Das Ministerium für Sprichwörter - Otto Grünmandl - E-Book

Das Ministerium für Sprichwörter E-Book

Otto Grünmandl

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Beschreibung

BELIEBTER SATIRIKER, SCHAUSPIELER – UND BEGNADETER ROMANCIER: Otto Grünmandl. Otto Grünmandl – das "Einmanngesamtkunstwerk" Mit der legendären Radiosendung "Alpenländische Interviews" gelang dem Kabarettisten, Schauspieler und Drehbuchautor Otto Grünmandl in den 1970er-Jahren der Durchbruch. Als Schauspieler war er u. a. an der Seite von Gerhard Polt zu sehen und wirkte in Filmen von Michael Haneke mit. Zusammen mit Kurt Weinzierl, Dietmar Schönherr und Josef Kuderna war er Mitbegründer der Tiroler Volksschauspiele. In seinen Programmen und Hörspielen machte Otto Grünmandl das Absurde der menschlichen Existenz sichtbar. Zeitlebens wirkte er aber auch als Schriftsteller. Die Werkausgabe Otto Grünmandl ist ein Tummelplatz für seine bisher unveröffentlichten oder lang vergriffenen Schmuckstücke. Ein wunderbar absurd-komischer Blick hinter die Kulissen der Bürokratie Band 2 versammelt Grünmandls Romane "Das Ministerium für Sprichwörter", "Pizarrini" und "Es leuchtet die Ferne": Darin erzählt zum Beispiel der Hilfsarchivar des geheimen Ministeriums für Sprichwörter von wie Espenlaub zitternden Formularen, von der gefürchteten Staubabteilung, von Tauschgeschäften, Kreuzworträtseln und dem unergründlichen Schlaf des Personalchefs. Ein weiterer Held Grünmandls ist Pizarrini, ein Buchhalter aus innerer Berufung, der das Ordnunghalten der Ordnung halber liebt, dessen Alltag jedoch langsam, aber sicher dem unausweichlichen Verderben entgegenschlittert. Und schließlich gibt es da auch noch den Tiroler Kleinbürger Krambacher, der seine Reiseerlebnisse voller unfreiwilliger Komik wiedergibt. Otto Grünmandl nimmt in seinen Romanen eine bürokratisierte Beamtenwelt und ihre Sprache aufs Korn, glänzt mit sprachspielerischer Begabung, seinem sicheren Gespür für feine Ironie, pointierte Satire und Gesellschaftskritik. Der Band erscheint mit einem Essay von Erich Klein. *********************************** Bisher in der Werkausgabe Otto Grünmandl erschienen: Ein Gefangener. Werkeausgabe Band 1. Kurzprosa und Gedichte ***********************************

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Otto Grünmandl

Das Ministerium für Sprichwörter

Werkausgabe Band 2

Romane

Herausgegeben von Maria Piok und Ulrike Tanzer Mit einem Vorwort von Erich Klein

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Vorwort
Pizarrini
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
Podestas Erzählung
1
5. Kapitel
Podestas Erzählung
2
6. Kapitel
Podestas Erzählung
3
7. Kapitel
Podestas Erzählung
4
8. Kapitel
Podestas Erzählung
5
9. Kapitel
Podestas Erzählung
6
10. Kapitel
Podestas Erzählung
7
11. Kapitel
Podestas Erzählung
8
12. Kapitel
Podestas Erzählung
9
13. Kapitel
Podestas Erzählung
10
14. Kapitel
Podestas Erzählung
11
15. Kapitel
Podestas Erzählung
12
16. Kapitel
Podestas Erzählung
13
17. Kapitel
Podestas Erzählung
14
18. Kapitel
Podestas Erzählung
15
19. Kapitel
Podestas Erzählung
16
20. Kapitel
Podestas Erzählung
17
21. Kapitel
Podestas Erzählung
18
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
Das Ministerium für Sprichwörter
Vorwort
1. Kapitel
erste berufswünsche – was hänschen nicht lernt, lernt hans nimmermehr – eine bereits zu grabe getragene hoffnung erfüllt sich – der ägyptische graf – pünktlichkeit ist die höflichkeit der könige – seine exzellenz, der herr minister, ist soeben hinausgegangen.
2. Kapitel
ein Formular zittert wie Espenlaub – welt im kleinen – ein scheit allein brennt nicht, womit freilich ursprünglich ein ander ding gemeint war – das recht auf nahrung ist ein elementares – was heisst noigiler? – was ich nicht weiss, macht mich nicht heiss – tag und nacht sind zwei jahr’ – ich flitzte zum tor hinaus, ihm das verlangte zu holen.
3. Kapitel
die stiege der hilfsarchivare – wann ist ein geschenk ein geschenk – die historische hausforschungsabteilung – erste begegnung mit pichelbauer – wichtige punkte einer bedeutsamen physiognomie – seien sie still – tun zwei das gleiche – ich zeige ihnen die staubabteilung.
4. Kapitel
staub ist nicht gleich staub – keine angst, ich werde dir keine kriegsgeschichten erzählen – manchmal verschieben sich die dinge – das grosse einmaleins – der dreck schwimmt oben – gegensätze ziehen sich an – wann verstaubt eine sache – eine klare angelegenheit.
5. Kapitel
des Personalchefs unergründlicher schlaf – pichelbauers seltsames benehmen – gleichsam die grenze zur stille – spione, denunzianten, konfidenten – den seinen gibt’s der herr im schlaf – tauschgeschäfte, bildend wie kreuzworträtsel – noch einmal, tauschgeschäfte – vollgestopft mit weisheit – fäuste.
6. Kapitel
schlafen und wachen – ich werde in den konverterraum versetzt – begleitumstände – ein grausiger fund – dr. pellenschneider – ich versuche, mir ein bild zu machen – instruktion – ich habe angst und will schreien.
7. Kapitel
ein assyrischer doppelsarg – die Konvertibilität – aufzug nach unten – im weitwinkelobjektiv – wer anderen eine grube gräbt, fällt selbst hinein – imitatoren – ein unentbehrliches instrument – alles in allen ist alles in allen nicht alles in allen.
8. Kapitel
geschwätz – mauerfrass, waschwasser, kernseife – kaskaden von grün – man hört verschiedenes – wenn sie weiterkommen wollen, müssen sie sich zusammennehmen – konverterkrankheit – köter und köder – mit eines fremden mannes arsch ist gut durchs feuer fahren – danke.
9. Kapitel
wie es sein könnte – wir führten lange selbstgespräche – letzte grüsse – eine reiterstatue – ich blieb stehen – drei büglerinnen – eine clownsvisage – trommelwirbel im zirkus – ein zeichen meines einverständnisses – ein leiser, kaum hörbarer ton erschütterte die luft – endgültig und für immer.
10. Kapitel
wie du mir, so ich dir – ein fall von insubordination – daraufhin schaute mich pichelbauer verwundert an – ausserhalb der hierarchie – ich tastete mich weiter – ein kinderfaustgrosser schlüsselknauf – was wollen sie – ein misslungener versuch.
11. Kapitel
fritz jahn, hauptreferent der formalistischen kanzlei – partie i – partie ii – partie iii – partie iv – ein nachdenklich gewordener abonnent – ein genau ausgeklügeltes system – verschiedene geldgeber – möglichkeiten – aus den augen, aus dem sinn – ein leerer platz.
12. Kapitel
Schubladen – ärger mit dem portier – schwierigkeiten – existenz und existieren sind zweierlei – rossmistgasse 55 – wiederbegegnung mit fritz jahn – das meinte ich nicht – ich habe immer auf form gehalten – schwarze schattenstriche – wasser.
13. Kapitel
ich pfiff – ich verstummte – vormachen – der vater war diplomat, die mutter mathematikprofessorin – sie redeten und redeten – na, endlich – ich verlegte meine tätigkeit von der linken bartspitze auf die rechte – subaltern – aber ich wusste es besser.
14. Kapitel
die dicke anna – ein verwirrendes bild – stete werbung erhöht den umsatz – post nubila phoebus – die saeculorum revue – ein der unterhaltungsindustrie abgeworbener showmaster – genau – ohne punkt und ohne höhepunkt – weder spiegel noch metallbeschläge.
15. Kapitel
man – kein einfacher fall – Sicherheit gibt vergnügen – kundschaft, die einem ans leben will – man ist ein fall von tarnung.
16. Kapitel
symbolische figuren – ich musste mich wehren – eine wüste litanei – elektro-grosshandel – er war jedoch kein oberförster – felizitas – ein scheit allein brennt nicht – schweinigelbücheln – na na na naaa – isoliermaterial – ich hatte jetzt andere sorgen.
17. Kapitel
regie franÇaise tabakmayonnaise – egal ist ein feines sprichwort – ein indiz – aussenstellen – sekretierte exposituren – eine eigene tradition – stationen meiner wanderung – ein tückisches unglück – da kam mir eine idee – plagiatoren.
18. Kapitel
die Stimmung war prächtig und die unterhaltung grandios – terzette, quartette und quintette – eine irische gräfin – eine hawaiianische prinzessin – missbilligende blicke von links und rechts – ein chaotisches schauspiel – stille einsamkeit einer verlassenen waldklause – ägyptische finsternis.
19. Kapitel
eine alte, ausgegrabene ratte – die aufzeichnungen hatte ich verlegt – kreuz und quer verlaufende falten und runzeln – desolate verhältnisse – kleine, gestanzte blechplättchen – ab und zu ein falscher zungenschlag – erinnerung – sein zorn steckte mich an.
20. Kapitel
geimpft – schönfärberische Umschreibungen – die letzte karte – eine ehrende aufgabe – vollbusige damen in grosser abendrobe – vielleicht ein fall von gleichzeitigkeit – an kirchenschiffe gemahnende gewölbe – es läuft aus – eine hochgestellte persönlichkeit – den spund zu, sage ich, den spund zu – ein grotesk geformtes lot – aufgehört, ein fall von gleichzeitigkeit zu sein.
21. Kapitel
mir war, als häutete ich mich – Einbildung oder erinnerung – es bereitete sich vor – elsengfrettner – die grundmiete des erkerzimmers – cherchez la femme – blech gegen blech – immer den goldenen mittelweg gehen – weisser schaum – träume sind schäume – tätowierungen – der spiegel im spiegel vereint, was das leben trennt – eine handvoll mehl – geheim heisst geheim heisst …? – wie du mir, so ich dir.
„Es leuchtet die Ferne …“
Ein satirischer Reisebericht
1. Frau Hofrat bekommt einen Brief
2. Wer oder was ist ein Ekel
3. Wie nebenbei ein Seitenhieb auf Resi
4. Warum werden Briefe geschrieben
5. Liebe Tante Frieda,
6. Besitzwechsel
7. Aus Singapur wird eine Bestellung von 10 Paar Krainer Würsteln aufgegeben
8. Erinnerung stört die bestehende Ordnung
9. Schnapsen und 27 000 Feet, darunter der Indische Ozean
10. Ein glücklicher Mensch
11. Sorgen um Tante Frieda
12. Steckbriefe und der Mann auf der Straße
13. Wo sind die Koffer?
14. Antipoden und Antipodex
Anmerkungen zur Edition
Anmerkungen
Otto Grünmandl
Zum Autor
Impressum
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Vorwort

