Das Pfarrhaus von Skalunga - Elsa Beskow - E-Book

Das Pfarrhaus von Skalunga E-Book

Elsa Beskow

0,0

Beschreibung

Das Pfarrhaus von Skalunga ist die Geschichte vom Zueinanderfinden eines Bauernpfarrers, der vielleicht ein bißchen allzu vollkommen erscheint, und der jungen Schönheit Helwig, die ihren Sommer in Skalunga verbringt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 274

Veröffentlichungsjahr: 2012

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Das Pfarrhaus von Skalunga

Elsa Beskow

Inhalt:

Das Pfarrhaus von Skalunga

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

47.

Das Pfarrhaus von Skalunga, E. Beskow

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN:9783849614980

www.jazzybee-verlag.de

www.facebook.com/jazzybeeverlag

[email protected]

Das Pfarrhaus von Skalunga

1.

Überwältigend schön war die Lage des Pfarrhofes von Skalunga. Eine lange Bergwand stieg vom Fluß in der Tiefe bis zu den Wolken empor, und hoch oben nahe dem Gipfel, oberhalb des Dorfes und seiner schlichten Kirche lag das Pfarrhaus. Der Weg zu ihm hinauf war steil, vom Dorfe zu seinen Füßen an geradezu abschüssig.

An die Bergwand gelehnt, erhob sich hinter der Kirche und dem Pfarrhofe das Wohnhaus, dessen Grund sich etwa in gleicher Höhe mit dem Kreuz auf der Kirchturmspitze befand.

Es war ein wetterfestes Gebäude, geräumig und wohnlich; als es erbaut wurde, hatte der Boden in jener damals dünn bevölkerten Gegend nichts gekostet, und Bauholz gab es im Überfluß in den Siebenmeilenwäldern rings umher. Ein geräumiges Wohnhaus war in diesen Bergen allerdings notwendig, damit der Pastor Reisende beherbergen konnte; denn es war weit bis zum nächsten Gasthof. Jetzt war die Gegend dichter bevölkert, das Land besser bestellt, und das Dorf um die Kirche hatte sich bedeutend vergrößert. Es gab sogar ein Wirtshaus dort, so daß man die Gastlichkeit des Pfarrhauses weniger in Anspruch zu nehmen brauchte.

Von seinen Fenstern hatte der Pastor die Aussicht auf seine Kirche und die Hälfte seiner weit ausgedehnten Gemeinde. Wenn er deren andere Hälfte überblicken wollte, mußte er den steilen Abhang hinaufsteigen, der oberhalb seines Hauses nach dem Skalungaer Höhenzug führte. Hier oben bot sich eine weite und großartige Aussicht. Nach allen Richtungen Wald, – soweit das Auge reichte, ernster, ewig grüner Nadelwald. Ein reißender Strom schlängelte sich als weißes Band durch all das dunkle Grün hinab. Von der Höhe aus sah man viele Stromschnellen, die aber sehr weit auseinanderlagen. Von hier oben, aus dem Fenster betrachtet, schienen sie still zu liegen, wie wild auch die Wassermassen schäumten. Doch an stillen Tagen konnte man auch hier ihr Getöse ganz schwach vernehmen, wie es sich mit dem Brausen näherer kleinerer Ströme vermischte. Denn hier und da, vom Walde verborgen, eilten sie in zerklüfteten Felsenbetten aus der sprudelnden Quelle und den kleinen Seen hinab, um ihren langen Sehnsuchtsweg dem Meere entgegengeführt zu werden.

Obgleich Skalunga nur eine Filialgemeinde war, hatte es doch eine große Kirche, und deren Schatz war ein alter Altarschrein, der während des Dreißigjährigen Krieges irgendwo in Deutschland »gerettet« worden war. Sonst hatte sie wenig Schmuck.

Gelegentlich kamen Touristen, angelockt durch den großartig schönen Weg, aus bewohnterer Gegend nach Skalunga, dann begehrten sie, die Aussicht von den Höhen und den Altarschrein zu sehen. So kamen auch eines Tages drei Damen herauf. Es waren die Baronin Furuclou mit ihrer Tochter Helwig und ein Fräulein Borg, die Mutter und Tochter in dem Gasthaus kennen gelernt hatten, wo sie zusammen während des Sommers wohnten.

Da sie schon vier Stunden gefahren waren, freuten sie sich, nun das Fuhrwerk verlassen zu können. Sie hatten Mundvorrat mitgebracht und bestellten im Gasthof Kaffee zu ihrem Butterbrot.

Als sie sich gestärkt hatten, gingen sie hinauf, um sich die Kirche anzusehen. Diese war verschlossen, da es Wochentag war; man sagte ihnen aber, daß sich der Schlüssel im Pfarrhaus befände.

»Fräulein Borg und ich werden hier warten, wenn du nach dem Schlüssel hinaufgehen willst,« sagte die Mutter zu ihrer Tochter.

Helwig ging.

