Kultstatus erreicht. Anders als früher polarisiert Merkel zudem. Gerade in der Flüchtlingskrise ist sie für die einen zum Vorbild, für die anderen zum Feindbild geworden. Die Spanne reicht von der Flüchtlingsmutter aus Ghana, die ihrer in Hannover geborenen Tochter den Namen ›Angela Merkel‹ gegeben hat (auch wenn dieser durch den Nachnamen Adé ungewollt zweideutig wird) bis zum republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump, der sich immer wieder an ihr abarbeitet. Und anders als früher verschwimmen bei den Urteilen die Parteigrenzen: Einige Unions-Politiker attackieren sie in aller Schärfe. In rot-grünen Kreisen leuchten dagegen plötzlich bei dem einen oder anderen die Augen, wenn von der Kanzlerin die Rede ist.

Grundthese dieses Buches ist, dass die promovierte Physikerin alles andere als eine ›Sphinx an der Spree‹ ist, also eine geheimnisvolle, kaum zu entschlüsselnde Politikerin. Obwohl sie sich in Auftreten, Inhalt und Stil immer noch deutlich von ihren zumeist männlichen Kollegen unterscheidet, ist Merkel sehr gut ›lesbar‹. Man muss sich allerdings die Mühe machen, hinzuschauen und hinzuhören.

Genau dies ist mein täglicher Job. Als ›Kanzler-Korrespondent‹ der internationalen Nachrichtenagentur Reuters beobachte ich Angela Merkel seit Jahren kontinuierlich – so wie zuvor Politiker wie Joschka Fischer, Frank-Walter Steinmeier oder Gerhard Schröder. Die Kanzlerin steht als wichtigste Politikerin Europas ohnehin unter ständiger Beobachtung. Was sie sagt, denkt und plant, könnte wichtig sein. Also müssen fast immer ein Reuters-Korrespondent oder ein Reuters-Kamerateam bei ihren öffentlichen Terminen vor Ort sein. Pro Jahr gibt es deshalb weit mehr als hundert Termine, auf denen ich Merkel höre, sehe, manchmal auch etwas fragen kann – ob in Berlin, in Haigerloch oder Ulan-Bator, ob bei Regierungserklärungen, auf CDU-Wahlveranstaltungen, bei Diskussionen mit Schülern oder dem Treffen mit den Sternsingern im Kanzleramt. Diese Aufmerksamkeit durch eine internationale Agentur ist ein zwar sehr inoffizieller, aber gewiss kein schlechter Gradmesser für die Bedeutung von Politikern. Hier gilt das doppelte Macht-Prinzip ›MbM – Merkel bewegt Menschen, Merkel bewegt Märkte‹.

Zur Dichte der Beobachtung kommt ein Langzeitblick auf die Kanzlerin: Mein erstes Interview mit Merkel habe ich 2005 vor ihrem Amtsantritt geführt, damals noch für das Handelsblatt. Wichtig für das Verständnis ihres Denkens und die Einschätzung ihres Handels sind aber auch unzählige Hintergrundgespräche, die ich im Laufe der Jahre mit Merkel, vielen Mitarbeitern, Politikern aller größeren Parteien, aber auch sehr vielen ausländischen Diplomaten und Regierungsvertretern über ihre Politik führen konnte.

Dieses Buch soll vor allem eine Rückbesinnung auf das sein, was wir über Merkel aus erster Hand wissen können – und das ist viel. Das Problem der Beschreibung einer Spitzenpolitikerin wie Merkel liegt heute ganz offensichtlich weniger im Mangel an Informationen als in deren Überfluss. Gerade Merkel hat in ihren Jahren als Ministerin, Oppositionsführerin und Kanzlerin verblüffend viel gesagt, über sich und ihre Politik. Doch die Beobachtungszeiträume werden eher kürzer, die Thesen dafür oft zugespitzter. Das erklärt, warum es mehr gefühlte als tatsächliche ›Kehrtwenden‹ Merkels gibt – und immer wieder Erstaunen über ihre Politik.

Dieses Buch ist deshalb auch kein weiterer Interpretationsversuch der Person und Politikerin Merkel. Es beschreibt, es bewertet nicht. Die Darstellung dessen, was Merkel sagt und wie sie denkt, bedeutet in keinem Fall, dass ich den Inhalt auch teilen muss, ihn richtig oder falsch finde. Natürlich gibt es einen Schuss Subjektivität, weil ich die Auswahl der behandelten Themen getroffen habe, die ich für ein Verständnis der Politik Merkels für wichtig halte. Zudem musste ich innerhalb der einzelnen Komplexe Einordnungen und eine Auswahl etwa der Zitate vornehmen. Aber das Ziel ist eine möglichst objektive, gleichzeitig facettenreiche Beschreibung dessen, was die mächtigste Frau der Welt bewegt – deshalb auch der lexikalische Ansatz. Es soll ausdrücklich der Leserin und dem Leser vorbehalten bleiben, wie sie die skizzierten Positionen und Haltungen Merkels bewerten. Dazu brauchen sie eine Faktenbasis, die in der meinungsstarken deutschen Medienlandschaft manchmal etwas verloren zu gehen scheint. Darum geht es in diesem Buch. Denn gerade in der Flüchtlingskrise basierten viele positive und negative Urteile über die Bundeskanzlerin eher auf lautstarken Einschätzungen anderer.

Vielleicht sind ›Alternativlosigkeit‹, ›Zaudern‹ und ›Führung‹ am Ende gar keine Gegensätze? »Angela Merkel ist weder Sphinx noch Wonderwoman oder Glückskäfer«, schrieb einer ihrer Biografen schon 2006.1 Jedenfalls lassen sich in ihrer Amtszeit sowohl eine dramatische, abrupte Politikwende (Atomausstieg), das konsequente Festhalten an einer seit Jahrzehnten vertretenen Position (Euro, Flüchtlinge), deren stillschweigende taktische Aufgabe (Gentechnik) als auch das Lavieren zwischen Haltungen mit verschiedenen Koalitionspartnern wie etwa in der Wirtschafts- und Steuerpolitik finden.

Dieses Buch sortiert die Fakten zudem neu. Wenn man Schneisen durch die riesige Fülle von Informationen schlagen will, bringt eine weitere chronologische Erzählung der Regierungsjahre Merkels eigentlich nicht viel – es sei denn, man würde den teilweise sehr guten Biografien über Merkels frühere politische Jahre eine Ergänzung etwa über ihre dritte Amtszeit hinzufügen. Aber um zu verstehen, warum Merkel so agiert, wie sie es tut, muss man den Gesamtblick wählen. Denn ihr Verhalten ist auch von den jeweiligen Koalitionen und Herausforderungen abhängig.

Bei aller Faszination für Biografien hat mich oft gestört, dass das Wissen in diesen Büchern später oft nicht mehr gut abrufbar ist. Hier kommen die Stichworte ins Spiel. Diese sind ebenfalls ein Ergebnis meiner täglichen Arbeit als Journalist. Denn bei der eigenen Beobachtung der Arbeit Merkels gilt es, immer wieder Fäden aus der Vergangenheit aufzunehmen. Dazu muss die Kanzlerin thematisch ›filetiert‹ werden: Mal ist eine Beschreibung Merkels als Euro-Kanzlerin, mal eine als Ukraine-Vermittlerin, mal eine als CDU-Chefin gefragt. Manchmal drängt sich nach Monaten wieder ein Thema wie Griechenland in die Aktualität, mit dem sie sich bereits früher beschäftigen musste. Aber oft lassen sich Positionierungen nur – oder zumindest besser – verstehen, wenn man noch weiß, was Merkel früher über dieses und jenes Thema gedacht und wo sie sich bereits auf Positionen festgelegt hat.

Dazu habe ich die Methode gewählt, Angela Merkel möglichst oft selbst zu zitieren. Dies ist die authentischste Herangehensweise für eine möglichste neutrale Beschreibung eines Politikers. Sie begrenzt die Möglichkeit einer Interpretation zumindest. Die starke Einbindung von Zitaten funktioniert gerade bei Merkel, weil es nach meiner Erfahrung keine doppelte Agenda gibt: Das Gesagte weicht von dem Gedachten nur insoweit ab, als auch eine Kanzlerin natürlich nicht über alles spricht, was sie bewegt. Nach mehr als zehn Jahren direktem Kontakt würde ich jedoch Stefan Kornelius weitgehend zustimmen, wenn er schreibt: »Bei Merkel bekommt man, was man sieht. Hinter dem öffentlichen Bild verbergen sich keine gewaltigen Geheimnisse.«2 Aus der riesigen Anzahl von Merkel-Äußerungen habe ich versucht, die aussagekräftigsten, für ihr Denken meiner Meinung nach typischsten und in der Abwägung meist auch die aktuellsten für ein jeweiliges Thema herauszusuchen. Wo immer möglich, habe ich zur größeren Transparenz die Fundstellen von Zitaten und Äußerungen belegt. Bei der Nutzung der Informationen aus den vielen Hintergrundgesprächen geht dies jedoch nicht. Hier muss Vertraulichkeit gewahrt werden – und hier müssen die Leser dem Autor vertrauen, die relevanten Einschätzungen verwendet zu haben. Manchmal – etwa bei den Passagen über ihre Zeit in der DDR – habe ich in stärkerem Maße vorliegende Biografien herangezogen, was ebenfalls markiert ist.

