Das Osmanische Reich - Douglas Howard - E-Book

Das Osmanische Reich E-Book

Douglas Howard

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Beschreibung

Von Osman I. bis Mehmed VI.: Die Geschichte der Osmanen und ihrer Dynastie Das Imperium der Osmanen kann die längste Zeitspanne ununterbrochener dynastischer Herrschaft der Weltgeschichte für sich beanspruchen: Ausgehend von kleinen Emiraten erstreckte sich das Reich schließlich über Afrika, Asien und Europa. Wie spielten auf diesem riesigen Staatsgebiet soziale, ökonomische und kulturelle Entwicklungen zusammen? Douglas Howard ist Professor für Geschichte. Die Türkei und Das Osmanische Reich sind seine zentralen Forschungsgebiete. In diesem Sachbuch spannt er den Bogen über sechs Jahrhunderte, von den Anfängen um 1300 bis zur Abschaffung des Kalifats durch die türkische Nationalversammlung. Er beschreibt dabei ebenso die Politik der Kalifen wie das Leben der Menschen. - Die osmanische Dynastie: Was zeichnet ihre Weltsicht aus und wie prägt sie ihre Herrschaft? - Die Geschichte eines Weltreichs, die zugleich die Vorgeschichte der modernen Türkei ist - Die Osmanen als Realpolitiker: Warum ihnen regionale Vielfalt wichtig war - Ein Panorama der osmanischen Kultur: die enorme Bedeutung von Spiritualität, Kunst und Literatur - Der Erfolgstitel jetzt als Taschenbuch in der Reihe wbg PaperbackAlltag in einem Vielvölkerstaat: Vom Leben der Kalifen und der einfachen Leute Prof. Howard zeichnet nicht nur die Biografien der Herrscherfamilie nach. Er behandelt auch die Auswirkungen ihrer Herrschaft auf das Leben in der Hauptstadt und in den weit entfernten Provinzen. Wie sah der Alltag der Eliten und der einfachen Untertanen aus? Welche Rolle spielte die Religion und wie lebten Muslime, Christen und Juden miteinander? Wie war das Selbstverständnis der verschiedenen Völker hinsichtlich Identität und Loyalität? Dem Autor gelingt es, die Geschichte des Osmanischen Reichs mit der Kultur- und Geistesgeschichte des Landes zu einem großen Ganzen zu verknüpfen und genauso übersichtlich wie spannend darzustellen!

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Seitenzahl: 774

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Douglas A. Howard ist Professor für Geschichte am Calvin College in Grand Rapids, Michigan. Die Türkei und das Osmanische Reich sind seine zentralen Forschungsgebiete. Als Kind eines Air-Force-Angehörigen blieb Howard nie lange an einem Ort – bis zum Abschluss der High School lebte er aber zweimal längere Zeit in der Türkei. Sein ganzes Leben war er fortan von der türkischen und osmanischen Kultur fasziniert. Die Idee zu diesem Buch entstand auf einer Reise in die Türkei 2006; auf den Spuren des Osmanischen Reichs führte die Arbeit am Buch Howard über zehn Jahre hinweg in acht verschiedene Länder.

wbg Paperback macht die wichtigsten Titel großer Autor:innen aus dem Programm der wbg in einer jungen und wertigen Edition für alle neugierigen Leser:innen zugänglich. Als wbg Paperback auch erhältlich:

Klaus-Jürgen Bremm, 1866. Bismarcks deutscher Krieg

Leoni Hellmayr, Der Mann, der Troja erfand. Das abenteuerliche Leben des Heinrich Schliemann

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Alle Titel und weitere Informationen zu wbg Paperback finden Sie unter www.wbg-wissenverbindet.de/paperback.

Für meinen Vater Frank Alton Howard und zur Erinnerung an meine Mutter Theodora A. Christacopoulos Howard. So manches Buch habe ich mir aus euren Regalen entliehen.

Die englische Originalausgabe ist 2017 bei Cambridge University Press, Cambridge, unter dem Titel A History of the Ottoman Empire erschienen.

© 2017 by Cambridge University Press

Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

wbg Paperback ist ein Imprint der wbg.

2. unveränd. Aufl. 2021 (1. Aufl. 2018)

© der deutschen Ausgabe 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.

Lektorat: Thomas Bertram, Gelsenkirchen

Einbandabbildung: „Die Galatabrücke mit der Neuen Valide Moschee, Konstantinopel“,

Ausschnitt aus dem Gemälde von Hermann Corrodi (1844–1905). © Sotheby‘s / akg-images

Einbandgestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-27358-4

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:

eBook (PDF): 978-3-534-74702-3

eBook (epub): 978-3-534-74703-0

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Innentitel

Inhaltsverzeichnis

Informationen zum Buch

Impressum

Inhalt

Dank

Einleitung

1.Osmanische Genese, 1300–1397

2.Eine gesegnete Dynastie, 1397–1494

3.Eine Sicht auf die Welt, 1494–1591

4.Unklarheiten und Gewissheiten, 1591–1688

5.Globales und Lokales, 1688–1785

6.Zusammenarbeit und Zusammenbrüche, 1785–1882

7.Auflösung, 1882–1924

Anhang

Glossar

Anmerkungen

Abbildungsnachweise

Verzeichnis der Karten

Literaturverzeichnis

Register

Dank

Es ist mir eine Freude, den zahlreichen Kollegen und Freunden meinen Dank auszudrücken, deren Hilfe und Ermutigung mir während der mehrjährigen Arbeit an diesem Buch zugutegekommen ist.

Meine berufliche und geistige Heimat, das Calvin College in Grand Rapids, Michigan, hat mich während der gesamten Dauer des Projekts institutionell massiv unterstützt. Dieses Buch ist aus langjähriger Lehre und Forschung gemeinsam mit meinen Kollegen am Calvin College erwachsen, wo das Thema Weltsicht einen zentralen Schwerpunkt laufender Diskussionen und Diskurse bildet. Das College gewährte umfassende Unterstützung für Studien und Recherchen, außerdem ein freundliches Arbeitsumfeld. Während der Anfangsphase des Projekts war ein Freisemester unentbehrlich, und in späteren Jahren kam ich dank des Calvin Research Fellowship-Programms in den Genuss eines reduzierten Lehrdeputats. Das Rektorat des Calvin College förderte 2007 einen Forschungsaufenthalt in Kairo und Jerusalem. Der Reiseetat der Fakultät finanzierte den Besuch mehrerer Konferenzen, insbesondere der internationalen Konferenz „The Cultural History of Emotions in Pre-Modernity II: Emotions in East and West“, die 2011 in Istanbul stattfand. Meine Kollegen an Calvins Historischem Institut, die ausnahmslos zugleich auch Freunde sind, lasen einzelne Kapitel und kommentierten sie kritisch, ertrugen meine Klagen mit Fassung und unterliefen meine Versuche, mich zu ernst zu nehmen. Bruce Berglund bewies auf einem Tiefpunkt sein Einfühlungsvermögen. Bert de Vries ließ mich an seinem profunden Wissen teilhaben. Meine Institutsdirektoren Willam Van Vugt und Will Katerberg fanden Wege, meine Lehrveranstaltungen so zu legen, dass sie mir ein Maximum an Energie ließen. Will Katerberg schlug mir William Reddys The Navigation of Feeling als Lektüre vor. Meine Dekane Cheryl Brandsen, damals Prodekanin für Kontextdisziplinen, und Matthew Walhout, Prodekan für Forschung, schenkten meinen Bedürfnissen ein offenes Ohr und unterstützten meine Arbeit.

Alle Karten in diesem Buch wurden von Jason Van Horn und Caitlin Strikwerda an Calvins Geographischem Institut gezeichnet, für die deutsche Ausgabe übernahm Peter Palm nach ihren Vorlagen die Kartenerstellung. Victoria Seaburg, die in Calvins Abteilung für Lehrgrafik tätig ist, hat viele der Abbildungen für die Veröffentlichung aufbereitet. Und da das Calvin College zwar eine ausgezeichnete Bibliothek besitzt, aber nicht viele Bücher in türkischer Sprache, war die Expertise der für die Fernleihe zuständigen Bibliothekarin Kathy Struck unabdingbar. Die Gebühren für den Nachdruck verschiedener Fotografien und Textauszüge wurden durch einen Zuschuss der Calvin College Alumni Association finanziert.

Sechs Monate bevor Marigold Acland mir dieses Projekt vorschlug und die Unterstützung der Cambridge University Press zusicherte, kam mir die eigentliche Idee für ein derartiges Buch durch Erlebnisse in der Türkei während einer Exkursion mit Collegepräsident Gaylen Byker und einer Gruppe treuer Förderer des Calvin College im Frühjahr 2006. In der Türkei brachte ich eine großartige Zusammenarbeit mit zwei ausgezeichneten Reiseleitern auf den Weg, Ender Tan und Orhan Sezener, deren Freundschaft und Ideenreichtum ich schätzen gelernt habe.

Die beiden ersten Kapitel entstanden während eines Forschungsfreisemesters als Fellow am Collegium Budapest Institute for Advanced Study. Man gewährte mir eine wunderbare Unterkunft im Schlossviertel von Buda, einen Computerzugang und die liebenswürdige Gesellschaft anderer Forscher, die mit den unterschiedlichsten Projekten in den Natur- und Geisteswissenschaften befasst waren. Géza Dávid war so freundlich, mir die Bibliothek und weitere Ressourcen des Lehrstuhls für Turkologie an der Eötvös-Lorand-Universität Budapest zur Verfügung zu stellen, und Pál Fodor und Marcus Köhbach unterstützten mein Vorhaben. Von Budapest aus konnte ich bei einem Treffen des Comité International des Études Pré-Ottomanes et Ottomanes in Zagreb den Rat weiterer Kolleginnen und Kollegen einholen und hatte außerdem Gelegenheit zu Forschungsaufenthalten in Sarajevo, Sofia und der Türkei. Im Jahr 2012 ermöglichte mir ein Sommerstipendium des National Endowment for the Humanities einen Forschungsaufenthalt in der Türkei und die Abfassung von Kapitel 5. Die Istanbuler Außenstelle des American Research Institute in Turkey (ARIT), ihre Mitarbeiter und Direktor Tony Greenwood sorgten für ein angenehmes Forschungsumfeld. Megan Berglund vom Development Office am Calvin College brachte den Stipendienantrag erfolgreich ins Ziel. Die Forschungsarbeit für Kapitel 7 erfolgte im Frühjahr 2012 in der Library of Congress während meiner Zeit als Direktor des Calvin College in Washington, D.C. Das Personal im Handschriftenlesesaal und im Lesesaal der Abteilung für Fotografien und Drucke unterstützte mich dabei.