„Die Literatur kann hier noch das leisten, was man ihr anderswo schon abgesprochen hat.“

Alfred Kolleritsch, manuskripte 29/39, 1970

Kabarettist, Humorist, Absurdist oder einfach ein Tiroler Original – wie unzulänglich derartige Zuschreibungen im Fall von Otto Grünmandl sind, brachte dieser selbst mit seiner legendärsten Erfindung am besten zum Ausdruck. Einmannstammtisch – das bedeutet wohl, dass sich Grünmandl zwischen allen Genres eingerichtet hatte. Dass es sich beim großen Solitär aus Hall, der seit geraumer Zeit als Autor nur noch einem kleinen Kreis von Verehrern bekannt war, darüber hinaus um einen der originellsten und bedeutendsten österreichischen Schriftsteller der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts handelt, wurde erst jüngst mit dem ersten einer auf mehrere Bände angelegten Werkausgabe in Erinnerung gerufen. Vom Rätsel oder einem Fall Grünmandl zu sprechen, scheint in diesem Zusammenhang nicht übertrieben zu sein, jedenfalls solange es keine Biographie des Kabarettisten und Autors gibt. Und selbst dann werden vermutlich weniger einfache Antworten als zahlreiche Fragen zu dessen Werk zu stellen sein: Waren Grünmandls Gedichte aus den Fünfzigerjahren zu sehr Avantgarde, noch nicht oder nicht mehr Lyrik, wie man sie bislang kannte? Bewegte sich sein fulminantes Romandebüt Ein Gefangener aus 1956 noch allzu nahe am Schrecken des Dritten Reiches, um als österreichische Spielart der Trümmerliteratur eine adäquate Rezeption bei Publikum und in der Literaturgeschichte zu erfahren? Oder wurde der Schriftsteller Grünmandl, der als Zwangsarbeiter den Terror des Dritten Reiches am eigenen Leib erfahren hatte und sich schreibend wie wenige an die Maxime „Keine neue Welt ohne neue Sprache“ hielt, schlicht ob der geografischen Distanz zu Wiens literarischen Netzwerken ignoriert? War der Autor, der weder ästhetisch noch kulturpolitisch in die Schubladen der Nachkriegszeit passte, zuerst zu wenig rechts und später zu wenig links? Als Meister des Understatements kam Otto Grünmandl jedenfalls immer ohne pompöse Formeln aus – ein knappes Selbstporträt (aus den Siebzigerjahren) geriet in Bezug auf den Einbruch der Nazi-Barbarei in die Idylle der Vorkriegszeit, die ohnehin keine mehr gewesen war, höchst lakonisch: „Inzwischen schrieb man 1938. Es war ein böses Jahr, und die Jahre, die ihm folgten, waren noch schlimmer. Am Beispiel meines Vaters lernte ich in dieser Zeit die Würde eines geächteten Mannes kennen und an dem meiner Mutter die Tapferkeit einer ängstlichen Frau. Nach dem Krieg wurde ich Kaufmann. Ich heiratete. Ich wurde Vater.“ Dass er selbst Opfer der Nazis geworden war, blieb dabei ebenso unerwähnt, wie der Mitte der Fünfzigerjahre entstandene und 2008 posthum erschienene Roman Pizarrini, der auch den Auftakt des nunmehr vorliegenden zweiten Bandes der Werkausgabe darstellt. Mit den jeweils im Abstand von fünfzehn Jahren entstandenen Büchern Das Ministerium für Sprichwörter (1970) und Es leuchtete die Ferne … (1985) reihte sich der Tiroler Kafka-Nachfahre in den Strom jener europäischer literarischer Moderne ein, für die heute Namen wie Daniil Charms, Samuel Beckett oder Raymond Queneau stehen.

Auf die Entscheidung seines Verlegers, den schon in Druckfahnen vorhandenen zweiten Roman Pizarrini (damals noch unter dem Titel Buchhalter) nicht zu drucken, reagierte der knapp über Dreißigjährige Grünmandl sarkastisch: „Der Buchhalter wurde nun doch abgelehnt, was mich weiter nicht wundert, das Gegenteil hätte bzw. hat mich mehr gewundert.“ Pizarrini ist ein Kraftakt an literarischer Verwegenheit, voll überschießender Einfälle und Wortspiele – dessen eigentliche Aufgabe bestand für Grünmandl (wie er später sagte) in der „Objektivierung der eigenen Biografie im Schreiben“. Wie sehr ihm das mit der Figur des bleichen, fetten jungen Manns namens Pizarrini gelang, der in der Eröffnung durch ein überfülltes Textilgeschäft huscht, sogleich hinter einem Vorhang verschwindet, den merkwürdigen Laut „Bäh“ von sich gibt und wie jeden Tag Punkt zehn Uhr vormittags in eine Käsesemmel beißt, ist dabei nicht von entscheidender Bedeutung. Wichtiger ist das tobende Chaos, das Grünmandl um seinen „Buchhalter aus Überzeugung“, einen Kommis aus der großen Familie grotesker kleiner Figuren von Gogol über Melville bis zu Robert Walser arrangiert. Der Sidestep ins lokale Bordell schlägt zwar fehl, Pizarrinis anschließendes Abendessen mit dem ominösen Direktor der „Interkontinentalen Speisewagen AG“ und Assistenten entwickelt sich aber zur umso opulenteren Apokalypse des Zeitgeistes. Vermutlich wurden in keinem zweiten Buch derart viel Wirtschaft und Werbung, technische Utopien, Scharlatanerien sowie Politik der Fünfzigerjahre auf derart minimalem Raum literarisch zerredet wie in Pizarrini. Grünmandl schuf mit besagter „Interkontinentaler Speisewagen AG“ nicht nur den Prototyp jener skurrilen Institutionen, die in den späteren Alpenländischen Interviews maßgeblich zu seinem Erfolg beitrugen; zur Kenntlichkeit wird auch die Technikgläubigkeit jener Jahre entstellt, wenn die Experten des Stammtisches von einem „Homorobot“ und dessen universeller Verwendbarkeit bei Militär, Wirtschaft und als „Sexrobot“ in Vergnügungs- und Lustindustrie schwadronieren. Damit könne endlich die Verwirklichung der wahren Freiheit des Individuums erfolgen. Selbstredend fällt auch ein Seitenhieb auf das Sittenleben im Heilige Land Tirol ab: „Keine Religion der Erde, dies war sein Hauptargument, kennen den Begriff eines sündhaften Umganges mit Maschinen.“ Wenn unter Begleitung entsprechender Mengen an Schnaps die ganz großen Dinge des Lebens und der Weltlage zwischen Ost und West abgehandelt werden, darf bei Grünmandl natürlich auch die Kunst nicht ungeschoren davonkommen. Der Erzähler nähert sich der Frage – es geht noch immer um die Finanzprobleme besagter „Interkontinentaler Speisewagen AG“ – auf kulinarischem Wege und geradezu hinterfotzige Weise: „Nicht nur in der Malerei, auch in der Kochkunst haben wir die Mitte verloren.“ Die Formulierung war kein Zufall und bezog sich unmissverständlich auf Hans Sedlmayrs Buch Verlust der Mitte, eine in jenen Jahren äußerst populäre, vielfach diskutierte und höchst konservative kunsttheoretische Schrift, die in aller modernen Kunst den Untergang des Abendlandes witterte. „Oh Abendland, seufzte er vor sich hin, was für Menschen dirigieren diese Speisewagen“, wird es dann heißen, wenn die Erzählung samt Erzähler und einer „Neunerpackung Katzen“, deren Bedeutung an dieser Stelle nicht verraten sei, in den Abgrund stürzt. Dass sich die fragile, stellenweise fragmentierte Erzählung am Ende als Schwindel und Traum herausstellt, sollte die heutige Leserin jedenfalls nicht daran hindern, Pizarrini als ein Grundbuch der österreichischen Nachkriegsliteratur zu verstehen, für das Verständnis jener Zeit ebenso wichtig wie Ingeborg Bachmanns Unter Mördern und Irren.