Die Stichworte selbst sollen Lesern einen besseren, selbstbestimmten Zugang zum Thema Merkel ermöglichen. Meine Erfahrung ist, dass Journalisten, Politiker und Menschen außerhalb des politischen Betriebes in Berlin nicht immer dieselben Fragen und Interessen haben. Hier kann jeder selbst Bezüge herstellen, das Buch von vorne bis hinten, hinten nach vorne oder nach Stichworten lesen. Wo immer möglich, habe ich Querverweise eingefügt, um das Weiterlesen zu erleichtern. Natürlich kann dieses Lexikon nicht alle Aspekte abdecken. Aktuellen oder besonders strittigen Fragen wie der Flüchtlingskrise sowie ›großen‹ Themen wie ›China‹, ›EU‹, aber auch ›Frauen‹, ›CSU‹ oder ›AfD‹ habe ich dabei mehr Platz gewidmet als anderen. Wenn einige Informationen in dem Buch gleich mehrfach auftauchen, ist dies übrigens kein Versehen: Es soll vielmehr das Verständnis innerhalb der Stichworte erleichtern, weil sie möglicherweise quer und punktuell gelesen werden.

Die Themenvielfalt ist ebenfalls bewusst gewählt: Dieses Lexikon beinhaltet neben ›harten‹ politischen Stichworten auch solche etwa zu Merkels Blazern oder ihrer Frisur. In Anlehnung an Woody Allen könnte man sagen, das Buch trägt den Untertitel »Was Sie schon immer über Merkel wissen wollten, aber nie zu fragen wagten«. Denn einiges von dem, was die Person Merkel betrifft, lässt auch Rückschlüsse auf die Politikerin Merkel zu. Allerdings gibt es klare Grenzen: Dieses Buch ist alles andere als eine schriftliche Version eines Paparazzi-Angriffs. Politiker haben ein Anrecht auf Privatsphäre wie andere Menschen auch. Merkel hat sich klar dafür entschieden, etwa ihre Ehe, ihre Wohnung, ihre Datsche strikt vertraulich zu halten. Und dies soll bei aller Neugierde respektiert werden. Das Erstaunliche bei der Recherche ist aber, wie viel Privates aus dem Leben der ersten Bundeskanzlerin dennoch über die Jahre bereits bekannt wurde. Diesen Schatz an oft vergessenen oder verstreuten Informationen wollte ich heben und mit eigenen Recherchen ergänzen – ohne den Schutz der Privatsphäre zu verletzen.

Merkel selbst hat oft genug betont, dass sie eigentlich nur in ihrer politischen Arbeit beobachtet und bewertet werden möchte. Sie hat aber bereits vor ihrer Kanzlerschaft eingeräumt, dass eine völlige Abschottung des Privaten in der heutigen Mediengesellschaft nur begrenzt möglich sein wird. Im typischen Merkel-Stil sagte sie 2005, also nach immerhin schon 15 Jahren Erfahrung in der bundesrepublikanischen Politik und Medienlandschaft: »Ich leiste mir da einen gewissen Hochmut, nämlich nach meiner persönlichen Werteskala bestimmte Dinge für wichtig und andere für unwichtig zu erklären. Es gibt sicher ein berechtigtes Bedürfnis, Menschen des öffentlichen Lebens irgendwie auch persönlich fassen zu können. Da liegt es nahe, über das zu reden, was alle betrifft – Haare, Kleidung et cetera. Das muss man als Politiker wohl zur Kenntnis nehmen und akzeptieren.« Weil dies tatsächlich so ist, sind diese Aspekte auch Teil dieses Lexikons.

Zwei Bemerkungen zum Abschluss: Mit dem Schreiben dieses Buches habe ich im Herbst 2015 begonnen, abgeschlossen wurde das Manuskript im Juli 2016. Außerdem äußere ich mich hier ausdrücklich nicht als Reuters-Angestellter, sondern gebe ausschließlich meine persönlichen Einschätzungen wieder.

Zeittafel Angela Merkel

17. Juli 1954

Geburt in Hamburg

Herbst 1954

Umzug der Familie Kasner in die DDR

1973

Abitur in Templin

1978

Diplomarbeit in Physik

1986

Promotion in Physik

1989

Eintritt in die Partei »Demokratischer Aufbruch«. (DA)

August 1990

Durch Fusion des DA mit der CDU wird Merkel CDU-Mitglied

Dezember 1990

Einzug als Abgeordnete in den Bundestag

Januar 1991

Ernennung zur Bundesfrauenministerin

Dezember 1991

Wahl zur stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden

November 1994

Ernennung zur Bundesumweltministerin

November 1998

Wahl zur CDU-Generalsekretärin

10. April 2000

Wahl zur CDU-Parteivorsitzenden

September 2002

Wahl zur Vorsitzenden der CDU/CSU Bundestagsfraktion

22. November 2005

Vereidigung als Bundeskanzlerin, Beginn der 1. Amtszeit

28. Oktober 2009

Vereidigung als Bundeskanzlerin, Beginn der 2. Amtszeit

17. Dezember 2013

Vereidigung als Bundeskanzlerin, Beginn der 3. Amtszeit

Merkel A–Z

Abschottung     Merkel hat in der Flüchtlingskrise 2015 und 2016 deutlich gemacht, dass sie eine Abschottung Deutschlands für unsinnig hält. Sie verwies auf die lange Grenze Deutschlands im Herzen Europas mit insgesamt neun Nachbarn. »Abschottung ist im 21. Jahrhundert keine vernünftige Option«, warnte sie. Freier Handel, Binnenmarkt, gemeinsame Währung und der passfreie Schengenraum seien Grundlage von Wohlstand und Frieden, betonte sie immer wieder. »Deshalb dürfen wir gerade in schwierigen Zeiten nicht der Versuchung erliegen, in nationalstaatliches Handeln zurückzufallen.«3 Später verwies sie auf Chinas schlechte historische Erfahrungen: Für den Bau und den Erhalt der Chinesischen Mauer seien die besten Leute auf lange Zeit mit diesem Abschottungsprojekt beschäftigt gewesen, »sodass China nach innen völlig geistig verarmt ist, weil die hauptintellektuelle Herausforderung war: Wie schotten wir uns ab?« Ihre Argumentation: Sicher sei auch der Schutz eigener Grenzen wichtig – aber die lägen im Schengenraum eben an den EU-Außengrenzen. Die bessere Alternative seien ein verstärkter Blick in die Welt, mehr Hilfe für Regionen, aus denen potenzielle Flüchtlinge kommen könnten und »der Bau von Lebenskreisen um das Schengen-Gebiet herum, die auch in relativem Wohlstand und Sicherheit leben«. Je weiter diese Kreise seien, desto friedlicher werde das eigene Leben, weil man nicht mehr die ganze Kraft für Grenzsicherung aufwenden müsse.4 Im Prinzip ist dies die Fortsetzung des jahrzehntelangen Denkens deutscher Regierungen in EU- und Nato-Erweiterungen, die einen Ring sicherer und befreundeter Staaten um die Bundesrepublik geschaffen haben. Merkel setzt deshalb auf einen tatsächlich effektiven Schutz der EU- und Schengen-Außengrenzen.

AfD/Pegida     In der dritten Amtszeit Merkels ist mit der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) eine Partei im politischen Spektrum nach vorne geprescht, mit der sich auch die CDU-Vorsitzende beschäftigen muss. Merkels Position in der Euro-Krise in ihrer zweiten Amtszeit war gewesen, die drei Buchstaben AfD gar nicht in den Mund zu nehmen und an ihrem Kurs der Rettungspakete für angeschlagene Euro-Staaten festzuhalten. Zusammen mit der Protestbewegung Pegida vor allem in Dresden entstand dann eine nicht nur euro- und europakritische, sondern auch islamfeindliche Bewegung mit starkem rechtsnationalem Einschlag. 2014 gab es eine kurze Phase, in der Opposition und SPD die CDU mit der Forderung nach einer nötigen Abgrenzung zu rechtspopulistischen Parteien in die Enge zu treiben versuchten. Merkel beendete die Debatte am 26. Mai 2014 direkt nach der Europawahl mit einem klaren Beschluss im CDU-Präsidium: Eine Zusammenarbeit mit der AfD wurde auf Bundes- und Landesebene zum Tabu für die CDU erklärt. »Im Bundesvorstand sind wir uns einig, dass wir mit der AfD weder koalieren noch kooperieren«, betonte sie auch mit Blick auf die erweiterte Parteiführung.5 Intern hatte Merkel klar gemacht, dass sie dies sehr ernst meine. Die Strategie der CDU- und übrigens auch der CSU-Führung lautet: Die AfD soll als rechtspopulistische Protestpartei in den Parlamenten zwar argumentativ gestellt, aber in der Opposition gehalten werden.

