Das Nachtschiff - Volker Hesse - E-Book

Das Nachtschiff E-Book

Volker Hesse

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Beschreibung

"Ihr habt uns lange warten lassen", rasselte seine heisere Stimme. "Neunzehn Jahre im kalten Wasser sind kein Zuckerschlecken. Aber nun seid Ihr ja da." Die fast vierzehnjährige Lea und ihre Geschwister erwarten wieder einmal triste, verregnete Sommerferien zu Hause in Remscheid. Doch dann trifft überraschend ein Brief ein und ändert alles. Die Familie Klages begibt sich auf eine Reise ins Ungewisse. Diese führt sie auf die Insel Korsika - und die Kinder auf mysteriöse Art in vergangene Zeiten. Das schwarz-weiße Steuerrad eines rätselhaften Segelschiffes wird zum unheilvollen Boten einer längst vergangenen Zeit. Können Lea, Tim und Sarah den Bann brechen?

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Inhalt

Im Nachhinein

Großonkel Konrad

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Cargèse

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Aléria

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40,9° Nord – 6,2° Ost

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Im Nachhinein

Im Nachhinein kommt mir alles manchmal unwirklich vor. Es gibt Momente, da weiß ich tatsächlich nicht, ob es passiert ist, oder ob ich alles nur geträumt habe. Aber immer wenn ich an meiner Erinnerung zweifle, brauche ich nur meine Geschwister zu fragen. Die waren zum Glück dabei.

Es hat sich alles genau so zugetragen, wie ich es nun berichten werde. So unglaublich es klingen mag. Es ist alles schon eine Weile her, deshalb will ich es jetzt aufschreiben, solange wir drei uns noch gut daran erinnern können.

Es gibt weit mehr auf dieser Welt als das, was unsere Augen uns sehen und unser Verstand uns glauben machen möchten. Mit ein bisschen Glück tut sich von Zeit zu Zeit eine kleine Lücke auf. Und dann erleben wir das, was sonst hinter einem Schleier verborgen liegt.

Großonkel Konrad

1

Noch vier Wochen und einen Tag bis zum Beginn der Sommerferien. Und noch vierundvierzig Minuten bis zum Ende der ödesten Mathestunde, seit irgendein alter Grieche das Fach erfunden hatte.

Ich stützte den Kopf auf die Linke und starrte aus dem Fenster, während meine Rechte mit dem Füller wie eingeschlafen auf dem Papier lag. Es regnete, wie fast immer in Remscheid. Die Tropfen rannen mit der gleichen Eintönigkeit an der Scheibe herunter, in der auch der Lehrer über den Dreisatz philosophierte. Kalter Kaffee. Ich war ein Ass in Mathe, stand in den Arbeiten glatt auf eins. Für meine mündlichen Noten galt das allerdings nicht.

Durch den Regen konnte ich über das Dach des Nachbargebäudes kaum bis nach Hause sehen, dabei waren es gerade einmal vierhundert Meter Fußweg von der Schule bis zum Hochhaus. Wie ein Gebilde aus vier riesigen Bauklötzen ragte es schieferdunkel in den Himmel und schien direkt an die Unterseite der grauen Regenwolken zu stoßen. Oben im neunten Stock lag das Zimmer, das ich mir mit Sarah teilen musste.

Mein Geburtstag war in diesem Jahr drei Tage nach Ferienbeginn. Endlich wurde ich vierzehn! Und? Es würde keine Feier geben, weil all meine Freunde im Urlaub waren. Mieser konnten Ferien kaum anfangen. Alle würden an irgendwelchen Sandstränden oder in Hotelanlagen am Pool chillen, während ich selbst aus den Fenstern im neunten Stock in den Remscheider Regen schauen musste. Mir wäre es egal gewesen, ich wäre sogar auf Bergen herumgerannt, Hauptsache weg. Nur für eine Woche!

Aber Urlaub war nicht drin. Seit Papa arbeitslos war, mussten wir jeden Euro zweimal umdrehen, bevor wir ihn ausgeben konnten. Und das ging schon ganz schön lange so.

Also wieder Abhängen am Stausee, wie jede Sommerferien. Aber nur, wenn sich die Sonne irgendwann einmal wieder sehen lassen würde. Und danach sah es im Moment ganz und gar nicht aus.

Beim Mittagessen in der Schulkantine setzte ich mich allein an einen Platz in der Ecke des Speisesaals, nur blieb das nicht lange so. Laut krachend schepperte zwei Minuten später meine Schwester ein Tablett mir gegenüber auf den Tisch und grinste mich an.

Sarah war damals zwölf, knapp eineinviertel Jahre jünger als ich, und ging in die sechste Klasse. Offenbar hatte sie gerade Bio gehabt, denn sie quasselte ohne Punkt und Komma über Säugetiere. Ich hörte nicht zu und stocherte weiter in meinem Kartoffelbrei herum. Es war alles so ätzend. Irgendwann versiegte Sarahs Redeschwall von allein. Gott sei Dank.

Im Grunde genommen mochte ich meine Schwester ganz gern. Meistens. Aber oft ging sie mir auch auf die Nerven, so wie gerade eben. Wenn sie hinter ihrem Dauergrinsen mal wieder nicht mitbekam, dass ich einfach nur meine Ruhe haben wollte.

Das nächste Tablett wurde auf den Tisch gestellt. Mein Bruder Tim war fünfzehn und ging in die achte Klasse. Er war durchschnittlich groß, hatte durchschnittlich braune, dafür umso längere Haare und war eigentlich ein eher unauffälliger Typ. Aber wenn er lächelte, dann war es, als wenn die Sonne ganz allein auf ihn scheinen würde. Das fand jedenfalls meine Schwester.

