Das Mittelmeer und der liebe Gott - Robert Hofrichter Dr. - E-Book

Das Mittelmeer und der liebe Gott E-Book

Robert Hofrichter Dr.

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Beschreibung

Gibt es den lieben Gott? Auf diese Frage will und kann der Autor keine Antwort geben. Fragen nach der Existenz Gottes entziehen sich den Methoden und Prinzipien der Wissenschaft. Und anderen eine Antwort aufzuzwingen, das wäre sinnlos und unangemessen. Was man aber mit den Methoden der Wissenschaft erforschen kann, sind geschichtliche Ereignisse. Zum Beispiel: War Petrus der erste Papst der Christen, mit Sitz in Rom? Das ist eine wissenschaftlich beantwortbare Frage, zu der wir Quellen untersuchen und Überlieferungen vergleichen können. Solchen Rätseln nachzugehen, ist gewiss keine Gotteslästerung, war doch Petrus ein einfacher Fischer aus Galiläa und nicht Gott persönlich, auch wenn ihn Menschen später zu seinem Stellvertreter erklärt haben. Jesus gab es wirklich. Daran zweifeln heute nur sehr wenige Wissenschaftler. Doch wie war er, was hat er geglaubt und was gelehrt? Was wissen wir über die Entstehung der Bibel? Können wir uns dem historischen Jesus nähern und mehr über ihn erfahren? Ja, das können wir bis zu einem gewissen Grad. Dasselbe gilt für Abraham, Moses, Maria, Joseph, Petrus, Paulus und alle anderen biblischen und nichtbiblischen Gestalten der Religionsgeschichte. Es ist eine spannende Entdeckungsreise, die für so manche Überraschung und vielleicht auch Verunsicherung sorgen wird. Hier stehen keine Antworten auf die großen Fragen, die sich Menschen seit Jahrhunderten stellen. Aber hier steht etwas über die Ursprünge der Religion an sich und über die Geschichte des gemeinsamen Gottes von Juden, Christen und Moslems. Wir erforschen, wie aus den 20 Jüngern eines galiläischen Wanderpredigers innerhalb weniger Jahrhunderte die Staatsreligion des Imperium Romanum werden konnte und später die größte Religion der Welt. All das passierte rund um das Mittelmeer, die faszinierendste Region der Menschheitsgeschichte, Wiege der europäischen Zivilisation. Juden, Christen und Moslems haben eine gemeinsame Geschichte, die am Mittelmeer ihren Anfang nahm.

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Seitenzahl: 582

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Robert Hofrichter

Das Mittelmeer und der liebe Gott

Robert Hofrichter

Das Mittelmeer und der liebe Gott

Vier Jahrtausende Kultur- und Religionsgeschichte:

Wie Gottesvorstellungen unsere Welt veränderten

Nescire quid ante quam natus sis acciderit, id est semper esse puerum.

Nicht zu wissen, was vor deiner Geburt geschehen ist, heißt immer ein Kind bleiben.

Cicero (106–43 v. Chr.)

Der 1957 in Bratislava (Preßburg) geborene und seit 1981 in Salzburg lebende Autor in Jerusalem und am Toten Meer während seiner Studienreisen ins Heilige Land. Als promovierter Zoologe und Meeresbiologe, Buchautor, Naturfotograf und Umweltschützer hat sich Robert Hofrichter schon früh ganzheitlichen und multidisziplinären Studien des Mittelmeerraumes zugewandt und die Mediterranistik zu seinem Lieblingsfach erwählt. Sein letztes großes Werk, Das Mittelmeer – Geschichte und Zukunft eines ökologisch sensiblen Raums (2020) verschrieb sich auch diesem mediterranistischen Zugang. Der Religionsgeschichte der monotheistischen Religionen hat sich der Autor seit seiner Jugend gewidmet, die einführenden Kapitel dieses Buches liefern dazu ausführlichere Informationen. Robert Hofrichter ist Autor von bisher etwa 30 Büchern, darunter sind auch einige Bestseller mit Übersetzungen in bis zu zehn Sprachen. Er ist Präsident der Meeresschutzorganisation MareMundi, die 2001 von ihm gegründet wurde.

Impressum

Dem Andenken des „Ketzerkönigs“ Giordano Bruno gewidmet.

siehe Seite 31

Alle Rechte Vorbehalten

© 2020 Robert Hofrichter & tredition, Hamburg

Umschlag: Gestaltung Christoph Volker, Foto Robert Hofrichter

Graphische Gestaltung, Illustrationen, Kartographie: Christoph Volker

Satz: Robert Hofrichter, Christoph Volker

Lektorat: Christina Widmann de Fran, Christoph Volker

Gesetzt aus FF Netto® und Abril

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN: 978-3-347-21715-7 (Paperback)

978-3-347-21716-4 (e-Book)

Inhalt

Zum Geleit: Das Mittelmeer und was wir hier wollen

❏ Kein Buch für Professoren …

Über Neandertaler, eine steinzeitliche Flöte und das Glück, alles erforschen zu können

Warum ich ein Buch über das Mittelmeer und den lieben Gott schreiben wollte

❏ Zwei Weltbilder im Vergleich: Macht es einen Unterschied?

Einleitende Episode Nr. 1

Das auserwählte Volk: Deinem Samen will ich dieses Land geben!

Einleitende Episode Nr. 2

Wie aus 20 Jüngern die größte Weltreligion der Geschichte wurde

Über den lieben Gott zu schreiben, ist heikel.

Sollte unsere Weltsicht im 21. Jahrhundert jener von nomadischen Hirten vor 4.000 Jahren gleichen?

❏ Moderne historische Forschung vs. alte Glaubensvorstellungen

Aufschreibung, Bewahrung und Überlieferung historischer Wahrheiten

Rede nicht über etwas, das du nicht genau kennst

❏ Minilexikon der Theologie

Das Mittelmeer: Warum ausgerechnet hier?

Warum Zivilisation und Religion am Mittelmeer so große Sprünge machen konnten

Homo credens: Wie sind die Religionen entstanden?

Wie unsere Ahnen begannen, Sinnfragen zu stellen

Abraham und die Verheißungen Gottes

Der Stammvater des Eingottglaubens

❏ Minilexikon der Judaistik

Israel: Das Volk Gottes formt sich

Eine Ethnie, ein Volk, eine Rasse oder eine Religion?

❏ Das Judentum und seine Beziehung zum Mittelmeer

Ein Wanderprediger aus Galiläa

Was wir über den historischen Jesus wissen

Als das Christentum eine Göttin brauchte

Maria und die katholische Heiligenverehrung

Der Pharisäer, der die Geschichte veränderte

Vom Saulus zum Paulus, vom Jesus zum Christus

Eine christliche Odyssee

Die Schiffsabenteuer des Apostels auf dem Mittelmeer

Du bist der Fels, auf dem ich meine Kirche baue

War Petrus jemals in Rom? und andere Apostelgeschichten

Das Judäo-Christentum: Jesus war kein Katholik

Schlechte Nachrichten für christliche Judenverachter

Viele Christentümer auf der Suche nach dem wahren Glauben

Über Jesus und den lieben Gott gab es immer schon viele Meinungen

Der unzuverlässige Markus und wie das Neue Testament entstand

Dreihundert Jahre nach Jesus nimmt die christliche Bibel Gestalt an

❏ Handschriften des Neuen Testaments: Wie viele haben wir?

Konstantin und der Triumph des Christentums

Wie aus Jesus von Nazareth Gott wurde und aus 12 Jüngern eine Weltreligion

Mohammed und der Schatten der Mondsichel

Eine neue Religion formt sich südöstlich vom Mittelmeer

Der mittelalterliche Mediterran

Juden, Christen und Moslems auf dem Weg in die Neuzeit

❏ Die Almogávares: Eine Handvoll Spanier erobert Athen

Paulus in Epikurs Garten

In der Gegenwart, die Suche nach Glück

Anhang

❏ Jedes Wasser hat seine Quelle

Ich habe mir nichts aus den Fingern gesogen

Bibliographie

Bildnachweise

Danksagung

Über Neandertaler, eine steinzeitliche Flöte und das Glück, alles erforschen zu können

Warum ich ein Buch über das Mittelmeer und den lieben Gott schreiben wollte

Obwohl die gesamte Gesellschaft auf Unduldsamkeit begründet ist, ist jede Verbesserung auf Duldsamkeit begründet.

Georg Bernhard Shaw (1856–1950)

Warum schreibt ein Meeresbiologe, ein Mittelmeer-Forscher, ein Buch über Religionen? Lassen Sie mich in diesem Kapitel kurz erklären, wie die Idee entstanden und gereift ist, bis ich mich schließlich in der Corona-Zeit an den Computer setzen und tippen konnte. Meine autobiographische Erzählung beginnt paradoxerweise nicht am Mittelmeer, wo der Rest des Buches spielt, sondern im fernen West-Papua. Meine Frau und ich flogen dorthin, um in den berauschend schönen Korallenriffen von Raja Ampat zu tauchen. Mit uns war auch ein Freund mitgereist, der erstaunliche Glaubensvorstellungen hat.