Dies knüpft an die Strategie an, mit der CSU und CDU bereits zuvor mehrfach mit rechtsradikalen Parteien wie der NPD, der DVU oder den Republikanern umgegangen sind, wenn diese den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde in Parlamente schafften. Schon 2005, als rechtsradikale Parteien etwa in die Landtage in Brandenburg und Sachsen-Anhalt einzogen, lehnte die CDU-Parteivorsitzende jede Zusammenarbeit mit ihnen ab.6 Sie hatte früh in ihrer Partei klar gemacht, dass das Liebäugeln mit rechten Positionen für die Volkspartei CDU ein Tabu sein müsse. Bereits 1993 forderte die damalige stellvertretende CDU-Vorsitzende vehement den Parteiaustritt des Berliner CDU-Politikers Heinrich Lummer wegen dessen Haltung zu Koalitionen mit rechten Parteien (s. Härte). 2014 machte Merkel der Thüringer CDU deutlich, dass keine Offenheit zur AfD und nicht einmal der Anschein dazu toleriert werde.

Die Kanzlerin empfindet die AfD nach Angaben enger Mitarbeiter als mehrfache Zumutung: zu nationalistisch für ihre Vorstellung eines gemeinsamen Europas, zu unsolidarisch für eine christlich geprägte Gesellschaft, zu polarisierend für den nötigen Ausgleich in einer offenen Gesellschaft, zu globalisierungsfeindlich in einer Welt, die nach Merkels Überzeugung unbedingt enger zusammenarbeiten muss, zu hasserfüllt und xenophob für ein Deutschland, das ihrer Meinung nach modern und tolerant sein sollte und Zuwanderung braucht. In aller Deutlichkeit hat sie aber vor allem gegen die Pegida-Bewegung Stellung bezogen. In ihrer Silvesteransprache am 31. Dezember 2014 rief die Kanzlerin die Deutschen dazu auf, nicht zu Pegida-Demonstrationen zu gehen, weil die Initiatoren »Vorurteile, Kälte, ja Hass« in ihren Herzen hätten.7 Zudem wehrte sie jede Deutschtümelei ab. »Ich kann, auch wenn ich anders aussehe, Patriot sein«, mahnte sie mit Blick auf Deutsche mit Migrationshintergrund.8

Als interne CDU-Strategie hat Merkel nach den Landtagswahlen im März 2016 ausgegeben, sich mit den AfD-Positionen auseinanderzusetzen, »und zwar ohne jeden Schaum vor dem Mund und ohne Pauschalurteile«. Man müsse offensiver vertreten, was die Visionen für ein gemeinsames Europa und etwa die Nato im 21. Jahrhundert seien. Unnötig aufwerten will sie die Partei durch zu viel Aufmerksamkeit aber nicht. Die Wahlen würden in der gesellschaftlichen Mitte (s. Mitte) gewonnen und nicht durch den Versuch, AfD-Wähler durch eine Anbiederung etwa an antieuropäische oder islamfeindliche Positionen zurückzugewinnen, argumentierte sie. Merkel dementierte deshalb auch jede Spekulation über eine »Kursänderung« der CDU nach rechts, wie sie etwa CSU-Chef Horst Seehofer (s. Seehofer) gefordert hatte.9 Dies schließe nicht aus, dass dennoch etwa Asylpakete geschnürt und Themen wie Innere Sicherheit ernster genommen würden, betonte sie in CDU-Gremien.

Dies alles dürfte erklären, wieso Merkel eine Hassfigur gerade der radikalen Rechten geworden ist.10 Sie selbst sagte: »Ich hoffe auf den Tag, an dem ich lese, dass den Rechtsextremisten der Nachwuchs ausgeht. Darauf müssen wir hinarbeiten.«11

Affären     Merkel hat alle Formen von Home-Stories und Einblicke in ihr Privatleben ablehnt. Wie andere Prominente muss sie sich aber damit herumschlagen, dass die Yellow-Press sie als Thema entdeckt hat. Mit großer Kreativität werden ihr über die Jahre immer wieder einmal angebliche Affären angedichtet. »Pikanter Franzosen-Flirt« hieß es etwa im Juli 2015 mit Blick auf den französischen Präsidenten François Hollande. Und eine wichtige Frage wurde auf der Titelseite eines Magazins gleich mitgeliefert: »Gibt ihr Mann sie frei?«12 Etliche Boulevardblätter beschäftigten sich mit der vermeintlichen deutsch-französischen Liaison. »Die beiden Staatsoberhäupter berühren sich zärtlich, kichern und tuscheln – fast wie zwei Teenager!«, schrieb etwa das Neue Blatt – und griff damit eine Anspielung aus anderen Yellow-Press-Magazinen auf.13

Merkel wurde zwar im Zusammenhang mit der Griechenland-Krise als »Eiskönigin« Europas beschrieben: Aber offenbar wird ihr gleichzeitig eine heißblütige Leidenschaft unterstellt, für die sich angeblich immer wieder neue Belege finden. Im Juli 2007 etwa titelte die Bild-Zeitung »Bush: Liebesattacke auf Merkel«, nachdem er ihr auf dem G8-Gipfel im russischen St. Petersburg in den Nacken gegriffen hatte (s. Grabschen). Dabei hat kein ausländischer Staatschef sich so an Merkel herangeschmissen wie der frühere französische Präsident Nicolas Sarkozy. Dieser wandte sich 2008 direkt an Merkels Ehemann Joachim Sauer: »Innerhalb von zwölf Monaten, Herr Sauer, haben wir uns zwölf Mal getroffen«, scherzte er bei der Verleihung des Karlspreises in Aachen an Merkel. »Und angesichts ihres vollen Terminkalenders wäre es spannend, Herr Sauer, die Anzahl unserer Begegnungen mit ihr zu vergleichen.«. Dann beglückwünschte er Sauer für seine Frau, die er selbst viel mehr möge, als immer geschrieben werde.14

Im Februar 2016 machte die Yellow-Press dann plötzlich auch noch »einen heimlichen Freund« aus – den Schauspieler Ulrich Matthes. Der hatte in einem Interview zuvor angegeben, dass er der Kanzlerin alle paar Monate ein Fax schicke – das diese dann auch beantworte. Matthes selbst hatte die Frage »Sie faxen sich?« als »fast schon anzüglich« bezeichnet – worauf die Aktuelle das Bild einer glücklich lächelnden Kanzlerin mit einem Faxgerät kombinierte.15 Pünktlich zur Fußball-Europameisterschaft wurde dann auch die angebliche »Geheime Leidenschaft« zwischen Merkel und Nationaltrainer Jogi Löw thematisiert.16

Ein echter Wiedergänger sind die Berichte in Boulevardmedien über angebliche Eheprobleme im Haus Merkel-Sauer.17 Merkel zeigt sich übrigens eher entspannt im Umgang mit diesen Geschichten. Sie mag sich ärgern, aber auf ein rechtliches Vorgehen gegen die Geschichten verzichtete sie bisher, um ihnen nicht noch mehr Aufmerksamkeit zu geben.

Alkohol     (s. Bier) Wenn dieses Stichwort in einem solchen Lexikon auftaucht, dann deshalb, weil das Thema »Politik und Alkohol« die Öffentlichkeit immer wieder einmal beschäftigt – und es auch für Merkels politischen Werdegang nicht ganz bedeutungslos war. Dies betraf etwa die sogenannte TV-Elefantenrunde am Wahlabend 2005, als ihr Vorgänger Gerhard Schröder sie angeblich unter dem Einfluss von Rotwein (was er bestreitet) politisch hart anging. Zudem wurde Merkel vor allem in ihrer politischen Frühphase Trinkfestigkeit nachgesagt. In einer nach wie vor überwiegend männlich dominierten Politik-Welt sammelte Merkel dadurch Anerkennungspunkte bei ihren CDU-Kollegen und streifte das frühere Image als »Kohls Mädchen« ab. Merkel selbst gab an, ihren ersten Alkoholrausch mit 18 Jahren gehabt zu haben. Damals habe sie nach der Abitur-Feier um vier Uhr morgens auf einem Boot zu viel von dem mit Kirschwasser gemischten Whiskey getrunken – und sei aus dem Boot gekippt.18

Merkel trinkt gerne Wein. Aber da sich für die Kanzlerin die Krisen, die Anspannung und die Notwendigkeit höchster Konzentration häufen, gilt der Konsum von Alkohol mittlerweile als sehr dosiert.19 Eine Kanzlerin muss am nächsten Tag fit sein. Das gilt auch für die EU-Gipfel. Nach dem Abendessen der EU-Staats- und Regierungschefs und den seit 2012 regelmäßigen nächtlichen Pressekonferenzen zieht sich Merkel im Hotel Amigoin der Brüsseler Innenstadt mit ihren engsten Mitarbeitern aber traditionell noch in eine ruhige Ecke zurück, um bei einem Glas Rotwein nach oft hektischen Verhandlungen den Tag noch einmal durchzusprechen und den nächsten vorzubereiten.