Es war niemand in der Nähe des Pastorats zu sehen, darum trat sie in den Hausflur ein, der geräumig und leer war. Helwig klopfte an der ersten Tür zur Rechten. Niemand antwortete. Aber die Tür war nicht verschlossen, als sie den Griff niederdrückte. Sie blickte in ein großes Eckzimmer. An dem einen Fenster stand ein plumper Schreibtisch voller Papiere und Bücher, an den Wänden befanden sich Bücherständer, ein Sofa und einige Stühle. Helwig hielt es für des Pastors Arbeits- und Studierzimmer.

Während sie noch in der Tür stand, unentschlossen, ob sie ihre Entdeckungsreise fortsetzen sollte, kam ein untersetzter, kräftig gebauter Mann aus einem angrenzenden Zimmer. Er hatte grobe Kleider an. Sein ungewöhnliches Gesicht zeigte derbe Züge. Das aufwärtsstrebende, dicke Haar war dunkel rotbraun, das Gesicht sommersprossig, aber frisch und sonnenverbrannt.

Als er die junge Dame in der Tür erblickte, zog er die Hände aus den Joppentaschen, verbeugte sich kurz und lächelte leicht. Vielleicht ahnte er, daß es ihr zweifelhaft war, ob er der Pastor selber oder dessen Knecht sei. Wie dem auch sein mochte, er machte Eindruck auf sie. Es war etwas urwüchsig kraftvolles an ihm, und dies gefiel ihr, da sie für alles Ungewöhnliche empfänglich war.

»Ich möchte um den Kirchenschlüssel bitten. Wir wollen uns gern die Kirche ansehen, und man hat uns hierhergewiesen.«

Der Mann nahm einen gewaltigen Schlüssel von der Wand und reichte ihn ihr.

»Sie können ihn dann stecken lassen. Ich muß doch nachher bald hingehen,« sagte er.

»Ist es Ihnen nicht bedenklich, den Schlüssel Fremden so ganz zu überlassen? Wir könnten doch etwas stehlen,« scherzte sie.

»Der Altarschrein ist zu schwer, und etwas anderes gibt es nicht zu stehlen.«

Da nahm sie den Schlüssel und ging, immer noch in Ungewißheit, ob sie den Pastor oder dessen Knecht getroffen habe. Es kam ihr vor, als deute sein Aussehen auf letzteres, sein sicheres Auftreten aber auf ersteres. –

Die Damen besahen die Kirche, ließen den Schlüssel stecken und stiegen dann auf die Höhe, um die Aussicht zu betrachten.

Als sie an das Pastorat kamen, zögerte die Baronin.

»Hier wird es furchtbar steil. Ob ich nicht lieber hier bleibe und euch allein weitergehen lasse? Wir treffen uns dann wieder, wenn ihr zurückkommt.«

Fräulein Borg meinte auch, daß es wohl so am klügsten wäre, aber Helwig war anderer Ansicht.

»Du wirst es hinterher bereuen, wenn du nicht mitkommst, Mutterchen. Die Leute werden dich fragen, ob du auf der Höhe warst, und dann sagen, daß du nichts von Skalunga gesehen hast. Dann werden wir uns so ärgern, daß es besser ist, wenn du dich jetzt anstrengst.«

Helwig sprach lebhaft und faßte liebevoll der Mutter Arm, um ihr beim Aufstieg behilflich zu sein.

Die Baronin gab lächelnd nach. Ihrem Töchterchen gegenüber war sie sehr schwach. Sie war stolz auf sie und hatte auch Grund dazu, wenigstens was das Äußere betraf. Helwigs Gestalt war schlank und schmal um die Hüften. Sie bewegte sich lebhaft, aber mit einer natürlichen, feinen Würde. Ihr längliches Gesicht mit den mandelförmigen Augen und dem griechischen Profil war schön. Die schmalen, gebogenen, meist leicht getrennten Lippen hatten einen stolzen, etwas spöttischen Ausdruck, und das Kinn deutete auf Willensstärke. Das dunkle Haar war weder üppig, noch lockig, aber wohlgepflegt und hübsch aufgesteckt, so daß die vornehme Form des Kopfes voll zur Geltung kam. Ausdruck und Haltung zeugten von regem geistigen Leben, aber auch Sehnsucht und Unruhe lag in der Tiefe der blauen Augen, die dank den dichten Augenwimpern dunkler aussahen, als sie waren. Die Farbe der warmen, reinen Gesichtshaut wechselte häufig, gewöhnlich aber war sie gerötet, beinahe etwas hektisch, und die roten Lippen konnten bei jeder auch nur geringen Gemütsbewegung erbleichen.

»Ach, ist es nicht Lohn genug für alle Mühe, hier oben zu stehen!« rief Fräulein Borg begeistert aus.

Ausnahmsweise stand Helwig schweigend da. Die Erhabenheit der weiten Aussicht wirkte beklemmend, fast beängstigend auf sie. Dann machte sie eine eigentümliche Beobachtung: es schien ihr dies alles bekannt zu sein, und doch wußte sie, daß sie es zum ersten Male sah. Es war ihr, als hätte sie schon früher hier gestanden und das Kreuz auf dem Kirchturm blinken sehen. Sie blickte darauf hinab und meinte doch, es wäre hoch über ihr. Dies Gefühl war ihr neu, und doch hatte sie die Empfindung, als hätte es lange in ihr gelegen, um ihr erst jetzt zum Bewußtsein zu kommen. Was bedeutete das? War sie früher einmal im Traum hier gewesen?