Es war das Jahr 2009. Damals ging die Meldung von einem sensationellen archäologischen Fund durch die Medien. In der renommierten Fachzeitschrift Nature erschien der Bericht über eine mehr als 35.000 Jahre alte und 22 Zentimeter lange Flöte, gefertigt aus dem Knochen eines Gänsegeiers (Gyps fulvus), die in der Nähe der deutschen Stadt Ulm, beim Hohle Fels, ausgegraben wurde. Mit den fünf Luftlöchern der Flöte konnten unsere steinzeitlichen Vorfahren bereits komplexe Melodien spielen. Verblüffend, was Archäologen so unter der Erde finden. Unsere fernen Vorfahren waren musikalisch.

Wie sahen die Menschen vor 35.000 Jahren aus? Sie waren keineswegs zottelige, grunzende, stumpfsinnige, mammutjagende Muskelpakete, die in Felle gehüllte Frauen an den Haaren in eine Höhle zerrten, auch wenn die Darstellung auf der rechten Seite den Eindruck vermitteln könnte. Nichts davon trifft zu. Die Höhlenbewohner waren vielmehr Menschen wie Sie und ich, mit der gleichen Intelligenz und den gleichen Gefühlen. Kleidung hatten sie auch. Zu jenem Zeitpunkt gab es sie als Art bereits seit mehr als 160.000 Jahren, wie Anthropologen vermuten. Längst schon interessierten sie sich für Kunst. Sie waren nicht nur musikalisch, sondern lebten auch ihre Spiritualität aus – wir können diese rückblickend durchaus auch als Religiosität bezeichnen, auch wenn das Wort Religion viel jünger ist. Dieses realistisch-angepasste Bild von zivilisierten Urmenschen trifft nicht nur auf Homo sapiens zu, unserem direkten Vorfahren, sondern auch auf unsere nahen Verwandten (und Mit-Vorfahren), die Neandertaler (wissenschaftlich Homo neanderthalensis), deren Epoche sich dem Ende zuneigte, als die erwähnte Flöte geschnitzt wurde.

Von alldem las ich auf dem Weg nach Indonesien. Am Flughafen deckte ich mich am Kiosk reichlich mit Lektüre ein, mit bunten und spannenden Magazinen, die unterschiedlich seriös jedes erdenkliche Thema unserer Welt behandeln und in jedem Flughafenbuchhandel in großer Vielfalt zu finden sind. Die besagte Flöte zierte eine der Titelseiten, ein anderes Heft zeigte einen sympathischen Neandertaler mit ergrautem Bart, ungefähr in meinem Alter (ich beruhigte mich damit, dass er wahrscheinlich jünger war, aber älter aussah). Meine Frau bemerkte, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen mir und dem Ur-Ur-Ur-Vetter nicht zu übersehen wäre. Dies habe ich auch nicht geleugnet, immerhin sehe ich mich täglich zumindest einmal flüchtig im Spiegel.

In dieser persönlich gestalteten Einführung beschreibe ich einen Neandertaler auf dem Cover eines Magazins. Fundamentalistisch-kreationistische Bibelgläubige dürfen allerdings nicht an die Existenz von Neandertalern glauben. Der Mensch ist in ihrem Weltbild eine Sonderschöpfung Gottes, die keinerlei natürliche (evolutive) Verbindung zu anderen Lebensformen hat. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es Neandertaler mit absoluter Sicherheit nicht nur gegeben hat, wovon hunderttausende eindeutig zugeordnete Knochen- und Skelettfunde und andere archäologische Zeugnisse erzählen, sondern sie haben sich sogar mit unserer „Rasse” vermischt. Unser Genom ist längst enträtselt und das der Neandertaler ebenfalls. Falls die Leserin oder der Leser nicht aus Afrika stammt, fließt das Blut der Neandertaler auch in ihren oder seinen Adern. Die Originalillustration von Paschalis Dougalis zeigt Neandertaler in Höhlen bei Gibraltar (Gorham's- und Vanguard-Höhle), die dort noch vor 28.000 Jahren gelebt, junge Mönchsrobben gejagt und angespülte Delfine verzehrt haben. Auch Meeresfrüchte wie z. B. bis heute beliebte Muschelarten, standen auf ihrem Speisezettel, wie archäologische Funde belegen. Die Muscheln wurden am Strand und im seichten Wasser in ledrigen Beuteln aufgesammelt, in die Höhlen getragen und im Feuer zubereitet. Auch zahlreiche Steinwerkzeuge wurden neben Nahrungsresten (wie etwa dem Kiefer einer Mönchsrobbe) gefunden. Rund um Gibraltar liegen Hunderte Höhlen, die größeren unter ihnen boten unseren Verwandten am Höhepunkt der letzten glazialen Kaltzeit perfekte Wohnräume, aus denen sie die Meeresküste überwachen und angeschwemmte Waltiere rasch entdecken konnten. Diese Population hat andere Neandertalergruppen weiter im Norden und Osten um mindestens 7.000 Jahre überlebt. Je mehr man über Neandertaler weiß, desto geringer erscheinen die früher angenommenen Unterschiede zwischen uns und unseren nahen Verwandten. Experten sind sich zwischenzeitlich weitgehend einig, dass Neandertaler dem modernen Menschen in Sachen Erfindungsreichtum, Jagd, Handwerk, Höhlenkunst, Anpassungsfähigkeit, Kräuterkunde, vielleicht auch Spiritualität ebenbürtig waren . Die Unterschiede zwischen ihnen verschwimmen mit jedem neuen Fund. Dass Neandertaler Fischer waren, wusste man schon länger, doch haben sie offensichtlich auch im Mittelmeer z. B. nach Muscheln getaucht. Neandertaler waren möglicherweise noch vor Homo sapiens Freitaucher! Sogar anatomische Anpassungen auf die häufigen Aufenthalte im Wasser wurden bereits entdeckt: auffällige Knochenauswüchse im Hörkanal, die umgangssprachlich als Schwimmerohr bezeichnet werden und bei Schwimmern, Surfern und Tauchern regelmäßig auftreten. Durch häufige Reizungen des Außenohres und Entzündungen entstehen Knochenbildungen, die auch an den Schädeln der Neandertaler gefunden wurden. Wie Michael Blume in einem Aufsatz schreibt: Neandertalerforschung spielen für die Frage nach den Wurzeln der menschlichen Religiosität wie auch für das menschliche Selbstverständnis eine wichtige Rolle. Wir wissen noch lange nicht alles, aber der Neandertaler schien bereits etwas zu haben, was Fachleute als Proto-Religiosität bezeichnen. Seine Bestattungsrituale deuten es an.

Die spannenden Inhalte beider Hefte haben mich schon im Flugzeug restlos begeistert, und ich freute mich darauf, sie zwischen den Tauchgängen gründlicher lesen zu können. Es ist nur natürlich, die eigene Begeisterung mit Freunden teilen zu wollen. Ich hielt unserem Mitreisenden das Bild von der Flöte hin und sagte etwas wie: „Stell dir vor, fast 40.000 Jahre alt!“. Doch zeigte sein Gesicht keine Spur von Interesse, schon gar nicht von Begeisterung. „Adam und Eva waren dann vor einer Million Jahren, oder?“, murmelte er sinngemäß, und ich hatte das Gefühl, dass er fast etwas verdutzt wirkte. Offensichtlich hörte für ihn bei solchen Themen der Spaß auf. Ab dem Moment schenkte er meinen Heften vier Wochen lang keine weitere Beachtung.

Weder die Flöte aus Vogelknochen noch der bärtige Neandertaler, der mir verblüffend ähnlich sah – ich habe dank moderner Genforschung keine Zweifel, dass sein Blut in meinen Adern fließt –, wurden in der Wildnis Papuas in den kommenden vier Wochen erwähnt. In der Kabine, die wir uns zu dritt teilten, drehte ich die Titelseiten der Magazine lieber nach unten, damit sie unseren Freund nicht provozierten. Seitdem sind viele Jahre vergangen, wir haben uns oft getroffen und sind mehrmals gemeinsam gereist. Über Korallenriffe können wir reden, aber nicht über uralte Flöten, Neandertaler und ähnliche historische Sensationen. Schon gar nicht über Gott und Religion – das ist Tabu. Und so funktioniert es mit unserer Freundschaft. Was mich unwiderstehlich anzieht, scheint ihn gar nicht zu interessieren. Mehr noch: Er hält es für Gottes Auftrag, sich nicht dafür interessieren zu sollen oder zu dürfen. Ich wollte immer schon scheinbar überflüssige Fragen erforschen wie: Warum gibt es etwas, wenn es genauso gut nichts geben könnte? Nun ja, er hätte dafür schnell eine Antwort parat: Es sei einfach Gottes Wille.