Wenn Männer sich mit Alkohol-Genuss brüsten, wird sie schnell ironisch. So lobte etwa der rheinland-pfälzische CDU-Europaabgeordnete Werner Langen bei einem gemeinsamen Auftritt im Europawahlkampf am 24. Mai 2014 in Worms überschwänglich die »gesellige Wirkung« des Weins aus seiner Heimat. »Wir haben Korn in der Gegend, aus der ich komme«, konterte Merkel trocken. »Damit geht es bei der Geselligkeit schon schneller.«20

Dennoch entdeckten Boulevard-Medien das Thema im August 2015 – mit durchaus bösartigem Unterton. Nach dem Zusammenbruch ihres Stuhls bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth etwa spekulierte ein Blatt mit einem Foto einer Weißwein trinkenden Merkel auf der Titelseite, dass möglicherweise ein »feuchtfröhlicher Urlaubs-Start« verantwortlich gewesen sei – was im Text selbst als reine Spekulation zurückgenommen wurde.21

Ein Randaspekt: Im Kanzleramt werden für die Gäste vor allem deutsche Weine serviert. Aber wenn der französische Präsident François Hollande dort diniert, wird ihm auch schon mal französischer Rotwein angeboten. »Beim Rotwein halten Sie sich besser an die Franzosen«, soll Merkel Hollande gleich bei dessen ersten Besuch in Berlin am 15. Mai 2012 geraten haben.22

Alter     Merkel ist am 17. Juli 1954 geboren. Als sie als 52-Jährige zur Bundeskanzlerin gewählt wurde, gab es gleich zwei Premieren: Sie war die erste Frau in diesem Amt und noch nie war jemand so jung auf diesen Posten gekommen. Mit zunehmendem Alter schleichen sich immer wieder Hinweise in ihre Auftritte ein, dass sie sich ihres Alters sehr bewusst ist. Sie gibt sich dabei zunehmend entspannter. »Ich bin jetzt in einem Lebensalter, in dem ich mit mir immer mehr im Frieden lebe«, sagte sie bereits 2010. Als Mädchen sei sie oft unzufrieden gewesen, weil sie Dinge nicht konnte, die sie können wollte. »Heutzutage kann ich die Dinge, die ich können möchte.«23

Zudem wird der Versuch offensichtlicher, Lebenserfahrung weitergeben zu wollen. »Anders als früher kann ich willkommene oder weniger willkommene Ratschläge geben. Jedenfalls kommen mir manche Dinge bekannt vor. […] Manchmal habe ich Angst, dass ich schon zu viel erlebt habe. Aber oft habe ich auch Recht«, sagte sie.24 Eine Gruppe junger Unionsabgeordneter mahnte sie eindringlich, sich mit den Errungenschaften des 20. Jahrhunderts zu beschäftigen. Die Jungen müssten sich überlegen, was sie davon im 21. Jahrhundert erhalten wollten – von dem, wofür Menschen gekämpft hätten, »die noch älter sind als ich«.25

Als Kanzlerin sucht sie gezielt Kontakt zu jüngeren Ansprechpartnern, auch weil sie sich der eigenen Unzulänglichkeit bei neuen Technologien bewusst ist. Das Problem sei, dass junge Leute in Deutschland zwar mit Zukunftsthemen wie der Digitalisierung vertraut seien, aber nicht in Führungspositionen säßen. »Ich finde es interessant, wenn ein Unternehmen wie Bosch jeder älteren Führungskraft einen Jüngeren an die Seite stellt, der ihm sagt, was die digitalen Möglichkeiten und die digitalen Herausforderungen sind«26, schlägt sie deshalb vor.

Außerdem sieht sie die Jugend als Stimmungsaufheller: »Jüngere müssen Ältere immer wieder aus der Resignation heraustreiben«, forderte sie. Bei ihr selbst sei das aber weniger nötig. »Ich gehöre nicht zu den Kulturpessimisten. Ich gehöre auch zu der Abteilung Hoffnung.«27

Alternativlos     Dieser Begriff wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres 2010 gewählt. Kritikern der Kanzlerin gilt dieser von Merkel seit 2009 häufiger verwendete Begriff als Musterbeispiel für ein technokratisches Denken.28 Merkel selbst hat etwa den Bundeswehreinsatz in Afghanistan als »alternativlos« bezeichnet. Eine echte Blütezeit erlebte der Begriff aber vor allem im Rahmen der Finanz- und Schulden-Krise, in der Merkel damit immer wieder die Notwendigkeit von unpopulären, aber aus ihrer Sicht notwendigen Entscheidungen rechtfertigte. Der Begriff erhält Elemente von Zwangsläufigkeit, Ungeduld, Kühle und Entschlossenheit. Wahlweise hat Merkel damit Entscheidungen begründet, die aus ihrer Sicht sein mussten oder sein sollten – oder für die sie selbst nach einigem Nachdenken einfach keine andere Lösung gefunden hatte. In ihrem »alternativlos« schwingt oft auch ein entschuldigendes Eingeständnis mit, dass eine ›Lösung‹ oft gar keine endgültige Lösung ist, sondern nur die aus ihrer Sicht bestmögliche unter vielen schlechten Reaktionsmöglichkeiten in einer Krise – und ein weiterer Schritt in einem Prozess (s. Prozess).

Amtseid     Viel Spielraum gibt es nicht beim Sprechen des sogenannten Amtseides, den ein Kanzler oder eine Kanzlerin nach der Wahl im Bundestag zu leisten hat. Merkel setzt wie die meisten ihrer Vorgänger den Zusatz »So wahr mir Gott helfe« hinzu. »Dieser Teil des Amtseides bedeutet für mich das Bekenntnis, dass es nicht allein in meiner Hand liegt, was ich schaffen kann und was ich nicht schaffen kann. Der Mensch ist nicht allmächtig, sondern lebt davon, dass er im Rahmen seiner Möglichkeiten verantwortungsbewusst handelt«, sagte die Protestantin.29 Kleines Kuriosum: Bei ihrer Vereidigung 2005 hatte Merkel die rechte Hand zum Schwur gehoben, bei der zweiten 2009 vergaß sie dies – aber bei der dritten 2013 war die Hand wieder oben.

Amtszeit     Merkel hat sich mit ihrer dritten Amtszeit auf der Liste der am längsten regierenden deutschen Bundeskanzler weit nach vorne katapultiert. Durchschnitt sind zwei Amtszeiten. Nun hat Merkel in der Statistik der am längsten regierenden Kanzler nur noch zwei vor sich – Konrad Adenauer mit 14 Jahren Amtszeit (1949–1963) und Helmut Kohl, der 16 Jahre lang Bundeskanzler war (1982–1998). Auch wenn Merkel 2017 ein weiteres Mal antreten und im Amt der Bundeskanzlerin bestätigt werden sollte: Um Kohl einzuholen, müsste sie 2021 sogar noch ein fünftes Mal erfolgreich kandidieren. Denn 2005 zogen sich die Koalitionsverhandlungen mit der SPD so lange hin, dass ihre Vereidigung als Kanzlerin erst zwei Monate nach den Bundestagswahlen stattfinden konnte. Diese Tage würden Merkel bei einem Vergleich mit Kohl fehlen.

Andenpakt     1979 unternahmen etliche Junge-Unions-Mitglieder eine gemeinsame Südamerikareise, weshalb Beobachter später die Gründung einer karrierefördernden Seilschaft witterten.30 Eine Reihe der westdeutschen Politiker aus dieser dann ›Andenpakt‹ genannten Gruppe machte tatsächlich Karriere in den Bundesländern. Dazu gehören etwa Roland Koch, Christian Wulff oder Günther Oettinger. Etwas spöttisch lautete der Titel für diese Gruppe auch ›Klub der Messdiener‹. Für Merkels Karriere spielte diese Gruppe Männer eine doppelte Rolle. Zum einen halfen Ende des vergangenen Jahrhunderts einige dieser jungen CDU-Politiker wie Wulff mit, am Sockel des alten CDU-Chefs Helmut Kohl zu sägen. Zum anderen gehören viele aus diesem Andenpakt zu den Politikern, die später erst 2002 Merkels erste versuchte Kanzlerkandidatur für die Union verhinderten31 und dann nach ihrem Amtsantritt 2005 stichelten, sie sei dem Job als Kanzlerin nicht gewachsen.

Angesichts der Flüchtlingskrise ist fast in Vergessenheit geraten, dass sich die erste ernsthafte Überlebensfrage für die Politikerin Merkel deshalb nicht 2015 stellte – sondern in den Jahren um 2007. Damals war die Unzufriedenheit mit der Kanzlerin in der eigenen Partei angesichts des überraschend schlechten Wahlergebnisses 2005, der nötigen Kompromisse in der großen Koalition und ihrer schlechten Umfragewerte groß. Damals genoss sie zudem noch nicht das internationale Ansehen wie heute. Und damals gab es CDU-Ministerpräsidenten, die selbst liebend gerne als Ersatz-Kanzler bereitgestanden hätten. Weil der in Wahrheit eher lockere ›Pakt‹ in den Medien in den Verdacht einer Verschwörung kam, wuchs aber gleichzeitig der Druck auf die CDU-Granden, sich von Vermutungen zu distanzieren, man wolle Merkel stürzen. Merkel hat die meisten Mitglieder des ›Pakts‹ politisch längst überlebt.