„Hi Tim“, begrüßte die ihren Bruder mit vollem Mund.

„Hi Knirps“, zwinkerte Tim mit einem Sonnenscheinlächeln hinüber. „Hi Lea“, murmelte er mir danach fast verschwörerisch zu. „Wenn du es schaffst, deine Mundwinkel noch ein kleines bisschen herunterzuziehen, dann gefriert bestimmt die Luft hier drin!“

„Kannst dich ja woanders hinsetzen“, blaffte ich ihn an.

Schlagartig wich das Lächeln aus Tims Gesicht und die Sonne verschwand hinter einer Wolke. „Kein Bedarf. Die quatschen die ganze Woche schon von nichts anderem als Urlaub.“

„Na und? Ich denke, du fährst mit Niklas ins Feriencamp?“, fragte Sarah mit gerunzelter Stirn nach.

Tim zuckte mit den Schultern. „Dafür muss ich aber zuerst einmal den Job im Baumarkt bekommen. Die Auslosung ist heute Nachmittag.“

Mein Blick zuckte kurz zu meinem Bruder hinüber. Zweifel standen ihm deutlich ins Gesicht geschrieben. Den Bruchteil einer Sekunde lang wollte ich ihm etwas Aufmunterndes sagen, aber dann drängte ich diesen Gedanken wieder beiseite und widmete mich erneut dem Stochern in meinem Mittagessen. Es wurde langsam Zeit, ich hatte gleich noch Deutsch.

Ich legte die Gabel weg und stand auf. Während ich meine Jacke anzog und meine Tasche über die Schulter hängte, murmelte ich ein leises „Tschö“ zu den anderen beiden hinüber. Dann schnappte ich das Tablett und ging, ohne auf eine Antwort zu warten, zum Rückgabeband. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die beiden ihre Köpfe zusammensteckten, als ich, ohne mich noch einmal zu ihnen umzudrehen, allein durch die große Glastür hinausging. Bestimmt musste Tim jetzt die Wiederholung von Sarahs Biostunde über sich ergehen lassen. Jetzt hatte sie wenigstens ein Opfer gefunden.

*

„Tim, kommst du?“, rief meine Mutter Kathrin Tim zum Abendessen. Mein Vater Andreas und wir beiden Mädchen saßen schon am Tisch.

„Moment noch, die Mail vom Baumarkt kommt um sechs!“, tönte es aus dem Wohnzimmer zurück, in dem der Computer stand. Natürlich hatte jeder von uns ein eigenes Profil auf dem PC. Es gab feste Computerzeiten, die auf einem Plan an der Wand neben dem Schreibtisch hingen. Jeder von uns durfte eine Stunde pro Tag am Rechner verbringen. Darauf hatten wir uns im Familienrat geeinigt, damit auch alle einmal drankamen. Eigentlich hatte Tim jetzt keine Computerzeit, aber da heute die Auslosung war, durfte er ausnahmsweise nach den E-Mails schauen. Wir alle wussten, wie wichtig dieser Job für ihn war.

Wir schwiegen, während wir auf Tim warteten. Ich drückte ihm insgeheim die Daumen. Endlich hörten wir, wie der Computer sagte: „Sie haben Post.“ Das war angeblich ein Gag, über den sich Papa immer wieder schlapplachen konnte. Irgend so eine Retro-Sache. Von uns Kindern verstand niemand den Witz, aber Papa hatte uns allen – trotz Gemeinschaftsprotest – den Jingle auf unserem Profil installiert.

Aus dem Wohnzimmer war nichts zu hören. Kein Jubel, kein Fluchen. Leise stand Mama auf und ging hinüber zu Tim.

Als Nächstes hörten wir sie sagen: „Oh nein.“ Papa schloss mit bedrückter Miene die Augen und ließ den Kopf sinken.

Tim sagte nebenan mit kratziger Stimme: „Ist schon gut.“

„Komm einfach, wenn du so weit bist, ja?“, bat Mama ihn und kam mit geröteten Augen wieder herüber an den Esstisch.

Tim kam nicht hinterher. Er verkroch sich in sein Zimmer.

2

Laura, die hohle Luxusziege aus der Parallelklasse, hatte es beinahe übertrieben. In der Pause nach der zweiten Stunde hatte sie auf dem Flur so lange über meine „Geht ja gar nicht“-Klamotten herumgelästert, bis mir fast die Sicherungen durchgebrannt waren. Ich war kurz davor, ihr eine zu knallen, aber ich konnte mich gerade noch zusammenreißen. Stattdessen schubste ich sie aus dem Weg und verzog mich aufs Klo. Eines Tages würde ich ausrasten und ihr eine scheuern, das war so gut wie sicher. Ich hoffte, dass es mir wenigstens noch bis zu den Ferien gelingen würde, mich zusammenzureißen. Ein Termin beim Direktor war so ziemlich das Letzte, was ich gerade brauchen konnte. Meine Welt war ohnehin schon kompliziert genug.

Bebend vor Wut verbrachte ich den Rest des Schultages. Irgendwie schaffte ich es zum Glück, Laura aus dem Weg zu gehen.