Meinen Kolleginnen und Kollegen auf dem Gebiet der Turkologie und Osmanistik möchte ich für ihre überaus engagierte Arbeit und ihre Sorge um ein angemessenes Verständnis der osmanischen Geschichte danken. Wir sind ein relativ kleiner Kreis aus Gelehrten und Freunden, die einander überwiegend persönlich kennen, und stehen auf den Schultern früherer Generationen. Meine Position in den aktuellen Debatten unseres Forschungsfeldes dürfte Spezialisten unmittelbar ins Auge springen und lässt sich in den Anmerkungen nachvollziehen. Die konzeptionelle Grundlage, ohne die dieses Buch nicht hätte entstehen können, ist das Ergebnis der Arbeit von vier Giganten auf diesem Gebiet. Das eigenständige Denken von Rifa’at Ali Abou-El-Haj, für das beispielhaft sein bahnbrechender Aufsatz „The Ottoman Vezir and Paşa Households“ aus dem Jahr 1974 und sein Buch Formation of the Modern State (1992) stehen, hat einer Neukonzeption der osmanischen Geschichte jenseits der Narrative von Aufstieg und Fall erst den Weg geebnet. Victoria Holbrooks The Unreadable Shores of Love. Turkish Modernity and Mystic Romance (1994) sowie die Arbeiten von Walter Andrews – in Poetry’s Voice, Society’s Song (1985) und in den seitdem entstandenen Tagungsreferaten und gemeinschaftlichen Übersetzungen – haben die Dichtung auf überzeugende Weise ins Zentrum jeder Behandlung der osmanischen Kultur gerückt. Ariel Salzmanns hat mit ihrer Neuinterpretation des fiskalischen Modells der Osmanen in ihrer Dissertation und in dem Aufsatz „An Ancien Régime Revisited. ‚Privatization‘ and Political Economy in the Eighteenth-Century Ottoman Empire“ von 1993 die allzu simple Dichotomie von Zentralisierung oder Dezentralisierung überwunden.

Zahlreiche Beteiligte haben sich Zeit für ausführliche Gerspräche genommen. Ihre Erkenntnisse sind durch ebenso kontroverse wie freundschaftliche Diskussionen, gelegentlich hitzig, häufig aber in gelöster Atmosphäre geführt, unmerklich in dieses Buch eingeflossen. Virginia Aksan las das gesamte Manuskript gegen und steuerte wertvolle Kommentare bei. Géza Dávid las mehrere Kapitel, korrigierte viele Fehler und war stets mit gutem Rat zur Stelle. Nicht vergessen möchte ich Gábor Ágoston, Virginia Aksan, Walter Andrews, Palmira Brummett, John Curry, Linda Darling, Suraiya Faroqhi, Cornell Fleischer, Pál Fodor, Jane Hathaway, David Holt, Paul Kaldjian, Reşat Kasaba, Hasan Kayalı, Rudi Lindner, Nenad Moačanin, Victor Ostapchuk, Leslie Peirce, Amy Singer, Bill Wood, Madeline Zilfi und den leider verstorbenen Donald Quataert. Alle Fehler, die es trotz all dieser Filter noch in die gedruckte Ausgabe geschafft haben, gehen auf mein Konto.

Mehrere Kolleginnen und Kollegen haben mir freundlicherweise Materialien zukommen lassen, die mir sonst unzugänglich geblieben wären, darunter auch unveröffentlichte Aufsätze. Besonderen Dank schulde ich Virginia Aksan, Snježana Buzov, Bert de Vries, Pál Fodor, Gottfried Hagen, Tijana Krstić, Vjeran Kursar, Rudi Lindner, Nenad Moačanin, Victor Ostapchuk und Tahir Nakıp. Darüber hinaus profitierte ich von den unveröffentlichten Abschlussarbeiten mehrerer Bachelor- und Masterstudierender am Calvin College, darunter Will Clark, Spencer Cone, Lauren DeVos, Melanie Janssens, Ryan Jensen, Abby Nielsen, Emma Slager und Josh Speyers. Danke auch für die scharfsinnigen Bemerkungen von Nathan Hunt als Antwort auf eine Frage in der Abschlussprüfung.

Danke, Elisabeth und Gottfried Hagen, Carolyn und Dan Goffman, Ágota und Géza Dávid für Eure langjährige Freundschaft und Gastlichkeit. Dank auch an Telle und Gustav Bayerle für vieles, was ich gelernt habe.

Danke, Sandy, für alles.

Einleitung

Der berühmte türkisch-armenische Fotojournalist Ara Güler hat einmal erzählt, wie er 1958 losgeschickt wurde, um über die Einweihung eines neuen großen Staudamms am Fluss Mäander (Menderes) in der Türkei zu berichten. Er reiste aus Istanbul an, und für die dreistündige Anfahrt zu diesem Termin stellte ihm der Provinzgouverneur einen Wagen samt Fahrer zur Verfügung. Der Fototermin zog sich in die Länge. Auf der Rückreise behauptete Gülers Fahrer, er kenne eine Abkürzung durch die Berge, aber sie verirrten sich, die Sonne ging unter, und im Dunkeln konnten sie die Richtung nicht ausmachen. Als sie vor sich ein Licht sahen, hielten sie in einem Dorf an einem Kaffeehaus und fragten, ob es eine Übernachtungsmöglichkeit dort gebe. Während sich Gülers Augen an das trübe Licht im Innern gewöhnten, erkannte er in dem Kaffeehaus nicht etwa Tische, sondern sah, dass die Männer auf den Oberseiten antiker Säulen Karten spielten.1

Am nächsten Morgen machte Güler einen Rundgang und fotografierte dabei. Das Dorf namens Geyre war vollständig inmitten der Ruinen einer antiken römischen Stadt errichtet worden. „Etwas Seltsameres habe ich nie im Leben gesehen“, erinnerte er sich später. „Die Leute sagen zwar: ‚Eine Ruine ist wie die andere‘, aber das hier war etwas völlig anderes – Vergangenheit und Gegenwart existierten übereinander.“2 Gülers Fotos sorgten für einiges Aufsehen, als er sie zurück nach Istanbul brachte und seiner Redaktion zeigte. Eine amerikanische Zeitschrift wollte die Bilder und gab einen Artikel in Auftrag. Als Autor schlug Güler den angesehenen Archäologen Kenan Erim von der New York University vor. Im Lauf der nächsten drei Jahrzehnte besorgte Professor Erim die nötigen Geldmittel und grub die Fundstätte aus – aber erst nachdem das ganze Dorf an einen neuen, gut anderthalb Kilometer entfernten Standort verlegt worden war.

Wer heute Aphrodisias besucht, ist beeindruckt vom Ausmaß des Ruinenfelds, von den umfangreichen Überresten, die sich an einer landschaftlich ausgesprochen schönen Stelle erhalten haben, und von dem nahe gelegenen, attraktiven Museum, in dem zahlreiche Funde ausgestellt sind. Aber ohne das Dorf und nach der Verwandlung der Grabungsstätte in eine große Touristenattraktion war das „Aphrodisias des Lebens“, wie Güler es nannte, in dem die Menschen die Ruinen in ihr Alltagsleben einbezogen hatten, verschwunden. Der Ort, bemerkte er, sei jetzt Geschichte.3

In Gülers Fotografien aus den 1950er-Jahren finden Grundzüge einer Lebenseinstellung, einer Weltsicht Ausdruck, die das Thema dieses Buches sind. Seine Bilder boten weder nostalgische Momentaufnahmen vom Landleben für ein Stadtpublikum, noch stellten sie gönnerhaft eine vermeintliche dörfliche Überzeitlichkeit einem vermeintlichen modernen Geschichtsbewusstsein gegenüber. Stattdessen zeigten die Fotos den vertrauten Umgang der Dörfler mit antiken Überresten, ihre leichtherzige Hinnahme der Natürlichkeit eines Lebens zwischen den Trümmern der Vergangenheit, die ihre alltägliche Landschaft bevölkerten. Diese Haltung steht dem Bedürfnis entgegen, Ruinen zu sammeln und auszustellen, mit Absperrungen zu umgeben und zu konservatorischen oder pädagogischen Zwecken zu musealisieren.

Aphrodisias, die antike Stadt, war in römischer Zeit ein wichtiges Zentrum des Aphroditekults und eine Kunstmetropole. Nach der Christianisierung wurde es in der Spätantike Bischofssitz. Seit etwa 1000 n. Chr. machten wandernde Turkmenenstämme Aphrodisias zum Ziel blutiger Überfälle, die Stadt entvölkerte sich langsam und wurde schließlich aufgegeben.4 Doch in den Katastern des Osmanischen Reiches ist das Dorf verzeichnet und trägt den Namen Gerye. Zwar noch nicht in den ersten Vermessungsakten der Region aus den 1460er-Jahren,5 sehr wohl aber in der Landesaufnahme von 1530 erscheint es, und dazu ein Markt.6 Irgendwann während der Jahrzehnte zwischen den beiden osmanischen Katastervermessungen ist das Ruinenfeld neu besiedelt worden. Mit seiner Lage inmitten der Ruinen war Gerye exemplarisch, aber wahrscheinlich kein Einzelfall. Die osmanische Geschichte, der Gegenstand dieses Buches, spielte sich in alten Ländern mit langer Vergangenheit ab, die an wichtige Wasserwege wie die Ägäis, das Schwarze Meer und das Mittelmeer grenzten. Überall in dieser Landschaft verstreut lagen Ruinen.

Abb. I.1: Dörfler auf den Feldern in Aphrodisias (1958). Foto: Ara Güler. Mit freundlicher Genehmigung von Magnum Photos

Ruinen als Metapher

Für Autoren der osmanischen Zeit standen Ruinen für Verlust, jedoch für etwas weit Größeres als nur verlorene Kulturen oder den Verlauf der Zeit. Gleichwohl pflegten osmanische Autoren die Erinnerung an die Vergangenheit. In einem denkwürdigen Abschnitt des Buches der Bittgebete, das um 1500 entstand und für Generationen osmanischer Leser zu einem spirituellen Klassiker wurde, marschiert eine lange Reihe von Helden durch eine lyrische Litanei auf die verlorene Zeit. Die Propheten sind vertreten, angefangen mit Jesus und Moses, dazu die Heiligen, von den rechtgeleiteten Kalifen bis zu Sufi-Meistern wie Rumi. König Dareios kommt vor, Nebukadnezar und die Pharaonen von Ägypten. Die Meister der hellenistischen und indischen Wissenschaften treten auf, unter ihnen Platon, Aristoteles und Galen, dazu die ganze Heldenschar aus dem persischen Schāhnāme (Buch der Könige), „die alle auf der Wahrheit gegründet wohnten, manche freudig, andere voller Leid“. Die Aufzählung endet mit einer Klage:

Wo sind die Kaiser, Byzanz-Hegemone,

Wo, die als „Chosrau“ besaßen die Throne?