Als sich Otto Grünmandl fünfzehn Jahre später um das Jahr 1970 endgültig entschieden hatte, Schriftsteller zu sein, trat er einen Posten beim ORF an – die Bezeichnung der von ihm geleiteten Abteilung klang, als hätte er sie selbst erfunden: Unterhaltung Wort. Grünmandl widmete sich vorwiegend dem damals noch äußerst populären Genre des Hörspiels und verfasste mit Das Ministerium für Sprichwörter, das im renommierten S. Fischer Verlag in prominenter Umgebung erschien, einen maximal modernen Roman, der zugleich ein wenig barock wirkte. Die These sei gewagt: Otto Grünmandl war immer ein Autor, dem es gleichermaßen um modernes reflektiertes Erzählen wie um das Publikum ging, das er keinen Moment aus dem Blick verlor; hermetische Avantgarde-Gesten waren ihm fremd, so kryptisch sich der Meister des Bühnenwortes in seinen Texten auch geben mochte. Am Anfang von Das Ministerium für Sprichwörter wird der Leser noch in die sinistren Vorgänge dieses Roman-Gebäudes eingeweiht: Der Ich-Erzähler, der schon als Kind davon träumte, Kellermeister zu werden, sei instruiert, den Umstand seiner Anstellung wie seinen Namen geheim zu halten; andeutungsweise ist auch die Rede davon, dass er, der frühere Angestellte der Firma Elektro-Graf, nur über Protektion (und gegen den Widerstand seines Vaters) zum vierundvierzigsten Hilfsarchivar jener Institution wurde, deren eigentliche Tätigkeit im weiteren Verlauf im Dunklen bleibt. Seiner Bedeutsamkeit entsprechend ist das „Geheime Ministerium“ in einem verkommenen Palais untergebracht, das ein gewisser Graf Xandl zur Verfügung stellte, dessen größte, quasi programmatische Entdeckung in Erforschung und Darstellung der ägyptischen Finsternis bestand. Über die entsprechende biblische Plage heißt es im Alten Testament: „Mose streckte seine Hand zum Himmel aus und schon breitete sich tiefe Finsternis über das ganze Land Ägypten aus, drei Tage lang. Man konnte einander nicht sehen und sich nicht von der Stelle rühren, drei Tage lang. Wo aber die Israeliten wohnten, blieb es hell.“ Die von Graf Xandls Hand stammende Version der ägyptischen Finsternis, die im Eingangsbereich des Geheimen Ministeriums hängt, ist ein Stück schwarze Leinwand umgeben von einem schweren, prunkvollen Goldrahmen. Wer dabei an die geschwärzte Seite in Lawrence Sternes Tristram Shandy oder das berühmte Schwarze Quadrat von Kazimir Malewitsch denkt, hat den Hinweis auf den Ursprung aller Kunst im reinen Spiel der Abstraktion, von Abschweifung und purer Blödelei richtig verstanden! Es handelt sich um ein zentrales Prinzip der Moderne, das auch für Otto Grünmandl ausreichend Gültigkeit besaß, um es zitierend zu parodieren. Die Figuren des Romans – vom allmächtigen Portier über diverse Mitarbeiter wie Doktor Pellenschneider, seines Zeichens Erfinder der Konvertiermaschine für Sprichwörter, bis zum Minister, der in einem Turnsaal residiert, verfügen allesamt über ein Höchstmaß an groteskem Kolorit, das in eklatantem Widerspruch zur Obskurität ihrer Tätigkeiten steht. Wird in diesem Geheimen Ministerium vielleicht gar nichts getan, wie der Volksmund gerne behauptet? Weit gefehlt! Erste Lektion für jeden regelrecht zu initiierenden Mitarbeiter ist die Erkenntnis, dass Staub nicht bloß Staub ist, sondern jenes ideelle Gut darstellt, das die Existenz aller Gegenstände erst beweist. Eine weitere hausinterne Instruktion lautet: „Wenn ich schlafe, wache ich, wenn ich wache, schlafe ich.“ Grünmandl führt über erzählerische Sackgassen und ironische Irrwege in ein Universum, das sich – horribile dictu – allmählich der Unendlichkeit annähert. Anders sind die „Grabkammer der Sprichwörter“, die so genannte „chinesische Kammer“, in der die „Herstellung der Prädestination durch postdestinative Fixation“ erfolgt, oder die „Geheime Kanzlei“, von der man überhaupt nichts weiß, gar nicht zu verstehen. Dabei wird ein metaphysisches Strohfeuer aus Wörtern entfacht, dem zwar der erzählerische Ernst jener Bibliothek von Babel fehlt, die einst Jorge Luis Borges beschrieb, dem zu entkommen aber längst unmöglich ist. Sprachverlust und Stammeln, das auch auf den Erzähler übergeht, stehen am Ende: „Ein leeres Aufzählen zeitzerfressener Relikte – heute tot und morgen rot war nicht immer schon grünes Licht schwarzer Mohn und einmal ist keinmal und keinmal ist einmal – Reimgeklimper, verstümmelte Sätze, sinnloses Aneinanderreihen von Silben und Buchstaben.“ Grünmandl legt die Grenze der Sprache, die üblicherweise als Grenze der Welt verstanden wird, massiver und handgreiflicher fest: die Menschheit – „Von Sprichwörtern Eingemauerte.“ Wie in Pizarrini erfolgt auch in Das Ministerium für Sprichwörter der Showdown als Explosion. Otto Grünmandl wäre nicht der erste Satiriker, der im Umgang mit der Widersetzlichkeit der Welt zu einem einschlägigen Gegenmittel greift – Destruktivität. Und das Chaos sei willkommen, denn die Ordnung hat versagt, soll schon Karl Kraus gesagt haben.

Eine durchtriebene Form des reflexiven Schreibens als Grundbestand der Moderne zelebriert Grünmandl auch in seinem scheinbar leichtesten und heitersten Buch Es leuchtet die Ferne … (1985). Mag bei Gebildeten unter den Lesern jegliche Gleichsetzung von Autor und Erzählung tabu, ja, geradezu verpönt sein und als Ausdruck von Banausentum gelten – wie alle früheren Protagonisten erinnert auch der Kaufmann Franz Krambacher, Verfasser des satirischen Reiseberichts (so der Untertitel des Buches), an Grünmandl selbst. Genauer gesagt – der Erzähler spielt unter Pseudonym das Spiegelbild des Kabarettisten „Grünmandl“. Krambacher geht nach langgehegtem und immer wieder aufgeschobenem Plan mit Fridolin, Großneffe der Hofratswitwe Frieda und zugleich Patenkind von deren Ehemann Enoch Achter, auf Reisen nach Südostasien. Schon im oberen Inntal bei Landeck fühlt er sich bemüßigt, besagter Witwe und Erbtante, die überdies Kennerin antiker Möbel ist, brieflich Bericht darüber zu erstatten, wie es in der Welt so aussieht. Im Anblick der Landschaft wird über die Doppelbedeutung des Wortes „Ekel“ bramarbasiert, der Bericht über Verwandtschaftsverhältnisse und Familienverhältnisse der beiden Reisenden verdichtet sich zu doderesker Unüberschaubarkeit; ein Schützenverein bekommt sein Fett ab, ein Fußballclub wird gelobt und unverhofft setzt eine Tirade gegen den Wiener Opernball ein: Erholt vom Schock zweier Weltkriege habe sich dieser als „beschwingter Staub aus verkohlten Trümmern“ zu einem „von Protzentum und äffischem Zeremoniell heiter durchwirkten Champagnerzeltfest der mitteleuropäischen Hochbonzokratie“ erhoben. Bösem Scherz und Satire folgt sogleich noch tiefere Bedeutung derart abrupter Zeitsprünge auf dem Fuß: Krambacher, der frühe Globalisierungstourist, bleibt auf seinem Weg nach Singapur und Hongkong mit seinen Betrachtungen zum Aussehen arabischer Ziffern, der Verkostung von Krokodilfleisch und der Erinnerung an Krainerwürste sowie familiäre Intrigen seiner Heimat nicht nur brieflich verbunden. Mit zunehmender Entfernung verstrickt er sich immer tiefer in seine Familiengeschichte – Enoch Achter war seinerzeit nach Dachau verbracht worden. Der Schrecken der Erinnerung ist plötzlich so neu, als wäre es gestern gewesen. Die Vergangenheit, die nicht vergehen will, taucht in allen Romanen Otto Grünmandls vielfach rudimentär und mehr oder weniger verschlüsselt auf – hier wird der düstere Schatten der Nazizeit schließlich mit den Mitteln der Tragikomödie, wie es einst von Charly Chaplin im Großen Diktator oder in Jakobowsky und der Oberst vorgeführt wurde, gebannt. In siebenundzwanzigtausend Fuß über dem Indischen Ozean wird nicht nur geschnapst (inklusive Anmerkung für bundesdeutsche Leser: „*Schnapsen oder 66: in Österreich beliebtes Kartenspiel“), der Erzähler findet auch zur ultimativen Formulierung über Österreichs „Anschluss“ an das Dritte Reich im Jahre 1938, das für den jungen Otto Grünmandl so schicksalhaft gewesen war: „Das Land feierte seinen Untergang.“ Im Hintergrund jedes Karnevals aber lauern Mord und Totschlag. In stratosphärischer Leichtigkeit und mithilfe von sechs Brandys schließt sich zuletzt der Kreis von Leben und Werk zu einem „sensationellen Tatbestand“ des ganzen Lebens: „Ich war doch jetzt eben auf dem Klo gewesen, 27000 feet über dem Indischen Ozean. Hätte ich mir das jemals träumen lassen, als ich damals im Geographieunterricht zum erstenmal von der Existenz des Indischen Ozeans erfuhr?“ Heimkehr ist unvermeidlich, doch löst sich diese wie der satirische Reisebericht unter dem Brummen des Jumbo-Jets in einen Reigen von Kindheitserinnerungen durch Zeiten und Räume auf. Der melancholische trunkene Erzähler schaut als selbstbewusster Autor in die Kamera und beginnt sein Spiel als Einmannkabarettist. Als Schriftsteller kann Otto Grünmandl jetzt endlich wiederentdeckt werden!

Erich Klein

Pizarrini

1. Kapitel

Manchmal, wenn das Geschäft ganz voll war und die Frauen sich an den langen Ladentisch drängten, die Frauen mit den großen, schweren, von Brot und Gemüse überquellenden Einkaufstaschen, und manche mit ihren leeren Netzen und manche nur mit einem kleinen, ledernen Handtäschchen, ein, zwei mit knallroten Lippen, schwarzumrandeten Fingernägeln, frechen Stimmen, und andere schwer und geduldig, und die meisten gehetzt und getrieben zu schnellem Tun, und alle sich an den Ladentisch drängten, an das lange, hellbraune, hölzerne Pult, einen Verkäufer zu kapern, einen Kommis, der sie bedient, der ihnen forthilft, der sie anhört, der ihnen die Ware gibt für ihr Geld. Bunte Ware für ihr graues Geld. Und das lange, hellbraune, hölzerne Pult vollgehäuft war: da mit bunten Schürzendrucken, blauen, roten, dort mit braunen, schwarzen, grauen Wollstoffen und Wäsche, drei, vier Schachteln Unterhosen übereinandergestellt, und einer zeigt Strümpfe, feine, seidene, durchsichtige Strümpfe, und fährt mit gespreizten Fingern durch vollfassonnierte Waden.