*

Noch drei Wochen bis zu den Ferien. Die letzten Klassenarbeiten standen an, und der verregnete Sonntag verging für uns Geschwister über unseren Schulbüchern. Ich hätte gern auf dem Bett gelegen und Musik gehört, aber vor meinem Vater gab es kein Entkommen. Natürlich wusste Papa, wann Arbeiten anstanden, schließlich war er Lehrer. Und er bestand darauf, seine Kinder abzufragen. Da mussten wir jedes Mal so lange durch, bis er zufrieden war. Auch wenn er keine Anstellung hatte, sah unser Vater es als Berufsehre an, dass seine Kinder in der Schule so gut wie möglich abschnitten. Es gab nicht viel, in dem Tim, Sarah und ich uns einig waren, aber dass Papas Beruf kein Segen für uns war, gehörte ganz sicher dazu.

Erst kurz vor dem Abendessen gab er endlich Ruhe und ging in die Küche zu Mama, um ihr beim Kochen zu helfen. Wir hatten bis zum Essen Freizeit. Tim las ‚Reckless‘, Sarah sah irgendetwas im Fernsehen und ich kam endlich dazu, auf meinem Bett zu liegen, während die Kopfhörer meines MP3-Players bei den aktuellen Liedern von Sunrise Avenue ihr Bestes gaben.

Wir saßen zusammen bei einer riesigen Schüssel Spaghetti Bolognese, als Sarah zuerst ein wenig herumdruckste und dann eine Bombe platzen ließ. „Können wir nicht nur ganz kurz irgendwo hinfahren?“, fragte sie leise, während sie weiter mit ihrer Gabel die Nudeln auf dem Löffel drehte.

Tim und ich hielten den Atem an. Das war typisch für sie, immer in die Vollen. Mama ließ das Besteck sinken und sah hilfesuchend zu Papa. Der nahm zuerst einen großen Schluck Wasser, bevor er sagte: „Du weißt, dass wir nur wenig Geld haben …“

Sarah hob den Kopf und sah Papa trotzig an. „Aber die anderen fahren auch alle in Urlaub. Ich will ja gar nicht nach Ägypten oder sonst wohin. Ich will nur einmal weg von hier!“

Papa schüttelte den Kopf. „Das geht nicht, leider. Wenn ich wieder eine Anstellung habe, dann …“

„Und wann soll das sein?“, fuhr Sahra ihm dazwischen. Die erste Träne lief über die roten Flecken, die auf ihren Wangen erschienen waren. „Wenn ich achtzehn bin?“

Papa klappte den Mund zu. Sein Gesicht spiegelte irgendetwas zwischen Ärger und Enttäuschung. Mama legte Sarah die Hand auf den Arm. „Bitte sei nicht unfair, Kleines“, versuchte sie, sie zu beruhigen. „Am Ende der Ferien müssen wir eine irre Summe für Leas Zahnspange bezahlen, da geht …“

Nee, oder? Ich richtete mich ruckartig auf. „Super“, ätzte ich meine Mutter an, „jetzt bin ich also mal wieder schuld? Vielen Dank!“ Ich stieß meinen Stuhl so heftig zurück, dass er umkippte, aber das war mir völlig egal. Als Nächstes krachte meine Zimmertür hinter mir ins Schloss.

Ich schlug wütend auf mein Kopfkissen ein. Immer bekam ich alles in die Schuhe geschoben! Dabei hatte ich doch gar nicht angefangen! Sarah hatte mal wieder die Klappe nicht halten können, nicht ich! Aber eigentlich lag doch alles an Papa, weil der keine Anstellung hatte. Wenn der nur irgendeinen Job hätte, dann könnten wir auch in den Urlaub fahren! Aber nein, natürlich war ich daran schuld. Weil ich nicht wie ein Zombie mit schiefen Zähnen rumlaufen wollte. War ja auch viel einfacher!

Weinend und kraftlos kroch ich unter meine Decke, nachdem ich meine Sachen ausgezogen hatte. Mit etwas Glück konnten wir vielleicht für ein paar Tage zu Tante Merle, Mamas Schwester, die auf einem Bauernhof im Sauerland wohnte. Da war es zwar garantiert nicht wie am Strand in Spanien, aber das Sauerland war immerhin nicht Remscheid.

Als Sarah später ins Zimmer kam, schlief ich schon.

*

Am Mittwoch schien endlich wieder die Sonne. Schon am frühen Morgen stand sie an einem wundervoll blauen Himmel und hatte bis zum Mittag den Rest Feuchtigkeit von Wegen und Wiesen weggetrocknet. Ein sanfter Wind vertrieb die aufsteigende Schwüle; es war ein richtig schöner Sommertag.

Beim Mittagessen trafen wir uns wie fast immer an dem Tisch in der Ecke des Speisesaals. „Siebte und Achte fallen bei mir aus“, verkündete ich zum offensichtlichen Erstaunen von Tim und Sarah mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Ich fahre an den See.“

Tim sagte lächelnd: „Super!“, und hob einen Daumen, Sarah zog kurz eine Schnute. Offenbar wäre sie gern mit zur Talsperre gefahren, aber sie hatte noch Unterricht.

Nach dem Essen rannte ich nach Hause, zog mir schnell einen Bikini an, warf ein Top drüber und sprang in eine Shorts. Schon saß ich auf dem Rad und war auf dem Weg zur Talsperre.

Ziemlich außer Atem und verschwitzt kam ich am See an. In einer winzig kleinen Bucht, zu der ich nur fuhr, wenn ich allein war, ließ ich mein Fahrrad fallen, warf Shorts und Top daneben und sprang kopfüber in das erfrischend kühle Wasser. Eigentlich war das Baden im Stausee an dieser Stelle verboten, weil sie so nah an der Staumauer lag. Aber ich setzte darauf, dass die Kontrollettis der Stadtverwaltung sich lieber mit Parksündern als mit mir beschäftigen würden.