Wo sind, die als Kalifen den Muslimen befahlen?

Wo sind, die als Fürsten sich diesen Menschen empfahlen?

Wo ist der Marwaniden Pracht,

Wo ist der Abbasiden Macht?

Wo Dschingis-Khan und Söhne nun spielen,

Wo seine Kinder und Enkel, die vielen?

Seldschukische Fürsten sind wo nur geblieben,

Die Osmanensultane wohin jetzt vertrieben?

Wo blieb Sultan Mehmet und seine Größe,

Auf deren hehre Kraft man noch stöße?

Wohin verschwand seine rohe Gewalt,

Wozu nahm sein Springen und Reiten Gestalt?

Wo sind Regierungskraft und Entschluss?

Wo Größe und Mut aus einem Guss?7

Doch für osmanische Schriftsteller waren die Ruinen mehr als nur das. Ruinen standen für den Verlust, den alles im tiefsten Inneren trug. Wenn osmanische Dichter von „Ruinen“ sprachen, meinten sie üblicherweise das Herz oder aber eine Schänke – sie waren ein und dasselbe, und beide waren Trümmerstätten. Figani (gestorben 1532) schrieb:

Seit das steinerne Herz meines Herzens Provinz hat verheert,

Man sieht: Kein Stein auf dem andern, die Stadt ist zerstört.8

Oder Esrar Dede (gestorben 1796):

In Kneipen tust du´s oder lässt es dir tun –

Als Ruinen die gebauten Werke nur ruhn.9

In den Augen von Yahya (gestorben 1644) entsprachen die Ruinen, die sich über die Landschaft verteilten, dem verwüsteten und verwaisten Zustand seines Herzens.

Das Hausherz zerstöre, lasse nicht Stein auf Stein –

Dies tue, den Fremden sollen es Ruinen sein.10

Aber in Ruinen zu liegen war für die Dichter nichts Schlechtes. So schmerzlich die Erfahrung auch sein mochte, begrüßten sie sie doch, denn sie allein bot ihnen die Möglichkeit zum Einblick in das wahre Wesen der Dinge. Ruiniert zu sein, in einem Zustand völligen Verlorenseins – nur unter solchen Umständen war ein innerer Wandel möglich, und innerer Wandel war das, worum es im Leben ging. Verfall war keine Tragödie, er war der Sinn der Sache. Das dunkle Innere einer Taverne, eingehüllt in den Schmerz des Verlangens und Liebeskummers, erhellte das Innere des Herzens. Sich langsam zu betrinken war wie in einen Schlaf zu sinken, jedoch in einen, aus dem ein spirituelles Erwachen möglich war. So zum Beispiel Fuzuli (gestorben 1556):

Den Schatz seines Wohls im Winkel der Kneipe Fuzuli sich fand,

Das Segens-Reich nicht zerfalle, Gott verleihe Bestand!

Und Revani (gestorben 1524):

Dem Wein wie sein Schaum die Frömmler gaben die Kronen,

Betrunken von Kneipe zu Kneipe die Welt nun bewohnen.11

Elemente einer osmanischen Weltsicht

Dieses Buch erzählt die osmanische Geschichte als Geschichte dieser Weltsicht. Es sucht zu erklären, worin die osmanische Weltsicht bestand, wie sie zustande kam und wie sie sich auflöste. Sie blieb nicht unangefochten, und auch an Widerspruch fehlte es nicht. Doch die Grundbestandteile dieser Weltsicht wurden von allen Gemeinschaften der osmanischen Welt, gleich ob muslimischen, christlichen oder jüdischen, geteilt, auch wenn jede Gemeinschaft und die zu ihr gehörenden Gruppen ihre Elemente entsprechend den Traditonen der jeweiligen Gemeinschaft anders artikulierten. In diesem Buch beschreibe ich die osmanische Weltsicht als ein dreischichtiges Phänomen.

Die erste Schicht bildet die osmanische Dynastie, die Familie der Osmanensultane, ohne die es kein Osmanisches Reich gegeben hätte und keine osmanische Geschichte geben kann. Die Einwohner des Reiches teilten die Auffassung, dass an der osmanischen Dynastie etwas Besonderes war, und dies bestand nicht allein darin, dass die Familie der Osmanen die längste Zeitspanne ununterbrochener dynastischer Herrschaft in der Weltgeschichte für sich beanspruchen kann. Vielmehr besaßen die Sultane osmanischen Autoren zufolge Din ü Devlet. Din war spirituelle Energie, die Fähigkeit, die Bedingungen für die Begegnung zwischen der Menschenseele und dem Göttlichen zu regeln und festzulegen. Devlet bedeutete charismatische Herrschaft, die magische Gabe zu führen, Sieg und Wohlstand zu bringen. Verliehen wurden diese Gaben, um das materielle und geistige Wohlergehen der Völker unter der Obhut der Dynastie sicherzustellen. Osmanische ‚Politik‘ läuft größtenteils auf eine Beschreibung der Beziehungen der osmanischen Völker zu den Osmanensultanen und deren ausgedehntem Haushalt hinaus. Deren praktische Ausgestaltung variierte im Lauf der Zeit, je nachdem, wie sich das Bild der Osmanenfamilie nach außen hin wandelte, und damit veränderte sich auch die Definition von Identität, Loyalität und Zugehörigkeit.

Eine zweite Schicht der osmanischen Weltsicht ist ihr Verständnis von Wohlstand und Erfolg sowie der geeigneten Strategien, um beides zu erreichen. Das fiskalische Modell eines Imperiums ist wichtig, wie wir alle in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelernt haben. Doch als die osmanische Dynastie ihr Reich errichtete, betrachtete sie die „Wirtschaft“ nicht als unpersönliche oder unabhängige Kategorie, sondern als Ausdruck materiellen Erfolgs, der sich aus dynastischer Macht und geistigen Bindungen gleichermaßen speiste. Instinktiv wollten die Osmanen die Leute in Ruhe ihre eigenen Entscheidungen in Wohlstandsfragen treffen lassen. Die Bedingungen des ausgehenden Agrarzeitalters, in das die Blütezeit des Osmanischen Reiches fällt, seine bestehenden Transportkapazitäten und seine Kommunikationstechnologie erzwangen eine solche „Laissez-faire“-Haltung, aber sie war auch vernünftig. Von der imperialen Rhetorik einmal abgesehen, war „Absolutismus“ nicht etwas, das die Imperien des Agrarzeitalters leicht praktizieren konnten. Die osmanische Regierung brachte durchaus hochfliegende Ideen hervor und stellte manchmal unter Strafandrohung weitreichende Forderungen. Für Sultane und Staatsmänner im Siegesrausch war es eine große Versuchung, sich zu übernehmen. Je entlegener die Provinz, desto wahrscheinlicher war es, dass Geduld und Verhandlungsbereitschaft sich auszahlten. Es waren alte Länder, wo die Menschen wussten, wie man Dinge regelte.

Die dritte Schicht der osmanischen Weltsicht ist das schon umrissene Geflecht aus spirituellen Überzeugungen. Die osmanische Literatur ist ein Mittel, um diese Überzeugungen zu verorten, und sie erhält in diesem Buch breiten Raum. Wie schon beim Betrachten der Fotografien Ara Gülers dauert es auch bei der Lektüre osmanischer Literatur nicht lange, bis man die alles durchdringende Melancholie spürt, die mit dem Verlust einhergeht, aber auch die verwunderte und heitere Hinnahme der Natürlichkeit dieses Verlusts. Hier auf diesem Erdenrund, unter den Himmelslichtern und Planeten, die über ihm im Gewölbe der sieben Himmel umliefen, bestand die Erfahrung des Menschseins in der Erfahrung von Wandel und des mit ihm einhergehenden Leids. Dieses Leid war teils das Ergebnis unerbittlicher Handlungen Gottes – Erdbeben, Seuchen, Dürre und Hungersnot, Stürme und Brandkatastrophen. Teils erwuchs es aus selbst zugefügten Wunden wie Krieg und Sklaverei, teils aus unergründlichen existenziellen Herausforderungen, unter denen die Erfahrung der Zeit zweifellos die rätselhafteste war. Und dennoch enthüllte die vergängliche Realität in all ihrer scheinbar willkürlichen Zufälligkeit für osmanische Autoren und ihre Leser letzten Endes eine vollständige Beschreibung des Göttlichen. Dinge, Erfahrungen und Ereignisse und vor allem jede Liebe und jeder Verlust – überwältigten in letzter Konsequenz die Sinne und trieben einen Menschen ins Dunkel, in die „Ruinenschänke“, wo er seine Lebensumstände bedenken und feststellen konnte, dass auch andere schon dort gelandet waren. Menschen fühlen sich in ihrem Schmerz oft getröstet, wenn ihr Leben dabei offensichtlich archetypischen Mustern folgt.

Zum Aufbau dieses Buches

Das Zeitempfinden einer Gesellschaft ist ein geeigneter Ausgangspunkt für den Einstieg in ihre Weltsicht. Daher erzählt dieses Buch die Geschichte der Osmanen in sieben chronologischen Kapiteln, entsprechend den Jahrhunderten des islamischen Kalenders, jener Zeitrechnung, die mit der Hidschra des Propheten Mohammed begann (622 n. Chr.). Zwar waren in den Ländern der osmanischen Dynastie und den von ihr beherrschten Gemeinschaften auch andere Kalender gebräuchlich, aber die Osmanen hielten sich an diesen islamischen Kalender und verwendeten ihn im gesamten Reich als Standard. Kapitel 1 beginnt mit dem Auftreten Osmans zu Beginn des achten islamischen Jahrhunderts, und Kapitel 7 endet mit dem Abgang der osmanischen Dynastie in der Mitte des vierzehnten. Somit vertritt das Buch zwei Thesen. Die eine lautet, dass das Dramatische an der Geschichte gerade in ihrer Chronologie besteht. Die Menschen wissen nie, was als Nächstes geschehen wird, sie wissen bloß, was gerade passiert ist, und auch das nur verschwommen. Da es der Historiker ist, der am Ende die Geschichte erzählt, ist die geschehende Geschichte von Natur aus anachronistisch. Dieses Paradox ist Teil des Vergnügens. Die andere These, die in der chronologischen Anordnung des Buches steckt, besagt, dass das Erleben von Zeit selbst eine Dimension der erzählten Geschichte ist. Keine Epoche ist wichtiger oder unwichtiger als eine andere. Ein kulturelles Konstrukt des Menschen, das ihm kosmologische Orientierung bietet und eine Struktur an die Hand gibt, innerhalb derer er den Sinn des Lebens begreifen kann, ist der Kalender.