Und alle ihre Gesichter zu den Verkäufern auf der anderen Seite des Pults recken, ihre roten, blassen, abgehärmten, frischen, gleichgültigen, zweifelnden, vertrauensvollen Gesichter, und manche riechen angenehm, und andere wieder stinken vom Mund. Und die Stimmen der Verkäufer – eindringlich, beschwörend, kalt, leichthin oder auch nur mit stummen beredten Händen die Waren anpreisend – sich mit den ihren vermischen, und die Luft in dem langen, schmalen Schlauch von einem Geschäft voll und verbraucht war von Reden, Husten, Kichern, Schnaufen, Schreien, Feilschen, Lachen, bösem Gezänk oder gutmütigem Geplänkel.

Manchmal passierte es dann, daß inmitten dieses Gedränges, inmitten dieses Wirrwarrs ausgestreckter, gebender und begehrender Hände, die Tür aufging und ein bleicher, fetter, junger Mann hereinkam, flüchtig-verlegen nach allen Seiten grüßte und mit großen Schritten auf den fahlroten, verwaschenen Samtvorhang zustrebte, der den Laden nach hinten abschloß, ihn zur Seite schlug und dahinter verschwand. Dies ging jedoch immer so schnell vor sich, daß es niemals mehr als nur zwei oder drei Kunden bemerkten. Das allerdings waren dann meistens solche, die noch nicht bedient wurden. Wenn diese dann fragenden Blicks die Verkäufer anschauten oder den an der Kasse thronenden Chef, fragend, warum da ein offensichtlich zum Geschäft Gehöriger – das konnte man leicht an der ganzen Art seines Auftretens feststellen –, warum da also ein solcher eben an ihnen vorbeigegangen war, ohne sie nach ihren Wünschen zu fragen, worauf sie als Kunden wohl rechtens Anspruch hatten, dann wurde ihr Frageblick stereotyp mit dem knappen Satz beantwortet: „Herr Pizarrini macht die Buchhaltung.“

Pizarrini, der bleiche, fette, junge Mann, war immer schon hinter dem Vorhang verschwunden, wenn der Chef oder einer der Verkäufer den aufsteigenden Unwillen der fragenden Kunden mit dieser simplen Erklärung besänftigte. Er hörte es durch den Vorhang hindurch, wie er ja alles durchhörte, hatte aber noch nie beobachten können, wie schnell diese lächerlichen paar Worte alle befriedigten. Sie nickten gewöhnlich ernst mit den Köpfen und blickten mit verhohlenem Respekt auf den schäbigen Vorhang hin, hinter dem sich ein Teil jener geheimnisvollen Maschinerie bewegte, deren seltsamen, nicht ergründbaren Wesenszügen und Gesetzen sie sich ausgeliefert fühlten, seit sie dem Schulalter entwachsen waren. Pizarrini erwiderte, sooft er diesen im Ton einer Generalabsolution gesprochenen Satz hörte, regelmäßig mit einem leisen, gehässigen „Bäh“. Dann – er hörte ihn immer, bevor er sich noch niedergesetzt hatte – ließ er sich auf dem altmodischen Drehstuhl an seinem Schreibtisch nieder und begann zu arbeiten.

Ab und zu blickte er von der Arbeit auf und sah auf den Vorhang hin, durch den von draußen der vielgestaltige Lärm aus dem Verkaufslokal in sein kleines, weißgetünchtes Büro klang.

Der Lärm störte ihn weiter nicht, und auf den Vorhang sah er eigentlich nur deshalb hin, weil er ihm gerade vor seiner kleinen, spitzen Nase hing.

Dieser Vorhang übrigens hatte seine eigene Geschichte. Der Chef erstand ihn, alt und schäbig, bei einer Wohltätigkeitsveranstaltung der „Städtischen Bühnen“. Man lasse sich nicht täuschen. Die „Städtischen Bühnen“ bestanden schon damals nur mehr aus einem Theatersaal, der die meiste Zeit unbenützt blieb und nur einige Male im Jahr an reisende Truppen vermietet wurde. Da diese reisenden Truppen immer nur artistische Darbietungen brachten, entschloß man sich, den solcherart nicht mehr benötigten Bühnenvorhang zu versteigern. Zum Wohle der Stadtarmen, versteht sich, nach Deckung der Unkosten, versteht sich. Der Chef bekam den Vorhang zum Nennpreis, es hatte sich für dieses schwerhandliche Ungetüm, wie leicht vorauszusehen war, auch nicht ein Steigerer gefunden. Er ließ ihn chemisch reinigen, und da er für seine Zwecke viel zu groß war, vierteilte er ihn. Von den so entstandenen vier Vorhängen behielt er einen für sich, zu dem bereits bekannten Zweck, das Büro vom Verkaufsraum abzuschließen. Den zweiten gab er in einem Anfall von Großzügigkeit der Pfarrgemeinde, der er schon seit längerer Zeit seinen Pflichtbeitrag schuldete. Der Pfarrer bestimmte den Vorhang nach kurzer Beratung mit den engeren Mitgliedern des erweiterten Kirchenausschusses als Sakristeivorhang. Den dritten verkaufte er einem Kaffeehaus, wo er vor den Eingang zum Spielzimmer gehängt wurde. Den vierten und letzten schließlich bekam der Leichenbestatter eines Nachbardorfes, der bei Begräbnissen erster Klasse die Särge damit drapierte.

Dies alles war Pizarrini genauestens bekannt, denn der Vorhang wurde als Geschäftsfall behandelt und als solcher mit allem Drum und Dran vom chemischen Reinigen bis zum Einsäumen der Teilvorhänge und deren Weiterveräußerung genauestens gebucht.

Dies alles hätte ihn jedoch noch keineswegs zu jenen Betrachtungen verleiten können, als deren in die Tat umgesetzte Konsequenz das am Ende dieses Kapitels berichtete Abenteuer zu verstehen ist, wäre nicht hinzugekommen, daß er als nächste Buchung die sehr verspätete Zahlung jenes ländlichen Leichenbestatters vorzunehmen gehabt hätte, der den letzten Teil des Vorhangs erstanden hatte. So aber blickte Pizarrini mit kritischem Buchhalterauge von der Kopie der dem Leichenbestatter ausgestellten Quittung langsam auf und richtete seinen Blick erneut auf den verwaschenen Stoff hin; damit nahmen die Betrachtungen und im weiteren auch die Dinge ihren Lauf.

Daß dieser Mann, der Leichenbestatter nämlich, der doch bestimmt ein sehr sicheres, umsatzmäßig leicht voraussehbares Geschäft betrieb, daß ausgerechnet der sich erst nach einer dritten, zwar korrekten, aber doch sehr scharf gehaltenen Mahnung herbeiließ, die längst fällige Schuld zu begleichen, das ärgerte Pizarrini, ja erbitterte ihn geradezu. Und er, weiß der Himmel, er hätte dem Mann die höchsten Verzugszinsen gerechnet, die gesetzlich noch überhaupt möglich gewesen wären.

Aber der Chef hatte dazu „nein“ gesagt mit der lächerlichen Begründung, einem Leichenbestatter rechnet man keine Verzugszinsen. Blödsinniger Aberglaube, wem denn sonst, wenn nicht einem Leichenbestatter? Immerhin, der Vorhang, das heißt jener Teil, der bei dem Leichenbestatter gelandet war, machte sich gut. Er hatte es selbst gesehen. Bei einem der ersten vergeblichen Inkassoversuche hatte er es gesehen.

„Sie werden es nicht glauben“, hatte er damals zu seinem Chef gesagt, „wie düster und feierlich das aussah. Der bläßlichrote, irgendwie schon jenseitig schimmernde, auf den nackten Steinboden gebreitete Samt und darauf nichts als ein einsamer schwarzer Sarg. Ob Sie es glauben oder nicht, das hat mich gepackt.“

„Ich glaube es Ihnen“, hatte der Chef geantwortet und anerkennend hinzugefügt, „aber sehen Sie, Pizarrini, so etwas, das merkt eben nicht jeder. Dafür muß man ein Gefühl haben, eine gewisse humanistische Bildung. Die haben Sie, die habe ich, aber jeder hat sie nicht.“ Und genau das mußte er auch jetzt denken: Das merkt eben nicht jeder, und jeder denkt auch nicht über einen alten, ausgedienten und doch noch weiterverwendeten Bühnenvorhang nach, so wie er dies jetzt tat.

Ach, Theater, dachte er, Theater, und biß, wie jeden Tag Punkt zehn Uhr vormittags, in eine Käsesemmel. Es gehörte zu seiner Tagesordnung, um zehn Uhr vormittags eine Käsesemmel zu verzehren.

Theater, dachte er geringschätzig, davon scheint dieser Vorhang nicht loszukommen. Theater ist auch, was die da draußen treiben, Theater und Mummenschanz, die Wirklichkeit ist hier bei mir herinnen.

Beruhigt blickte er auf seine Bücher, in denen alles verzeichnet war, worum die da draußen, hinter dem Vorhang, ihr Theater trieben.

Und wie zur Bestätigung seiner Gedanken kam auch schon einer der Verkäufer herein und fragte nach der Restschuld der Krescentia Haferle, die dieselbe jetzt begleichen wolle.

„Einen Moment“, sagte Pizarrini, „das werden wir gleich haben.“

Krescentia Haferle stand in den Kundenkonti unter H10 und wies eine Restschuld von Kronen 142,37/100 auf.

Der Verkäufer ging hinaus, und Pizarrini sinnierte weiter.