Angst     Merkel hat sich häufiger als Volks-Therapeutin betätigt und versucht, den Deutschen in Krisen immer wieder Mut zu machen. Ihr umstrittener Satz »Wir schaffen das« hatte 2015 vor allem die Bedeutung, sowohl die vielen Helfer als auch die vielen Zweifler davon zu überzeugen, dass Deutschland selbst die Aufnahme von einer Million Flüchtlinge und Migranten bewältigen könne (s. Wir schaffen das). Merkel ist davon überzeugt, dass Angst lähmt und oft Lösungen verhindert – weshalb sie überwunden werden muss. »Angst war noch nie ein guter Ratgeber, im persönlichen Leben nicht und auch im gesellschaftlichen Leben nicht. Kulturen und Gesellschaften, die von Angst geprägt sind, werden mit Sicherheit die Zukunft nicht meistern«, mahnte sie.32 Deshalb hat sie in den vergangenen Monaten immer wieder zur Zuversicht geraten – auch auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise. »Es sind sehr, sehr viele. Aber wir sind 80 Millionen«, betonte sie unter anderem, um die Herausforderung in ihrer Dimension zurechtzurücken.33 Auch in ihrer Rede auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe betonte Merkel sehr deutlich, dass Deutschland ein starkes Land sei und Großartiges leisten könne. (s. Deutschland)

Furchtlosigkeit gehört für sie unbedingt zum Handwerkszeug guter Politiker. Selbst als die junge CDU-Chefin 2002 dem CSU-Chef Edmund Stoiber die Kanzlerkandidatur überlassen musste, sagte sie nur: »Ich fürchte mich vor gar nichts«, machte weiter – und wurde dann 2005 Kanzlerin.34 Ganz ähnlich argumentierte sie in der Euro-Krise.35 Allerdings hat Merkel intern auch betont, dass sie als Regierungschefin eines der reichsten und erfolgreichsten Länder der Welt qua Amt Zuversicht verbreiten müsse und schlecht sagen könne: »Wir schaffen das nicht«. Das brachte ihr in der amerikanischen Zeitschrift Newsweek den Titel »Mrs.Feelgood« ein. Vielleicht liegt es daran, dass sie eine Frau ist: Jedenfalls wurde Merkel in Interviews anders als ihre männlichen Vorgänger auffallend oft nach ›Angst‹ gefragt. Sie selbst hat durchaus persönliche Ängste, obwohl sie diese wie etwa die kolportierte Angst vor Hunden als übertrieben dargestellt sieht (s. Hunde). Als Kind habe sie sich aber auf dem weiten Nachhauseweg zu Fuß etwa gefürchtet, wenn Gewitter losbrachen.36 Auch Angst vor körperlicher Gewalt hatte Merkel bereits – etwa als Jugendministerin bei einem Besuch einer Disko in Norddeutschland. Dort habe es einen aggressiven Jugendlichen gegeben, der dauernd auf Politiker schimpfte. »Da habe ich gedacht: Gleich kriegst du eins auf die Rübe.«37

Anspruch     Politiker wollen oder müssen sich an den selbstgesetzten Zielen messen lassen. Merkel hat als Kanzlerin mehrfach betont, dass sie den Erfolg ihrer Regierung daran ablese, ob es den Menschen am Ende einer Legislaturperiode besser gehe als am Anfang – wobei allerdings offen bleibt, was genau die Messgrößen für dieses ›besser‹ sind. Da sie bisher bis auf einen kurzen Einbruch 2009 stets in Zeiten einer wachsenden Wirtschaft regierte, verwies Merkel vor Wahlen meist auf Erfolge etwa bei den Arbeitslosenzahlen.38 Zu Beginn ihrer großen Koalition sagte sie erneut: »Wir haben gute Chancen, dass wir 2017 sagen können, dass es den Menschen besser geht als heute.«39

Der Anspruch an die eigene politische Karriere klang vor der Kanzlerschaft übrigens noch bescheiden. Sie wolle in Erinnerung bleiben als »diejenige, die ein paar Dinge bewegt hat, von der man sagen kann, das und das ist mit ihrem Namen verbunden. Und als die, die den Bezug zur Realität nicht verloren hat.«40 Einmal nannte sie eine geradezu göttliche Ableitung ihrer Arbeit: »Ich bin davon überzeugt: Gott hat uns vor allem dazu erschaffen, damit wir aus unseren großen Möglichkeiten etwas machen, damit wir zeigen, was in uns steckt«, sagte sie auf einem CDU-Bundesparteitag.41

Antisemitismus     (s. Israel, Schoah) Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine feste Konstante in Merkels politischem Leben. Dabei nimmt sie wenig Rücksichten auf Freund-Feind-Grenzen. Die Protestantin verteidigte etwa die katholische Kirche 2010 vehement gegen den Vorwurf, antisemitisch zu sein – und wies gleichzeitig darauf hin, dass Martin Luther dies teilweise gewesen sei. »Luthers Schrift Von den Juden und ihren Lügen würde heute vermutlich den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllen«, sagte sie. »Luther war, das muss man konstatieren, nicht frei von antisemitischen Tönen.«42

Merkel betonte, dass das Thema sie seit ihrer Kindheit beschäftige und bewege. Das KZ Ravensbrück lag weniger als zwanzig Kilometer von ihrer Heimatstadt Templin entfernt, ihre Schulklasse besuchte die Gedenkstätte jedes Jahr. Wenn ihre DDR-Lehrer vor allem über von den Nazis verfolgte Kommunisten und vielleicht noch Sozialdemokraten gesprochen hätten, habe sie auch nach dem Schicksal der Juden gefragt. Sie habe es als Jugendliche als sehr schlimm empfunden, dass auch in der Sowjetunion Juden verfolgt worden seien, sagte sie. In der DDR habe aber quasi kein Dialog stattgefunden, weil es keine jüdischen Gemeinden gegeben habe und Israel nie als Staat anerkannt worden sei. Nach der Einheit habe sie dann gemerkt, dass im Westen anders über das Thema gesprochen wurde. Zudem sei sie verwundert gewesen, als ihr Edmund Stoiber erzählte, er sei 1995 der erste bayerische Ministerpräsident gewesen, der die Gedenkstätte für das KZ Dachau offiziell besucht habe. An ihrem entschiedenen Kampf gegen Antisemitismus änderten auch die Briefe mit Beschimpfungen von Rechtsradikalen nichts, die sie immer wieder erhalte, betonte Merkel.43

Sie hat in ihrer Amtszeit sehr konstant den Kontakt mit jüdischen Organisationen sowohl in Deutschland als auch etwa den USA gepflegt. Merkel wendet sich entschieden gegen jede Leugnung des Holocausts (s. Schoah) und riskierte hierfür auch einen Streit mit dem Papst (s. Papst). Zudem kritisierte sie, dass sich Antisemitismus manchmal unter dem Deckmantel der Kritik an Israel verstecke. Merkel hat dies auch im Zusammenhang mit Flüchtlingen aus arabischen Ländern thematisiert.44 Am 6. September 2014 forderte sie, dass Antisemitismus in Deutschland nie wieder eine Chance haben dürfe und trat nur wenige Tage später auf einer Kundgebung des Zentralrats der Juden gegen Antisemitismus auf.45

Antrieb     (s. Macht). Es gibt verschiedene Theorien, was Merkel neben offensichtlich großem Ehrgeiz in ihrer Arbeit antreibt. Spaß und Neugier gehören dazu: »Ich finde, dass die Arbeit als Bundeskanzlerin dahingehend eine sehr schöne und inspirierende Arbeit ist, dass man immer wieder neue Probleme hat«, sagte sie etwa. »Es ist wirklich etwas, das in der Tätigkeit in der Politik ja ganz herausragend ist, dass man morgens oft ins Büro geht und nicht weiß, was im Laufe eines Tages passieren […] wird.« Mal sei dies traurig, mal schön. Sie sei weiter neugierig auf Menschen und wolle weiter lernen (s. Lernen, Neugier).46

Einige Wegbegleiter meinen, dass Merkel zudem ihrem Vater beweisen wollte, es ›geschafft‹ zu haben. Immer wieder wird in früheren Biografien die Szene erwähnt, dass ihr Vater sie zum 30. Geburtstag 1984 in Berlin besuchte, sich in ihrer ärmlich eingerichteten Wohnung umsah und lakonisch feststellte: »Weit hast du es ja noch nicht gebracht.«47 Andere nennen als zusätzlichen Antrieb, dass die junge ostdeutsche Politikerin nach der Wende auf viele westdeutsche Politiker traf, deren Überheblichkeit sie geradezu herausforderte.48

Applaus     Da Merkel kein sehr extrovertierter Typ ist, musste sie erst lernen, Applaus zu genießen. Bevor sie im Jahr 2000 zur CDU-Vorsitzenden gewählt wurde, schien ihr öffentliche Zustimmung noch fast peinlich, meist schaute sie demonstrativ nach unten in irgendwelche Papiere, während der Saal applaudierte.49 Auf dem CDU-Bundesparteitag 2015 in Karlsruhe hatte sie damit weniger Probleme: Neun Minuten stehende Ovationen nahm Merkel lächelnd, wegen des zuvor heftigen Streits in der Flüchtlingsfrage offensichtlich auch erleichtert entgegen und würgte sie nicht ab. Am Sonntagabend des 18. September 2013, als die Union überraschend 41,5 Prozent erzielte, zeigte Merkel auf der CDU-Wahlparty im Konrad-Adenauer-Haus aber die gewohnte Nüchternheit. Den jubelnden CDU-Anhängern dankte sie – um sie dann sofort zu mahnen, dass ab Montagmorgen aber wieder gearbeitet werde.