Der Aufbau des Buches ist der osmanischen Weltsicht noch auf zwei weitere Arten verpflichtet, nämlich durch den Gebrauch einheimischer Ortsnamen und den Gebrauch von Eigennamen. Ortsnamen benennen das Terrain, das die osmanischen Völker ständig durchquerten, geben den Schauplatz der Handlung vor und liefern zum Teil den Kontext der Ereignisse. Mehr noch, sie lassen die Gestalt der osmanischen Gedankenwelt erkennen; es kann gar nicht genug betont werden, dass die Osmanen die regionale Vielfalt als gegeben annahmen. Sie hatten ihre Freude daran. Sie hüteten sich davor, Pauschalurteile auf der Grundlage von Verallgemeinerungen zu fällen, wie etwa „der osmanische Balkan“ – so etwas gab es nicht – oder „Anatolien“, dessen heutige Definition ebenfalls ziemlich jungen Datums ist und nach dem Ende des Imperiums entstand. Osmanische Autoren sprachen von „diesen wohlbeschützten Herrschaftsbereichen“, über die sie mit eigentümlicher Betonung des Lokalen berichteten.

Was die Eigennamen angeht, so sind viele von ihnen vielleicht nicht vertraut, doch sie sind trotzdem unverzichtbar. Dieses Buch handelt von Menschen und von den Entscheidungen, die sie trafen, von dem, was sie schrieben und sagten, wie sie mit Leid fertig wurden, welche Überraschungen sie erlebten und was sie glücklich machte. Die Osmanen liebten es, alles zu dokumentieren, weshalb die Quellen, auf denen das Buch beruht, tatsächlich Namen nennen. Natürlich kannten viele Angehörige der vergleichsweise kleinen osmanischen Herrschaftsschicht einander, besonders jene, die gemeinsam im Palast aufgewachsen waren, aber das reicht als Erklärung nicht aus, da es nicht nur die Herrschaftsschicht ist, deren Namen in den Dokumenten auftauchen. Auch einfache Leute erscheinen namentlich, Männer wie Frauen, Christen, Juden, Muslime und Fremde, in Beschwerden und Gesuchen, Gerichtsfällen, Verträgen, Tagebüchern, Geschichtswerken und ähnlichem. Vielleicht stellen diese Namen die Geduld des Uneingeweihten auf die Probe, aber wer gut vorbereitet ist, dem offenbaren osmanische Namen häufig wichtige Informationen – Geschlecht, soziale Identität, Herkunftsort –, ganz abgesehen davon, dass sie manchmal schillernd und kurzweilig sind. Wenn in diesem Buch viele dieser Namen enthalten sind, so ist das der Versuch zu wiederholen, was die historischen Aufzeichnungen der Osmanen überdeutlich machen: dass die osmanische Weltsicht am klarsten in der Achtung vor dem Einzelnen und vor den bedeutsamen wie den banalen Details seines Lebens zum Ausdruck kam.

1. Osmanische Genese, 1300–1397

Der Regen fiel heftig in diesem Frühjahr, und der Fluss Sangarios trat über die Ufer und suchte sich unter einer längst aufgegebenen Brücke hindurch sein altes Bett. Ein Sturzbach aus Matsch, Schlamm und Schutt ergoss sich über den Weg, und dort begann das Osmanische Reich, in den westlichen Grenzregionen der mongolischen Welt während der Morgenröte der Kleinen Eiszeit, im Monat März an der Wende zum achten islamischen Jahrhundert. Türkischen Hirten, die mit ihren Herden von den regengepeitschten Anhöhen flohen, gelang es, die durchbrochenen byzantinischen Verteidigungslinien am abgerutschten Flussufer zu umgehen.1 Ihre Vorhut überraschte eine byzantinische Streitmacht. Mit frischem Mut griffen die Türken an und brandschatzten. Es folgten zahlreiche weitere Raubzüge – eine wahre Flut. Von Konstantinopel rückte das reguläre Heer aus, das vom Kaiser den Befehl erhalten hatte, der türkischen Gefahr entgegenzutreten, doch auf der Ebene von Bapheus vor Nikomedia errangen die Türken einen großen Sieg.

Osmanische Sultane des achten islamischen Jahrhunderts

Osmangest. 1324(?)Orhan1324–1361(?)Murad I.1361(?)–1389Bayezid I.1389–1402

Nicht so schnell. Eine einzelne Schlacht macht noch kein Reich. Die frühesten erhaltenen türkischen Beschreibungen sind einhundert Jahre jünger, sie stammen aus einer Zeit, als die Erinnerungen an die Anfänge des Reiches bereits eng mit den Ansichten über die Art und Weise verknüpft waren, wie sich alles weiterentwickelt hatte. Und so trieb die osmanische Gründergeneration, losgelöst von der festen historischen Verankerung, in den Strudeln von Poesie und Epos aufs offene Meer hinaus. Selbst das Datum steht nicht ganz fest, was osmanischen Autoren nur recht war. Sie verlegten es gern ins Jahr 699 der Hidschra des Propheten Mohammed, als hätte das osmanische Herrscherhaus die Hoffnung auf den „Erneuerer des Zeitalters“ erfüllt, der zu Beginn eines jeden neuen Jahrhunderts erscheinen sollte. Und es war ein außerordentlicher Beginn – das islamische Jahr 700 entsprach beinahe genau dem christlichen Jahr 1300, eine bemerkenswerte Epochenüberschneidung.

Raubzüge und rauschende Fluten rühren im Türkischen von derselben verbalen Quelle her, und Tränen ebenso, nämlich von der Wurzel ak-, und viele spätere Autoren, Türken wie Griechen, kannten das Wortspiel. „Die Verstärkungen des rechten Glaubens rauschten über den Ungläubigen hinweg“, so geistreich der türkische Dichter Ahmedi,2 und der griechische Historiker Dukas schrieb: „Wenn sie die Stimme des Herolds vernehmen, der sie zum Angriff ruft – der in ihrer Sprache akin heißt –, brechen sie ungebeten herein wie ein über die Ufer tretender Fluss.“3

Die türkische Flut

Fast nichts wissen wir heute über Osman, den Gründer des Hauses Osman, den Mann, der als Erster der Osmanensultane in Erinnerung ist. „Osman Bey trat in Erscheinung“, vermerkte ein lakonischer Annalist später. Niemand weiß, wann oder wo Osman geboren wurde, und lange Zeit gab es kein einziges Artefakt, das sich zuverlässig in seine Lebenszeit hätte datieren lassen. Inzwischen sind zwei Münzen aufgetaucht, eine in einer Privatsammlung in London und eine im archäologischen Museum von Istanbul; beide tragen die Prägung Osman ibn Ertugrul.4 Selbst sein Name ist umstritten. Der griechische Historiker Pachymeres,5 dem wir die Beschreibung des Sangarios-Hochwassers verdanken und der als einziger zeitgenössischer Autor Osmans Namen erwähnt, nennt ihn gar nicht Osman, sondern Ataman. Die überraschende Vorstellung, Osman habe einen anderen Namen getragen, wird von zwei späteren Quellen gestützt, einmal dem Werk eines „Lehnstuhlgeographen“, das um 1350 auf Arabisch verfasst wurde, und zum anderen einer um 1500 geschriebenen Biographie des muslimischen Heiligen Hacı Bektaş. Ataman ist ein türkischer oder vielleicht mongolischer Name, während Osman untadelig muslimisch ist, die türkische Form des arabischen ʿUthmān – wie auch der Gefährte des Propheten Mohammed hieß, der dritte Kalif des Islam. Dies hat den Verdacht geweckt, unser Osman oder Ataman könnte von Geburt Heide gewesen sein, seinen neuen Namen Osman also später angenommen haben, als er Muslim wurde. Doch wenn dies stimmen würde, wenn Osman tatsächlich ein islamischer Konvertit war, der seinen Namen änderte, warum hätten dann seine Söhne, die ohne jeden Zweifel Muslime waren, ihre echt türkischen Namen behalten sollen?6

Abb. 1.1: Die Gräber von Osman und Orhan in Bursa auf einer Fotografie von Abdullah Frères, ca. 1880–1893

Laut dem, was Pachymeres schrieb, können wir über jenen Türken, den er Ataman nennt, mehr oder weniger nur vermuten, dass er ein Krieger war. Nach den Kriegszügen vom Sangarios (Sakarya) und dem Sieg bei Bapheus strömten ihm von fern und nah türkische Krieger zu.7 Ataman belagerte Nikaia, und obwohl er die Stadt nicht einnehmen konnte, überzog er ihre Umgebung mit Überfällen, tötete dabei viele, machte einige Gefangene und schlug den Rest in die Flucht. Mehrere andere Festungen und befestigte Städte im Sangarios-Tal nahm er jedoch ein und nutzte sie als Depots für seine Beute. Auf ähnliche Art verwüstete er das Umland von Prusa (Bursa), konnte aber auch diese Stadt nicht erobern.

Unsicher ist auch Osmans Todesdatum. Wahrscheinlich war er 1324 schon tot, dem Jahr, in dem sein Sohn Orhan eine Stiftungsurkunde beglaubigte.8 Der marokkanische Weltreisende Ibn Battuta, der die Region in den Jahren 1331–32 besuchte, schrieb, dass Osman in der Moschee von Bursa begraben sei, bei der es sich wahrscheinlich um die frühere Kirche St. Elias handelt.9 Wegen eines Erdbebens steht diese Kirche heute nicht mehr. Inzwischen liegen die sterblichen Überreste Osmans neben denen von Orhan; Vater und Sohn ruhen in einem Doppel-Mausoleum, das 1863 errichtet wurde.