»Ist es nicht Zeit, hinunter zu gehen? Wir haben einen weiten Heimweg, und die Pferde werden auch lange genug ausgeruht haben,« sagte die Baronin endlich.

Zwar war sie entzückt von ihrem Ausflug, aber sie fing jetzt doch an, sich nach der gemütlichen Pension und nach der Abendmahlzeit zu sehnen. So stiegen sie bergab.

Noch waren sie nicht weit gegangen, als die Baronin stolperte und fiel.

»Mutter!« schrie Helwig auf.

Aber sie erhielt keine Antwort. Die Mutter lag unbeweglich, und als sich das junge Mädchen ängstlich über sie beugte, sah sie, daß sie das Bewußtsein verloren hatte.

»Bleiben Sie hier. Ich laufe nach Hilfe hinunter ins Pastorat,« sagte Fräulein Borg.

Helwig war aufs tiefste erschrocken und stand wie gelähmt neben ihrer Mutter. Sie wagte nicht, sie anzurühren; denn sie wußte ja nicht, wo sie verletzt war, und hätte daher den Schaden leicht verschlimmern können.

»Mutter, Mutter!« jammerte sie und setzte sich auf den Boden dicht neben sie.

Behutsam nahm sie ihr den Hut ab und streichelte zaghaft das blasse Gesicht. War es wohl ein Vorgefühl hiervon gewesen, was sie so ängstlich gemacht hatte, als sie dort auf der Anhöhe stand? Sie dachte daran, daß die Mutter beim Pastorat bleiben wollte und nur auf ihr Zureden mitgegangen war, und diese Erinnerung schnitt ihr ins Herz!

Es schien Helwig eine Ewigkeit zu vergehen, ehe Hilfe kam; aber endlich stellte sie sich doch ein. Es war der Pastor und sein Knecht. Sie trugen eine einfache Bahre. Fräulein Borg ging vor ihnen her.

Der Mann mit den markigen Gesichtszügen beugte sich, als er die Bahre niedergesetzt hatte, über Helwig, die in ihrer Trostlosigkeit auf der Erde saß, und half ihr aufstehen.

»Mut!« sagte er und sah ihr fest in das blasse Gesicht.

Es kam ihr vor, als ginge eine Kraft von ihm aus. Matt stützte sie sich auf ihn, selbst als sie wieder auf den Füßen war. Sie zitterte so, daß sie kaum stehen konnte.

Er überließ sie Fräulein Borg und beugte sich über die Verletzte, deren Bewußtsein allmählich wiederkehrte. Nach einer kurzen, aber augenscheinlich sachkundigen Untersuchung glaubte er feststellen zu können, daß der Hauptschaden in einem Oberschenkelbruch dicht unterhalb der Hüfte bestand. Er verschwieg, daß es ein schwerer Bruch sei, der lange Zeit zur Heilung brauchen würde.

Mit Hilfe des Knechts versuchte er, die Verletzte auf die Bahre zu heben, doch wollte er ihr nicht mehr Schmerzen machen, als durchaus notwendig war. Er blickte Helwig prüfend an:

»Wenn Sie sich an jene Kiefer lehnten, könnten Sie allein stehen,« sagte er in freundlich bestimmtem Ton zu ihr und rief gleichzeitig Fräulein Borg mit einem Blick zur Hilfe herbei.

»Kann ich nicht auch helfen?« fragte Helwig mit einem heldenmütigen Versuch, sich aus ihrer Schwachheit aufzuraffen.

»Seien Sie nur mutig!« antwortete der Pastor.

Daß der untersetzte Mann mit den grobgeschnittenen Gesichtszügen der Pastor war und der andere sein Knecht, begriff Helwig jetzt; sie empfand es unwillkürlich, trotzdem sie so von Angst erfüllt war.

Das Geschick war bisher sanft mit Helwig umgegangen. Derartige Schläge war sie nicht gewohnt, und darum war sie jetzt so fassungslos. Als die Mutter stöhnte, während sie auf die Bahre gehoben wurde, konnte Helwig sich nicht mehr beherrschen, sie fing auch an zu jammern. Trotz ihrer Angst merkte sie aber doch, was für eine klägliche Rolle sie spielte, während die anderen so gefaßt waren, und die Vorstellung quälte sie, welchen Eindruck ihr Benehmen machte.

Als die Verletzte glücklich auf der Bahre lag, trugen die beiden Männer sie so vorsichtig wie möglich den Abhang hinunter.

Helwig folgte ihnen, indem sie sich auf Fräulein Borg stützte.

»Daß ich so eine Memme bin!« murmelte sie.

»Das ist kein Wunder,« meinte Fräulein Borg tröstend.