Um diese Vorgeschichte nicht unnötig in die Länge zu ziehen: Unser Freund ist streng bibelgläubig. Über Behauptungen, welche der Bibel (genauer: seinem Bibelverständnis) zuwiderlaufen, diskutiert er nicht. Das gehört sich nicht, will er nicht, es ist ihm verboten – Ketzerei und Häresie. Ein Verrat an Gott und der Wahrheit vielleicht, überhaupt darüber nachzudenken. Es kommt Abtrünnigkeit gleich, der schwersten aller Sünden. Nicht einfach zu erklären, da er darüber nicht spricht, doch habe ich genug Einblick in fundamentalistische Religionen, um ihn zu verstehen. Seinem Glaubensgebäude nach war ein konkreter Mann namens Adam der erste Mensch (die aus seiner Rippe geformte Gefährtin hieß bekanntlich Eva), und seit seiner Erschaffung durch Gott sind lediglich gute 6.000 Jahre vergangen. Demnach wäre es nur logisch, dass eine 40.000 Jahre alte menschengemachte Flöte gar nicht existieren kann, weil vor 40.000 Jahren auf Erden noch keine Menschen gelebt haben. Der Grundtenor einer bibelfesten (und genauso koranfesten) Überzeugung lautet: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf," ganz gleich, was die Wissenschaft herausgefunden haben will. Wenn die Bibel etwas anderes sagt, dann muss sich die Wissenschaft irren. Schließlich ist es die Wissenschaft dieser bösen und sündhaften Welt, die – wenn wir es biblisch genau und entsprechend ernst nehmen – vom Teufel, dem Satan beherrscht wird.

Ergänzend und als Kuriosum füge ich noch hinzu, dass auch die Bibel von einer Flöte spricht, die schon sehr früh in der Menschheitsgeschichte auftaucht. In Genesis 4,19–21 lesen wir in der Einheitsübersetzung: „Lamech nahm sich zwei Frauen; die eine hieß Ada, die andere Zilla. Ada gebar Jabal; er wurde der Stammvater derer, die in Zelten und beim Vieh wohnen. Sein Bruder hieß Jubal; er wurde der Stammvater aller Zither- und Flötenspieler.“ Jubal war nach dieser biblischen Erzählung die sechste Generation seit Kain, dem ersten Mörder der (biblischen) Geschichte. Wer fest an eine wortwörtlich zu interpretierende Bibel glaubt, der muss annehmen, dass sich die geschilderten Ereignisse knapp 4.000 Jahre vor Christi Geburt abgespielt haben.

Der Flötenspieler vom Hohle Fels nahe der späteren deutschen Stadt Ulm, welcher laut Wissenschaft vor 40.000 Jahren nette Melodien musiziert hat, und der nahöstliche Jubal, der vor etwa 6.000 Jahren der Bibel nach „zum Stammvater aller Zither- und Flötenspieler“ wurde, können nicht mehr als eine archetypische Ähnlichkeit haben. Sie konnten keine Zeitgenossen sein und hatten nichts miteinander zu tun – so sensationell eine solche Nachricht auch wäre.

Ich bin nicht religionsfeindlich, nur neugierig

Nach der bisherigen Einführung sind manche Leserinnen und Leser womöglich zur Annahme gelangt, dass der Autor dieser Zeilen religionsfeindlich eingestellt ist. Ich möchte das unbedingt gleich am Anfang klarstellen, um potentielle Leser nicht unnötig abzuschrecken. Ich bin keinesfalls religionsfeindlich. Im Gegenteil, Religionen haben mich immer schon angezogen. Ich interessiere mich für Gott und auch für Jesus. Das heißt, für beide Versionen von Jesus, den historischen Menschen aus Galiläa und den Gottessohn der Legenden. Ich möchte gern herausfinden, wo die Grenze liegt zwischen Geschichte und Legende.

Ebenso interessiere ich mich für den Koran. Nicht weniger für Zeus, Venus und das ganze Pantheon babylonischer, phönizischer, griechischer, römischer und sonstiger Götter. Ich begeistere mich für die griechischen Helden, die in mediterranen Inselwelten mit Zyklopen und wunderschönen Nymphen ihre Abenteuer erlebten. Aber wenn ich solche Geschichten lese, möchte ich gerne wissen, wie es wirklich war. Wie viel wahrer Kern steckt in den Erzählungen? Was sagen moderne Forscher dazu, Archäologen, Geologen, Paläontologen und andere? Welche Teile der Bibel, der Ilias und Odyssee, des Gilgamesch-Epos kann man als historisch belegt betrachten, welche zumindest als möglich oder wahrscheinlich? Was wurde später dazugedichtet?

Anders als manche modernen Denker würdige ich jede Art von Wissenschaft, einschließlich die Theologie. Wir zählen sie zu den Geisteswissenschaften. Einige eingefleischte Naturwissenschaftler würden diesen Disziplinen gerne die Bezeichnung „Wissenschaft“ absprechen, weil sie nicht mit wissenschaftlichen Methoden arbeiten, wie zum Bespiel: Vorhersagen machen und dann per Experiment herausfinden, ob sie stimmen. Nun, das wäre dann aus meiner Sicht religionsfeindlich. Ich teile solche Ansichten keinesfalls. Ganz im Gegenteil: Geisteswissenschaftliches Gelehrtentum finde ich faszinierend. Für mich sind Phänomene des Geistes ebenso real und mindestens so spannend wie ein Proteinmolekül. Überall, wo wir Fragen stellen, forschen und nach Wahrheiten suchen, betreiben wir in Wirklichkeit Wissenschaft.

Wenn der Hinduismus etwa behauptet, es gäbe einen Affengott, der mit einem einzigen Purzelbaum Tausende von Kilometern zurücklegt, dann denke ich darüber nach, woher diese Ansicht kommt, welchen Sinn sie hat, warum Menschen an so etwas glauben wollten. Dabei schließe ich nicht aus, dass gar kein tieferer Sinn dahinter steckt, sondern es bloß eine alte Legende ist, wie es sie zu Tausenden gibt.

Dogmen: Bitte nicht stören!

Ich frage mich oft, wie es so wäre, wenn plötzlich Jesus von Nazareth in unserer Zeit auftauchen würde: Wie würde er das turbulente Geschehen katholischer Pilgerstätten wahrnehmen, wie würde er auf die unzähligen Souvenir- und Devotionalienhändler reagieren (als interessierter Leser des Neuen Testaments erinnert man sich an gewisse Begebenheiten im Tempel von Jerusalem). Was würde er sagen? Hätte er Tränen in den Augen und würde er auf die Menschenansammlung zugehen in der deutlichen Erkenntnis, dass es sich um die Seinen handelte, seine Religion, die er gegründet hat? Was würde er im Petersdom in Rom empfinden, was in Moskau in der Mariä-Entschlafens-Kathedrale bei einem orthodoxen Gottesdienst in Anwesenheit von Präsident Putin? Würde er laut verkünden: „Ich kenne euch nicht!“? Das Ganze ist reine Spekulation und ich kann nicht behaupten eine Antwort darauf zu haben. Höchstens eine Vermutung, die entspringt aber bloß meinem Glauben, den ich niemandem aufzwingen möchte.

Solche Phantasien sind nicht neu. Es sind mächtige Sinnbilder, die uns der große Fjodor Dostojewski in seinem Roman „Die Brüder Karamasow“ und einem Teil davon namens „Der Großinquisitor“ hinterlassen hat. Jesus erscheint in dieser Phantasie im Sevilla des 16. Jahrhunderts, ausgerechnet zur Zeit der Inquisition. Als das Volk Jesus erkennt, wird es dem greisen Kardinal-Großinquisitor zu brenzlig und er lässt den Heiland verhaften. Er droht ihm mit dem Scheiterhaufen. Zwar versucht der Großinquisitor, Jesus in ein Gespräch zu verwickeln, doch dieser schweigt nur, und so wird daraus ein langer Monolog. Der Großinquisitor legt Jesus nahe, dass er kein Recht hat, einfach so nach 1500 Jahren wieder aufzutauchen, um das Wirken der römisch-katholischen Kirche und die mühsam aufgebaute Ordnung zu stören. Nein, er hat nicht das Recht, auf die Erde zurückzukommen. „Bist Du es? Du? Antworte nicht, schweige. Du hast ja auch nicht das Recht, dem etwas hinzuzufügen, was Du bereits früher gesagt hast“, sagt der Großinquisitor fast schon verzweifelt. Jesus schweigt beharrlich. Am Ende küsst er den greisen Kardinal-Großinquisitor auf die blutlosen Lippen, worauf dieser den Kerker öffnet und Jesus mit den Worten gehen lässt: „… komm überhaupt nicht mehr wieder … niemals, niemals!“

Über Dostojewskijs Genius und Größe wurde in den letzten 150 Jahren genug geschrieben, so müssen wir uns mit dem Großinquisitor nicht weiter aufhalten. Ich kann nur meine eigenen Gefühle dazu darlegen: Abertausende Kirchen, Sekten, Religionsgemeinschaften haben in unterschiedlich langen Zeiträumen ihre mühsam aufgebauten Ordnungen errichtet (allein innerhalb des Christentums gibt es Zehntausende davon). In diesen Ordnungen wollen viele Gläubige, und noch weniger ihre Führer, nicht gestört werden.