Orhan

Weitaus leichter als für Osman, den Vater, lassen sich zeitgenössische Belege für Orhan, den Sohn, finden. Zwei Inschriften Orhans sind erhalten und außerdem Abschriften dreier seiner Stiftungsurkunden.10 Namentlich erscheint er in mongolischen Rechnungen11, und auch in persischen und arabischen Quellen wird er erwähnt. Ibn Battuta behauptete, Orhan begegnet zu sein, „dem größten der Könige der Turkmenen und dem reichsten an Vermögen, Land und Heeresmacht“. Orhan „kämpfte ständig mit den Ungläubigen“ und reiste regelmäßig zwischen seinen über 100 Burgen umher, überzeugte sich, dass sie in gutem Zustand waren, und blieb nie länger als einen Monat an einem Ort.12 Ibn Battutas Bild eines unablässig kämpfenden Orhan wird von griechischen Autoren nachdrücklich bekräftigt. Er und seine Männer eroberten 1326 nach langer Belagerung Prusa (Bursa), und im darauffolgenden Jahr ließ Orhan dort Münzen prägen, wie ein erhaltenes Silberstück zeigt. Im Jahr 1331 fiel Nikaia (İznik) an Orhans Truppen und 1337 Nikomedia (İznikmid, İzmit). Die Einnahme dieser drei bedeutenden griechischen Städte – Prusa, Nikaia und Nikomedia – machte Orhan zum Herrn der gesamten Region Bithynien.

Karte 1.1: Die Umgebung des Marmarameers

Orhan war aber nur einer von vielen türkischen Herrschern, denen Ibn Battuta auf seiner Reise durch Kleinasien begegnete. Turkmenische Sippen, die vor den Mongoleneinfällen flohen, bildeten die Streitmacht für so manchen ehrgeizigen Fürsten, der seit den 1290er-Jahren die Flusstäler und Küsten von Schwarzem Meer, Marmarameer und Ägäis plünderte. Außer Orhan nutzten auch mehrere von ihnen ihre bewaffneten Banden, um primitive Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Um 1340 kontrollierten sie die meisten Überlandrouten und Karawanenstädte der Flusstäler und schalteten sich an den Küsten in den Kampf zwischen Byzanz und den italienischen Seestaaten um die Häfen und Schifffahrtswege ein. Die türkischen Fürsten dieser Grenzlande und ihre Gefolgsleute erschienen nicht nur den Griechen als roh und unbezähmbar, sondern auch den weltläufigen muslimischen Autoren aus „Rum“ oder Rom, wie man die Hochebene im Binnenland nannte, weil sie einst Teil des Römischen Reiches gewesen war. Dort hatte die islamische Kultur mehr als 200 Jahre lang unter der Herrschaft der Seldschuken-Dynastie dominiert,13 die ein kultiviertes, von persischen Einflüssen geprägtes Königreich mit dem Zentrum Konya regiert hatte. Die Neuankömmlinge waren Halbnomaden, die stolz südwestliche (also oghusische, siehe Abb. 1.3) Turksprachen pflegten. Ihre Lebensweise basierte auf Raubzügen ebenso wie auf Viehzucht und dem Verkauf der Produkte ihrer Herden.14 Ihre heiligen Männer und Derwische waren darauf erpicht, den Islam in neue Länder zu tragen. Das Erscheinen dieser Vasallen der mongolischen Herrscher des Iran (der Ilchaniden, deren Herrschaft 1336 endete) hing mit Ereignissen des vorausgehenden Jahrhunderts zusammen, die jenseits des Horizonts ihrer eigenen Erinnerungen lagen. Damals hatte das Vordringen der Mongolen auf dramatische Weise die geschäftlichen und politischen Beziehungen im gesamten südwestlichen Eurasien gesprengt.

Gewalt, Seuchen und Unheil

Im Jahr 1219 hatte die Verwüstung von Choresm durch die Mongolen eine Zwangsmigration von Völkern aus dem zentralen Eurasien ausgelöst, die sämtliche Gesellschaften westlich des Kaspischen Meeres betraf. Unter den Flüchtlingen und Migranten befanden sich Tausende Turkmenen samt ihren Familien und Herden. Ihre Stammesgesellschaften waren hochgradig mobil und für ihr militärisches Potenzial berühmt. Die Lebensläufe gleich zweier großer Heiliger, Rumi (alias Mevlana Dschalal ad-Din) und Hacı Bektaş, sind mit der mongolischen Gewalt verknüpft – dem Klimawandel und dem menschlichen Elend, die hinter ihr lagen, und dem Einbruch eines chiliastischen Glaubenseifers, der ihr vorauseilte.

Die politischen Kollateralschäden der Mongoleneinfälle hatten bis 1260 zur Entstehung dreier mächtiger Königreiche im Südwesten Eurasiens geführt. Zwei davon waren mongolisch – die Goldene Horde am Unterlauf der Wolga und in der Steppe nördlich des Schwarzen Meeres sowie die Ilchaniden im Iran, in Mesopotamien und im Kaukasus mit Täbris als Hauptstadt. Das dritte war das Sultanat der Mamluken, das nicht Mongolen, sondern Sklavenoffiziere aus dem Turkvolk der Kipçak gegründet hatten, die 1250 ihre ayyubidischen Herren stürzten und die Macht in Kairo an sich rissen. Die Mamluken beherrschten Ägypten, Arabien und die syrische Küstenebene. In diesen drei großen Königreichen und deren Dunstkreis stritten von der Donau bis zum oberen Euphrat und Tigris Dutzende slawischer, lateinischer, griechischer, armenischer und türkischer Edler und Fürsten, deren Namen längst vergessen sind, heftig und oftmals gewaltsam um die Kontrolle über die Endpunkte der großen eurasischen Handelsrouten. Diese Herren hießen auf Türkisch „Emire“, daher der Begriff „Emirate“ für ihre Kleinkönigreiche. Zu den vielen türkischen Emiren zählten Osman und Orhan, doch die stärkste Position hatte das griechische Adelsgeschlecht Michaels VIII. Palaiologos, Regent des griechischen Königreichs Nikaia, der im Jahr 1261 Konstantinopel von den lateinischen Kreuzfahrern zurückeroberte.

Der byzantinische Bürgerkrieg

Die regionalen Gegebenheiten, unter denen Orhans kleines türkisches Emirat erstmals ein wichtiger Faktor in dieser größeren Welt wurde, bestanden aus einer dynastischen Krise in Byzanz. Hinter dieser Krise steckten größere Fragen sowohl der orthodoxen Glaubenstradition als auch der internationalen Politik. In den Jahren nach der Wieder herstellung der griechischen Herrschaft über Konstantinopel setzte Michael VIII. auf langfristige Sicherheit für Byzanz, sowohl durch ein Bündnissystem mit dem Königreich Ungarn und den Türken und Mongolen der Steppe nördlich des Schwarzen Meeres als auch durch Vereinigung der orthodoxen Kirche mit Rom. In den Augen zahlreicher Orthodoxer, Kleriker wie Laien, waren Ehebündnisse mit Nachbar dynastien – sei es mit der Tochter des Königs von Ungarn oder der Tochter des Tatarenkhans – ebenso sehr Politik. Die Kirchenunion mit Rom jedoch – die 1274 auf dem Konzil von Lyon besiegelt wurde – erregte Abscheu, und Michaels Nachfolger Andronikos II. (1282–1328) ignorierte sie. Am Ende konnte die Politik Byzanz nicht retten, steuerte die Kirche jedoch in schwere Prüfungen und letztendlich in einen Wandel. Andronikos II. verwaltete das paradoxe Nebeneinander aus byzantinischem Souveränitätsverlust und sich ausbreitender orthodoxer Erneuerung in den slawischen Ländern. Diese Neubelebung zeigte sich besonders an der mystischen Bewegung der Hesychasten, die sich aus Klostergemeinschaften heraus stürmisch entwickelte. Heimat des Hesychasmus war der Berg Athos, dessen zahlreiche Klöster auf einer Halbinsel in der Ägäis lagen.

Der Konflikt wurde zum offenen Bürgerkrieg, als der damalige Kaiser 1341 starb und den neunjährigen Johannes V. als Erben hinterließ. Der Hof spaltete sich in zwei Parteien. Auf der einen Seite fanden sich als Unterstützer des Jungen seine Mutter, die Kaiserinwitwe Anna von Savoyen, der griechisch-orthodoxe Patriarch und der Großadmiral. Sie plädierten für die Vereinigung mit Rom als Mittel, das Reich durch militärischen Beistand zu stärken. Ihnen schwebte ein wiedererrichtetes Byzanz nach dem Muster der lateinischen Seehandelsstaaten vor. Unterstützt wurden sie dabei durch viele griechische Stadtbewohner.15 Auf der anderen Seite führte der Großdomestikos Johannes Kantakuzenos, ein mächtiger General und Militärberater bei Hof, die Opposition gegen die Kaiserin und ihre Partei an. Kantakuzenos hatte die Rückendeckung der meisten anderen begüterten Aristokraten in Thrakien sowie jener orthodoxen Christen aller Schichten, die gegen eine Vereinigung mit Rom waren. Entscheidend war, dass Kantakuzenos außerdem die Unterstützung des Mönches Gregorios Palamas, des Anführers der Hesychas-ten, hatte.