Nach ein paar Minuten kam ich wieder aus dem Wasser. Ich nahm mein Handtuch vom Gepäckträger, breitete es im Gras aus und legte mich darauf. Schnell hatte die Julisonne mich getrocknet. Ich ließ mich von ihr richtig durchbraten, während von meinem MP3-Player P!nk mit harten Beats in meinen Ohren wummerte.

Ich hoffte sehr, dass ich zum Geburtstag neue Kopfhörer bekommen würde. Solche, die auch einmal etwas länger hielten und einen besseren Klang hatten. Meine jetzigen hatten im Lauf der Zeit schon ziemlich gelitten und zeigten bei lauten, tiefen Tönen die ersten Verschleißerscheinungen. Es war mein einziger Wunsch, mehr wollte ich gar nicht. Aber ich wusste auch, dass demnächst die Rechnung für meine Spange fällig war, also machte ich mir wohl besser nicht zu große Hoffnungen.

Noch sechzehn Tage bis zu den Ferien. Noch zwölfmal zur Schule und der bescheuerten Laura begegnen, also zwölfmal zusammenreißen. Das würde ich schaffen, da war ich mir sicher. Zumindest hoffte ich es inständig … Eigentlich wollte ich mich gar nicht mit ihr anlegen, aber die blöde Bitch schaffte es immer wieder, mich zur Weißglut zu bringen. Damit, dass ihre Eltern Kohle hatten bis zum Abwinken, dass sie immer in den angesagtesten Styles herumlief, während ich meine Sachen immer so lange tragen musste, bis wirklich jeder Blinde sehen konnte, dass sie mir nicht mehr passten. Arm zu sein, war einfach Scheiße.

Zum Glück schaffte es P!nk mit ihrer Musik, meine Laune wieder aus dem Dunkel zu zerren. Auf dem See fuhren ein paar Segelboote. Ich erinnerte mich daran, wie ich vor ein paar Jahren einmal einen Segelkurs gemacht hatte. Als wir noch nicht arm waren. Das war voll schön gewesen. Ich hatte es total genossen, wie das Boot mühelos durch die kleinen Wellen auf dem Stausee schnitt und mir ab und zu Gischt ins Gesicht spritzte.

Ich drehte mich auf den Bauch und träumte noch ein bisschen weiter. Einmal mit einem großen Segelschiff fahren, das wäre der Hammer!

Irgendwann döste ich ein.

3

Der Sommer hatte tatsächlich ganze fünf Tage lang gedauert. Bis zum Sonntag hatte sich – neben der Schule und den Klassenarbeiten – eigentlich alles nur um den See gedreht. Am Samstag waren wir sogar mit der ganzen Familie dort gewesen und hatten ein Picknick gemacht. Meine Stimmung hatte auf der Skala von eins bis zehn eine erstaunliche Sieben erreicht, was in den Charts der letzten Monate echten Seltenheitswert besaß. Dann allerdings kam Montagmorgen und mit ihm der allseits bekannte Regen, der mein Stimmungsbarometer wieder deutlich unter fünf drückte.

Mama musste früh zur Arbeit ins Krankenhaus, wir Kinder zur Schule, Papa kümmerte sich wie immer um den Haushalt. Nachmittags und abends würde er noch einigen Schülern Nachhilfe geben. Nach einem schnellen Frühstück brachen alle außer Papa auf.

*

Mama hatte nachmittags Wäsche gewaschen. Stapelweise lag sie in der Küche, sodass jeder seine Sachen in seinen Schrank räumen konnte. Allerdings waren zwischen meinen T-Shirts auch welche von Tim und Sarah. Genervt sortierte ich die Stücke neu. Konnte so etwas so schwer sein?

„Mama, ist irgendwas los?“, fragte Sarah, als sie ihren Stapel in ihr Zimmer trug.

„Nein, wieso?“, fragte Mama zurück.

„Weil alle meine Socken durcheinander sind. Gelbe mit weißen, rote mit grünen …“

„Oh, entschuldige! Ich war wohl abgelenkt.“

„Is klar“, sagte Sarah. Sie warf in unserem Zimmer die Socken aufs Bett und fing ebenfalls an, alles neu zu sortieren. „Toller Tag im Krankenhaus, was?“, rief sie über den Flur hinweg.

„Ja, daran wird es gelegen haben. War hart heute.“

Ich schüttelte den Kopf. War hart heute! Schule war auch nicht ohne, aber wir sollten uns immer zusammenreißen und alles richtig machen. Hörten Eltern sich eigentlich manchmal auch selbst zu?

Das Abendessen ging ohne Unfälle über die Bühne – vermutlich, weil wir uns selbst ein Brot machten. Mama sagte, sie wolle mit dem Essen auf Papa warten.

*

Am nächsten Abend kam Mama gegen Viertel nach acht von der Spätschicht. Papa und Sarah lümmelten vor dem Fernseher und sahen sich eine Restaurant-Rettungs-Show an. Ich surfte im Internet auf einer Download-Seite für Musik, Tim spielte irgendetwas auf seinem Smartphone. „Hi, Schatz“, „Hi, Mama“, riefen wir aus allen Ecken.

„Hi, alle!“ Mama betrat mit einer schwer zu deutenden Miene das Wohnzimmer und drückte allen einen Kuss auf, bevor sie sich in der Küche ein Brot machte. Dann setzte sie sich mit untergezogenen Beinen in einen Sessel und sah ebenfalls fern. Ihr seltsamer Gesichtsausdruck blieb unverändert.