Für mich ist Dostojewskijs „Großinquisitor“ keine Phantasie, sondern widerspiegelt die nackte Wahrheit. Vielen institutionellen Religionen ist wichtiger, was nach und nach an ideologischen, rituellen und dogmatischen Konstrukten entstanden ist, als schlichte historische Tatsachen. Die religiösen Imperien einschließlich ihrer materiellen Werte sollen nicht gestört werden, möglichst durch nichts und von niemandem, und sollte es Jesus persönlich sein, der da zurückkäme. Um den echten Christus geht es den Dogmatikern nicht, sondern nur um eine Fiktion von ihm, die sich über lange Zeiträume entwickeln konnte.

Der Prophet Jona wird von der Schiffsbesatzung ins Meer geworfen, die sich vor einem Sturm fürchtet und annimmt, dass Jona den Zorn Gottes auf sich gezogen hat. Danach wird er von einem „großen Fisch“ verschluckt. Im Bauch des Fisches (oder Wals?) überlebt er drei Tage, führt Unterhaltungen mit Gott und wird dann wieder an Land ausgespien. Daraufhin erfüllt er seinen prophetischen Auftrag und überbringt die Strafbotschaft an die Stadt Ninive. So steht es im Alten Testament und so wurde es im berühmten Mercator-Atlas aus dem Jahr 1600 bildlich dargestellt. Seit Jahrhunderten wurde viel darüber spekuliert, um welche Tierart es sich gehandelt haben soll (der Weiße Hai?). Diese Geschichte macht deutlich, vor welchem Dilemma Menschen stehen, die an eine wortwörtlich historische Interprätation der Bibel glauben. Rational denkende Menschen des 21. Jahrhunderts werden nicht ernsthaft in Erwägung ziehen, dass ein Mensch im Bauch eines großen Fisches drei Tage und drei Nächte lang überleben kann und dass dieses Tier dann das Opfer auch noch zum Ufer bringt und ausspuckt. Doch genau so einen Glauben verlangen kreationistisch-fundamentalistische bibelgläubige Religionsgemeinschaften von ihren Mitgliedern. Hunderte Millionen müssen es so glauben und kleinen Kindern wird es so beigebracht. Moderne Theologen sehen im Buch Jona eine religiöse Lehrerzählung, keinen historischen Bericht.

Der Hintergrund aller menschlichen Befindlichkeiten sei die Angst, schrieb der große russische Dichter. Bei religiösen Institutionen ist es die Angst um die Bewahrung des eigenen Machtanspruchs. Im Fall meines Freundes, der die Existenz einer alten Flöte und der Neandertaler nicht zulassen konnte, ist es die Angst um den Verlust des eigenen Glaubens, seines ganzen Weltbilds. Die Lehren der eigenen Gemeinschaft gelten als einzige, letzte und wörtliche Wahrheit. Wer ein kleines Stück davon anzweifelt, der zweifelt für so programmierte Menschen gleich am ganzen Weltbild. Extra ecclesiam salus non est („Außerhalb der Kirche gibt es kein Heil“), haben bereits die Kirchenväter behauptet. Konkret stammt der Spruch von Cyprian aus Karthago aus der ersten Hälfte des 3. Jahrhunderts. So sieht es die Religion unseres Freundes auch: Außerhalb seiner Religionsgemeinschaft, welche als einzige im Besitz der Wahrheit ist, gibt es keine Rettung. Alle, die nicht dazugehören, werden der verdienten Vernichtung zum Opfer fallen. Weil sie auf die besagte Lehre nicht gehört haben.

Ich bin genauso wenig antireligiös, wie es Dostojewskij war, aber die geschilderten Einstellungen fundamentalistischer Sekten erscheinen mir so unannehmbar, dass ich allein aus Gründen der Zivilcourage ein wenig darüber schreiben möchte.

„Der Weg zu einer Integration des Menschen ist ein unendliches Verstehen“, schrieb der Dichter. Verstehen wollen, das ist keineswegs Feindschaft, es ist Respekt. Ich selbst respektiere jede Religion, solange sie selbst auch andere Menschen und Überzeugungen respektiert und nicht fundamentalistisch ist. Fundamentalistische Religionen respektiere ich nicht, sehr wohl aber die Menschen, die derzeit an sie glauben. Denn diese Menschen haben sich die jeweilige Religion nicht ausgedacht. Es mag der Tag kommen, an dem sie ihre Überzeugung revidieren.

Die Kirchen ermunterten ihre Schäfchen noch nie zur Neugier. Schon Jesus musste die Wissbegier seiner Jünger manchmal bremsen. Das griffen die religiösen Machtstrukturen später gern auf: Wissbegier galt nicht als Tugend, ganz im Gegenteil, eher als Laster. Lange mussten die Menschen auf die Neuzeit, die Aufklärung warten, bis das unermüdliche Streben nach Wissen salonfähig oder gar zu einem Lebensprinzip erhoben wurde. Erst seitdem ist Neugier die Tugend eines jeden agilen Geistes. Plötzlich war es ganz normal, aufgeschlossen zu sein und wissen zu wollen, was sich hinter den Kulissen verbirgt. Nicht zufällig fiel das mit der Zeit der großen Entdeckungen zusammen. Noch im ausgehenden Mittelalter sprach man hingegen bei Erstaunen, Verwunderung und Neugier von virwiz oder vorwiz, und sie war eine Sünde.

Warum war Neugier eine Sünde? Vielleicht fürchteten die Kirchenfürsten und -oberen, sie könnten an Macht und Einfluss verlieren, wenn die Leute sich selber Erklärungen suchten, anstatt einen Priester zu fragen. Und mehr als ein Jahrtausend davor hatte Kirchenlehrer Augustinus (354–430 n. Chr.) im zehnten Buch seiner Confessiones die curiositas angeprangert, die „andachtsferne Lust am Angenehmen und Schönen“ und die „betäubende Lust zu erfahren und zu erkennen“. Augustinus zufolge hätten sich die Menschen nur für ihr Seelenheil zu interessieren, alles andere wären Ablenkungen. Aus diesem Zeitalter sind wir, Gott sei Dank, heraus.

Fragen macht Spaß, auch wenn Fundamentalisten davor warnen

Eine der vielen Fragen, denen ich in den letzten Monaten endlich nachgehen durfte, trage ich schon seit meiner Jugend mit mir herum: Ist der Monotheismus dem Polytheismus überlegen, zum Beispiel moralisch, ethisch, intellektuell? Sind Monotheisten bessere Menschen als Polytheisten? Zwischen den beiden Extremen gibt es außerdem einen Mittelweg: den Henotheismus. Unter diesem wenig bekannten Begriff verstehen wir den Glauben an einen höchsten Gott, der aber die Verehrung anderer Götter nicht prinzipiell ausschließt. Diese Einstellung war unter den Griechen und Römern rund um das Mittelmeer weit verbreitet: Man hatte von vielen Göttern gehört, verehrte aber hauptsächlich nur einen. Juden und Christen hatten mit ihrem Monotheismus beim Missionieren ein leichteres Spiel, als es auf den ersten Blick scheint. Denn für viele Polytheisten war der Glaube an einen besonderen Gott, der größer und mächtiger war als die anderen, ziemlich normal. Sie waren oft eher Henotheisten als Polytheisten. So gesehen, war der Schritt zum Monotheismus nur noch ein kleiner.

Woher hatten die Juden ihren Glauben an Jahwe, den vielleicht ersten einzigen Gott in der Geschichte der Religionen? Derselbe Gott wird weiterverehrt im Christentum und im Islam, jeweils mit entscheidenden Veränderungen, die wir später betrachten werden.

Hatte sich dieser einzige Gott auf dem Berg Sinai tatsächlich Moses offenbart, damit dieser zwei oder drei Millionen Israeliten 40 Jahre lang aus der ägyptischen Sklaverei durch die Wüste führte? Und hatte sich dieser wahre Gott vorher schon Abraham gezeigt – damals noch nicht als Jahwe, sondern als El-Schaddai, wie er sich laut Bibel dem Abraham vorgestellt hat (2.Mose 6,2–3) –, um ihm und seinen Nachkommen für ewige Zeiten ein Stück Land in Kanaan zu versprechen, das ausschließlich ihnen, aber auf keinen Fall ihren arabischen Nachbarn gehören soll? Können wir es für historisch bare Münze halten, dass sich Abraham mit 99 Jahren beschneiden ließ und dass er auf Befehl Gottes bereit war seinen Sohn Isaak mit einem Messer zu opfern, weil El-Schaddai ihn auf diese Weise auf die Probe stellen wollte?

Woher kommen die Überlieferungen der Religionen, die Heiligen Schriften? Sind sie in einem Guss entstanden oder unterlagen auch sie einer Entwicklung, einer Evolution?

Solche Fragen werden schon seit Jahrhunderten diskutiert und dennoch sind sie für viele Menschen überraschenderweise neu und für unsere heutige postfaktische Zeit höchst aktuell. War Jesus Gott, oder Gott Jesus, wurde er erst später Gott oder war er es schon vor der Erschaffung der Welt? Das sind keineswegs theologische Spitzfindigkeiten, das sind Fragen, die das römische Reich fast in einen Bürgerkrieg gestürzt hätten.