Die Sympathien für den Hesychasmus bildeten die geistliche Dimension des dynastischen Konflikts. Als Bewegung der persönlichen Erneuerung kreiste der Hesychasmus um das innere Gebet und verwendete das Jesusgebet, das „Gebet des Herzens“, als Meditationsübung. Diese schlichte Gebetsformel, Jesus Christus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner, führte zu heftigem Streit. Zwar hatte der Hesychasmus uralte Wurzeln in der griechischen Spiritualität, doch seine Einführung auf dem Berg Athos im frühen 14. Jahrhundert n. Chr. war die Geburtsstunde einer geistlichen Erneuerungsbewegung. Als türkische Raubzüge in den 1320er-Jahren ein zeitweiliges Ausweichen nach Saloniki erzwangen, kam der Hesychasmus aus seiner monastischen Ecke und wurde zur Massenbewegung. Kritiker griffen ihn als vernunftfeindlich an und spotteten über seine Vorschriften zur yogaartigen Kontrolle der Atmung, doch die Predigten und Schriften des Gregorios Palamas stellten die Bewegung auf festen theologischen Boden. Palamas deutete die Erfahrung des Gläubigen im kontemplativen Gebet als Begegnung mit Gottes Energien in Gestalt des Lichts, desselben Lichts, das Christus auf dem Berg der Verklärung umleuchtet hatte. Rabiat wurde der theologische Schlagabtausch wegen der Unterscheidung, die Palamas zwischen den Energien Gottes und dem Wesen Gottes machte; letzteres sei unzugänglich und unbegreiflich. Der entscheidende Punkt für Palamas war, dass die Theologie allein ungeeignet sei, wahre Gotteserkenntnis hervorzubringen – die Mysterien Gottes überstiegen jede rationale Beschreibung. Die einzige Hoffnung auf Erlösung sei ein Wandel der Seele durch das wahre Licht der Gnade Gottes. In den Augen vieler griechischer Aristokraten, die der wachsende Einfluss italienischen Handelsdenkens beunruhigte, war die hesychastische Spiritualität Ausdruck einer authentischen griechischen christlichen Identität.16 Obwohl es Ausnahmen gab, waren Hesychasten wie Palamas in der Regel starke Unterstützer von Kantakuzenos und widersetzten sich einer Vereinigung mit Rom aus tiefster Seele.17

Karte 1.2: Das Umland der Ägäis

Als Kantakuzenos sich im Herbst 1341 in Thrakien aufhielt, führten der Patriarch und die Kaiserin in der Hauptstadt einen Putsch durch. Sie beschlagnahmten Kantakuzenos’ Vermögen und ließen seine Mitstreiter, darunter Gregorios Palamas, einkerkern. Im Gegenzug erklärte Kantakuzenos sich zum Mitkaiser des Kinderkaisers Johannes V. und ernannte Palamas zum Erzbischof von Saloniki. Doch ein der Kaiserin wohlgesinntes „Zeloten“-Regime übernahm die Herrschaft in Saloniki und hinderte Palamas daran, sein Amt anzutreten, und der Hesychasmus wurde vorerst offiziell verurteilt. Palamas wanderte in den Kerker, und Kantakuzenos floh nach Priština, wo er fast ein Jahr unter dem kühl-berechnenden Schutz des slawischen Königs Stefan Dušan stand. Sobald Kantakuzenos abreiste, wechselte Dušan die Seiten, verlobte seinen Sohn mit der Schwester des Kinderkaisers18 und plünderte ganz Makedonien mit Ausnahme von Saloniki.

Beide byzantinischen Lager suchten Verbündete unter Adligen und Nachbarn, nicht nur bei den Slawen, sondern auch unter den italienischen Stadtstaaten, deren Kolonien in der Ägäis und den zahlreichen türkischen Emiren entlang der Ägäis- und Schwarzmeerküste. Die Kaiserin trat an Orhan heran, fädelte aber nach einer frostigen Reaktion stattdessen die Unterstützung durch Orhans südlichen Nachbarn ein. Kantakuzenos holte sich beim türkischen Emir der Troas eine Abfuhr,19 gewann aber die Rückendeckung des Emirs von Aydın, des mächtigsten aller türkischen Emirate an der Ägäis. Aydın entsandte eine Flotte und Truppen nach Thrakien und verheerte die italienischen Handelsstützpunkte auf den ägäischen Inseln. Doch im Oktober 1344 eroberten die vereinten Truppen des Papstes, Venedigs, des Königs von Zypern und der Johanniter den Hafen und die Zitadelle von Smyrna, eine Niederlage, von der sich Aydın nie wieder ganz erholte.

Nun wandte sich Kantakuzenos an Orhan. Durch Orhans Eheschließung mit Kantakuzenos’ zweiter Tochter, Theodora, besiegelten sie ein dauerhaftes Bündnis.20 2000 türkische Krieger unter Führung von Orhans Söhnen schlossen sich Kantakuzenos’ Sohn Matthaios auf einem Feldzug an, um Stefan Dušan zu vertreiben und Thrakien zu plündern. Die Palastfraktion um die Kaiserin ersuchte um einen Waffenstillstand, und 1347 zog Kantakuzenos siegreich in Konstantinopel ein. Er ließ sich vom Patriarchen krönen und gab seine dritte Tochter, Helena, dem jungen Johannes V. zur Frau, der wie geplant sein Mitregent wurde. Um seine Unterstützung zu demonstrieren, feierte und jagte Orhan gemeinsam mit Kantakuzenos am Bosporus gegenüber von Konstantinopel.21 Kantakuzenos leitete nach seiner Krönung ein Kirchenkonzil, auf dem der Hesychasmus wie erwartet für orthodox erklärt wurde. Man ernannte einen hesychastischen Patriarchen, und Gregorios Palamas konnte sich endlich als Erzbischof in Saloniki niederlassen.

Der Schwarze Tod und das Marmara-Erdbeben

Keine sechs Monate nach dem Festgelage am Bosporus erreichte der Schwarze Tod Konstantinopel. Die Pest traf das Ägäisbecken innerhalb nur einer Generation in zwei Wellen, erst 1348 und dann wieder 1361. Indem sie Eurasien auf den binnenländischen Handelswegen durchquerte, verwüstete sie das Khanat der Goldenen Horde, dann breitete sie sich von den Schwarzmeerhäfen auf der Halbinsel Krim in die Ägäis und das Mittelmeer aus und gelangte über den Kaukasus ins mongolische Täbris. Von dort aus schlug die Epidemie 1348 in Mossul und Bagdad zu. Eine armenische Quelle erwähnt sie am oberen Euphrat. Im Jahr darauf wütete sie an allen Küsten der Ägäis und des Mittelmeers sowie auf Zypern.

Ibn Battuta verlor durch die Seuche seine Mutter. Er wurde Zeuge der Gebete, des Fastens und der Prozessionen, die als Antwort auf die Epidemie im Sommer 1348 in Damaskus abgehalten wurden. „Die ganze Bevölkerung der Stadt schloss sich an“, schrieb er.

Die Juden zogen aus mit ihrem Buch des Gesetzes und die Christen mit ihrem Evangelium, bei sich ihre Frauen und Kinder; die ganze Versammlung in Tränen und demütigem Flehen begriffen, mit dem sie die Gnade Gottes kraft seiner Bücher und seiner Propheten anriefen. Sie zogen zur Moschee der Fußabdrücke und verharrten dort in Bittgebeten und Anrufungen bis beinahe Mittag, dann kehrten sie zur Stadt zurück und hielten das Freitagsgebet ab.22

„Die Verzweiflung war ganz entsetzlich“, schrieb Kantakuzenos über die Situation in Konstantinopel. Er und seine Frau sahen ihren jüngeren Sohn sterben, und „zu der Seuche gesellte sich die schwere Last der Bedrückung“. Für Kantakuzenos war die Epidemie eine Prüfung Gottes, die die Menschen zu tugendhaftem Handeln trieb. „Viele verteilten ihre Habe an die Armen, noch ehe die Seuche sie getroffen hatte. Sahen sie irgendwann erkrankte Menschen, war nicht einer unter ihnen so herzlos, dass er nicht Reue für die von ihm begangenen Sünden zeigte …“23

Abb. 1.2: Der heilige Gregorios Palamas auf einer Ikone vom Berg Athos. Mit freundlicher Genehmigung der Skite des Heiligen Isaak von Syrien

Als Kantakuzenos 1352 seinen überlebenden Sohn Matthaios zum Kaiser krönen ließ, flammte der Bürgerkrieg in Konstantinopel neu auf. Am Ostersonntag machte Stefan Dušan sich in Skopje zum „Kaiser der Serben und Römer“ und rüstete zum Krieg. Wieder einmal nahm Kantakuzenos Kontakt mit den Türken auf. Teil der neuen Abmachung war, dass Truppen unter dem Kommando von Orhans Sohn Süleyman die Festung Tzympe auf der Halbinsel Gallipoli besetzten. Die Lage verschlechterte sich, als Konstantinopel von einer galoppierenden Inflation heimgesucht wurde. Der verzweifelte Palast bat Gregorios Palamas um Vermittlung.

Palamas und sein Mönchsgefolge segelten nach Konstantinopel und fuhren im März 1354 während eines späten Wintersturms in die Dardanellen ein. Nur mühsam gelang ihrem Boot die Landung in Gallipoli. Dort fanden sie ein Bild nackten Elends vor. Am vorausgehenden Samstagabend, dem Vorabend zum Fest der Orthodoxie (dem ersten Sonntag der Fastenzeit), hatte ein Erdbeben die gesamte Gegend dem Erdboden gleichgemacht. Noch im 160 Kilometer weiter östlich gelegenen Konstantinopel spürte man starke Erschütterungen.24 Gallipoli war einschließlich seiner Stadtmauern völlig zerstört und mit Flüchtlingen aus den umliegenden Städten und Dörfern überfüllt. Das Beben machte „nicht nur Gebäude und Besitz, sondern auch Leiber und Seelen … zur Beute für die Hunde und jede Art Aasvögel … menschliche wie nicht menschliche“.25 Viele starben in der eisigen Kälte, in Schnee und Regen, „besonders Frauen und Neugeborene“. Gleich nach dem Erdbeben, so erfuhr Palamas, hatte Orhans Sohn Süleyman die Dardanellen überquert und Gallipoli besetzt. Jetzt enterten türkische Truppen Palamas’ Boot und setzten den Erzbischof und seine Mitreisenden fest.

Als Palamas fast ein Jahr später aus der Gefangenschaft freikam, hatte sich alles verändert. Süleyman hatte Gallipoli stärker als zuvor wieder erbaut. Wie Kantakuzenos gehofft hatte, hatten türkische Ritter zwar Stefan Dušan besiegt, doch gingen sie nun in ganz Thrakien auf Raubzüge und belagerten Konstantinopel. Das Zerbröckeln seiner politischen Position zwang Kantakuzenos zum Thronverzicht.