In einer Werbepause fiel Papa schließlich auf, dass etwas an Mama anders war. Er blickte sie mit gerunzelter Stirn an. Mama schaute zurück, einer ihrer Mundwinkel zuckte zu einem Lächeln hoch. „Was?“

Papa runzelte seine Stirn noch mehr. „Das frage ich mich auch. Irgendetwas ist doch.“

„Nö, wieso?“, sagte Mama.

„Du guckst so komisch.“

Inzwischen waren auch wir Kinder aufmerksam geworden. Ich tat so, als würde ich weiter auf das Browserfenster vor mir starren und beobachtete alles aus dem Augenwinkel. „Finde ich auch“, sagte Tim. „Irgendwas ist.“

Mama zuckte mit den Schultern und winkte ab. „Ich weiß nicht, was ihr habt. Ich freue mich einfach. War doch ein schöner Tag heute.“

„Hä?“, fragte ich aus Richtung Computer. „Es hat den ganzen Tag geregnet!“

„Pscht jetzt, es geht weiter“, beendete Mama die Inquisition und starrte in den Fernseher.

Seltsam. Irgendetwas war da im Busch, da war ich mir völlig sicher!

Als die Sendung zu Ende war, gingen wir schlafen. Sarah lag schon im Bett, als ich aus dem Bad kam. „Was ist mit Mama los?“, fragte sie leise.

„Weiß nicht. Aber irgendwas hat sie. Sie ist nach der Spätschicht sonst immer kaputt. Vielleicht ist sie befördert worden oder so was? Aber warum sagt sie dann nichts? Ich check‘s nicht.“

„Oder es gibt doch einen Urlaub und sie wollen uns überraschen“, hoffte Sarah leise. Sie war schon auf dem besten Weg in das Reich der Träume.

Ich war mit einem Schlag wütend. „Mach keine schlechten Witze“, fauchte ich sie an.

„Ich meine ja nur“, sagte Sarah kleinlaut. „Wäre doch schön.“

„Klar.“ Ich stieß ärgerlich die Luft durch die Nase. „Aber nicht mehr in diesem Leben.“

Wir hingen beide unseren Gedanken nach, die sich natürlich trotzdem um Urlaub drehten. Aus dem Nebenzimmer klang leise ein Gespräch durch die Wand, aber wir konnten blöderweise nichts verstehen. Dann hörten wir ein lautes Lachen von Papa, aber irgendwann war es still.

4

Ich war am nächsten Nachmittag die Erste, die nach Hause kam. Papa gab irgendwo Nachhilfe, Mama war noch bei der Arbeit. Auf der Suche nach ein paar Keksen oder Schokolade durchstöberte ich die Wohnzimmerschränke. Hinter der dritten Tür fand ich endlich eine Tafel Vollmilch-Nuss, daneben lag ein dicker Briefumschlag mit einer seltsamen Briefmarke darauf. Was war das denn?

Ich zog ihn aus dem Schrank und drehte ihn langsam in den Händen. Die Schokolade war vergessen. Post aus Frankreich? Unsere Eltern hatten niemals über Bekannte in Frankreich gesprochen. Mein Französisch war gut. Ich hatte sofort gesehen, dass der Brief von einem Anwalt kam. Ein Anwalt? Hundertprozentig hatte der Brief etwas mit Mamas komischem Verhalten gestern zu tun. Was konnte das sein?

Meine Finger wollten die Seiten aus dem Kuvert ziehen und näherten sich bereits der Büroklammer, die auf die Öffnung gesteckt war, aber ich kämpfte die Versuchung zurück. Es war eine Sache, sich in der Schule danebenzubenehmen oder Laura zu schubsen. Aber es war eine ganz andere Sache, die Post von Mama zu lesen. Das Briefgeheimnis war in unserer Familie so etwas wie eine heilige Kuh. Keinem von uns würde es einfallen, die SMS, Chats oder E-Mails eines anderen ohne dessen Zustimmung zu lesen. Niemals! Bei Postkarten war das nicht ganz so streng, doch was ich gerade in der Hand hielt, war ein Brief an meine Mutter. Absolutely no go!

Vorsichtig legte ich den Umschlag zurück in den Schrank und warf mich aufs Sofa. Aber auch die neuen Musikclips in der YouTube-App im Fernsehen konnten nicht verhindern, dass meine Blicke immer wieder neugierig zum Wohnzimmerschrank wanderten.

Papa kam wenig später nach Hause. „Hi, Lea“, begrüßte er mich.

„Hi, Papa, was ist das für ein Brief im Schrank?“ Keine Chance für Ausreden!

Papa hielt den Atem an. Ich konnte ihm am Gesicht ablesen, dass gerade das Sch-Wort durch seinen Kopf huschte, während er sich blitzschnell etwas überlegte. Volltreffer! Er wusste etwas und hatte ein schlechtes Gewissen! Dann schien er einen Entschluss gefasst zu haben und holte tief Luft. „Lass uns das für nachher aufheben, wenn Mama da ist. Okay?“, wich er meiner Frage aus.

„Jetzt sag schon“, Bohrte ich weiter. „Du weißt es doch, oder?“ Jetzt würde ich sicher nicht lockerlassen!