All das fasziniert mich. Wie ist es möglich, dass aus etwa 20 Menschen, die irgendwann um das Jahr 30 n. Chr. mit einem Wanderprediger namens Jeschua durch die römische Provinz Galiläa zogen, schon etwa nach 300 Jahren die dominierende Religion des Römischen Reiches wurde, später zur größten Weltreligion aller Zeiten? Wie und wann wurde das, was wir Bibel nennen, überhaupt aufgeschrieben? Woher wussten die Autoren, was sie schreiben sollten? Beispielsweise die vier Evangelisten: Keiner von ihnen hatte Jesus je getroffen oder gesehen, sie schrieben ihre Bücher mindestens 40 (Markus) oder sogar 65 bis 70 (Johannes) Jahre nach dessen Tod.

Wie sind die Überlieferungen bis zu uns gekommen? Eine nur scheinbar einfache Frage. Haben wir Augenzeugen? Und sind Augenzeugen bessere Zeugen als spätere Erzähler aus zweiter oder dritter Hand, die sich aufs Hörensagen verlassen mussten?

Durch die berühmten Funde von Nag Hammadi unweit des Nils in Oberägypten in der Mitte des 20. Jahrhunderts wurde eine Reihe völlig anderer Evangelien und Schriften außerhalb des Neuen Testaments bekannt, die sich von der Glaubenslehre der großen Kirchen ziemlich unterscheiden. Enthielten diese womöglich mehr Wahrheit als die kanonisierte Bibel? Wie zuverlässig sind die Schriften des Neuen Testaments, wenn man sie streng wissenschaftlich untersucht?

Das sind nur wenige jener Fragen, mit denen ich mich im Laufe der letzten 40 Jahre immer intensiver befasst habe und über die ich mit meinem Freund gern diskutieren wollte, aber nicht konnte, weil er der Meinung war und ist, dass es da nichts zu diskutieren gibt. Weil die einzige Wahrheit bereits in der Bibel festzementiert sei – und zwar in der Art, wie seine eigene Religionsgemeinschaft die Bibel auslegt.

Den für mich sympathischen, kindlich-verharmlosenden Begriff „lieber Gott“, den ich im Buchtitel verwende, lehnt unser Freund strikt ab. Damit ist er nicht allein. Gott sei keinesfalls nur lieb, das sagen viele gläubige Christen und andere Monotheisten. Er könne auch streng sein, ja, bestrafen, quälen bzw. foltern oder gleich vernichten. Wir werden später noch über Vorstellungen von der Hölle sprechen, in der männliche Ehebrecher an ihrem … Sie wissen schon … hängend für alle Ewigkeit über einem Feuer geröstet werden. Und die Ewigkeit ist „eine verdammt lange Zeit“, wie Rowan Atkinson in einem seiner frühen Sketsche formulierte. Bei der weltweiten Sintflut hat dieser liebe Gott angeblich jede lebende Seele ertränkt – einschließlich der unschuldigen Tiere – bis auf jene wenigen Glücklichen, die in der Arche des Patriarchen Noah Zuflucht gefunden haben. Das waren acht Menschen und paarweise die zoologischen Arten sowie einige zusätzliche Exemplare von Nutztieren. Wahrlich, ein furchtbares Gottesgericht! So entsetzlich, dass Gott es mit Wasserfluten nie wiederholen wollte. Wie verständnisvoll! Dafür droht uns nach der Offenbarung des Johannes (von Patmos) und vielen fundamentalistischen Gläubigen das Feuer der letzten großen, wahrlich apokalyptischen Schlacht, Harmagedon (auch Armageddon). Und nach ihr sollen die allermeisten Menschen, die ja Sünder sind, in der Hölle weiter leiden. So stellen sich das zumindest manche religiöse Bewegungen, zum Unterschied von anderen, vor. Was sie aber alle verbindet: Sie sind radikal. Sie warten nicht auf das Urteil des „lieben Gottes“, sondern würden das Urteil am liebsten gleich selbst vollstrecken.

Klapperstorch, das Einhorn und die Drachen

Bevor wir anfangen, nach Spuren und Tempelruinen zu graben, muss ich meine Leserinnen und Leser kurz auf Nebenwirkungen aufmerksam machen, wie es auf Beipackzetteln von Medikamenten der Fall ist: Kaum etwas ist streng historisch betrachtet genauso, wie man es als Kind in der Familie oder im Religionsunterricht gelernt hat. Judentum, Christentum und Islam sind nicht vom Himmel gefallen, auch ihre heiligen Bücher nicht, so sehr manche Religionsgemeinschaften an solchen Vorstellungen auch festhalten wollen. Götter und Gott, genauer gesagt, die menschlichen Vorstellungen über sie, unterliegen einer Entwicklung, einer Evolution. Es wäre naiv, zu glauben, dass sich eine Lehre über 1.500–2.000 Jahre nicht verändert hätte.

Der „Kinderglaube“ in einer anmutigen Darstellung aus dem 19. Jahrhundert: ein Kind mit seiner reinen Kinderseele im Gebet mit Schutzengeln. Eine Welt mit Weihnachtsmann und dem Osterhasen. Viele von uns fühlen sich emotional angesprochen, manche meinen, den kindlichen Glauben sollte man sich unbedingt bewahren. Und doch ist es nicht möglich ein Leben lang intellektuell und mental ein Kind zu bleiben. Ein Kind zu bleiben würde bedeuten „nicht zu wissen, was vor deiner Geburt geschehen ist“, wie Cicero im einführenden Zitat zu diesem Buch schreibt. evangelischer-glaube.de schreibt zu dieser Problematik treffend: „Und schon landet sein Gott auf demselben Müllhaufen, auf dem schon der Klapperstorch, das Einhorn und die Drachen liegen. Denn einen erwachsenen Glauben, der an die Stelle des Kinderglaubens treten könnte, haben viele Menschen nicht kennengelernt – und halten sich darum irgendwann für Atheisten. Man hat ihnen als Kind falsche Vorstellungen eingepflanzt – und nun folgern sie, dass Gott, wenn er so nicht ist, wahrscheinlich gar nicht ist. Von naiver Religiosität geprägt meinen sie, Religion sei nur etwas für Naive. Schuld sind aber die Erwachsenen, die ihren Kindern etwas anderes erzählen, als sie selbst glauben, und dabei ihr eigen Fleisch und Blut belügen.“

Wenn Sie in einer traditionellen monotheistisch orientierten Kultur aufgewachsen sind, werden Sie hier zum Teil verstörende oder gar ketzerische Vorstellungen lesen. In den ersten Jahrhunderten nach Christus nannte man sie Häresien, Irrlehren. Solche Vorverurteilungen funktionieren freilich nur, wenn man seinen Glauben zum einzig Wahren erklärt. Die Rechtgläubigen (Orthodoxen; Vorsicht, gemeint ist nicht die Ostkirche) konnten demzufolge alle anderen als Häretiker bezeichnen. Doch sind wir heute 2.000 Jahre weiter und in keiner Weise veranlasst, nach solchen dualistischen Denkmustern zu handeln.

In einem völlig anderen historischen Zusammenhang (es ging um Mitteleuropa und den hier immer noch existierenden Nationalismus) habe ich vor einigen Jahren die österreichische Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi interviewt. Sie sagte mir: „Aufklärung ist immer besser als Verdunkelung, Wahrheit ist immer besser als Lüge, Kenntnis ist immer besser als Ignoranz“. Dieser Satz kann uns ebenso gut als Leitgedanke unserer Spurensuche nach dem lieben Gott rund um das Mittelmeer dienen. „Kenntnis ist immer besser als Ignoranz.“ Koste es, was es wolle? Ja, ich denke schon. Koste es, was es wolle.

In einem Block ab der nächsten Seite und zwei darauf folgenden historischen Episoden fasse ich einige der Thesen zusammen, die im Buch behandelt werden. Zusätzlich zum Inhaltsverzeichnis sollen Ihnen diese Kurztexte skizzieren, was Sie auf unserer kultur- und religionshistorischen Spurensuche erwartet.

Zwei Weltbilder im Vergleich: Macht es einen Unterschied?

Fassen wir kurz und einfach, nahezu in Kindersprache, die zwei bekanntesten Weltbilder unseres abendländischen Kulturkreises zusammen. Natürlich gibt es viel mehr unterschiedliche Weltbilder als nur diese zwei, aber für unsere Zwecke kommen wir mit den beiden Polen einer breiten Skala gut aus.

Weltbild Nr. 1: Vor etwa 6.000 Jahren lebten zwei vollkommene Menschen an einem wunderbaren Ort, den wir Paradies oder Garten Eden nennen. Sie waren die einzigen Menschen auf unserem Planeten und überhaupt die ersten, die es je gegeben hat. Sie hatten keine Eltern und sonstige Vorfahren. Eden soll irgendwo im Nahen Osten gelegen haben, wahrscheinlich im Zwischenstromland Mesopotamien, denn die zwei Flüsse Tigris und Euphrat werden genannt. Im Paradies ernährten sich Löwen und Leoparden von Pflanzen und rasteten auf blumenübersäten Wiesen friedlich neben Gazellen und Lämmern, wie man es manchmal in kitschigen Tiervideos auf YouTube sieht.