Die Türken und Europa

Mittelalterliche und moderne Beobachter haben die osmanische Einnahme von Gallipoli 1354 als den symbolischen Anfang der türkischen Expansion nach Europa betrachtet. So schilderte beispielsweise der byzantinische Autor Kritobulos die Überquerung des Hellespont (der Dardanellen) in Worten, die bewusst an Herodots berühmte Beschreibung der Invasion Griechenlands durch Xerxes anknüpften, und nannte Orhans Truppen sogar „die Perser“.a

Aber die Osmanen waren nicht die ersten Türken, die die Meerengen überquerten, und ohnehin verloren sie Gallipoli 1366 (eroberten es aber 1373 zurück). Seit mindestens drei Jahrhunderten waren Menschen aus der zentraleurasischen Steppe in die gesamte Region eingewandert. Wahrscheinlich kamen die ersten Türken von Europa nach Kleinasien statt umgekehrt.b Selbst die geographischen Begriffe sind nicht unveränderlich – in der Antike galt eine andere „Bosporus“-Meerenge, nämlich die zwischen dem Schwarzen und dem Asowschen Meer, als die Trennlinie zwischen Europa und Asien, nicht etwa die bei Byzanz gelegene.c Die Wanderungen halbnomadischer Türken und Indoeuropäer beschränkten sich keineswegs auf das byzantinische Kleinasien.d Spätestens im Jahr 1200 stellten die Türken ein bleibendes Element der Gesellschaften auch in den slawischen Königreichen und in Ungarn dar. In keiner dieser Beziehungen bildeten die Meerengen zwischen dem Schwarzen Meer und der Ägäis eine ausgeprägte Trennungslinie.

Zeitgenössische Beobachter sahen die Bedeutung der osmanischen Besetzung von Tzympe und Gallipoli anders. Sie bescherte den osmanischen Heeren eine vorgeschobene Basis auf der Bithynien gegenüberliegenden Seite der Meerengen, von der aus man Thrakien plündern oder auch Konstantinopel von der Landseite her bedrohen konnte – keine Kleinigkeit für die Osmanen, die damals nur eine dürftige Flotte besaßen.

aKritovoulos, The History of Mehmed the Conqueror, S. 21–27. [Aus Stilgründen wurden Begriffe aus der griechischen Klassik seit der römischen Kaiserzeit gern für Völker, Länder etc. in der jeweiligen Gegenwart zweckentfremdet, was zu Verwirrung führen kann (A.d.Ü.).]

bSinor, „Réfléxions sur la presence Turco-Mongole“, Neudruck in: Sinor, Studies in Medieval Inner Asia.

cO. Pritsak, „The Role of the Bosporus Kingdom“, in: Ascher / Halasi-Kun / Király (Hrsg.), Mutual Effects, S. 3–21.

dZachariadou, „The Oğuz Tribes“.

Murad Hüdavendigâr und die Eroberung Thrakiens

Zwar endete der Bürgerkrieg in Byzanz, doch so bald kehrte kein Friede ein, da Stefan Dušans instabiles slawisches Königreich bei seinem Tod in Konflikten zwischen seinen Erben und Vasallen zerfiel. Bei den daraus resultierenden anarchischen Zuständen in Thrakien spielten türkische Raubscharen sicher eine Rolle und nutzten sie aus, doch war es auch die türkische Eroberung, die nach Jahrzehnten destruktiver Gewalt die Rückkehr von Stabilität und öffentlicher Ordnung brachte.

Nicht Süleyman, der bei einem Jagdunfall ums Leben kam, schloss die osmanische Eroberung Thrakiens ab, sondern Murad, ein anderer Sohn Orhans. Er folgte auf Orhan nach einem Streit mit seinem jüngsten Bruder Halil, dessen Mutter Theodora war, die Tochter von Kantakuzenos. Griechische Piraten entführten Halil und hielten ihn in Konstantinopel fest. Man arrangierte eine Ehe zwischen Halil und der Tochter Kaiser Johannes’ V. zur Festigung der byzantinischen Verbindungen mit dem potenziellen osmanischen Erben,26 doch diese Pläne zerschlugen sich, als Murad Halil besiegte. Der Krieg zwischen den beiden osmanischen Brüdern wuchs sich zu einer großangelegten Eroberung der türkischen Emirate in den Küstenregionen Kleinasiens und am Westrand der Hochebene aus. Viele türkische Emire kapitulierten ebenso wie der christliche Stadtstaat Philadelphia.

Westlich der Meerengen bedeutete Murads Eroberung von Edrene (Adrianopel oder Edirne) am Zusammenfluss der Flüsse Tundscha und Mariza das Aus für viele slawische Fürsten. Der Todesstoß war ein türkischer Sieg an der Mariza im September 1371. Danach stand der osmanischen Herrschaft über Thrakien und Makedonien bis hin zum Südhang des Balkangebirges kein ernsthaftes Hindernis mehr entgegen. Diese Eroberungszüge, die teils Murad selbst, teils seine Vasallen durchführten, welche auch für sich genommen mächtige türkische Feldherren waren,27 dehnten die türkische Einflusssphäre nach Westen in Richtung Adria aus.

Murad erweiterte den osmanischen Einfluss sowohl durch Eroberungen als auch durch Diplomatie. Eheallianzen verbanden ihn mit dem slawischen Fürsten von Tarnovo und den türkischen Emiren von Kastamonu und Sinop. Geschickt nutzte er die Hochzeit seines Sohnes Bayezid, um seinen dazu eingeladenen türkischen Vasallen seine Macht zu demonstrieren.28 Und mit dem Fünftel, das ihm an der Kriegsbeute zustand, schuf sich Murad eine kleine Armee aus Elitesklaven, eine bestens ausgebildete Infanterie, die ihm persönlich ergeben war. Zwar hatte schon Orhan eine kleine Infanterieeinheit besessen, aber Murads stehende besoldete „neue Truppe“ (yeni çeri, daher „Janitscharen“) dürfte als Gegengewicht zu seinen türkischen Vasallen und den lästigen turkmenischen Plünderern geschaffen worden sein, denen ausgerechnet Osman und Orhan ihre Anfangserfolge verdankten.29 Quellen aus dem folgenden Jahrhundert spiegeln den Statusgewinn des osmanischen Herrschers wider. Murad sowie sein Sohn und Nachfolger Bayezid wurden fortan nicht mehr Emir genannt, sondern Sultan und Hüdavendigâr, „Großherr“.

Eine zweite Serie von Feldzügen in den 1380er-Jahren dehnte die türkische Herrschaft ins westliche Thrakien aus. Mehrere befestigte Städte Makedoniens fielen, und 1387 wurde nach vierjähriger Belagerung auch Saloniki eingenommen. Murads Armeen gingen in den südslawischen Ländern und nahe der Adriaküste auf Raubzüge. Einige slawische Erfolge gab es immerhin. Lazar, der Fürst von Kruševac, erlangte Ende 1387 kurzzeitig Niš und die Pässe, die die Straße nach Sofia sicherten, zurück. Im Jahr darauf wurden die Türken und ihre albanischen Verbündeten bei Dubrovnik geschlagen, und auch Tarnovo trotzte Murad. Dieser überschritt das Balkangebirge, erzwang die Unterwerfung von Tarnovo, Silistra und Varna am Schwarzen Meer, dazu aller Festungen bis zur Donau, und fiel plündernd in die Walachei ein. Schließlich traf Murad am 1. August 1389 auf dem „Kosovo polje“, dem Amselfeld, der Kosovo-Ebene, auf ein Bündnis slawischer Streitkräfte unter Lazar.

Kosovo

Der Ausgang der Schlacht auf dem Kosovo war ein wenig doppeldeutig. Sowohl König Lazar als auch Sultan Murad waren tot, und die osmanische Hegemonie über sämtliche südslawischen Länder hatte bereits die entscheidende Schlacht an der Mariza 18 Jahre zuvor sichergestellt. Doch unter den Südslawen wuchs die Legende vom Kosovo zu einem mittelalterlichen Sagenzyklus und nährte später den modernen Mythos von der auferstandenen serbischen Nation.30 Andererseits bildete in türkischen Berichten der heimtückische Mord an Murad den Höhepunkt der Geschichte: Ein christlicher Ritter erstach ihn nach der Schlacht mit einem Dolch, den er im Mantel versteckt hatte. Entweder hatte er sich unter den Leichen verborgen oder war, so einige andere Versionen, als Gefangener ins Zelt des Sultans geführt worden.

Türkische wie slawische Autoren kannten die Geschichten der jeweils anderen Seite. Spätere slawische Chronisten beschlossen, der Mörder habe vorgegeben, zu den Türken überlaufen zu wollen – eine Geschichte, die sie den türkischen Historikern entnommen hatten –, während der türkische Historiker Neşri seinerseits den Namen des Mörders und seinen bei Lazars letztem Abendmahl geleisteten Schwur, den Sultan zu töten, aus den slawischen Quellen einfügte.31 Eine andere finstere Einzelheit, die Schein bekehrung des Mörders zum Islam, erscheint ein Jahrhundert nach Neşri in der Anthologie des Briefwechsels der Sultane.32 Verfasser dieses Werkes war Ahmed Feridun, ein osmanischer Staatsmann unbekannter Herkunft – doch da er als Sekretär von Mehmed Sokollu, dem berühmten slawischen Großwesir der Osmanen, bekannt wurde, wäre es nicht überraschend, falls auch Feridun ein südslawischer Konvertit gewesen wäre. Viele „amtliche Dokumente“, die er in seiner Anthologie sammelte, waren tatsächlich Fälschungen, darunter auch die Kosovo-Geschichte. Sie taucht in einem Brief auf, der von Murads Sohn und Nachfolger Bayezid zu sein behauptet und berichtet, wie er auf den Thron kam.33

Auf jeden Fall brachte man Murad vom Kosovo, wo er gefallen war, heim und begrub ihn in einer neuen Moschee in der Zitadelle von Bursa, der Märtyrermoschee. Bayezid folgte seinem Vater Murad unangefochten, wohl weil er auf dem Schlachtfeld des Kosovo die Hinrichtung seines einzigen Bruders befohlen hatte.34

Eine neue Gesellschaft

Aus den Kriegen, Katastrophen, Seuchen und Wanderungen dieses bemerkenswerten Jahrhunderts entstand in den Grenzregionen allmählich eine neue Gesellschaft. Ihre verschiedenen Gemeinschaften, die Seite an Seite lebten – Griechen und Türken, Slawen und Lateiner –, verstanden oder mochten einander nicht immer. Doch wie im Fall der Legenden um das Kosovo konnten ihre wechselweise Unwissenheit und ihre manchmal bestürzende gegenseitige Bosheit nicht verhindern, dass es unweigerlich zu einer Gemeinsamkeit der Mittel und Wege kam, einer Überlappung der Identitäten, die – wenn auch uneingestanden, ja unbewusst – binnen einer Generation aus dem Unheil erwuchs.