Die Bahre wurde in das Pastorat in ein großes Eckzimmer getragen, wo ein frisch zurechtgemachtes Bett stand. Dort erwartete sie eine kleine, einfache Bauersfrau. Wer sie war, erfuhr Helwig, als der Pastor sie mit »Mutter« anredete.

Selbst sie unterlag jetzt der ruhigen Bestimmtheit seiner Anweisungen und gehorchte ihm so flink wie die beiden anderen.

Der Pastor tat gerade, als wäre er ein Arzt. Er schien genau zu wissen, was zu tun war. Ohne Zaudern handelte er, aber auch ohne Überstürzung, alles machte er ruhig und gut. Seine Anordnungen waren kurz und bündig, aber deutlich genug. Helwigs Hilfe nahm er nicht in Anspruch, dagegen wandte er seine Aufmerksamkeit auch ihr zu, wenn sie schwankte und Hilfe brauchte. Sie sah auch, daß er alles, was für die Verletzte getan werden konnte, aufs beste machte, und das gab ihr allmählich die Ruhe zurück.

Als die Mutter im Bett lag, das gebrochene Glied in der richtigen Lage, und alles zur Linderung getan war, saß Helwig wie in einem bösen Traum daneben. Dazu hatte nun der Ausflug dieses Tages geführt! Wenn sie nur nicht darauf bestanden hätte, daß die Mutter mit auf die Höhe käme, dann wäre dies nie geschehen!

Jemand berührte ihren Arm. Als sie den Kopf wandte, stand die kleine Bauersfrau, des Pastors Mutter, neben ihr.

»Kommt und eßt was!«

»Ich kann nicht essen!« antwortete Helwig mit bebenden Lippen.

»Ihr müßt!« nötigte die alte Frau freundlich.

Aber Helwig schüttelte nur den Kopf.

Da blickte des Pastors Mutter sie einen Augenblick unschlüssig an und ging dann hinaus.

Helwig glaubte, daß der Versuch, sie zum Essen zu bewegen, aufgegeben wäre, aber darin irrte sie sich. Die Wirtin war keineswegs entmutigt worden, sondern ging nur, ihren Sohn zu holen. Bald darauf erschien seine untersetzte Gestalt in der Tür. Festen Schrittes trat er in der ihm eigenen schroffen und doch Vertrauen einflößenden Art zu Helwig und bot ihr den Arm; sie sah ihn abweisend an. Da faßte er ihren Arm und zog ihn unter den seinen.

»Kommen Sie!« sagte er nur.

Da fühlte sie seine überlegene Kraft und folgte ihm.

Er führte sie in das anstoßende Gemach. Es war ein gewaltig großer Raum mit vier Fenstern. Das eine Ende des großen Tisches in der Mitte war gedeckt. Fräulein Borg hatte eben gegessen und erhob sich jetzt, um in das Krankenzimmer zu gehen und dort Helwigs Platz einzunehmen, während diese aß.

Als der Pastor Helwig an den Tisch gesetzt hatte, blieb er neben ihr stehen. Seine Mutter brachte eben warmes Essen aus der Küche.

»Ich kann nichts essen,« erklärte Helwig.

»Versuchen Sie,« sagte der Pastor kurz.

Es lag eine wunderbare Kraft in seiner Ruhe und in den knappen Worten, eine Kraft, der Helwig nicht widerstehen konnte.

Sie gehorchte ihm und versuchte zu essen. Es ging wirklich. Sie entdeckte sogar, daß sie hungrig gewesen sein mußte.

Während sie nun aß, wurde ihr die ganze Lage klar.

Die Mutter war verletzt, aber, wie es schien, nicht lebensgefährlich. Sie hatte Schmerzen, aber sie war doch wieder bei Bewußtsein und schien nicht so krank, daß man irgendwelche Befürchtungen für ihr Leben haben mußte. Helwig fing an, sich wieder aus der hoffnungslosen Verzweiflung aufzuraffen, die ihr zuerst die Besinnung geraubt hatte. Aber wenn es auch nicht so schlimm war, wie es hätte sein können, so war es doch traurig genug.

Sie blickte zum Pastor auf, der noch neben ihr stand.

»Wie werde ich meine Mutter von hier fortbringen können?«

»Das geht nicht.«

»Aber – – es muß gehen. Wie sollte es sonst werden?«

»Sie müssen hier bleiben.«

»Hier bleiben?« rief Helwig aus, als wäre das unmöglich.

»Warum nicht?«

»Hier in der Einöde, ohne einen Arzt in der Nähe? Und ohne alle Bequemlichkeiten? Mutter, die es ganz anders gewohnt ist!«

»Wir werden es ihr so behaglich wie möglich machen. Der Arzt kann morgen beizeiten hier sein.«

Helwig kam alles unwirklich, wie ein Traum vor. War es möglich, daß sie, die nur einen Tagesausflug in diese weltferne Gegend hatten machen wollen, hier bleiben mußten?

»Ich glaube nimmermehr, daß Mutter das will,« sagte sie.

»Ich fürchte, sie wird müssen,« entgegnete der Pastor.