Adam und Eva waren nackt, glücklich und kerngesund. Sie kannten keinerlei Schmerzen oder Krankheiten, nicht einmal Zahnweh. Über ihre makellose Schönheit können wir nur spekulieren, vermutlich würde diese selbst die großartigsten griechischen Statuen in den Schatten stellen. Mann und Frau spielten eine Schlüsselrolle im Plan Gottes. Im hebräischen Urtext bildet der Satz über sie ein Wortspiel: „So, wie der Mensch (âdâm) aus der Erde (ădâmâh) hervorgeht, so geht die Frau (iððâh) aus dem Mann (îð) hervor.“

Sie waren das Allerwichtigste, der Mittelpunkt, die Krone der Schöpfung, ein Abbild Gottes. Nicht nur der Garten, sondern die ganze Erde sollte ihnen unterstellt werden. Adam und Eva hatten nur ein einziges Gesetz zu befolgen. Es ging um einen Baum, dessen Früchte sie nicht hätten essen durften. Aber sie kosteten von diesem sogenannten „Baum der Erkenntnis“. Gut, da steckte die bösartige Schlange dahinter und hinter der wiederum der Teufel persönlich.

Weil sie das Gesetz gebrochen hatten, mussten Adam und Eva altern und sterben. Aber nach der Vertreibung aus dem Paradies lebten sie noch ungefähr 900 Jahre. Auch ihre Kinder und Kindeskinder lebten jahrhundertelang (bis auf den Sohn Abel, der von Kain ermordet wurde).

Weltbild Nr. 2: Vor 100.000 Jahren wanderten mindestens fünf verschiedene Arten der Gattung Mensch, Homo, auf unserem Planeten herum (doch Vorsicht, das Wort „Art“ lässt sich biologisch nicht so leicht definieren). Sie lebten in kleinen Gruppen verstreut in Europa, Asien und Afrika. Jene Art, die uns besonders interessiert, weil auch wir zu ihr zählen, entstand nicht etwa in Mesopotamien im Nahen Osten, sondern im Osten Afrikas, jener Region, die wir Ostafrikanischer Grabenbruch nennen. Auch all die anderen Verwandten stammten ursprünglich aus Afrika, haben sich aber schon vor uns über Eurasien verbreitet.

Die Löwen – und darüber gibt es gar keine Zweifel, wie paläontologische Forschungen zeigen – fraßen damals kein Gras, wie sie es bis heute nicht tun. Sie jagten Tiere. Unsere Vorfahren, die Menschen, taten das auch. Das Leben war alles andere als paradiesisch. Es war brutal und hart, ein täglicher Kampf ums Überleben. Ein verweichlichter westlicher Stadtmensch des 21. Jahrhunderts hätte sich dort wohl nicht lange behaupten können. Im krassen Widerspruch zum Weltbild Nr. 1 hatten die Menschen – die in Afrika und alle anderen ebenso – keinerlei globale Bedeutung. Höchstens regional, als Teil eines komplexen Ökosystems, in dem sie gerade als nomadische Jäger und Sammler lebten. Sie waren genauso viel oder genauso wenig wert wie die anderen Kreaturen, die Termiten, Vögel oder Würmer der Savanne. Keiner kümmerte sich um sie, und wenn die Dinge ungünstig liefen, konnte eine Menschenart genauso schnell aussterben wie beispielsweise der Tyrannosaurus rex viele Millionen Jahre vor ihnen. Die verschiedenen Menschentypen vor 100.000 Jahren waren lange nicht die ersten auf der Erde, sondern hatten ihre Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und unzählige weitere Generationen von Vorfahren. Vor etwa sechs Millionen Jahren hatten sie sogar einen Urahnen, dessen anderes Kind zu den Schimpansen führte.

Rechts im BIld leben Tiere in Frieden, links hinten schließen Menschen unterschiedlicher Rassen Frieden. Diese Darstellung eines Friedensreichs stammt von Edward Hicks aus 19. Jahrhundert aus den USA. Die Vorstellung sind vom alttestamentarischen Tierfrieden im Propheten Jesaja 11,6–8 (EU): Die Wölfe werden bei den Lämmern wohnen und der Pardel bei den Böcken liegen. Ein kleiner Knabe wird Kälber und junge Löwen und Mastvieh miteinander treiben. Kühe und Bären werden an der Weide gehen, daß ihre Jungen beieinander liegen; und Löwen werden Stroh essen wie die Ochsen. Und ein Säugling wird seine Lust haben am Loch der Otter und ein Entwöhnter wird seine Hand stecken in die Höhle des Basilisken.

Ob diese Menschen Namen hatten, und wie diese lauteten, werden wir nie erfahren. Die Strapazen des Lebens, Parasiten und Krankheitserreger und die vielen Gefahren, denen sie trotzten, führten dazu, dass sie zusätzlich zu verschiedensten Krankheiten ständig auch Zahnschmerzen hatten (eine schreckliche Vorstellung) und nicht lange lebten. Sie konnten sich glücklich schätzen, wenn sie das reife Greisenalter von 40 Jahren erreichten.

Sie merken: Die Unterschiede zwischen den beiden Weltbildern sind beträchtlich. In diesem Fall trifft die Aussage Friedrich Nietzsches voll zu, „dass Religion und wirkliche Wissenschaft auf verschiedenen Sternen leben“. Jemand könnte entgegnen, dass das erste Weltbild ein Märchen sei, an das keiner mehr ernsthaft glaubt. Ein 4.000 Jahre alter Mythos. Doch genau da liegt der Hund begraben. Ich habe keine genaue Zahl, aber ich schätze grob als Größenordnung, dass vielleicht bis zu zwei Milliarden Menschen auf unserem Planeten felsenfest davon überzeugt sind, dass sich unsere Geschichte genauso oder so ähnlich zugetragen hat, wie im Weltbild Nr. 1 beschrieben. Auch wenn es nur eine Milliarde ist, wäre es ziemlich viel.

Szene aus der vormenschlichen Zeit, wie die Wissenschaft sie uns schildert. Zu keiner Zeit haben Menschen und Dinosaurier nebeneinander gelebt. Es trennen sie 100 Millionen Jahre und mehr. Und nie haben Tiere untereinander in einem paradiesischen Frieden gelebt. Ihre körperliche Ausstattung sowie Angriffs- und Verteidigungsstrategien sprechen eine klare Sprache.

Die großen Kirchen haben sich abgefunden mit der Naturwissenschaft, ihre Gläubigen schicken ihre Kinder in öffentliche Schulen, aber selbst in diesen modernen Kirchen gibt es fest bibelgläubige Kreationisten. In den unzähligen Sondergemeinschaften und Freikirchen sind es die Mehrheit der Mitglieder, oder alle. Eine andere Denkweise als diese lassen solche Gemeinschaften gar nicht zu. Für sie würde es einer Gotteslästerung gleichkommen, auch nur darüber nachzudenken. In den USA, God's own country, glaubt bis zur Hälfte aller Menschen, dass Gott uns vor wenigen Jahrtausenden in unserer jetzigen Gestalt erschaffen hat. In vielen muslimisch geprägten Ländern geben 70 Prozent der Menschen und noch viel mehr an, die Evolutionstheorie nach Charles Darwin strikt abzulehnen. Auch im Judentum finden sich mehr als genug orthodoxe Gläubige, welche den Schöpfungsbericht der Genesis wortwörtlich nehmen. Wir können also Weltbild Nr. 1 nicht einfach so abtun, als ob es völlig antiquiert und vergessen wäre. Es ist auch im 21. Jahrhundert noch eine Realität unserer Existenz, eine Weltanschauung, die überall in unserer Gesellschaft verbreitet wird und mitten unter uns quicklebendig ist. Es ist die Denkweise, die seit ungefähr 2.500 Jahren in der hebräischen Bibel festgeschrieben ist, die auch zur Bibel des Christentums geworden ist. Das geschilderte Weltbild Nr. 2, das der Wissenschaft, gibt es hingegen seit nicht einmal zwei Jahrhunderten.

Können Sie sich die Not von Kindern und Jugendlichen vorstellen, welche in kreationistischen Familien aufwachsen, aber in der Schule etwas Anderes hören? Vielleicht im Internet oder im Vorbeigehen an einem Zeitschriftenkiosk etwas von Neandertalern oder uralten Flöten erspähen? Wenn Sie keine solchen Familien kennen, dann wahrscheinlich nicht. Diese Kinder können ihre Eltern nicht fragen und bekommen keine Sachbücher über Dinosaurier zu Weihnachten geschenkt. Können Sie sich ausmalen, unter was für einen emotionalen Druck sie stehen? Auch die Eltern stehen unter Druck einschließlich Drohungen vom Rest der Gemeinschaft. Abtrünnige verlieren ihre Familien, ihre Freunde, sind nicht mehr existent für die eigenen Verwandten.