Gut, über den Vorhangteil, der die Sakristei vom sakralen Raum trennte, wollte er sich kein Urteil erlauben. Was aber das Spielzimmer in jenem Kaffeehaus betraf, so war das ganz bestimmt Theater, denn er hatte darin noch nie jemanden spielen, wohl aber ein verdrecktes Fahrrad und sonstiges altes Gerümpel stehen gesehen. Ach, das ist alles Theater, dachte er, Theater und Großtuerei. Das einzige, was ihm frei von Theater schien, war der Verwendungszweck, dem der Leichenbestatter seinen Vorhangteil zugeführt hatte. Ein Leichenbestattungsunternehmen, das schien ihm das reellste Geschäft von allen, und er bedachte immer wieder, daß man eigentlich im Leben eines Menschen mit nichts so sicher rechnen könne als mit der Tatsache, daß er sterben werde. Diese unumstößliche Tatsache zur Grundlage eines Geschäftes gemacht zu haben, hielt er für die genialste Idee, die ein kaufmännisch veranlagtes Gehirn je hervorgebracht hatte. Auf der Suche nach Dingen, die im menschlichen Leben eine ähnliche, unausbleibliche Rolle spielten wie der Tod, kam er im Anschauen seiner noch nicht zu Ende gegessenen Käsesemmel zunächst auf das Essen und dann in schneller Reihenfolge auf das Schlafen, Kranksein und sodann merkwürdigerweise ohne weitere Zwischenstation auf die „Weiber“. (Mit welch etwas rüdem Ausdruck sich ihm unbewußt natürlich ein ganzer Komplex von „damit“ Zusammenhängendem verband.) ‚Merkwürdigerweise‘ deshalb, weil er wahrscheinlich seiner Jugend wegen gewissen vorgefaßten Meinungen zur Stunde noch immer so stark unterworfen war, daß er bisher noch nie etwas „damit“ zu tun gehabt hatte. Warum, fragte er sich, einer plötzlichen Eingebung folgend, warum soll dieses Zusammentreffen der Geschlechter gar so sicher und unausbleiblich sein? Die Antwort, die er sich im selben Atemzug darauf gab, war zwar sehr simpel, hatte aber für ihn die größte Überzeugungskraft, die eine Antwort haben konnte. Ganz einfach deshalb, sagte er sich, weil sich das nun einmal so gehört. Und er beschloß bei sich, nachzuholen, was versäumt zu haben, würde er jetzt vom Tode ereilt werden – was völlig von der Hand zu weisen, vermessen erschien –, ihm zweifellos als Manko angerechnet werden würde.

Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, beugte er sich wieder über seine Arbeit, als hätte er nur eben seine alltägliche Käsesemmel gegessen und nicht auch einen ungewöhnlichen Entschluß gefaßt.

Die Bordellwirtin sah – was Wunder, jeder Beruf färbt eben auf seine Leute ab – wie eine Bordellwirtin aus oder, besser, wie man sich eine solche vorstellt.

Fischaugen, vorsichtig lauernd hinter großen, schweren Tränensäcken, die einem Bankdirektor Ehre gemacht hätten. Schütteres, schlecht gefärbtes, wie Taft changeant schillerndes Haupthaar auf einem massigen, anscheinend nur aus Fleisch bestehenden Kopf, der ohne Hals in einen ebensolchen Rumpf überzugehen schien.

Pizarrini hatte seinen beim Einnehmen der üblichen Vormittagsjause gefaßten Entschluß, die Sache mit den Weibern schleunigst nachzuholen, schon in der nächsten freien Stunde in die Tat umgesetzt, und so kam es, daß er zu einer ganz ungewöhnlichen Zeit in dem verrufenen Haus erschien: in der Mittagspause.

Die Alte, die ihm aufgemacht hatte, war denn auch geradewegs aus der Küche gekommen. Sie hatte eine weiße Schürze umgebunden, unter der ein Paar dicke, pantoffelbewehrte Füße hervorschauten. Sie blickte ihn aus ihren Fischaugen kurz an, und war es nun die ungewohnte Zeit oder vielleicht auch die Tatsache, daß er ihr sicher einen gänzlich anderen Eindruck als die üblichen Besucher machte, auf jeden Fall hielt sie ihn zunächst für einen Agenten und sagte, indem sie sich ihre dicken, nackten Arme mit der Schürze abwischte, kurz und abweisend: „Wir brauchen nichts.“

Er hatte ein eigentümliches, beklemmendes Gefühl im Magen, sah sie unverwandt an und gab ihr keine Antwort.

„Ach so“, sagte sie, ihr erstes Urteil revidierend, taxierte ihn noch einmal rasch mit geübtem Blick und schrie dann mit rauher Stimme einen langen, sich im Dunkel verlierenden Gang hinunter: „Tonschi, ein Gast ist da.“

Bald darauf kam in schwarzem Schwimmtrikot und roten Hausschuhen die von der Alten herbeigerufene Tonschi, eine vollschlanke, üppige Schwarze von etlichen dreißig Jahren, den Gang herauf.

Sie ging ganz nahe an ihn heran, beugte ihren Kopf vor und sagte, was ihn überaus befremdete, ganz einfach: „Burschi, komm!“

Die Wirtin sah ihnen mit einem ärgerlichen Kopfschütteln nach und murmelte etwas von einem fetten, geilen Engerling, der einem nicht einmal einen ruhigen Mittag gönne.

Er indessen folgte mit leisem Widerwillen der üppigen Tonschi in ihre nach abgestandener, ranziger Sinnlichkeit riechende Kammer.

Sie schloß die Tür hinter ihm zu und sagte: „Zuerst zahlen.“

Das erbitterte ihn, und um so mehr gereizt, als er noch nicht einmal zu Mittag gegessen hatte, antwortete er: „Natürlich, oder glauben Sie, ich wollte auf Kredit?“

Sie blieb davon ganz unberührt und sagte lediglich: „Zehn Kronen.“

Er legte ihr fünfzehn hin. Sie nickte zufrieden und sagte: „Dafür sollst du was Schönes haben.“

Dann zog sie sich ihr Trikot aus und legte sich auf die Couch.

Als er keine Anstalten machte, etwas Ähnliches zu tun – das beklemmende Gefühl in der Magengegend hatte sich inzwischen wieder eingestellt –, sagte sie abermals: „Burschi, komm!“

Er hätte am liebsten kehrtgemacht und wäre gegangen, hätte es wohl auch getan, wäre ihm nicht plötzlich eingefallen, daß er sie dadurch möglicherweise gefährlich kränken könnte, und das wollte er nun auch wieder nicht. Inzwischen war ihr natürlich sein ungewöhnliches Benehmen aufgefallen. Sie setzte sich auf und fragte: „Was ist denn los mit dir?“

„Nichts“, sagte er, „nichts. Ich glaube, ich … Sie dürfen nicht beleidigt sein, Sie haben wirklich eine gute Figur.“

„Quatsch keinen Blödsinn“, unterbrach sie ihn, und als fiele ihr etwas ein und als biete sie ihm etwas zu trinken an, „soll ich dich schlagen?“

„Wozu das?“ fragte er erstaunt.

„Mein Herr“, erwiderte sie bebend, ihre Geduld war zu Ende, „mein Herr, ich lasse mich von Ihnen nicht zum Narren halten. Verschwinden Sie!“ Und kühl, geschäftsmäßig, setzte sie hinzu: „Das Geld bekommen Sie natürlich nicht zurück.“

„Das verlange ich doch gar nicht. Ich will Sie auch nicht zum Narren halten. Ich habe nur, verstehen Sie doch, ich habe“, er suchte verzweifelt nach dem richtigen Wort, endlich fiel es ihm ein, „ich habe nur keine Lust, verstehen Sie, keine Lust.“

„Warum?“ fragte sie und blickte ihn vollkommen verständnislos an. „Warum sind Sie denn dann überhaupt hierhergekommen?“

Warum? Ja, warum war er hierhergekommen? Das war doch völlig klar, wie konnte sie ihn nur so was fragen? „Der Ordnung halber“, erwiderte er ohne zu zögern, lächelte die Erbleichende freundlich an, schloß die Tür auf und ging hinaus.

Mit gravitätischen Schritten stolzierte er durch den langen, dunklen Gang dem Ausgang zu. Dort verweilte er einen Augenblick, zündete sich eine Zigarette an, genoß die feine Wärme der winterlichen Mittagssonne, sah dem Rauch nach, versenkte sich einen weiteren Moment in den Anblick des blauen Himmels und spazierte dann gemächlich dem Speisehaus zu, in dem er seine Mahlzeiten einzunehmen pflegte.

2. Kapitel

Pizarrini ging nach dem Mittagessen sofort in das Geschäft zurück und versenkte sich mit in einem ihm sonst zu dieser Tageszeit nicht eigenen Eifer in seine Arbeit. Dies war aber nur ein Zeichen dafür, daß ihm das Erlebnis während der Mittagspause mehr zu schaffen machte, als er sich eingestehen wollte. Er stürzte sich mit einer wütenden, zur Ordnung entschlossenen Verbissenheit auf die Belege zu seiner Rechten und begann sie zu buchen. Pizarrini war Buchhalter aus innerer Berufung, und seine Lebensmaxime lautete: Ordnung halten. Man darf das nicht verwechseln: Ordnung und Ordnung-Halten sind zweierlei. Es gibt, um den Unterschied zwischen beiden auf kürzestem Weg deutlich zu machen, keine Ordnung schlechthin, sondern immer nur eine ganz bestimmte Ordnung, die man zur Lebensmaxime erheben kann, wohl aber gibt es das Ordnung-Halten schlechthin, mit dem man so was anstellen kann. Pizarrini also war für das Ordnung-Halten, und jenes „der Ordnung halber“, das er der ahnungslosen Tonschi zur Antwort gegeben hatte, war mehr als irgendeine leichthin gegebene Antwort. „Der Ordnung halber“, das war für Pizarrini lapidarer Ausdruck seiner ebenso lapidaren Weltanschauung vom Ordnung-Halten, die man in dem einen Satz zusammenfassen kann: Selbst Unordnung läßt sich in Ordnung halten.

Mit anderen Worten: Pizarrini war für die Ordnung des Ordnungs-Haltens. Er war Buchhalter und wußte, welch ein vorzügliches Werkzeug des Ordnung-Haltens die glorreiche Erfindung der Buchhaltung war.

Pizarrini war wie viele dicke Menschen Optimist. In dem manchmal turbulenten und nervösen Betrieb des Geschäftes, in dem er arbeitete, war er ein Fels unerschütterlicher Ruhe und Gelassenheit. Pizarrini wußte: Es gibt nichts, das sich nicht buchen ließe. Sogar ein Konkurs läßt sich buchen. Er hütete sich freilich, seinen Chef in schwierigen Tagen mit dieser Weisheit zu trösten, aber er kostete in fröhlicher Gelassenheit von ihr, wenn sich der Chef über schlechte Geschäfte ereiferte, als einem gar köstlichen Geheimnis, das ihn gegen derlei Verzweiflungen feite.