Helwig blickte den Pastor wieder an. Wie machtvoll war sein Gesicht, und wie bestimmt waren seine ruhigen, kurzen Äußerungen! Er kam ihr vor wie ein unvermeidliches Schicksal. Sie sträubte sich aber doch.

»Wir können nicht bleiben!« erklärte sie aufsässig.

Diesmal antwortete er nicht, aber es trat ein Ausdruck in seine Augen, als wäre sie ein Kind und täte ihm leid. Es lag nichts Vorwurfsvolles oder Geringschätziges darin, aber doch stieg ein Gefühl der Beschämung in ihr auf.

»Wir haben alle unsere Sachen in der Pension, wir haben nichts hierher mitgebracht. Wir wollten doch nicht einmal über Nacht bleiben,« klagte sie, und es war ihr selbst dunkel bewußt, wie kleinlich diese Klage eigentlich war im Vergleich zu dem Schlag, der sie getroffen hatte.

»Die Sachen können geholt werden.«

Das könnten sie wohl. Das war ja so einfach. Er nahm es alles so, wie es war; aber ihr wurde es schwer.

»Wollen Sie Ihr Bett drinnen bei Ihrer Mutter haben, oder soll es in der Stube nebenan stehen?« fragte er.

Sie war unschlüssig.

»Mutter muß natürlich jemand bei sich haben, aber ich bin die Krankenpflege gar nicht gewohnt, – – ich fürchte, ich kann es nicht. Wenn wir hier bleiben, müssen wir eine Pflegerin haben.«

»Hier im Dorf ist eine tüchtige, zuverlässige Frau. Nicht ausgebildet, aber mit einer natürlichen Anlage. Wenn es nötig ist, hilft sie mir bei meinen Kranken. Sie könnte nachts hier sein.«

»Kann sie schon diese Nacht kommen?«

»Ich will mich erkundigen. Ich glaube es wohl.«

Helwig ging nun zu ihrer Mutter, um mit ihr zu beraten. Die Baronin freute sich zwar nicht über die Aussicht, in Skalunga bleiben zu müssen, sah aber ein, daß es unmöglich war, abzureisen; denn sie konnte sich nicht ohne Schmerzen rühren.

»Ich könnte die lange Fahrt nicht ertragen und mag nicht einmal daran denken, aus dem Bett gehoben zu werden,« sagte sie matt.

Fräulein Borg war sehr teilnehmend und wollte helfen, soviel sie konnte; aber sie war doch keine Verwandte und nicht gezwungen, zu bleiben. Der Wagen fuhr heute abend zurück, und sie beschloß, mitzufahren. In der Pension wollte sie die Angelegenheit der Damen Furuclou erzählen und ihnen ihre Sachen schicken.

»Und wenn ich sonst noch etwas tun kann, tu ich es gern.«

Aber es war weiter nichts zu tun.

Als nun gar Fräulein Borg abreisen wollte, fühlte Helwig sich hoffnungslos verlassen, hier oben allein mit ihrer kranken Mutter, mitten unter lauter Fremden, fern von aller Kultur. Die Angst, die sie ausstand, machte sie schwach, sie konnte sich nicht mehr beherrschen und fing an zu weinen. Um es vor der Mutter zu verbergen, ging sie in das große Eßzimmer hinaus, das leer war. Ihr zukünftiges Zimmer wurde aufgeräumt und so gut wie möglich für sie zurechtgemacht. Augenblicklich wurde sie nicht gebraucht, denn Fräulein Borg saß noch bei der Mutter und wartete auf den Wagen, der sie hier oben abholen sollte. Helwig fühlte sich wie eine Gefangene, weil sie nicht mitfahren konnte.

Sie saß an einem der Fenster, die Ellbogen auf das Fensterbrett und das Kinn in die Hände gestützt. Unter reichlichen Tränen starrte sie hinaus auf die Landschaft. Die Natur, die mit ihrer düsteren Schönheit vorher großen Eindruck auf sie gemacht hatte, vermehrte jetzt nur ihre Beklemmung.

Die Kirche war das Nächste, was sie sah. Daneben führte der Weg aus dem Dorf herauf. Sie wartete auf den Wagen, der Fräulein Borg fortbringen sollte.

Da kam er. Der Kutscher stieg den Hügel herauf. Er hatte Gesellschaft, denn neben ihm ging der Pastor, und hinter ihnen kam eine Bauersfrau mit einem Tuch um den Kopf. Vermutlich die Krankenpflegerin! Mitten unter ihren Tränen lächelte Helwig bitter. Wie weit war es mit ihr und ihrer armen Mutter gekommen, daß sie auf so einfache Hilfe angewiesen waren! Ein Pastor als Arzt und eine Bauersfrau als Krankenwärterin!

Sie trocknete die Tränen und versuchte ernstlich, ihre Erregung zu bezwingen, indem sie sich sagte, daß das Weinen doch nichts nützte.

2.