Ein verschlagenes Grinsen machte sich in Papas Gesicht breit. „So ist es. Und du nicht.“

„Mann, Papa!“, nörgelte ich. „Was ist es? Wir kennen doch niemanden in Frankreich, schon gar keinen Anwalt. Jetzt sag endlich!“

„Also gut“, fing er mit ernstem Gesicht an und meine Augen hingen gespannt an seinen Lippen. Aber dann kehrte das Grinsen wieder zurück. „Nein, doch nicht.“

Der Blödmann! Er fing an zu lachen, während ich wütend aufsprang und ihm auf den Arm boxte. „Das ist nicht fair!“

„Liebe Tochter“, näselte Papa mit erhobenem Zeigefinger, „fair ist es, wenn deine Geschwister es gemeinsam mit dir erfahren und nicht erst später.“ Dann wurde er wieder normal, nahm mich in die Arme und küsste mich auf die Stirn, was ich zwar mit Genörgel quittierte, aber mir trotzdem gefallen ließ. „Hab bitte ein wenig Geduld, ja? Wir sagen es euch heute Abend, wenn Mama da ist. Versprochen. Hilfst du mir beim Abendbrot? Ich will uns Pizza machen.“

Ich grummelte. Das hatte ich jetzt davon.

*

Natürlich hatte ich meinen Geschwistern schon von dem Brief erzählt, als sie noch nicht einmal richtig über die Türschwelle waren. Wir kamen vor Neugier fast um, schleimten Papa nach allen Regeln der Kunst voll, nervten ihn, aber er sagte nichts. Als es auf sechs Uhr zuging, rollten wir den Hefeteig aus, legten ihn auf zwei große Bleche, strichen unsere berüchtigte ultrascharfe Tomatensauce darüber und verteilten kreuz und quer allerlei Leckereien. Zum Schluss streuten wir noch reichlich Käse über alles und schoben die Bleche in den vorgeheizten Ofen.

Während ich den Tisch deckte, ging Papa auf den Balkon zum Rauchen.

*

Die Pizza war fertig, kaum dass Mama nach Hause gekommen war. Papa hatte sie im Flur begrüßt und mit ihr geflüstert. Das war aus der Küche deutlich zu hören.

Mama kam mit demselben komischen Gesichtsausdruck herein, den sie gestern Abend schon gehabt hatte. Noch während der Begrüßung fielen wir alle mit Fragen über sie her. „Was ist in dem Brief?“, „Sag endlich, was los ist!“, „Jetzt mach‘s nicht so spannend!“, riefen wir durcheinander, aber Mama behielt die Ruhe.

„Nach dem Essen“, war ihr einziger Kommentar. Und: „Oh, lecker! Pizza!“

Tim, Sarah und ich stöhnten gleichzeitig auf. Wir kannten Mama in solchen Sachen. Wenn die sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, kam man nicht dagegen an. Sie würde keinen Ton sagen, bevor wir nicht zu Ende gegessen hatten.

Die Pizza war richtig lecker, aber heute war sie natürlich Nebensache. Gefühlte einhundert Mal versuchten wir noch einmal, etwas aus Papa herauszulocken, aber wir stießen auch bei ihm auf Granit. Endlich – und ganz sicher nicht nur aus meiner Sicht – war das Essen vorbei. Ohne Aufforderung und in gefühlter Lichtgeschwindigkeit beförderten wir Geschwister das Geschirr in die Spülmaschine, wuschen die großen Bleche von Hand ab und räumten alles andere ordentlich weg. Dann setzten wir uns wieder an den Tisch und sahen Mama erwartungsvoll an.

„Also gut: Familienrat“, verkündete sie.

Ich staunte. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ein Familienrat wurde nur für wirklich wichtige oder ernste Sachen einberufen. Also vielleicht doch ein Urlaub? Ich konnte vor Aufregung nicht mehr still sitzen.

Der Familienrat lief bei uns immer nach festen Regeln ab. Alle hatten das gleiche Stimmrecht, was unter anderem bedeutete, dass wir Kinder durchaus unsere Eltern überstimmen konnten (Papa hatte Glück, dass die Sache mit dem „Sie haben Post“-Jingle nie in einem Familienrat verhandelt worden war!). Jedem stand außerdem ein Vetorecht zu, also das Recht, eine Mehrheitsentscheidung zu stoppen. Aber dieses Recht durfte niemals leichtfertig genutzt werden. Alle mussten bei ihren Entscheidungen zuallererst an das Wohl der ganzen Familie denken und erst dann an ihr eigenes Interesse. Das war eigentlich das Schwerste und oft musste ich mir dabei richtig auf die Zunge beißen. Alles in allem verlangte der Familienrat von jedem Einzelnen, sehr genau nachzudenken, bevor er sich für irgendetwas entschied.

Wir holten uns alle noch etwas zu trinken, dann konnte es losgehen.

*

Mama holte den Brief aus dem Wohnzimmerschrank und legte ihn auf den Tisch. Ihr Name und ihre Anschrift standen mit Tinte und etwas verschnörkelt geschrieben auf der Vorderseite, oben links in der Ecke war zu lesen: Cabinet des maître Pierre Figoli inscrit au Barreau d’Ajaccio, Cours Grandval, 20000 Ajaccio. Mama zog die Seiten aus dem Kuvert. Ein abgegriffener Schlüsselbund fiel auf den Tisch. Sie räusperte sich kurz, dann begann sie zu lesen.

Sehr geehrte Madame Klages,

in beigelegtem Schreiben wird amtlich bestätigt, dass Sie sind die Erbin von Monsieur Konrad Brückmann, wohnhaft in Ancône auf Korsika, leider verstorben am 4 Juin. Er war Cousin Ihrer Großmutter, Sie sind die nächste Verwandte.