Arbeitstag     Arbeit nimmt einen zentralen Platz in Merkels Leben ein – wohl auch, weil sich Beruf und private Interessen bei ihr vermischen. Einen standardisierten Ablauf eines Merkel’schen Tages gibt es angesichts der sehr vielfältigen Aufgaben und Termine im In- und Ausland nicht. Sie selbst redet davon, dass ein Arbeitstag etwa von 8 bis 22 Uhr dauere. Eine Biografin schrieb von einem Aufstehen um 6.30 Uhr.50 Eine zentrale Funktion hat dabei die sogenannte Morgenlage im Kanzleramt, die es auch unter ihren Vorgängern gab (s. Morgenlage). Dort trifft sich die Runde ihrer engsten Berater, um die anstehenden Themen des Tages durchzusprechen. Wenn Merkel tagsüber Termine in Berlin oder anderen Orten hat, versucht sie abends oft noch einmal ins Büro zu gehen. Ausdrücklich genießt sie die Vielfalt der Themen, mit denen sie täglich konfrontiert wird. Merkel bezeichnete sich selbst häufig als Morgenmuffel, der dann im Laufe des Tages zur Höchstform auflaufe. Einige Tage bringen allerdings mehr als 14 Stunden Arbeit – etwa bei durchverhandelten Nächten auf EU-Gipfeln, Koalitionsgipfeln oder nächtlichen Telefonaten etwa mit Obama wegen der Zeitverschiebung zu den USA (s. Ausdauer).

Asymmetrische Demobilisierung     (s. Polarisierung) Dies ist kein Fachbegriff aus der realen Kriegsführung, sondern ein Wahlkampfinstrument, das Merkel nach dem ›Klare-Kante-Wahlkampf‹ 2005 nach Ansicht einiger Beobachter 2009 gegen die SPD einsetzte. Ganz grob ist damit gemeint, dass man potenziellen Wählern anderer Parteien das Gefühl vermittelt, dass man deren Positionen mitvertritt – sie also eher von einem Wahlgang abhält. Merkel hat sich diesen Begriff aber ausdrücklich nicht zu Eigen gemacht. Die fehlende Polarisierung 2009 erkläre sich vielmehr daraus, dass sie einen Wahlkampf aus einer großen Koalition heraus führen musste, in der sie vier Jahre mit dem Hauptkonkurrenten SPD zusammengearbeitet hatte. Deshalb könne sie die Sozialdemokraten nun nicht plötzlich schlecht machen, argumentierte sie. Auch in der folgenden Koalition mit der FDP bestand Merkel darauf, die Ergebnisse der großen Koalition nicht zu zerreden, was für Spannungen mit den Liberalen sorgte.

Dass sie an einer niedrigen Wahlbeteiligung interessiert sei, wies Merkel ausdrücklich zurück. Das Gegenteil sei der Fall. »Diese Abstimmung mit den Füßen, diesen Rückzug ins Private, den bekommt über kurz oder lang die gesamte politische Klasse zu spüren, ganz gleich, wer dafür mehr und wer dafür weniger verantwortlich ist«, hatte sie bereits 2003 gewarnt. Damals nannte Merkel dieses Verhalten eine »Art nostalgische Kapitulation«. »Wenn es schlecht kommt, kann aus Wahlenthaltung Protestwahl werden, aus Depression Rebellion, politische Rattenfänger inbegriffen«, warnte sie – was aus heutiger Sicht prophetisch klingt.51

Atomausstieg     (s. Energiewende) Der Atomausstieg war die bisher größte Selbstkorrektur in der Merkel’schen Regierungszeit. Ausgelöst wurde sie durch das Atomunglück im japanischen Fukushima am 11. März 2011. Innerhalb von nur 24 Stunden vollzog Merkel in Abstimmung mit allen relevanten politischen Entscheidungsträgern eine 180-Grad-Wende, denn erst kurz zuvor hatte sie den rot-grünen Ausstieg rückgängig gemacht und die Laufzeiten der deutschen Reaktoren wieder verlängert. Am Freitag, dem 11. März 2011, hatte eine Serie schwerer Seebeben mit einem nachfolgenden Tsunami die japanische Ostküste erschüttert, was in einer Kettenreaktion Kernschmelzen in Fukushima nach sich zog. Merkel erfuhr davon noch auf dem EU-Gipfel in Brüssel, auf dem sie sich befand. Nach der Rückkehr nach Berlin wurde sie vom Lagezentrum des Kanzleramtes über die Entwicklung in Japan informiert.

Ihre Pro-Atom-Haltung hatte Merkel, ganz Naturwissenschaftlerin, zuvor immer statistisch begründet: Das Restrisiko eines katastrophalen Unfalls sei hinreichend klein. Nun sah sie im Fernsehen, dass es nicht klein genug war, um einen Gau zu verhindern. Als sie am nächsten Tag dann auf einer Wahlkampf-Veranstaltung in Rheinland-Pfalz eintraf, war die Stimmung dort sehr gedrückt – was ihr Umdenken offenbar beschleunigte. Sie habe bei den Nachrichten aus Japan »sofort« gespürt, dass die Laufzeitverlängerung wieder auf den Prüfstand musste, sagte Merkel später.52

Noch am selben Abend trat Merkel zusammen mit dem damaligen Außenminister Guido Westerwelle in Berlin vor die Presse und sagte: »Die Geschehnisse in Japan sind ein Einschnitt für die Welt. Denn viele Menschen sagen und ich sage das auch: Wenn schon in einem Land wie Japan mit sehr hohen Sicherheitsanforderungen und hohen Sicherheitsstandards nukleare Folgen eines Erdbebens und einer Flutwelle augenscheinlich nicht verhindert werden können, dann kann die ganze Welt, dann kann auch Europa und dann kann auch Deutschland mit ebenfalls hohen Sicherheitsanforderungen und Sicherheitsstandards nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.«53 Fragen nach Konsequenzen wollte sie zunächst nicht beantworten, sagte aber: »Deshalb hat sich alles andere [der Sicherheit] unterzuordnen.« Das »Restrisiko« müsse nun neu abgewogen werden, argumentierte sie gegen den Einwand, dass in Deutschland weder Tsunamis noch Erdbeben wie in Fukushima drohten (s. Risikoabwägung). Bereits am 14. März verkündete Merkel ein Moratorium, nach dem alle deutschen Atommeiler sicherheitsüberprüft werden sollten. Die sieben ältesten Reaktoren sowie der besonders anfällige Reaktor Krümmel wurden vorläufig für drei Monate vom Netz genommen – und später nie wieder hochgefahren.

Vorausgegangen waren am 12. März und 13. März intensivste Beratungen im Kanzleramt. In der Abstimmung zwischen Merkel und den beiden Parteichefs von CSU (Horst Seehofer) und FDP (Westerwelle) wurde schnell klar, dass es vor allem um eine hochpolitische, nicht nur eine fachliche Entscheidung ging. Dann wurden die Fraktionschefs der Regierungsfraktionen einbezogen. Beteiligt waren zudem nach Angaben Merkels der Kanzleramtschef Ronald Pofalla, Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) und Innenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Am Abend wurden die Fraktionschefs aller im Bundestag vertretenen Parteien informiert. Daneben telefonierte Merkel mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer, in denen Atomreaktoren stehen. Nach Angaben von Teilnehmern stand dabei sehr früh fest, dass Fukushima die deutsche Atompolitik völlig verändern würde. »Was wir brauchen, ist ein Ausstieg mit Augenmaß«, beschrieb Merkel am 17. März den neuen Weg.54 Bereits am 30. Juni 2011 beschloss der Bundestag mit sehr großer Mehrheit den kompletten Ausstieg aus der Nukleartechnik zur Energiegewinnung bis 2022.

In der Zwischenzeit hatte die CDU zwei Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und vor allem Baden-Württemberg verloren, wo die Grünen auch wegen der Fukushima-Katastrophe erstmals einen Ministerpräsidenten stellen konnten. Wie später in der Griechenland-Krise bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen dementierte Merkel energisch, dass sie aus wahltaktischen Gründen gehandelt habe. »Wahlkampf kann Politiker durchaus schneller dazu bringen, das Richtige zu tun«, betonte sie später. Denn man müsse über das sprechen, was die Menschen bewege. Aber auch wenn sie es nie beweisen könne: Sie sei sicher, dass sie ohne die Landtagswahlen am 27. März genauso gehandelt hätte, beteuerte Merkel.55

Die Wende wirkte damals so überraschend, weil Merkel zuvor eine klare Befürworterin der Atomtechnik war. 1995 hatte sie gesagt: »Ohne Kernenergie werden wir unser Klimaziel nicht erreichen.«56 Als Umweltministerin wollte sie eher die Stromerzeugung durch den Treibhausgas-Produzenten Kohle zurückfahren, weil sie den Klimawandel für die mittelfristig größere Gefahr hielt und argumentierte, dass lieber der Strom aus unsicheren osteuropäischen Atommeilern ersetzt werden solle.57 Auch 2009 war die CDU-Vorsitzende noch mit einer klaren Pro-Atomkraft-Politik in den Wahlkampf und die schwarz-gelben Koalitionsverhandlungen gezogen. »Ich halte den Betrieb der deutschen Kernkraftwerke nach wie vor für verantwortbar«, betonte Merkel noch 2010. Sie fügte hinzu, dass sie zwar nichts dazu sagen wolle, wie lange man die Atomkraft noch brauche, aber »das wird gewiss über 2020 hinaus sein.« Ihre Argumentation: Deutschland könne sich nicht als einziges Land verabschieden, wenn alle anderen die Kernenergie nutzten. Sie wolle keine neuen AKWs bauen. »Aber ich will wenigstens nicht die sichersten auf der Welt als erste abschalten.«58 Gleichzeitig betonte Merkel schon damals, dass auch die CDU die Kernkraft nur noch als »Brückentechnologie« sehe und der Ersatz wegen der unerwartet schnellen Entwicklung erneuerbarer Energien viel schneller erfolgen könne als noch in den neunziger Jahren gedacht, als sie Umweltministerin war.59

All das galt nach Fukushima nicht mehr. Den Atomausstieg im März 2011 setzte Merkel auch gegen anfänglichen Widerstand aus der eigenen Partei durch. Nebenbei räumte Merkel mit ihrer Positionsänderung noch ein wohl entscheidendes Hindernis für ein eventuelles schwarz-grünes Bündnis auf Bundesebene beiseite. Geschadet hat ihr die Kehrtwende übrigens politisch nicht: Im Gegenteil glauben Meinungsforscher sogar, dass sie davon bei der Wahl 2013 profitiert hat.