Fräulein Borg war abgereist, und Mutter Karin, die ungeschulte Pflegerin mit der natürlichen Begabung, hatte ihren Platz in der Krankenstube eingenommen. Sie wohnte im Dorf, war Witwe und hatte bisher ihren Hof mit Hilfe ihrer Kinder allein bewirtschaftet. Nun hatte sich der älteste Sohn verheiratet, und die anderen Kinder hatten das Haus verlassen. Die Schwiegertochter tat jetzt größtenteils die Hausarbeit, so daß Mutter Karin sich der Krankenpflege widmen konnte.

Helwig ging in ihre Schlafstube neben dem Zimmer der Mutter. Beide Stuben lagen im Giebel, der im Pastorat ebenso breit war wie die Vorderseite eines gewöhnlichen kleineren Hauses. Die Aussicht vom Fenster ging auf den Abhang der Skalungahöhe. Helwig konnte auch den Fluß sehen, der weither von den Anhöhen aus einem abgelegenen See kam. In der hellen Sommernacht war alles sichtbar. Wenn sie das Fenster öffnete, hörte sie das Brausen entfernter Stromschnellen im Walde, denn die Luft war still. Sie hatte geglaubt, überhaupt nicht einschlafen zu können, aber als sie erwachte, fand sie zu ihrer Verwunderung, daß es Morgen war. Sie schämte sich, daß sie die ganze Nacht fest geschlafen hatte. Wie mochte es ihrer Mutter gegangen sein? Besser, als zu erwarten war, lautete die Auskunft. Der Pastor hatte ihr ein Beruhigungsmittel gegeben, und Mutter Karin hatte gut aufgepaßt.

»Ich habe es so gut, wie es unter diesen Verhältnissen möglich ist,« tröstete die Baronin ihre Tochter.

Früh am Morgen kam endlich der Doktor. Es war keine Kleinigkeit für ihn, hierher zu kommen. Zuerst mußte er mit dem Zug und dann noch mit dem Wagen fahren.

Er untersuchte die Kranke und stellte dasselbe fest wie der Pastor. Auch wegen der Behandlung hatte er nichts hinzuzufügen. Der Pastor hatte alles getan, was getan werden konnte, und der Doktor hätte es nicht besser machen können.

»Aber der Pastor ist doch Geistlicher und nicht Arzt,« sagte die Baronin verwundert.

»Man muß sich von allem etwas aneignen, wenn man an einem so abgelegenen Ort wie Skalunga wohnt,« antwortete der Pastor bescheiden.

Aber der Doktor klopfte ihm freundlich auf die Schulter.

»Er ist Arzt von Gottes Gnaden, Frau Baronin. Die Leute hier in Skalunga wollen nichts von mir wissen. Sie haben ja ihn, und das ist viel mehr wert. Er ist ein kluger Kerl, wissen Sie.«

Helwig machte eine Bemerkung wegen einer Krankenwärterin, aber ihre Mutter fand eine solche unnötig.

»Wenn Mutter Karin hier sein kann, brauche ich niemand anders,« sagte sie.

»Und da ›unser Ols‹ hier ist, brauchen Sie mich auch nicht, gnädige Frau,« sagte der Doktor und klopfte dem Pastor wieder auf die Schulter.

Der stand fest und ruhig wie ein Fels und ließ den lebhaften Doktor spektakeln.

»Unser Ols?« fiel Helwig fragend ein und hob die schmalen Augenbrauen.

Die Benennung kam ihr spaßig vor.

»Ja, das ist unser Pastor hier. So wird er von den Leuten genannt,« erklärte der Doktor und versuchte an dem Felsen zu rütteln, was ihm aber schlecht glückte.

»Aber wie heißt der Herr Pastor wirklich?« fragte Helwig.

»Ols Erik Larsson.«

Dieses Mal antwortete der Pastor selbst.

»Er legt aber mehr Wert aus die Benennung ›unser Ols‹,« fiel der Doktor ein. »Er nimmt sie als Bestätigung, daß sie ihn hier als ihr Eigentum betrachten. Und wenn Sie, Fräuleinchen, sich gut mit ihm stehen wollen, müssen Sie ihn auch so nennen.«

Bei dem persönlichen Zusatz richtete sich Helwig gerade, und ihr Aussehen bekam etwas Vornehmes.

Es wurde jetzt beschlossen, daß die Baronin und ihre Tochter hier im Pastorat bleiben sollten, da der Doktor, ebenso entschieden wie der Pastor, gegen ein Fortschaffen der Kranken war. Der Doktor versprach, in jeder Woche einmal zu kommen.

»Damit ›unser Ols‹ nicht gar zu eigenmächtig wird,« wie er in seiner heiteren Art sagte.

Nachts war Mutter Karin in der Stube bei der Baronin, aber am Tage konnten Helwig und Mutter Ols, wie des Pastors Mutter genannt wurde, die Kranke besorgen. Der Beste am Krankenbett aber war der Pastor. In seiner Behandlung lag eine seltene Vereinigung von Weichheit und Kraft. Ruhig, aber schnell führte er alles aus, er zögerte nicht, wenn er Schmerzen verursachen mußte, verkürzte aber dadurch die Pein. Er hatte eine unglaublich leichte Hand, und die Baronin sah die breiten, groben Hände lächelnd an und fragte, was für ein Zauber darin läge.