Nun aber saß er in stiller Wut an seinem Schreibtisch und buchte mit verbissener Beharrlichkeit zu einer Zeit, während der er sonst seinen alltäglichen Verdauungsspaziergang zu machen pflegte, Geschäftsfall auf Geschäftsfall, wie sie ihm die Belege zu seiner Rechten vorwiesen.

Nicht daß ihn der, wie er sich jetzt einzugestehen bereit war, etwas überstürzte Bordellbesuch in der Mittagspause aus seinem seelischen Gleichgewicht gebracht hätte, davon konnte keine Rede sein. Kronen 4,50 für ein halbes Kilo künstlichen Schnee, Dekoration SOLL, Kassa HABEN. Daß solche Besuche bisweilen ohne Ergebnis verlaufen, das wußte er, das hatte er in jenem dickleibigen wissenschaftlichen Buch gelesen, das er sich vor Jahren von einem Freund ausgeliehen hatte.

„Das Geschlechtsleben des Mannes in tiefenpsychologischer Sicht“ hatte es geheißen.

Kronen 84,10 Stromkosten, Strom SOLL, Kassa HABEN.

Nein, das konnte ihn nicht aufregen, das ließ ihn kalt, schließlich war er kein Primitivling, sondern ein differenzierter Mensch; wenn er bisweilen über sich nachdachte, dann schien ihm seine Lebensmaxime des Ordnung-Haltens nichts anderes zu sein als Ausdruck seiner verzweifelten Bemühungen, sein inneres Chaos zu bändigen. Vielleicht hatte er auch einen verdrängten Ödipuskomplex. Wer konnte das schon sagen?

Kronen 6,80 Abortgrube reinigen, allgemeine Spesen SOLL, Kassa HABEN.

Was Wunder, daß dieser Besuch zu keinem Ergebnis führte. Nein, nein, das konnte ihn wahrhaftig nicht aufregen. Das war mehr oder weniger sogar normal, daß dieser, wie er sich immer mehr einzugestehen begann, wirklich überstürzte und eigentlich wohl auch unüberlegte oder zumindest zu wenig überlegte Besuch so verlief, wie er verlaufen war. Das war wirklich nicht alarmierend. Alarmierend wäre es gewesen, wäre er anders verlaufen.

Kronen 35,20 a conto Christian Mayer, Christian Mayer HABEN, Kassa SOLL.

Was ihn aufregte, war etwas ganz anderes. Aufregte? „Aufregen“ ist eigentlich nicht das richtige Wort dafür. Irritierte? Jawohl, „irritieren“ ist besser. Ärgerte? „Ärgern“, zweifellos auch „ärgern“. Es irritierte und ärgerte ihn an dieser Sache etwas ganz anderes.

Kronen 15,– a conto Frau M. Gruber, nein, Kronen 50,– Gruber HABEN, Kassa SOLL.

Fünfzehn Kronen hatte er für diese Befriedigung seines Ordnungssinnes bezahlt.

Fünfzehn Kronen, wirklich nicht eine Summe, derenthalben er sich ärgern würde. Nein, diese fünfzehn Kronen war ihm die Sache wert. Er war zwar Buchhalter, aber er machte sich nicht allzuviel aus Geld, Geld war eine Sache, die Ordnung verlangte. Ordnung hielt er, und damit war das Kapitel Geld eigentlich für ihn erledigt. Ob er viel davon hatte oder wenig, war ihm seit jeher eine zweitrangige Frage gewesen. Kronen 2,– Spende für die Caritas, Werbungskosten SOLL, Kassa HABEN.

Das war es nicht. Die fünfzehn Kronen irritierten ihn ganz bestimmt nicht. Immerhin, die Person hatte nur zehn Kronen verlangt, und er hatte fünfzehn hingelegt. Was war da mit ihm durchgegangen?

Er hielt inne. Auf seinem Gesicht erschien kaum merklich ein triumphierendes Lächeln. Seine wasserblauen Kinderäuglein blinkten auf. Die Nüstern seiner kleinen, jedoch kühn in jedwedes Konto stoßenden Spitznase blähten sich. Er hatte ihn. Er hatte den lästigen Quälgeist, diesen lächerlichen Floh von fünf Kronen, der so ärgerlich in seinem Unterbewußtsein herumgesprungen war, der sich erfrecht hatte, an seinem ruhevollen Gemüt zu saugen, bis es in Wallung geraten war. Er hatte ihn.

Kronen 34,30 a conto Franz Pschril, Pschril HABEN, Kassa SOLL.

Das war es. Er lehnte sich zurück, legte beide Hände auf seine Oberschenkel, trommelte mit den Fingern ruhelos auf den Knien herum, ließ den Kopf über die Lehne seines Drehstuhls weit nach hinten fallen, daß seine Nase lotrecht nach oben wies, schloß die Augen und begann seine Seele zu erforschen.

Sie hatte zehn Kronen verlangt.

Er hatte fünfzehn Kronen hingelegt.

Warum?

Um das zu bekommen, was er der Ordnung halber erfahren wollte, hätten zehn Kronen genügt.

Er hatte ihr fünfzehn Kronen gegeben. Das waren fünf Kronen mehr, als sie verlangt hatte. Das waren bei zehn Kronen fünfzig Prozent mehr, als verlangt worden war. Wer mehr gibt, will mehr. Er hatte fünfzig Prozent mehr gegeben, als er der Ordnung halber zu geben gehabt hätte, das hieß jedoch nichts anderes, als daß er fünfzig Prozent mehr haben wollte, als er der Ordnung halber zu bekommen gehabt hätte.

Pizarrini war erschüttert. Er ließ seinen Kopf vornüber auf das auf dem Schreibtisch liegende Journal fallen, umschlang ihn mit beiden Händen und stöhnte in die eben erst begonnene, fast noch jungfräulich weiße Journalseite 185 hinein: „Fünfzig Prozent!“

Aber es dauerte nicht lange, da hatte er sich wieder in der Gewalt.

Mit unerbittlicher Härte gegen sich selbst, die einer masochistischen Komponente irgendwie nicht entbehrte, schob er seine zutiefst erschütterte, nach liebevoller Pflege schreiende moralische Selbstachtung beiseite, lehnte sich abermals zurück und begann wieder das Seziermesser seines kühlen Buchhalterverstandes an sein wehwundes Herz zu setzen.

Man hofft immer mehr zu bekommen, als man bezahlt hat. Hoffen ist aber nichts anderes als Ausdruck eines im Unterbewußtsein wühlenden Wollens. Fünfzig Prozent, das ist genau die Hälfte. Um die Hälfte hatte er mehr bezahlt, als er der Ordnung halber zu bezahlen gehabt hätte. Um die Hälfte hatte er mehr bezahlt; nicht, um die Hälfte mehr zu bekommen, sondern um unbewußt mehr als die Hälfte mehr zu bekommen, als er der Ordnung halber bewußt bekommen wollte.

Es schauderte ihn vor der Verruchtheit seines Unterbewußtseins.

Bei allem Schauder jedoch war ihm jetzt wohler als vorher. Der Fehler war erkannt. Nun galt es, ihn zu beheben.

Er begann wieder zu buchen.

Kronen 10,60 für Bodenwachs und Stauböl, Reinigung SOLL, Kassa HABEN.

Im Grunde genommen war das Ganze eigentlich nichts anderes als eine Fehlspekulation seines Unterbewußtseins. Untrügliches Merkmal einer Fehlspekulation ist immer der damit verbundene Verlust. Dieser Verlust betrug in seinem Fall die ganz konkrete Summe von fünf Kronen. Fünfzehn Kronen hatte er hingelegt. Für zehn Kronen hatte er eine Erfahrung gemacht, die nach der Lage der Dinge nun einmal nicht unter zehn Kronen zu haben war, fünf Kronen hatte er verspekuliert.

Kronen 2300,– Erlag an Bank, Bank SOLL, Kassa HABEN.

Gelänge es einem jedoch, den bei einer Fehlspekulation durch Verlust des Einsatzes entstandenen Schaden dadurch wieder zu beheben, daß man es zuwege brächte, den verlorengegangenen Einsatz wieder herauszubekommen, so könnte man eigentlich mit Recht behaupten, die Fehlspekulation, wenn auch nicht ungeschehen, so doch wieder wettgemacht zu haben.

Kronen 235,– an Moden AG, Moden AG SOLL, Bank HABEN.

Somit war klar, was er zu tun hatte. Er würde abends nach Geschäftsschluß noch einmal hingehen und sich fünf Kronen, die er zuviel bezahlt hatte, wiederholen. Kronen 534,– an Hillmann & Co., Hillmann SOLL, Bank HABEN.

3. Kapitel

So fest Pizarrinis Entschluß auch gewesen sein mag, die fünf Kronen, die er zuviel bezahlt hatte, sich nach Geschäftsschluß wieder zu holen; je näher er dem verrufenen Haus kam, um so unsicherer wurde er. Und als er nun in der Abenddämmerung dieses winterlichen Tages in die schmutzige und armselig beleuchtete Vorstadtgasse einbog, in der es lag, da wußte er plötzlich, daß er nicht hineingehen würde, daß er vorbeigehen würde.

„Warum eigentlich nicht?“ murmelte er vor sich hin. Aber seine Füße gingen auf die blassen Für und Wider gar nicht ein, die er in seinem Hirn wie Schachfiguren hin und her schob und einander auffressen ließ. Sie trugen ihn im Eilschritt an dem grün und gelb bemalten Haus vorbei, vor dessen gähnend offenem Tor nun auch noch ein schäbig uniformierter Portier stand, der ihm irgend etwas nachrief, auch ein gellendes Lachen glaubte er zu hören und ein hämisches Kichern, das in einem der düsteren, grauen Mauerwinkel dieser Gasse verklang, und er hätte schwören können, daß beides ihm gegolten habe.