Ausdauer     »Was sie in der Lage ist auszuhalten, psychisch wie physisch – da reichen nur ganz wenige ran«, sagte der frühere Wirtschaftsminister Michael Glos schon 2012 im Cicero. Merkel ist berüchtigt für ihre Ausdauer etwa in den Brüsseler Nachtsitzungen auf EU-Gipfeln – auf denen sie Detailkenntnisse auch noch zu Zeiten präsentieren kann, wenn Kollegen wie der frühere italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi (s. Berlusconi) bereits friedlich vor sich hinschlummerten. Sie kann gerade im Jahr 2015 auf rekordverdächtige Verhandlungsnächte hinweisen: Je 17 Stunden dauerten sowohl die Ukraine-Gespräche im weißrussischen Minsk im Februar 2015 als auch im Juli in Brüssel das harte Ringen um eine Griechenland-Rettung in der Euro-Zone. »Ich bin zäh«, sagte sie selbst schon 2002.60 Merkel wird in Interviews oder bei Veranstaltungen oft auf ihre Ausdauer ausgesprochen, meist durchaus bewundernd. »Ich würde nicht von ›Erschöpfung‹ sprechen. Sagen wir es einmal so: Ich bin nicht unterausgelastet«, spielte sie am 28. Juli 2016 in ihrer Sommerpressekonferenz in Berlin die Belastung etwa durch die Krisenhäufung herunter. Wenn sie gefragt wird, wie sie ihr tägliches Pensum schaffe, ob sie vielleicht Drogen nehme, sagt sie schon mal ganz trocken – »Pfefferminztee«. (s. Getränke).61

Auslandsreisen     (s. Fliegen) Innerhalb der mehr als zehn Jahre Amtszeit als Kanzlerin hat Merkel mehr als 75 Länder besucht.62 Dabei gibt es immer bestimmte Reise-Zyklen, die etwa von innenpolitischen Wahlen abhängig sind. Anfang 2016 führte dies beispielsweise wegen der Landtagswahlen im März dazu, dass sie bis auf die EU-Gipfel in Brüssel keine großen Reisen unternahm. Auch auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise war Merkel zurückhaltend bei Flügen mit großer Distanz, weil immer wieder kurzfristig Sondergipfel der EU oder der Eurozone angesetzt wurden. Wegen solcher Sondertreffen in Brüssel hatte sie etwa zweimal eine lange geplante Indien-Reise absagen müssen, was hinter den Kulissen zu diplomatischen Spannungen führte. Gerade aufstrebende Weltmächte wie Indien haben nicht immer großes Verständnis für die andauernde Beschäftigung der Europäer mit sich selbst. Ihr am häufigsten angeflogenes Ziel ist wegen der EU-Räte die belgische und europäische Hauptstadt Brüssel. Auch mit den jährlich rotierenden G7- und G20-Treffen gibt es feste Reisetermine. Die von Merkel stark ausgeweiteten bilateralen Regierungskonsultationen zu einer Reihe von Staaten erhöhten ebenfalls die Zahl der Auslandsflüge. Zu den sehr regelmäßigen Zielen gehört etwa China, das Merkel einmal im Jahr zu besuchen versucht. Die Reisen in die USA sind unregelmäßiger, die nach Russland seit der Ukraine-Krise selten. Auf der Besuchsliste weit oben steht dagegen der engste europäische Partner Frankreich (s. Frankreich). Merkels Auslandsreisen sind berüchtigt für ihre Kürze – es kann auch schon mal für nicht einmal 24 Stunden Aufenthalt nach Chile gehen.

Aussehen     (s. Kleidung) Bemerkungen zu ihrem Aussehen haben die Politikerin Merkel früher eher genervt. »Besonders empört mich, dass man Politiker, die ein bisschen Ordnung im Lande herstellen sollen, so idiotisch nach äußerlichen Kriterien beurteilt. Es ist doch völlig irrelevant, ob ich Lippenstift trage oder nicht«, kritisierte sie 1992.63 1998 war sie als CDU-Generalsekretärin noch nicht viel lockerer: »Dieses ewige, schablonenhafte Gerede über mich! Die halbe deutsche Presse fühlt sich ja unentwegt aufgefordert, meinen Haarschnitt zu begutachten und darüber ihre Mätzchen abzugeben«, klagte sie.64

Schrittweise passte sie dann ihren Stil doch an das an, was Medien als Mainstream empfanden – so dass sich das gelegentliche Interesse an ihrem Aussehen auf Ketten (s. Ketten) oder Blazer (s. Blazer) konzentrierte. Mittlerweile scheint sich Merkel an die Aufmerksamkeit für Äußerlichkeiten gewöhnt zu haben. Sie geht selbstironisch mit dem Thema um. »Die deutsche Kosmetikindustrie ist eben einigermaßen in Ordnung«, witzelte sie trocken auf ein Lob, dass sie »unfassbar frisch« aussehe.65

Außenpolitik     Die Außenpolitik – genauer: die Außen- und Europapolitik – nimmt einen großen Anteil in der Arbeit und auch im Denken Merkels ein. Dies liegt an der Vielzahl der Krisen in ihrer Amtszeit seit 2005, aber Merkel begeistert sich auch für diese Themen. Deutschland habe sie mittlerweile verstanden. »Aber die Welt zu verstehen – Stichwort Globalisierung – und zu wissen, wo die Politik eingreifen und mit wem sie zusammenarbeiten kann und muss, um etwas zu erreichen – das ist eine Aufgabe, an der ich immer weiterarbeite«, beschrieb sie 2013 ihre Einstellung.66

Auch wenn es schwer ist, Prozentzahlen anzugeben: In den vergangenen Jahren machte dieses Feld mit der Finanz-, Schulden-, Griechenland-, Syrien-, Ukraine- und Flüchtlingskrise sicher weit mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit aus. Eigentlich gibt es in den mehr als zehn Jahren Kanzlerschaft keine Veränderung: Von Anfang an reiste Merkel viel, bedingt schon durch die vielen nötigen Antrittsbesuche einer neuen Kanzlerin. Und von Anfang an ärgerte sie sich, wenn ihr deshalb sogar vom Koalitionspartner eine »Politik der roten Teppiche«. (s. Rote Teppiche) oder eine Vernachlässigung der Innenpolitik vorgeworfen wurde. Ironische Überschriften wie »Blitzbesuch in Deutschland« wurmten sie schon im Jahr 2007. Eigentlich hat Merkel immer das Gefühl, als Kanzlerin eines immer stärker international geforderten Deutschlands nicht genug im Ausland präsent sein zu können. Diesen Eindruck vermittelt ihr auch die Wirtschaft, weil Kanzlerinnen-Visiten eine wichtige Türöffner-Funktion für deutsche Unternehmen im Ausland haben.

Diese starke Beschäftigung mit der Außenpolitik führt durchaus gelegentlich zu Spannungen mit den Fachministern – vor allem mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier (s. Steinmeier). Dennoch bildeten und bilden Merkel und Steinmeier gleichzeitig nach Meinung der meisten Beobachter ein eingespieltes Team, beide haben einen pragmatischen Politikansatz. Über Kreuz lagen beide etwa in der Einschätzung Syriens in der ersten Legislaturperiode (s. Syrien).