Wir kommen nicht darum herum, über Weltbilder nachzudenken. Weltbild Nr. 1 hat den Menschen nahegelegt, „sich die Erde untertan zu machen“. Wohin das führen kann, sehen wir an abgeholzten Landschaften und an Zootieren, die stumpfsinnig durch die Stäbe herausstarren. Das Weltbild der Genesis macht uns auch glauben, der Mensch wäre schuld an allen Krankheiten und Mühen der Welt. Hätte Adam nicht in den Apfel gebissen, lebten wir noch heute im Paradies. Das Weltbild Nr. 2 zeigt uns, dass alles fließt und sich entwickelt. Es gab nie ein Paradies. Auch nicht zur Zeit der frühen Menschen. Wir sind Teil eines großen Ganzen, wo es immer schon Raubtiere und Dornengestrüpp gegeben hat. Wir dürfen nicht versuchen, uns die Erde zu einem Garten oder Park zu machen und alles auszumerzen, was uns nicht gefällt.

Wenn beide Weltbilder sich vermischen, erleben wir Überraschungen. Zum Beispiel in jüngster Zeit eine apokalyptische Sekte von angeblichen Umweltschützern, welche uns einreden wollten, wir selber wären ein Unkraut, das man ausmerzen müsste. Wir wären schuld an allem Übel der Welt, etwa an jedem einzelnen Hurrikan. Und in drei Jahren wäre die Welt zu Ende, wenn wir nicht Buße täten und zur Lebensweise der Steinzeit zurückkehrten. Sogar der Umweltschutz kann zur Sekte ausarten, wenn er statt auf Wissenschaft auf Dogmen setzt.

Einleitende Episode Nr. 1

Das auserwählte Volk: Deinem Samen will ich dieses Land geben!

Der Herr aber hatte zu Abram gesprochen: Geh hinaus aus deinem Land und aus deiner Verwandtschaft und aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dir zeigen werde! Und ich will dich zu einem großen Volk machen und dich segnen und deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf der Erde!

Genesis 12,1–3, Schlachterbibel

Zwei außergewöhnliche Entitäten (philosophisch für abgrenzbare und definierbare „Dinge“ oder Einheiten) begegnen uns seit mindestens zweitausend Jahren im Mittelmeerraum. Das Eine sind die Juden als … als was? Als Volk, als Nation, als Ethnie, als Religion, gar als Rasse? Wir sehen: Gleich zu Beginn kommen wir mit solchen Begriffen in Verlegenheit. Das Judentum ist unser einführendes Beispiel Nr. 1. Unser zweites ist der Jude Jesus von Nazareth, der um das Jahr 30 n. Chr. von Römern hingerichtet wurde. Genauer geht es um die unglaubliche Entwicklung jener Bewegung, die er – wahrscheinlich sogar ungeplant – ins Leben gerufen hat.

Diese beiden fixen Größen brauchen wir gleich am Anfang unserer Spurensuche, damit wir über das Mittelmeer und den lieben Gott weiterreden können. Denn die Götter der Philister, der Moabiter, der Edomiten, der Ägypter, der alten Griechen, der Römer und all die anderen, die sind längst tot und vergessen, wie auch die Völker, die sie verehrt haben. Sie sind einfach verschwunden, vergessen, wiedergefunden nur auf den verstaubten Seiten alter Schriften und bei Ausgrabungen im Sand. Im krassen Gegensatz zu ihnen sind die oben angegebenen zwei Entitäten hingegen mehr als quicklebendig. Auf der Landkarte finden wir einen politischen Staat Israel. Und die Person Jesu steht im Mittelpunkt der größten Religionsgruppe der Welt. Juden und Christen haben uns gemeinsam ein Buch hinterlassen, das wir Bibel nennen. Sie ist der absolute Weltbestseller aller Zeiten – es wird wohl auch künftig kaum etwas geben, was an diese Schriftensammlung herankommen könnte. Damit haben wir bereits die wichtigsten Zutaten genannt, aus denen sich die meisten anderen Themen unseres Buches ableiten.

Beginnen wir mit dem Judentum. Dem Alten Testament nach könnten wir die Geschichte der Juden in wenigen Sätzen folgendermaßen zusammenfassen: Vor knapp 2.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung sprach (der einzige und wahre) Gott einen Mann in der mesopotamischen Stadt Ur an, weil der bemerkt hatte, dass die Götterbilder seiner Mitbürger bloß Holzfiguren waren. Wie konnte er so etwas anbeten? Diesem Mann, Abram hieß er, offenbarte sich der einzig wirkliche Gott. Es gäbe da ein fernes Land, dass er, Gott, ihm geben möchte. Sein Same (Nachkommen) soll sehr zahlreich werden, und sich zu vielen Völkern entwickeln. Dasselbe wird auch Abrahams Sohn Isaak verheißen, und ebenso dessen Sohn, Abrahams Enkel, Jakob. Dieser erhält im weiteren Verlauf der Geschichte einen neuen Namen, Israel, der übersetzt in etwa „Gott streitet (für uns)“ bedeutet.

Welchen Weg wir auch im Leben einschlagen, es sollte ein Weg des Friedens sein. Das ist die Botschaft dieser Straße in Tel Aviv in Hebräisch, Arabisch und in lateinischen Buchstaben shalom aleichem ist die bekannteste Begrüßung der jüdisch und arabisch geprägten Region, die in diesem Buch behandelt wird. Friede sei mit dir. Die passende Antwort ist aleichem shalom – Zu dir Frieden. Die arabische Version der Begrüßung lautet salam aleikum. Die eigentliche Botschaft dieses Buches. Die Ähnlichkeit zwischen den drei Religionen ist beträchtlich, weil sie von der Abstammung her eine Religionsfamilie bilden – die abrahamitische oder abrahamsche. Zu ihr zählt mehr als die Hälfte der Menschheit. Es sind monotheistische Religionen mit einer einzigen gemeinsamen Wurzel. Zwischen shalom aleichem und salam aleikum ist kein großer Unterschied. Rationale Aufklärung soll intolerante und irrationale religiöse Standpunkte minimieren. Im Koran finden wir unzählige Parallelen sowohl zum Neuen Testament als auch zur hebräischen Bibel. Die größte Nähe freilich besteht zwischen Juden- und Christentum, denn der Tanach – die Heilige Schrift der Juden – ist gleichzeitig das Alte Testament der Christen. Die wesentlichen handelnden Personen aller drei Religionen sind für die ersten Jahrtausende der Geschichte identisch, beginnend mit Adam und Eva über Stammvater Noah (Sintfluterzählung), Abraham (der Urvater aller Gläubigen der drei Religionen), David (im Koran Dawud) und Salomon (Suleiman „… der Friede sei mit ihm, er war ein König der Kinder Israels und ein Prophet des Islam“) bis zu Maria, der Mutter Jesu und Jesus selbst. Ja, es bestehen beträchtliche Ähnlichkeiten zwischen den Religionen und auch manche Unterschiede, die wir nicht unter den Teppich kehren wollen. Die substanzielle Ähnlichkeit, die gemeinsamen Wurzeln bieten aber eine wunderbare Gelegenheit zum Dialog. Es wäre ein Verlust, den spirituell-kulturellen Schatz der unterschiedlichen Überlieferungen der drei Wege zu verlieren, was niemand möchte, dennoch wäre es töricht, ihren gemeinsamen Ursprung und den einen einzigen gemeinsamen Gott, der sie verbindet, zu leugnen.

Jakob oder Israel bekam zwölf legitime Söhne. Das sind die Stammväter der zwölf Stämme Israels: Ruben, Simeon, Levi, Juda, Dan, Naftali, Gad, Ascher, Issachar, Sebulon, Josef und Benjamin. Durch verschiedene Umstände gelangte einer von ihnen, Joseph, nach Ägypten, was sich als Segen erweisen sollte: Dort gab es – dank dem Nil – genug Nahrung, und die ganze Familie Jakobs konnte später dort hinreisen und so eine Hungersnot überstehen. In Ägypten wurden die Nachfahren Jakobs (Israels) zu einem mächtigen Volk, dem Volk Israel, das am Ende beinahe drei Millionen Menschen zählte. Der ägyptische Pharao unterjochte aber das künftige Volk Gottes. Da stand Moses auf, führte sein Volk aus der Sklaverei heraus und 40 Jahre lang durch die Wüste (Halbinsel Sinai). Als sie das Land Kanaan erreichten, das Gott ihrem Urvater Abraham 400 Jahre davor versprochen hatte, eroberten sie es unter Josuas Führung und rotteten dabei auf ausdrücklichen Befehl Gottes große Teile der ursprünglichen kanaanäischen Bevölkerung aus.

Etwa weitere 400 Jahre später formierte sich ein Königreich, zuerst unter König Saul, dann unter dem berühmten David, welcher den berüchtigten Riesen der Philister, Goliath, mit einem Stein aus einer Schleuder niederstreckte, und schließlich unter seinem ebenso berühmten Sohn, dem weisen König Salomo mit seinen 700 Ehefrauen und 300 weiteren Konkubinen. Die Hauptstadt Israels, Jerusalem, stieg zu nie dagewesenem Ruhm auf, mit einem prächtigen Tempel, den der weise Salomo erbauen ließ.