Da hatte er es. So einfach, wie er sich das an seinem Schreibtisch zwischen ein paar Seiten SOLL und ein paar Seiten HABEN vorgestellt hatte, so einfach war es nicht, jene irritierende Fehlspekulation wettzumachen. Und wie zum Hohn seiner selbst empfand er sein Vorbeiflüchten als Bestätigung dafür, daß er sie tatsächlich wettgemacht hätte, hätte er den Mut und die Kraft aufgebracht, hineinzugehen und sich die fünf Kronen zu holen.

Das bringe ich nicht zustande, stellte er ernüchtert bei sich fest und beschloß als Ausgleich zu tun, was er bisher noch nie getan hatte, beschloß: sich zu besaufen. Beschloß es in einem Zustand klarer, trostloser, niederdrückender Nüchternheit.

Er griff an die Brusttasche seines Rockes und nickte befriedigt. Seine Brieftasche war bei ihm. Er brauchte sie nicht herauszuziehen, um nachzusehen, wieviel Geld er darin hatte. Er wäre ein schlechter Buchhalter gewesen, hätte er das nicht auch so gewußt. Er trug viel mehr Geld bei sich als gewöhnlich, der Teufel mochte wissen, warum, er trug sein halbes Monatsgehalt bei sich, fünfhundert Kronen. Er wäre ein schlechter Buchhalter gewesen, hätte er nicht nachgezählt.

Er war nun schon ein gutes Stück von dem Ort seiner Niederlage weg, befand sich aber noch immer in einem der äußeren Bezirke der Stadt. Sein inneres Gleichgewicht war wieder halbwegs hergestellt, und wie er vordem mit Sicherheit wußte, daß er nicht hineingehen würde, so wußte er nun mit Sicherheit, daß er hineingehen und sich besaufen würde. Er ging geradeaus weiter und beschloß, seinen Entschluß, sich zu besaufen, im nächsten auf der rechten Straßenseite gelegenen Gasthaus auszuführen. Er hatte Glück, daß er das nächste zu seiner Rechten gelegene Gasthaus gewählt hatte und nicht das linker Hand. Das nächste, zu seiner Rechten gelegene Lokal nämlich war der Weiße Hirsch, ein bürgerliches Haus mit soliden Preisen, ihm gegenüber jedoch, auf der linken Straßenseite, lag die als Wurzbude bekannte Olympia-Bar, die ob ihrer horrenden Preise weit über die Grenzen der Stadt hinaus berüchtigt war. Pizarrini kannte beide Häuser, den Weißen Hirschen und die Olympia-Bar, aus den Erzählungen seines Chefs.

Aber als er vor wenigen hundert Schritten beschlossen hatte, in das nächste rechter Hand gelegene Gasthaus einzukehren, hatte er weder an den Weißen Hirschen noch an die Olympia-Bar, noch an die verschiedenen Preiskategorien der beiden Lokale gedacht. Jetzt freilich dachte er daran, und er lobte sich sein Unterbewußtsein, das ihn, während er willkürlich ein zufälliges zu wählen glaubte, unwillkürlich das rechte wählen ließ. Es ist also doch auch ein Hort der Ordnung, dachte er bei sich, und nicht nur ein schwelendes Chaos verdrängter Triebe.

„Welche Gewalten streiten doch in mir“, murmelte er kopfschüttelnd vor sich hin und öffnete die Tür zum Weißen Hirschen.

Der Weiße Hirsch war ein Gasthaus, in dem hauptsächlich Arbeiter, Angestellte und kleine Geschäftsleute verkehrten. Die große Stube, in der die Schank stand, war dunkel getäfelt. An den Wänden hingen verschiedene Jagdbilder, und über der Tür war ein großer, weißer Hirschkopf befestigt, das Wahrzeichen des Hauses. In einer Ecke stand ein Billard, an dem zwei junge Männer spielten. Sonst war kein Gast da. Links führte eine Tür in ein Extrazimmer, das einem Fußballclub als Vereinslokal diente. Die Tür zu diesem Extrazimmer stand offen, und Pizarrini konnte durch sie gut an die zehn bis fünfzehn Mitglieder des Fußballclubs beobachten, die allem Anschein nach eben eine Sitzung abhielten.

„Dressenwart!“ rief jetzt einer mit einer besonders kräftigen Stimme von dem Extrazimmer in die große Gaststube hinaus. „Dressenwart, Dressenwart!“ riefen ihm gleich mehrere nach.

Lachen ertönte und von dem mit der kräftigen Stimme ein ärgerliches „Sitzung ist Sitzung!“

„Ja!“ rief jetzt einer der beiden Burschen, die Billard spielten, und legte den Queue weg, „ja, ich komme schon.“

Er ging hinein, der andere folgte ihm.

„Da ist er ja“, höhnte es von innen, „da ist er ja, da ist ja unser Dressenwart!“

Und wieder das gleiche dröhnende Lachen wie vorhin und wieder der mit der kräftigen Stimme ernst, ärgerlich: „Türe schließen! Sitzung ist Sitzung.“

Die Türe wurde geschlossen. Nach einer kurzen Weile kam ein Kellner mit weißer Schürze und Jacke heraus. Er trug ein Tablett mit einer Unmenge leerer Bierflaschen und ließ die Tür wieder offen. Er steuerte mit seiner Last auf die Schank zu und verschwand dahinter. Nach einer kurzen Weile erschien er abermals, diesmal mit einem Tablett voller Flaschen. Jetzt erst sah er Pizarrini, der inzwischen an einem der kleinen, weiß gedeckten Tische Platz genommen hatte.

„Komme gleich“, nickte er Pizarrini zu und verschwand mit seiner schweren Last in das Extrazimmer hinein. Er war ein zirka fünfzigjähriger Mann mit einer großen Glatze und einem Gesicht, dessen knollige Formen an ein Konglomerat von Kartoffeln denken ließen. „Türe zu! Sitzung ist Sitzung.“ Die Türe wurde geschlossen.

Nach kurzer Zeit kam der Kellner wieder heraus und ließ sie abermals offen. Er ging zu Pizarrini hin und fragte ihn nach seinen Wünschen. Pizarrini bestellte einen großen Schnaps. Was für einer es denn sein dürfe, fragte das Kartoffelgesicht. Pizarrini gedachte seines Vorhabens und bestellte den schärfsten, den er hatte.

„Da hätten wir einen siebzigprozentigen Kontiuszowska“, sagte das Kartoffelgesicht mit maliziösem Lächeln.

„Gut“, sagte Pizarrini, „gut, das ist das Richtige.“ Als der Kellner mit dem Schnaps wiederkam, fragte er Pizarrini, ob er nicht der Buchhalter in dem Geschäft in der Severingasse sei.

„Ja“, sagte Pizarrini, „das bin ich. Woher kennen Sie mich?“

Er habe ihn einmal, als er etwas kaufte, dort gesehen, und sein Chef, der öfters hierherkomme, habe gesagt, daß er die Buchhaltung mache.

„Ja“, sagte Pizarrini, „das sagt er bisweilen.“

„Guten Abend“, sagte der Kellner und machte eine Verbeugung zur Tür hin, durch die gerade zwei Herren eintraten. Er eilte auf die Neueingetretenen zu, half ihnen aus den Mänteln und bat sie, an irgendeinem der leerstehenden Tische Platz zu nehmen, dann fragte er sie nach ihren Wünschen. Jeder der beiden bestellte eine Flasche Bier. Er brachte ihnen das Bier und verschwand wieder in das Extrazimmer hinein. Pizarrini nahm den Schnaps und stürzte ihn auf einmal hinunter. Zuerst spürte er gar nichts, dann jedoch stieg es plötzlich ganz heiß in ihm auf und trieb ihm das Wasser in die Augen. Er schielte zu den beiden hinüber. Ob sie ihn beobachtet hatten?

Der eine der beiden schien ein feiner Mann zu sein. Er war dunkelblau gekleidet, mittelgroß, hatte ein mageres, fast etwas arrogant wirkendes Gesicht, das von einer Unmenge Falten und Fältchen durchzogen war. Gleichwohl wirkte es nicht alt. Der andere war klein, dick, rotgesichtig und schlampig gekleidet. Neue Gäste kamen herein. Sie sprachen über einen Film, offenbar kamen sie alle gerade aus einem Kino.

Der Kellner kam wieder aus dem Extrazimmer heraus, eilte diensteifrig auf die neuen Gäste zu und bediente sie.

Die zwei Billardspieler kamen ebenfalls wieder heraus und setzten ihr Spiel fort.

„Türe schließen“, schrie es wieder von innen, und ein Chor nachäffender Stimmen: „Sitzung ist Sitzung“, und darauf ein Ausbruch wiehernden Lachens, das sich wie eine Flut glucksenden und sich in phantastischen Wellen selbst überschlagenden Wassers aus dem Extrazimmer in die Gaststube ergoß und die Gespräche an den einzelnen Tischen mit sich fortschwemmte, bis es in den Ritzen und Fugen der alten Holztäfelung versickerte.

„Die Idioten“, sagte einer der Billardspieler, „man kann sich nicht einmal konzentrieren.“

Der andere ging hin und schloß die Tür.

„Noch einen Schnaps“, sagte Pizarrini zu dem gerade vorbeigehenden Kellner.

„Den gleichen?“ fragte der zurück.

„Den gleichen“, sagte Pizarrini.

„Wir haben auch fünfzigprozentigen Kontiuszowska hier“, sagte der Kellner und machte eine Miene, als böte er Pizarrini die Möglichkeit eines ehrenhaften Ausweges an.

Aber Pizarrini war nicht mehr nach einem Ausweg zumute, ihn gelüstete nach seinem Verderben. Das Angebot des Kellners ärgerte ihn.

„Ich wünsche den siebzigprozentigen“, sagte er so laut und scharf, daß der vornehm aussehende, dunkelblau gekleidete Herr mit dem Faltengesicht auf dem Nebentisch erstaunt zu ihm herüberblickte und dann seinem Begleiter, dem kleinen Rotgesichtigen, ein paar Worte zuflüsterte, worauf der ebenfalls zu Pizarrini herüberschaute.

Der Kellner hatte ein resignierendes „Bitte“ fallengelassen und war wieder weggegangen.

Pizarrini fühlte sich von den beiden am Nebentisch beobachtet.

Der Kellner brachte ihm das bestellte zweite Glas Schnaps.