Ich würde mich freuen, Sie und Ihre Familie bald hier zur Eröffnung des Testaments zu begrüßen. In dem Couvert finden Sie neben den Unterlagen von Gericht die Türschlüssel zum Haus von Monsieur. Außerdem Schlüssel für Ihr Auto, das wird abgestellt sein auf Parkplatz am Flughafen in Ajaccio. Im Auto finden Sie eine Karte mit der Beschreibung von Grundstück.

Es ist finanziell Vorsorge getroffen für Ihre Unterkunft und Ihre Reise. Bitte schicken Sie mir Mitteilung, wann Sie eintreffen.

Wir werden uns dann treffen an Ihrem Haus zur Eröffnung des Testaments.

Ich grüße herzlich!

Pierre Figoli, Avocat

„Krass“, war das Erste, das mir über die Lippen kam, als Mama den Brief des Anwalts sinken ließ. Ein Haus. Auf Korsika. Das stellte einen Urlaub deutlich in den Schatten.

Meiner Schwester stand der Mund offen.

Tim streckte mit ungläubigen Augen die Hand aus. „Darf ich?“

Mama reichte ihm den Brief des Anwalts hinüber und schob auch den Rest in die Mitte des Tisches. „Natürlich.“ Der Brief machte die Runde, auch der gerichtliche Bescheid, sogar der Schlüsselbund wurde von allen begutachtet.

„Und das ist echt?“, hakte ich nach. Ich konnte es einfach nicht glauben.

„Also ich hatte zuerst wirklich Zweifel“, sagte Papa. „Ich dachte, es sei ein Betrug.“ Er nickte noch einmal zur Bekräftigung und legte dann seine Hand auf die von Mama.

„Aber ich war hartnäckig“, strahlte diese. „Ich habe den Anwalt im Internet gesucht. Dann habe ich in der Kanzlei angerufen und mir bestätigen lassen, dass sie den Brief geschickt haben.“

„Echt?“, fragte Sarah staunend. „Das hast du dich getraut?“

„Ja, hab ich“, sagte Mama, nicht ohne etwas Stolz in der Stimme. „Das ist aber noch nicht alles. Anschließend habe ich beim deutschen Konsulat auf Korsika angerufen und Erkundigungen über den Anwalt eingeholt.“

„Echt jetzt?“, fragte Tim.

„Ja, hat sie“, sagte Papa. „Die Sache ist wasserdicht. Mama hat ein Haus geerbt. Auf Korsika.“

Während der nächsten Minuten konnte man kein Wort verstehen, alle redeten, lachten, riefen durcheinander. Nur allmählich kehrte wieder etwas Ruhe an den Tisch zurück.

„Wer ist Konrad Brückmann?“, wollte Sarah wissen.

„Ein Cousin meiner Oma“, antwortete Mama. „Aber eigentlich kenne ich … kannte ich ihn gar nicht.“

„Sind wir jetzt reich?“, fragte Tim vorsichtig.

Papa zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich etwas reicher als im Moment.“ Er lächelte ein wenig gequält. „Was nicht besonders schwer ist.“

In unseren Köpfen setzte sich langsam ein Bild zusammen, das immer unglaublicher schien, umso deutlicher es wurde.

5

„Wo liegt Ancône?“, wollte Tim wissen. „Ist Korsika nicht eine Insel?“

„Gibt es da einen Strand?“, fragte Sarah. „Muss man da mit dem Schiff hinfahren?“

„Wann fahren wir hin? Wann fahren wir hin?“ Ich überschlug mich fast beim Sprechen.

Schon wieder redeten alle durcheinander. Mama klopfte mit einem Teelöffel an ihr Glas, damit wieder Ruhe eintrat.

„Also, es ist so. Der Brief kam erst vorgestern. Papa und ich sind selbst noch zu keinem Ergebnis gekommen. Bis gestern Mittag haben wir ja noch befürchtet, dass uns jemand übers Ohr hauen will.“ Sie holte tief Luft. „Was ich meine, ist: Wir haben uns noch überhaupt nicht für irgendetwas entschieden.“

„Aber das ist doch logisch, oder nicht?“, fragte ich. Ein ungutes Gefühl machte sich in meiner Magengegend bemerkbar.

„Was gibt’s da zu überlegen?“, wunderte sich Sarah.

Tim hatte offenbar schnell zwei und zwei zusammengezählt, so wie immer. Er schaute ganz betreten. „Wir haben nicht genug Geld, um hinzufahren. Richtig?“

Stille. Sarah und ich machten große Augen, als unsere Eltern gleichzeitig nickten. „Genau. Das ist ein Problem bei der Sache“, bestätigte Papa.

Ich verstand die Welt nicht mehr. „Boah, das war so klar“, beschwerte ich mich und verdrehte die Augen. „Jetzt haben wir fett geerbt, aber ihr knausert immer noch vor euch hin.“ Ich stützte mein Gesicht in beide Hände und murmelte unverständliche Sachen hinein. Die waren doch wohl echt nicht mehr zu retten!

„Lea, ich fände es nett, wenn du dich wenigstens heute Abend mal etwas zusammenreißen könntest“, versuchte Mama ihr Glück. Konnte sie vergessen! Ich hatte beschlossen, vorerst nicht wieder aus meinen Händen aufzutauchen. Da konnte sie sich auf den Kopf stellen!

Papa ignorierte einfach meine Protesthaltung. „Wir haben außerdem überhaupt keine Ahnung, was uns erwartet. Eine Villa oder nur eine kleine Schäferhütte? Ich weiß es nicht und der Anwalt war ja auch nicht gerade deutlich in seinem Brief.“

„Ist irgendwo eine Adresse von dem Grundstück? Dann könnten wir es googeln“, schlug Tim vor. Das sah ihm ähnlich. Mister Pragmatisch war wieder mal da und gab schlaue Tipps von sich.