Es ist zwar nicht falsch, solche Gemeinschaften als „christlich“ und „muslimisch“ zu bezeichnen, aber an den verschwommenen Grenzen zwischen den beiden öffnete sich eine Zwischenregion, in der christliche wie muslimische Ritter zu den plündernden Armeen zählten, Christen wie Muslimen die Gefahr der Versklavung drohte, Christen wie Muslime Krankheiten und Seuchen zum Opfer fielen und Christen wie Muslime sich ineinander verliebten, intime Beziehungen eingingen und Mischehen schlossen. Kantakuzenos rügte seine griechischen Rivalen in Konstantinopel, denn ihre Heere seien voller „Halbbarbaren“, mixobarbaroi, und am Ende des Jahrhunderts sagte Timur dasselbe über die Osmanen.35 Die beiden berühmtesten Zeitzeugen für diese verknüpften Gesellschaften, Ibn Battuta und Palamas, der eine Muslim, der andere Christ, fühlten sich jeder in der Küstenregion Kleinasiens als Außenseiter. Ibn Battuta verbrachte den Großteil seines Lebens mit Reisen von einem Ende der islamischen Welt zum anderen, und in Gesellschaft gleichgesinnter muslimischer Gelehrter fühlte er sich wohl, aber an der kleinasiatischen Küste stieß er auf überraschende Barrieren, denn er konnte kein Türkisch. Und als Erzbischof Palamas unter die griechischen Christen in Kleinasien kam, die er als sein eigenes Volk betrachten durfte, bemerkte er mit einem gewissen Kummer, aber auch mit einiger Bewunderung, dass „die Christen und die Türken sich miteinander vermischen, ihren Geschäften nachgehen, einander führen und voneinander geführt werden …“36

Es ist nicht leicht, ein vollständiges demographisches Bild dieser entstehenden Gesellschaft zu zeichnen. Beispielsweise ist es unmöglich, die Zahl der Gesamtbevölkerung in der Region zur Zeit der türkischen Eroberung oder die Größe der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen zu ermitteln, aus denen sich die Gesamtheit zusammensetzte. Unbekannt bleiben die Zahlen der Invasoren und Einwanderer, die der Menschen, die vor den Katastrophen vorübergehend oder dauerhaft auf die Inseln der Ägäis, nach Konstantinopel oder in die slawischen Länder flüchteten, wie viele von ihnen starben, wie viele in die Sklaverei verkauft wurden, zuhause blieben oder heimkehrten, als die Gewalt abebbte.

Anfangs war der Großteil der Bevölkerung in den Ländern, über welche die osmanischen Emire herrschten, orthodoxe Christen. Es ist nicht leicht, die Lebensumstände dieser „großen Zahl von Christen unter muslimischer Herrschaft“, wie Ibn Battuta schrieb, einzuschätzen. Die orthodoxe Kirche, deren Struktur erst durch die Slaweneinfälle und dann durch die türkischen Einfälle dezimiert worden war, stand vor gewaltigen Schwierigkeiten.37 Der Klerus erlitt beträchtliche materielle Verluste und verarmte durch die Angriffe der Türken, die Flucht von Ordensgemeinschaften und deren Anführern, die Gefangennahme und Versklavung zumindest eines Teils der Bevölkerung, die Aufgabe und Beschlagnahmung von Liegenschaften und den Aderlass durch ansteckende Krankheiten. Disziplin, Moral und Reinheit der Lehre litten gleichermaßen.38 Dennoch zeigen Ausgrabungen in Sardes, einer Stadt an der viel befahrenen Flussroute über den Hermos (Gediz) von der Küste Kleinasiens ins Landesinnere, wenig Brüche in den Siedlungsspuren, vielmehr deuten sie auf eine Kontinuität zwischen der byzantinischen und der frühtürkischen Zeit, etwa in Produktion und Gebrauch glasierter Keramik.39 Zwar fand Erzbischof Palamas Nikaia während seines dortigen Zwangsaufenthaltes zum Großteil verlassen vor und stellte fest, dass der Handel nach Bursa ausgewichen war, aber trotz aller Not ging das geistliche Leben weiter. Auch in Biga „brachten sie uns zur Kirche Christi, die selbst jetzt dank seiner Macht noch besteht und ihn freimütig preist“. Außerdem traf Palamas Christen in wichtigen Positionen an, darunter Orhans Leibarzt, ein griechischer Mediziner namens Taronites.40

Ein weiteres Problem für die Kirche war der Übertritt zum Islam. Zwei Patriarchenbriefe an die Christen in Nikaia, geschrieben in den Jahren 1338–40, luden Konvertiten zur Rückkehr ein und versprachen Vergebung. Die Briefe setzten voraus, dass einige unter Zwang Muslime geworden seien, und stellten in Aussicht, sobald der Druck wegfalle, würden jene, die sich wieder der Kirche anschließen wollten, Aufnahme finden. Doch wiederholt verurteilten die Schreiben Konvertiten, weil sie ihrem christlichen Glauben nicht treu blieben. Sie behandelten die Konversion als Sünde, die Reue und Vergebung erfordere – womit sie indirekt einräumten, dass es sich in Wirklichkeit nicht um Zwangsbekehrungen gehandelt hatte.41

Es überrascht nicht, dass zu den Faktoren, die einen Glaubenswechsel begünstigten, Mischehen zählten. Herrscherliche Vorbilder für Eheschließungen zwischen Christen und Muslimen, die aus Gründen der dynastischen Politik erfolgten, waren zur Hand, wenn man wollte, doch handelte es sich nicht allein um eine Praxis im Adel. Die Kinder dieser wahrscheinlich in die Hunderte gehenden Verbindungen waren es, von denen Kantakuzenos als von mixobarbaroi sprach.42 Alle Ehefrauen Sultan Orhans waren Griechinnen – außer Theodora (der Tochter von Kantakuzenos) hatte Orhan zuvor bereits Nilüfer geheiratet, die Tochter des byzantinischen Statthalters von Yarhisar.43 Theodora blieb Christin, Nil üfer wurde Muslima.44 Aber das war nichts Neues. Seit 200 Jahren hatten die byzantinischen Kaiser Eheverbindungen mit den seldschukischen Türken geschlossen.45 Dutzendweise hatten Prinzessinnen aus den Königsfamilien des christlichen Konstantinopel, Trapezunt und Serbien mongolische und türkische Herrscher geheiratet.46 Orhans Nachfolger Murad und Bayezid heirateten muslimische wie christliche Frauen. Murad war mit Töchtern des christlichen Fürsten von Tarnovo und der muslimischen Fürsten von Kastamonu und Sinop vermählt. Murads Sohn Bayezid heiratete die römisch-katholische Tochter der Herzogin von Salona, die orthodoxe Schwester des serbischen Fürsten Stefan Lazarević und die muslimische Tochter des Fürsten von Germiyan.

Wechselseitige Abhängigkeit

Die türkische Eroberung band die Küstengebiete beiderseits der Meerengen stärker in die afroeurasische Welt ein.47 In Situationen, da die Sicherheit zusammengebrochen war, entwickelte sich aus der anfänglichen räuberischen Beziehung zwischen Plünderern und Opfern eine Wechselbeziehung, sobald die türkischen Emire die Ordnung wiederhergestellt hatten. Ibn Battuta kam sich manchmal so vor, als lebte er am Rande der zivilisierten Welt – diese Leute sprachen gar kein Arabisch! Doch dank enger Kontakte mit der seldschukischen Kultur auf der Hochebene setzte rasch ein kultureller Reifungsprozess ein. Ibn Battuta war beeindruckt von der Atmosphäre der Karawansereien – der Herbergen, die gleichzeitig als Märkte dienten. Dort begegnete er Pilgern und anderen hauptberuflichen Reisenden seines Schlages, einem Muslim aus Ägypten, einem Juden aus Spanien und anderen.48 Ausführlich schrieb er über die Männer, die in den Herbergen arbeiteten und sich um die Bedürfnisse von Reisenden und Händlern kümmerten. Sie waren Angehörige geistlicher Bruderschaften und praktizierten eine pietistische Ethik des Dienens. Ibn Battutas Bericht vermittelt auch einen Eindruck vom regen Wettbewerb zwischen den türkischen Emiren, die muslimische Gelehrte, Koranrezitatoren und andere auswärtige Künstler und Unterhalter an ihre Höfe zu locken suchten. Diese Rivalität in puncto Philanthropie und Förderung der religiösen Wissenschaften und Künste erstreckte sich auch auf große Bauvorhaben wie Moscheen, Medresen und Bäder, von den Herbergen abgesehen. Die Architekten der frühen Moscheekomplexe und anderer Bauten, welche die türkischen Eroberer errichteten, stammten oft aus Ägypten, Syrien und anderen Ländern, doch die Techniken der Werkstätten verraten, dass das kunsthandwerkliche Dekor und die Arbeitskräfte einheimisch-christlich waren.49 Die kosmopolitische Wertschätzung der Türken für Arbeit und Handel erwuchs offensichtlich aus den Werten ihrer islamischen Religion und war mit ihnen vereinbar.

Erst die Eroberungen der Mongolen ermöglichten es, dass verschiedene Landwege ins südliche und östliche Eurasien mit den traditionellen kombinierten Land- und Seewegen über Ägypten oder die Levante konkurrieren konnten. Murad schloss Handelsverträge mit Venedig und Genua, die den italienischen Kaufleuten Zugang zu den türkischen Märkten gewährten.50 Vorangetrieben wurde das kommerzielle Zusammenwachsen der Region durch die Bezahlung von Waren mit europäischen Silberbarren, die in ilchanidischen Prägestätten zu Münzen geprägt wurden und von denen manche aus frisch erschlossenen Bergwerken in südslawischen Ländern stammten.51 Die Ilchaniden betrieben über 200 Münzstätten, die Dirhems oder Asper genannte Silbermünzen prägten, wodurch die Monetarisierung des Handels und Investitionen in erweiterte lokale Handelsnetze möglich wurden.52 Zwar stand das alleinige Münzrecht den herrschenden Ilchaniden zu (es war ein wichtiger Ausweis von Souveränität), aber den türkischen Emiren in Kleinasien war es gestattet, anonym und einmalig geprägte Silbermünzen in Umlauf zu bringen; vielleicht zählte dies zu den Bestrebungen, die Loyalität dieser Vasallen zu erhalten, indem man ihnen erlaubte, von einer für beide Seiten vorteilhaften Finanzgemeinschaft zu profitieren.53 Der Sturz der Ilchaniden um die Mitte des 14. Jahrhunderts fiel mit einer Silberknappheit zusammen, die sich aus dem Unvermögen der europäischen Monarchen ergab, eine ausgeglichene Handelsbilanz aufrechtzuerhalten.