Was die zwei sich wohl von mir denken, fragte er sich. Die glauben vielleicht, ich sei ein Angeber, denen werde ich zeigen, wer ich bin.

Er nahm das Schnapsglas in die Hand und trank es wiederum, wie das erste, in einem Zug aus. Es war ihm zu dumm, daß ihm gleich darauf wieder so heiß wurde, daß er genau spürte, wie sein Kopf abermals rot zu werden begann und es ihm wieder das Wasser in die Augen trieb. Er zog seine Brieftasche heraus, bückte sich darüber und tat, als suche er etwas darin. Als das Ärgste vorüber war, steckte er sie wieder ein und blickte mit einem etwas glasig gewordenen Blick auf die beiden Herren am Nebentisch. Wieder beugte sich der Dunkelblaue mit dem Faltengesicht zu dem schmierigen Kleinen hin und flüsterte ihm etwas zu. Der nickte, stand auf, ging zu Pizarrini hin, verneigte sich kurz und sagte: „Der Herr Präsident würde sich freuen, wenn Sie an seinem Tisch Platz nehmen wollten.“

Pizarrini war verblüfft.

Der Herr Präsident, dachte er, Präsident, und schielte zu dem Dunkelblauen hinüber.

Das konnte er sich eigentlich gut vorstellen, daß das ein Präsident war, der schaute wahrhaftig wie ein Präsident aus. Er verneigte sich im Aufstehen und stotterte etwas verwirrt: „G-gerne.“

Er ging mit dem kleinen Schmierigen zum Nebentisch hinüber und verbeugte sich tief vor dem Präsidenten.

„Pizarrini.“

Der Präsident gab ihm in überaus leutseliger Manier die Hand und sagte schlicht: „Schmidbruch.“

Dann zeigte er auf den kleinen Schmierigen und sagte abermals in seiner schlichten, jovialen Art: „Darf ich Ihnen meinen Mitarbeiter, Herrn Ingenieur Isidor Podesta, vorstellen.“

Der Mann hat Stil, dachte Pizarrini. Er verbeugte sich vor Podesta, gab ihm die Hand und sagte wiederum nichts als: „Pizarrini.“

Sie nahmen Platz.

Hm, dachte Pizarrini, er ist Präsident, ich darf mich nicht blamieren, ich muß jetzt etwas unternehmen. Er schaute sich um und sah den Kellner.

„Herr Ober!“ rief er – und zu den beiden mit verbindlichem Lächeln: „Ich darf die Herren doch zu einem Schnäpschen einladen?“

„So war das nicht gemeint, Herr Pizarrini“, entgegnete Schmidbruch würdevoll.

„Aber, ich bitte Sie“, antwortete Pizarrini, er fühlte sich plötzlich ungeheuer sicher, „Sie wollen mich doch nicht kränken, indem Sie meine Einladung ablehnen?“

Der Kellner stand bereits wartend da.

„Herr Ober“, schnarrte Pizarrini, „drei große Kontiuszowska für Herrn Präsidenten Schmidbruch, Herrn Ingenieur Podesta und mich.“

Es klang wie drei Fanfarenstöße. Der Kellner nahm die Order mit unbewegtem Gesicht an und ging.

„Herr Ober!“ rief ihm Pizarrini nach. „Wir wünschen siebzigprozentigen!“ Einige Gäste blickten neugierig zu Pizarrini hin. Die sollen ruhig schauen, dachte er sich, ich werde ihnen zeigen, wer ich bin.

Doch seine Selbstsicherheit währte nicht lange. Das Bewußtsein, mit einem richtigen Präsidenten an einem Tisch zu sitzen, begann ihn immer mehr aufzuregen. Er mußte hinausgehen. Unruhig rückte er hin und her.

Schließlich hielt er es nicht mehr länger aus, stand auf und sagte: „Entschuldigen Sie mich, bitte, einen Moment.“

Der Kellner ging ihm nach. Als sie allein waren, klopfte er ihm auf die Schulter und sagte mit besorgter Miene:

„Herr Buchhalter …“

„Ich heiße Pizarrini, nicht Buchhalter.“

„Herr Pizarrini, ich möchte Sie warnen.“

„So, vor was denn?“

„Einmal vor dem Kontiuszowska und zum anderen vor den beiden Herren, die Sie an ihren Tisch gebeten haben.“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich kenne die Herren nicht, aber ich glaube kaum, daß sie das sind, für das sie sich ausgeben.“

„Sie wissen doch, daß ich die beiden Herren zu einem Schnaps eingeladen habe. Ich verbitte mir, daß Sie meine Gäste der Hochstapelei bezichtigen, Herr Ober!“

„Das habe ich nicht getan!“

„Das haben Sie getan!“

„Das habe ich nicht getan!“

„Das haben Sie getan! Was die beiden Herren sind, kann Ihnen egal sein.“

„Ich meine es Ihnen doch nur gut, Herr Pizarrini.“

„Das ist mir egal! Ich verbitte mir das! Das einzige, was Sie in diesem Zusammenhang kümmern kann, ist meine Brieftasche, und die ist voll! Ich zahle schon, keine Angst, Herr Ober, ich bleibe Ihnen nichts schuldig, hier, sehen Sie“, und er hielt dem Kellner seine volle Brieftasche hin.

„Sie haben mich völlig mißverstanden“, sagte der Kellner mit großer Beherrschung, drehte sich würdevoll um und ging.

„So ein unverschämter Mensch!“

Pizarrini steckte seine Brieftasche wieder ein.

Als er zurückkam, erzählte er den beiden Herren, was vorgefallen war.

„Aber ich habe ihm meine Brieftasche gezeigt, da ist er wieder gegangen.“

Er lachte und zeigte sie nun auch ihnen.

„Die haben wir schon gesehen“, grinste Podesta.

Schmidbruch stieß ihm mit dem Fuß an das Schienbein, daß er leise aufschrie.

„Ist Ihnen nicht gut?“ fragte Pizarrini besorgt.

„Doch, doch“, versicherte Podesta, „ich habe nur manchmal verschlagene Winde, die stechen so furchtbar.“

„Sie haben meine Brieftasche schon gesehen?“

Schmidbruch argwöhnte Argwohn.

„Sie haben doch vorhin etwas darin gesucht“, gab er leichthin zurück.

„Ja, ja, ich entsinne mich.“

Pizarrini wußte nicht mehr recht, wie er das Gespräch weiterführen sollte. Da kam ihm ein rettender Gedanke. Er ergriff das vor ihm stehende Glas, hob es und sagte mit steifer Feierlichkeit: „Auf Ihr besonderes Wohl, meine Herren!“ Eine kurze Verbeugung zu Schmidbruch: „Herr Präsident!“ Eine kurze Verbeugung zu Podesta: „Herr Ingenieur!“ Die beiden prosteten ihm zu. Dann trank Pizarrini, der Buchhalter, der bleiche, fette junge Mann, der noch nichts zu Abend gegessen hatte und für gewöhnlich nichts anderes als Milch oder Zitronenlimonade trank, innerhalb einer schwachen Stunde das dritte Mal einen großen siebzigprozentigen Kontiuszowska in einem Zug aus. Auch Schmidbruch trank sein Glas in einem Zug aus. Podesta jedoch nippte nur daran, dann beugte er sich zu Pizarrini hin und begann mit leiser, eindringlicher Stimme: „Präsident Schmidbruch …“

Pizarrini hörte ihm mit bedeutungsvollem Kopfnicken zu. Dann und wann starrte er Schmidbruch mit der Ungeniertheit eines Betrunkenen ins Gesicht, und die Worte Podestas vermischten sich mit dem, was Pizarrini in dem Gesicht Schmidbruchs, des Präsidenten, zu sehen glaubte, zu einer unentwirrbaren Geschichte.

Schmidbruch aber, als sehe er nicht, wie Pizarrini ihn anstarrte, als höre er nicht, was Podesta über ihn erzählte, hatte sich eine Speisekarte reichen lassen und studierte sie mit Interesse.

4. Kapitel

Podestas Erzählung

(Nach einem Gedächtnisprotokoll Pizarrinis, das jedoch unglücklicherweise von seiner allzusehr besorgten Zimmerfrau zum Ausstopfen seiner stets etwas feuchten Schuhe benutzt wurde und daher nur noch in sehr beschränktem Maße entzifferbar war.

Etwaige Unstimmigkeiten möge der geneigte Leser auf diesen Umstand zurückführen und gütigst entschuldigen.

Ebenso erklärt sich aus diesem zum Himmel stinkenden Vorfall die distanzierte Darstellung, die sicherlich von der ursprünglichen, durch unmittelbare Teilnahme stark persönlich gefärbten Erzählung Podestas bedeutend abweicht.)

1

Ernst Schmidbruch, der Präsident der Interkontinentalen Speisewagen AG, war dieser Tage einundsechzig Jahre alt geworden. Er war ein mittelgroßer, magerer Mann mit einem faltenreichen Gesicht, das mitunter einen höchst verkniffenen Ausdruck annehmen konnte. Man konnte jedoch nicht sagen – wie dies bei anderen faltenreichen Gesichtern der Fall sein mag –, daß die vielen Falten und Fältchen sein Gesicht durchfurchten. Dieses Bild stimmte bei Schmidbruch nicht. Viel eher drängte sich der Vergleich mit den säuberlich gebügelten und streng geordneten Falten eines plissierten Stoffes auf. Es war, als seien alle diese Falten und Fältchen nach einem bestimmten Schema in die stets glattrasierte Gesichtshaut des Präsidenten hineingelegt, hineingefaltet worden.

Es hätte vermutlich auch kaum jemanden verwundert, wäre dieses schmale, hagere Gesicht plötzlich wie ein Fächer auseinandergegangen und hätte auf seiner ausgebreiteten Fläche ein unheimlich langes Inhaltsverzeichnis der verschiedensten Dinge und Vorkommnisse gezeigt. Wie abgelegte Akten lagen die Falten in diesem Gesicht, starr, unbeweglich und doch voll Spannung, voll geheimer, gut aufbewahrter Fakten – jederzeit greifbar –, voll unausgesprochener Drohungen hinter einem breiten, schmallippigen Mund, hinter gleichmütig dreinblickenden, blaugrauen Augen.