Ihr eigenes außenpolitisches Koordinatensystem hat Merkel bereits 2005 mit ins Amt gebracht und seither weitgehend beibehalten. Es hat drei Pfeiler: für Europa und die EU-Integration sowie die transatlantische Partnerschaft einzustehen und sich um die Sicherheit Israels zu sorgen.67 Als Nachfolgerin Schröders betonte Merkel vor allem den Begriff einer ›werteorientierten Außenpolitik‹, muss allerdings denselben Spagat zwischen Interessen- und Wertepolitik absolvieren wie alle Vorgänger. Auch Merkel steht in der Kontinuität klassischer deutscher Außenpolitik, selbst wenn sich die Akzente gerade am Anfang mit Russland und China verschoben. »Je weiter man sich vom Getümmel im Berliner Regierungsviertel entfernt, umso geringer erscheint beispielsweise der vieldiskutierte Gegensatz zwischen Merkel und Steinmeier in der Russlandpolitik«, schrieb schon 2008 ein Schweizer Beobachter.68

Merkel sieht eine multipolare und multilaterale Welt heraufziehen, in der kein Land mehr isoliert irgendwelche größeren Probleme lösen kann. Deshalb hat sie immer wieder sowohl amerikanische Alleingänge, russische Aggressivität oder zu nationales chinesisches Denken kritisiert. Ihr globales Denken wurde schon in den Klimaschutzverhandlungen in ihrer Amtszeit als Umweltministerin von 1994 bis 1998 geprägt (s. Globalisierung). Sie sieht Außenpolitik in engem Zusammenhang mit Entwicklungshilfe und wirtschaftlicher Zusammenarbeit, die die Entwicklungen in anderen Regionen vorantreiben und damit Stabilität bringen können. Neben dem Kampf gegen Klimawandel, für eine internationale Finanzordnung, dem Widerstand gegen einen Staatenzerfall und terroristische Gruppen sieht Merkel vor allem auch eine gemeinsame Fluchtursachenbekämpfung als Aufgaben der heutigen Außenpolitik. Sie dringt darauf, dass sich Deutschland darauf einstellen müsse, manchmal den Einsatz auch von Militär mitzudenken. Sie weitet Auslandseinsätze wie ihre Vorgänger aber wegen der großen öffentlichen Skepsis in Deutschland und der jeweils nötigen Parlamentszustimmung nur behutsam aus (s. Militär).

Der Kontrast zwischen der Kritik an ihr in Deutschland und Merkels Stellung weltweit ist besonders groß: US-Präsident Barack Obama (s. Obama) und Papst Franziskus (s. Papst) haben ihre Flüchtlingspolitik öffentlich unterstützt. Sie wird aber auch von den Regierungen der Mächte von morgen, also China und Indien, sowie von den Golfstaaten bis Brasilien als Garant für den Zusammenhalt Europas gesehen. Merkel gilt zunehmend als die Person, die Europa nach außen vertritt – was die Vehemenz ihrer Position in der Flüchtlingsfrage erklärt. Selbst bei autoritären Präsidenten wie Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan genießt Merkel nach Angaben von Diplomaten trotz aller Meinungsverschiedenheiten erheblichen Respekt – übrigens schon deshalb, weil sie sich in einer freien Demokratie so lange an der Macht gehalten hat.

Um im Bild des früheren US-Außenministers Henry Kissinger zu bleiben: Die entscheidende Telefonnummer für Absprachen mit der EU sehen viele Regierungen heute in Berlin. Merkel hat sich lange gegen eine solche Rolle gewehrt und auf eine aktivere Politik etwa der EU-Institutionen gepocht. In den Ukraine-Verhandlungen oder den Gesprächen mit der Türkei in der Flüchtlingsfrage hat sie die Aufgabe aber notgedrungen angenommen. Der frühere österreichische Bundeskanzler Werner Faymann beschrieb ihre Position auf den EU-Gipfeln im Kreis der 28 Staats- und Regierungschefs einmal wie folgt: »Bei vielen Wortmeldungen werden Unterhaltungen einfach fortgesetzt. Wenn Merkel spricht, ist es still. Alle hören zu.«

Aussitzen     Eigentlich heißt dieser Vorwurf bei Merkel ›Zaudern‹ (s. Zaudern), während der Ausdruck ›Aussitzen‹ für den Politikstil Helmut Kohls geprägt wurde. Merkel hat von Freund und Feind gleichermaßen den Vorwurf erhalten, sie lasse Dinge zu lange treiben. Für die Opposition ist es schon traditionelle Übung, sehr schnell immer wieder nach dem »Machtwort« der Kanzlerin zu rufen – das oft nicht kommt. »Ich habe bei Helmut Kohl gelernt, dass es besser ist, nicht immer schon am Anfang zu entscheiden und ›basta‹ zu rufen«, erklärte sie dies. Man müsse den richtigen Zeitpunkt für eine Entscheidung finden.69 Tatsächlich aber hat die Kanzlerin nie in Abrede gestellt, dass sie oft rasche Festlegungen scheut. Sie hat sogar offene Bewunderung für ihren Vorgänger Gerhard Schröder und dessen teilweise instinkthaft schnellen Entscheidungen geäußert.

Wie ihr politischer Ziehvater Kohl empfindet sie den Vorwurf des Aussitzens als eher unerheblich. Dahinter steht die Erfahrung, dass in der Politik zumindest ein Teil der Probleme entweder wieder von alleine verschwindet, andere Akteure sie lösen oder ein Problem sich nach mehreren Wochen ganz anders darstellt als am Anfang. Merkel beansprucht, komplizierte Themen erst einmal durchdenken zu müssen, bevor sie sich festlegt. Nicht immer seien alle Konsequenzen von Entscheidungen auf den ersten Blick ersichtlich.

2015 etwa galt dies angesichts der wichtigeren Rolle Deutschlands in der EU noch mehr als früher: Legt sich die deutsche Kanzlerin etwa in europapolitischen Fragen frühzeitig fest, hat dies weitreichende Folgen nicht nur für sie. Es gibt also gerade in der EU- und Euro-Politik einen Widerspruch zwischen der Erwartungshaltung, dass der größte Staat sagen soll, wo es lang geht, und der Tatsache, dass dies dann schnell Vorwürfe in Richtung ›Dominanz‹ auslöst. Sich selbst und auch Deutschland sieht Merkel zudem sehr oft in der Rolle eines Mittlers, von dem erwartet wird, dass er am Ende eine Lösung herbeiführt. Dazu gehört aber, erst die Meinungen der Partner aufzunehmen, bevor man sich selbst positioniert.

»Manchmal vermisse ich Tiefgründigkeit in der Beratung von Themen«, beklagte sie. Angesichts der um sich greifenden Kurzatmigkeit freue sie sich, dass es noch Menschen gebe, »die stolz darauf sind, sich mal zwei Tage mit einem Thema zu beschäftigen. Es ist eine Fiktion, dass man auf jede Frage, die in der Welt aufkommt, sofort eine Antwort hat. Manchmal muss man einfach nachdenken, diskutieren, Fachleute befragen.«70 In ihrer dritten Amtszeit ist dieser Vorwurf des Aussitzens aber seltener erhoben worden, auch weil sie etwa in der Flüchtlingskrise schnell markante Zeichen gesetzt hatte (s. Flüchtlinge, Härte).

Der Ausdruck ›Aussitzen‹ bekommt bei Merkel aber mittlerweile noch eine andere Bedeutung: Längst hat sie in der EU alle anderen Regierungschefs politisch überlebt. Auf internationaler Bühne sieht dies nicht viel anders aus.

Austerität     In vielen Ländern Europas wird mit dem Namen Merkel das Wort Austerität verbunden, meist mit einer negativen Bedeutung. Mit dem Begriff ist eine Politik gemeint, die darauf setzt, Haushaltsdefizite vor allem durch Einschnitte bei Sozialleistungen und Subventionen abzubauen. Merkel ärgert es, dass ihr dieses Wort quasi als Kampfbegriff angehängt wurde, um den Ansatz der deutschen Haushaltspolitik für die EU zu diskreditieren. Das Wort sei erst im Zusammenhang mit dem griechischen Defizit aufgekommen. »Bis dahin hieß das ›Sparen‹ oder ›Konsolidieren‹ oder ›ausgeglichene Haushalte‹, und jetzt heißt es Austerität. Das hört sich ja schon so richtig wie etwas Böses an«, kritisierte sie. Dabei gehe es bei Austerität keineswegs darum, Schulden zurückzuzahlen. »Austerität bedeutet, nicht neun Prozent Schulden zu machen, sondern fünf oder sechs Prozent.« Sie sei keineswegs die Frau, die nur aufs Sparen poche. Aber wenn die EU-Staaten bereits überschuldet seien und zusammen trotzdem mehr als sieben Millionen jugendliche Arbeitslose hätten, sollte man zumindest überlegen, was man anders machen müsse.71 Die Verschuldung sei in einigen Ländern schlicht so hoch gewesen, dass Investoren das Vertrauen verlören, keine Staatsanleihen mehr kauften, die Zinssätze stiegen und dies auch die Kredite für Unternehmen verteuert habe, erklärte sie. Gleichzeitig lockerte aber auch die Bundesregierung etwas ihre harte Haltung und stimmte 2013 mehr öffentlichen Hilfen etwa für den Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit zu. Denn zum einen erlaubte das zurückgekehrte Vertrauen der Investoren in die Euro-Zone wieder mehr Spielraum. Zum anderen drohten immer mehr der reformfreudigen EU-Regierungen angesichts der hohen Arbeitslosenzahlen zu stürzen. »Es gibt für mich keinen Gegensatz zwischen einem soliden Haushalt und Wachstum«, beteuerte Merkel.72

Auto     Angela Merkel kann Auto fahren, auch wenn man sie nie dabei sieht. Darauf verwies Merkel im September 2013 mit etwas Nostalgie in der Stimme. »Das traue ich mich nur noch auf Waldwegen – wenn überhaupt«, sagte sie. »Allein die Angst, was öffentlich los ist, wenn was passieren sollte, hält mich davon ab.« Vor allem ihre Sicherheitsbeamten seien ihr dankbar für so viel Einsicht.73 Am Fahrstil selbst liege es aber nicht. Merkel hat frühzeitig darauf verwiesen, dass sie eine vorsichtige Fahrerin sei und keine Punkte in Flensburg habe.74