»Es ist, als läge eine beruhigende Kraft darin,« sagte sie.

Sie hatte das mehr als einmal empfunden, wenn er sie leise streichelte, nachdem er ihr Schmerzen hatte verursachen müssen.

»Es ist gut, wenn dem so ist,« antwortete er nur.

In seinem ruhigen Tonfall lag etwas, das auf eine unendliche Güte schließen ließ.

»Ich versichere, daß ich mich stets besser fühle, wenn der Herr Pastor das Zimmer betritt,« sagte sie nachher zu ihrer Pflegerin.

»Es geht den anderen ebenso,« war die Antwort.

Mutter Karin war wortkarg, sonst hätte sie jetzt Gelegenheit gehabt, verschiedenes über »unsern Ols« und seine Wirksamkeit zu berichten, von den glücklichen Kuren, die er ausführte, sowie von seiner großen Macht an den Krankenbetten. Er hatte einen klaren Blick für Krankheiten, konnte sie unterscheiden, ihre Veranlassung ergründen und Heilmittel finden, und er hatte eine große Macht über die Kranken. Schon als Knabe hatte er ärztliche Anlagen gezeigt und war der Lieblingsschüler eines Naturarztes gewesen, eines sogenannten Wasserdoktors, der allerhand Kranke mit Bädern, Packungen und Umschlägen behandelte. Während seiner Studienzeit in Upsala hatte er sich durch einen Tischgenossen, einen Mediziner, Zutritt in das Krankenhaus verschafft und war jeden Tag dorthin gegangen, um zu beobachten. Auch in einer chirurgischen Klinik hatte er geholfen und gelernt, Wunden und Schäden zu behandeln. Seine medizinischen Nebenstudien hatte er zielbewußt verfolgt, denn er wußte wohl, wie nützlich ihm eine derartige Kenntnis in den Dörfern sein würde, in die ihn sein Pastorenamt führte. Mehrjährige Ausübung hatte nun die natürliche Anlage und die erworbene Kenntnis zu großem Geschick entwickelt.

Wenn er jemals Medikamente gebrauchte, so waren es meist einfache Hausmittel, die seine Mutter nach seiner Anweisung zubereitete. Luft und Wasser wandte er mit Vorliebe an. Es war merkwürdig, daß er Leute fand, die sich seiner Behandlung unterwarfen, da es ihrem Geschmack und ihren Gewohnheiten ganz entgegen war, wenn es Luft und Wasser galt.

Ein Mittel stand ihm noch zu Gebot, damit ließen sich die Leute am liebsten behandeln: in seinen breiten, starken Händen lag eine wunderbare Macht, die die Leute für übernatürlich hielten. Durch Streichen mit den Händen konnte er Schmerz und Unruhe stillen und dem Kranken Schlaf verschaffen.

Wenn er nur in die Tür trat, fühlten sich der Kranke und seine Angehörigen schon besser durch sein: »Gott segne euch alle hier drinnen!« Gesundheit, Ruhe und Kraft strömten so stark von ihm aus, daß seine bloße Anwesenheit wohltätig wirkte.

3.

Ols Erik Larsson ging am liebsten zu Fuß, wenn er seine Pfarrkinder besuchte. Wenn er fuhr, mußte er sich an die Fahrwege halten, und die waren außer dem Landweg alle schlecht, der aber führte nur nach zwei Richtungen. Zu Fuß konnte er Richtwege durch die Wälder nehmen, wo niemand sich besser zurechtfand als er. Er hatte einen Kompaß und einen ausgeprägten Ortssinn, so daß er sich fast nie verirrte.

Es gefiel ihm, in seiner weit ausgedehnten Gemeinde umherzustreifen mit kurzen Ruhestunden und Unterhaltungen in Köhlerhütten, Kätnerhäuschen, bei Viehhirten und aus Höfen. Und wohin er kam, war er willkommen.

Lange Reden hielt er niemals, außer wenn er predigte. Da sprach er lange. Die Leute kamen von weither und wollten etwas für ihre Mühe haben. Und außerdem, wenn er einmal angefangen hatte, wollte er auch gründlich sein und den Text von Anfang bis zu Ende entwickeln, denn das gehörte sich so; aber in Unterhaltungen war er wortkarg und hörte lieber anderen zu.

Seine Hauptabsicht im Verkehr mit den einzelnen Gemeindegliedern war, sie kennen zu lernen und sich mit ihren Verhältnissen bekannt zu machen. Schon das machte ihn beliebt. Außerdem aber war er eine starke Persönlichkeit, die immer gab; wie kurz auch seine Äußerungen sein mochten, sie verschafften doch Klarheit, und das machte ihn noch beliebter.

Untersetzt wie er war, mußte er sich dennoch bücken, als er durch die Tür einer kleinen Hütte trat, die tief drinnen im Walde neben einer Stromschnelle lag. Er setzte sich auf das Ausziehsofa in der Ecke, und fast im selben Augenblick wagten sich die Kinder an ihn heran, alle, außer einem. Und doch war er eben um dieses Kindes willen heute in die Hütte gekommen.