Das Allerheiligste im Jerusalemer Tempel durfte nur zu Jom Kippur (Versöhnungstag) einmal im Jahr vom Hohepriester betreten werden. Für alle anderen war der Raum unzugänglich. Man glaubte, dass Gott im Allerheiligsten in besonderer Weise präsent sei. Neben der geheimnisumwitterten Bundeslade fand sich darin der Siebenarmige Leuchter (Menora) als eines der wichtigsten Kultobjekte des Judentums. Als die Römer 70 n. Chr. den Tempel zerstörten, wurde das Tempelinventar, darunter die Menora, von Soldaten erbeutet und vom späteren Kaiser Titus beim Triumphzug in Rom präsentiert. Genau diese Szene zeigt ein Relief des berühmten Titusbogens.

Und so könnten wir noch lange weiter erzählen. Im Wesentlichen gibt es für diese Anfänge des Volkes Israel nur eine überlieferte Quelle: das Alte Testament, die hebräische Bibel. Diese wurde nicht etwa von Moses geschrieben, von dem man nicht weiß, ob er existiert hat. Einzelquellen und mündliche Überlieferungen wurden ab ca. 1.000 v. Chr. und speziell im babylonischen Exil zusammengefasst.

Moderne Archäologen und Historiker haben mit der ganzen Geschichte seit Jahrzehnten ein Problem. Sie vermuten, dass es die geschilderten Ereignisse und die entsprechenden Akteure – wie eben Moses – gar nicht gegeben hat. Die geschilderten Erzählungen seien Mythen, Legenden also. Historisch und archäologisch lassen sich diese Narrative in vielen Fällen nicht fassen. Kaum realistisch ist die Vorstellung, dass drei Millionen Menschen 40 Jahre durch die Wüste zogen und dort ausreichend Wasser und Nahrung fanden. Die Halbinsel Sinai ist auch nicht so groß, dass man vierzig Jahre bräuchte, um sie zu Fuß zu durchqueren. Dass es ungefähr um das Jahr 1000 v. Chr. ein ruhmreiches, vereinigtes israelisches Königreich mit der Hauptstadt Jerusalem und einem prächtigen Tempel gegeben haben soll, lässt sich aus archäologischen Grabungen nicht ablesen.

Orthodoxe Juden versammeln sich zu Beginn des Sabbats (am Freitagabend, da der Tag mit dem Sonneruntergang beginnt) in der Nähe der Westmauer. Besser bekannt ist sie als Klagemauer bzw. in Jerusalem umgangssprachlich schlicht Kotel (Mauer). Es sind die letzten sichtbaren Reste der westlichen Umfassungsmauer des Plateaus des Herodianischen Tempels. An sich hatte diese Mauer keine besondere religiöse Bedeutung – diese gewann sie erst in den Jahrhunderten nach der Zerstörung des Tempels. Ab dem 5. christlichen Jahrhundert finden sich in der rabbinischen Literatur auf die Verehrung der Mauer als heiliger Stätte wie „die Westmauer wird nie zerstört werden“ oder „die Gottesgegenwart (hebr. Schechina) wich bei der Zerstörung des Tempels nicht von der Westmauer“.

Einer der eingangs angekündigten Autoren, ist der israelische Historiker Shlomo Sand, den ich hier gern zitieren möchte. Sein Buch Wann und wie wurde das jüdische Volk erfunden? provoziert schon mit seinem Titel. Wurde dieses Volk wirklich bloß erfunden? Existiert es nicht wirklich? Was sind dann Juden oder Israelis? Die Antwort auf solche Fragen hat weitreichende Konsequenzen auf alles, worüber wir hier in weiterer Folge sprechen wollen, Religion, Kultur, Politik, unsere gesamte Weltsicht. Liegen die historischen Ursprünge des jüdischen Volkes in zum Judentum konvertierte Heiden, wie Shlomo Sand behauptet? Sind Palästinenser in Wirklichkeit zum Islam konvertierte Juden? All das betrachten wir in einem ausführlichen Kapitel. Hier nur so viel: Weder Shlomo Sand noch seine Kritiker haben völlig recht. Die Wahrheit müssen wir in der Mitte suchen.

Die Spurensuche nach den Juden und dem Judentum, mit Schlüsselbegriffen wie Verheißung, Land (Eretz), Wanderschaft und Migration, Exil, Diaspora, Rückkehr, Heimat und so weiter, verspricht auf alle Fälle spannend zu werden. Doch wir sind vorgewarnt: Allein schon die Formulierung „die Juden“ ist historisch unscharf und schwer zu fassen, ebenso das Wort „Volk“ oder „Nation“. Schließlich werden wir noch feststellen, dass sich alle Experten der Welt kaum einigen könnne auf eine einheitliche Definition selbst trivial klingender Begriffe wie „Religion“.

Doch das ist erst der Anfang unserer Geschichte Das Mittelmeer und der liebe Gott. Denn ein bestimmter Jude soll nicht nur den Lauf der Welt grundlegend verändern, sondern auch die Geschichte seines eigenen Volkes, aus dem er hervorgegangen ist. Es ist Jesus von Nazareth, wahrscheinlich die prägendste Gestalt der Menschheitsgeschichte, im Folgenden unsere Einleitende Episode Nr. 2.

Einleitende Episode Nr. 2

Wie aus 20 Jüngern die größte Weltreligion der Geschichte wurde

Alles nun, was ihr wollt, daß die Leute euch tun sollen, das tut auch ihr ihnen ebenso; denn dies ist das Gesetz und die Propheten.

Jesusworte aus Matthäus 7,12

Um das Jahr 30 n. Chr. streiften ungefähr zwanzig Leute durch die unbedeutende römische Provinz Galiläa im nördlichen Palästina. Ihr Anführer war ein jüdischer, etwa dreißigjähriger apokalyptischer Wanderprediger namens Jeschua ben Jôsçf. Er kam aus Nazareth, einem Dorf mit vielleicht 200 bis 500 Seelen. Dort ist er vermutlich auch geboren und die Erzählung mit Betlehem ist ein später konstruiertes Narrativ vor allem für Judenchristen. Denn die Juden warteten auf einen Messias, einen neuen König Israels, und der musste aus Betlehem kommen, der Geburtsstadt König Davids.

Jesus aus Nazareth verkündete keinen Himmel und keine Hölle, wie viele Menschen seit bald zwei Jahrtausenden glauben, auch keine unsterbliche Seele, wie sie der griechische Philosoph Platon postulierte und wie es uns nahezu selbstverständlich vorkommt, sondern ein unmittelbar bevorstehendes Königreich Gottes hier auf Erden. Dass er ein göttliches Wesen sei oder gar Gott, der Schöpfer persönlich, behauptete er nicht. Das steht erst im Evangelium des Johannes, geschrieben erst 70 Jahre nach Jesu Tod. Trotz mancher legendär ausgeschmückten Berichte in den später geschriebenen Evangelien hörten ihm nur wenige Juden zu. Denn viele von ihnen träumten von einem anderen Typus Anführer, einem politischen Messias, der sie vom schweren Joch der Römer befreien würde.

In Jerusalem geriet Jesus in Konflikt mit der jüdischen und in weiterer Folge mit der römischen Elite. Ausgerechnet kurz vor dem Pessachfest predigte unser Galiläer in der Hauptstadt. Für die römische Obrigkeit war das Fest wegen dem beträchtlichen Menschenauflauf eine recht heikle Zeit, da es in den Provinzen gesellschaftlich und politisch ohnehin stets kochte und brodelte. Nach seiner Verurteilung schließlich wurde dieser Jesus auf die furchtbarste Art jener Zeit hingerichtet, durch Kreuzigung. Auf seinem Kreuz stand „Jesus von Nazareth, König der Juden“ (abgekürzt INRI, Iesus Nazarenus Rex Iudaeorum – nach dem ältesten griechischen Text des Johannesevangeliums lautet die Übersetzung: „Jesus, der Nazoräer, der König der Juden“), etwas, was Jesus von sich ebenso wenig behauptet hat, als dass er Gott persönlich sei. Die verstörte kleine Schar seiner Jünger - es waren mindestens 11 Männer und etliche Frauen, die Jesus begleiteten - kamen nach wenigen Tagen zu einer in weiterer Folge weltweit historisch entscheidenden Überzeugung: Jesus sei von den Toten auferstanden, denn manche von ihnen meinten, sein Grab leer vorgefunden zu haben. Wahrscheinlich hatten manche auch äußerst realistisch wirkende Visionen von ihm; solche Erscheinungen sind der modernen Psychologie bekannt. Die Nachricht von der Auferstehung breitete sich aus der Sicht der wenigen Nachfolger „wie ein Lauffeuer aus“. Der harte Kern dieser Anhänger waren in Wirklichkeit nur eine Handvoll Frauen und Männer. Einer realistischeren Einschätzung zufolge nahm die römische Welt jener Zeit überhaupt keine Notiz von alldem, ebenso wenig die Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft. Einer der vielen Wanderprediger jener Zeit wurde exekutiert. Nichts, was damals große Wellen geschlagen hätte.