Mama schaute noch einmal alle Papiere durch. „Nichts. Nur dass es in der Nähe von Ancône ist.“

Tim saß trotzdem schon im Wohnzimmer am PC und tippte den Ortsnamen ein. Die Suchmaschine warf eine Gegend im Westen von Korsika aus. „Ancône ist am Meer, aber es geht auch ein Stück ins Landesinnere hinein.“

„Leider soll die genaue Beschreibung im Auto liegen. Das bringt uns so nicht weiter“, sagte Mama.

„Aber steht nicht im Brief, dass unsere Reise bezahlt wird?“, warf Sarah ein. Die kümmerte sich wenigstens weiter um das Hauptproblem!

„Ja, aber wir müssen zuerst einmal alles selbst vorstrecken. Das wird richtig teuer“, antwortete Papa. „Ich habe im Moment keine Ahnung, wie wir das hinbekommen sollen.“

Schweigen machte sich breit, während alle grübelten.

„Also gut“, sagte Mama schließlich. „Da heute ohnehin nicht alle ihre konstruktivste Phase haben …“

„Pfff“, zischte ich aus meinen Händen hervor. Jetzt ließ sie auch noch die Psychologin raushängen …

„… denken wir am besten noch einmal in Ruhe darüber nach. Fortsetzung morgen?“

„Gute Idee“, meinte Papa. „Es rennt uns ja auch nichts weg. Morgen ist für mich gut.“

„Okay“, sagte Tim.

„Jo“, sagte Sarah. Beide seufzten enttäuscht.

„Mmmpf“, machte ich in meinen Händen, streckte aber einen Daumen hoch. Ich wollte ja schließlich auch wissen, wie es weiterging.

„Noch eins“, sagte Papa. „Ich weiß, das wird schwer, aber ich glaube, es wäre besser, wenn ihr mit den Neuigkeiten in der Schule wartet, bis wir alle etwas besser Bescheid wissen. Es wäre doch blöd, wenn ihr es allen schon erzählt habt, aber wir es uns am Ende nicht leisten könnten, hinzufahren. Okay? Ich werde mich in der Zwischenzeit nach Preisen erkundigen.“

Alle nickten, wenn auch widerwillig. Damit war der Familienrat beendet.

Ruhig schlafen konnte in dieser Nacht keiner von uns.

*

Während Mama am nächsten Morgen arbeiten ging und wir uns mit eher mäßiger Begeisterung auf die letzten Klassenarbeiten konzentrieren mussten, hatte Papa eine wichtige Aufgabe: eine möglichst günstige Reiseverbindung zu suchen.

Abends trafen wir uns alle wieder wie vereinbart zum Familienrat. Ich war genauso aufgeregt wie die anderen, aber ich hatte mir vorgenommen, mich nicht von deren sinnloser Begeisterung anstecken zu lassen. Bestimmt war Mama irgendeinem fiesen Betrug aufgesessen.

Papa berichtete von seinen Recherchen im Internet und verschiedenen Reisebüros. Was er erzählte, jagte mir einen Schauer über den Rücken.

„Zweitausend Euro nur für den Flug?“, keuchte Tim entsetzt.

Papa nickte. „Das ist das Günstigste, was ich finden konnte. Direkt zu Ferienbeginn hin, zwei Wochen später wieder zurück. Es ist ein Linienflug und ich habe eine Option eingerechnet, dass wir den Rückflug notfalls umbuchen können. Das macht die ganze Geschichte noch mal extra teuer.“ Er wandte sich zu Mama. „Von der Zeit her dürfte es keine Probleme geben, du musst ja ab dem Beginn der Sommerferien ohnehin in die Zwangspause.“

Mama nickte. In ein paar Tagen kam einmal wieder das Unvermeidliche: Das Krankenhaus gehörte zu irgendeiner großen privaten Kette. Die machte nur Arbeitsverträge über maximal elf Monate, schickte dann die Angestellten ‚aus wirtschaftlichen Gründen‘ für einen oder zwei Monate in die Arbeitslosigkeit. Danach stellte man sie wieder ein. Meistens. Mit diesem Trick wurden unbefristete Arbeitsverträge verhindert, hatte Papa uns einmal erklärt. Anfangs hatte Mama sich darüber noch aufgeregt, aber irgendwann hatte sie ihren Ärger einfach heruntergeschluckt. Sie war froh, die Arbeit zu haben, auch wenn sie schlecht bezahlt war. Aber es war Mamas Traumberuf. Sagte sie jedenfalls. Wobei ich das nicht zusammenbekam, wie ein schlecht bezahlter Job ein Traum sein sollte. Egal.

„Zweitausend Euro?“, wiederholte sie. „Das bekommen wir doch nie im Leben zusammen. Was machen wir denn jetzt?“

„Wenn wir wirklich nach Korsika wollen, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als unsere eiserne Reserve zu plündern“, stellte Papa sachlich fest. „Anders geht es nicht, sorry.“

„Puh“, machte Mama. „Und die Spange für Lea können wir trotzdem noch bezahlen? Das muss auf jeden Fall noch drin sein.“

Papa nickte und streichelte ihr beruhigend über den Rücken. „Das geht dann gerade noch.“

Weder meine Geschwister noch ich hatten etwas gesagt. Die Kosten für diese Reise lagen deutlich oberhalb dessen, was wir uns als höchste Summe vorgestellt hatten. Betreten schauten wir auf den Tisch und warteten.