Er blickte den Knaben an, und da dieser sich beobachtet fühlte, sah er zum Pastor auf. Scheu und argwöhnisch, fast boshaft, war der Blick der tiefliegenden Augen mit ihrem affenartigen Blinzeln. In dem Kindesgesicht lag ein Ausdruck, der von einem Trauerspiel in dessen unbewußter Welt erzählte. Der kleine sechsjährige Junge konnte wohl kaum selber sein Gewissen mit einer bewußten und gewollten Sünde beschwert haben. Mußte es darum nicht das unbegreifliche Gesetz der Erblichkeit sein, das den deutlichen Schatten der Schuld auf sein Gesicht gelegt hatte?

Ols wußte, daß dem so war. Er kannte die Herkunft des Kindes, und wußte, daß die Quelle, aus der sein Leben entsprang, vergiftet gewesen war. Auf einer seiner Wanderungen zu Anfang seiner Predigerlaufbahn in Skalunga war Ols Zeuge eines Verbrechens geworden, bei dem ein Mann der Gewalttäter, ein Mädchen das Opfer war. Er hatte den Verbrecher auf frischer Tat ertappt und ihn festgehalten, ehe er entfliehen konnte. Es war ein fürchterlicher Ringkampf gewesen. Das arme Mädchen, das durch einen Schlag bewußtlos gemacht worden war, war aus ihrer Betäubung erwacht und fing an zu schreien, als sie den Kampf zwischen dem Gewalttäter und dem Pastor sah. Dann waren Leute hinzugekommen, und der Verbrecher war übermannt, in Haft genommen und dann auf Aussage des Pastors und des Mädchens verurteilt worden. Das Mädchen war übel zugerichtet, blieb jedoch am Leben. Aber das Schlimmste war, daß sie nach langen, qualvollen Monaten Mutter wurde. Damals hatte sie sich fast zu Tode gegrämt und war nur mit Mühe von einem Selbstmord zurückgehalten worden. Sobald sie das Unglückskind geboren hatte, verließ sie das Land. Sie hatte das Kind gar nicht sehen wollen. Ihre Mutter hatte es zu sich genommen, aber die war jetzt gestorben, und das Kind war zu einer Pflegemutter gekommen. Und diese Pflegemutter besuchte »unser Ols« heute.

Der Pastor interessierte sich sehr für den armen, kleinen Mons, und der Gedanke kam ihm oft, was wohl aus ihm werden würde. Er verstand den Ausdruck in dem Gesicht des Kindes gut. Der Knabe erweckte keinen Widerwillen in ihm wie bei anderen, eher das Gegenteil. Er dachte, daß ein solches Kind wie Mons mehr der Liebe bedürfte als andere Kinder. Aber wer kann ein Bedürfnis nach Liebe stillen, wenn ein Wesen nur Widerwillen erweckt? Wer ein solches Kind um eigenen Vorteils willen aufnimmt, kann es nicht. Das können nur die, welche es in Jesu Namen aufnehmen.

Aus des Pastors grobem Gesicht leuchtete das Mitgefühl, und er streckte dem Kind die Hand entgegen, mit einer so natürlichen und von Herzen kommenden Bewegung, daß sie unwiderstehlich wurde und die finstere Macht der Erblichkeit besiegte, die das Kind gefangen und von anderen Menschen getrennt hielt. Der Kleine kam widerstrebend, wie von einer geheimen Macht gezogen, aus seiner Ecke. Er gelangte aber nicht bis zum Pastor, denn der wandte zufällig seinen Blick auf die Pflegegeschwister, Kinder mit jenem natürlichen Ausdruck der Unschuld, der Kindergesichtern eigen ist, und damit verlor er seine Macht über den armen Kleinen.

Die Mutter, die das beobachtet hatte, wollte kraft ihres Amtes eingreifen, um den Widerstrebenden vorwärts zu stoßen. Aber das wollte Ols nicht.

»Störe doch nicht!«

Vor dem gebietenden Ton zog sich die Frau schnell zurück.

»Ich wollte nicht stören, ich wollte ihn nur vorwärts stoßen,« erklärte sie.

Aber Ols achtete nicht weiter auf sie.

»Mons!« sagte er, nicht laut oder befehlend, aber der Knabe blickte gleich wieder zu ihm auf.

Und nun wiederholte sich dasselbe Schauspiel wie vorher. Der Kleine wurde, trotz seiner Scheu, wie von einer unsichtbaren Macht zum Pastor gezogen.

Als er heran war, faßte ihn Ols und setzte ihn auf sein Knie, der kleinen Britt gerade gegenüber, die auf dem anderen saß. Und das geschah so ruhig und natürlich, daß Mons gar nicht über das Unerhörte nachdachte, das ihm widerfuhr.

Die lebensvolle, magnetische Hand strich leise über des Knaben brennend rotes Haar. Der Mensch, der ihm durch ein Verbrechen das Leben gegeben, hatte dieselbe Haarfarbe gehabt, dessen erinnerte sich Ols noch.