Das Problem als Katalysator - Katja Lange-Müller - E-Book

Das Problem als Katalysator E-Book

Katja Lange-Müller

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Beschreibung

Die Poetologie des Brühwürfels – über das Schreiben und Lesen von Literatur. Wer schreiben will, muss auch lesen können: Katja Lange-Müllers Berichte aus der eigenen Werkstatt und über die Geheimnisse der großen »Kollegen«, von Herman Melville, Johann Peter Hebel, Mark Twain, Heinrich von Kleist bis zu Adolf Endler und Wolfgang Hilbig. Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller ist ein Glücksfall für die deutsche Literatur der Gegenwart, weil sie in ihren Büchern literarische Brillanz mit einem umwerfenden Humor verbindet. Dieses Kunststück gelingt ihr nun in gleicher Weise in den Frankfurter Poetikvorlesungen, in denen sie 2016 über das literarische Schreiben, das Lesen von Literatur, über ihre eigene literarische Biografie und vor allem über die von ihr hochgeschätzte literarische Gattung der Erzählung spricht. Dabei nimmt Katja Lange-Müller die Zuhörer mit auf eine ebenso lehrreiche wie unterhaltsame Reise durch die Weltliteratur bis in die Gegenwart. So werden den Lesern Lichter aufgesetzt über das »Brühwürfel-Prinzip«, das heißt die Extremverdichtungen, die große Erzählungen der Weltliteratur auszeichnen, über den Ursprung der Komik als Waffe der Schwachen gegen die Starken und über die immer wieder aktuelle Frage, »wann wir es mit Literatur zu tun haben« (und wann nicht).

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Seitenzahl: 196

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Katja Lange-Müller

Das Problem als Katalysator

Frankfurter Poetikvorlesungen

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Katja Lange-Müller

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

I. KapitelII. KapitelIII. KapitelIV. KapitelV. Kapitel
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I

Womöglich bin ich hier falsch. Ob ich hier doch richtig war, das entscheiden letzten Endes Sie. Warum fühle ich mich fehl am Platze in einer Universität, noch dazu einer, die einen so großen Namen trägt und so viel auf Tradition hält wie diese?

Erstens: Ich habe nicht mal Abitur. Zweitens: Eine Stunde nicht rauchen. Drittens: Ich bin keine Rednerin, sondern eine Schreiberin. Viertens: Ich kann nicht frei sprechen. Aber wer kann das heute schon noch? Um frei sprechen zu können, müssten sich Frau und Mann erst einmal frei fühlen. Zwischenfrage: Und Sie, Sie alle, meinen Sie, dass Sie hier richtig sind? Fühlen Sie sich frei?

Egal, Sie sind hergekommen, ich auch. Also versuchen wir es.

Ja, was soll ich sagen? Die Frage ist schon mal befremdlich – im literarischen Kontext. In dem nämlich dürfte sie nur lauten: Was muss ich sagen? Das meine ich ernst, denn was ich nicht sagen muss, könnte ich ebenso gut für mich behalten. Warum ich aufs Müssen poche, wollen Sie hoffentlich wissen?

Die Antwort ist ziemlich simpel: Wenn ich beim Lesen den Eindruck gewinne, diesen Text konnte, ja, musste, so nur diese Autorin, dieser Autor schreiben, wird mir von Zeile zu Zeile klarer: Jetzt habe ich es mit Literatur zu tun. Ein wirklich gutes Gedicht, eine echt gelungene Erzählung, einen tatsächlich ergreifenden Roman erkenne ich daran, dass ebendies, zumindest für mein Gefühl, keiner oder keinem anderen sonst eingefallen wäre. Solche Texte sind zumeist existenziell, rühren von nicht verheilten seelischen Verletzungen her, von Unvergesslichem und Ungelöstem. Manchmal wirken sie so, als seien die jeweilige Autorin, der jeweilige Autor ihrem oder seinem Lebensstoff lange ausgewichen. Vielleicht, weil sie oder er sich noch nicht reif genug wähnten, um sich der – womöglich schwierigsten – Geschichte ihres oder seines Daseins zu stellen, wohlbemerkt schreibend zu stellen.

Und von nun an sage ich immer Autor, weil die genderkorrekte Formuliererei eh nicht allen Geschlechtern gerecht wird und mächtig aufhält, beim Schreiben und beim Sprechen.

Wie, frage ich mich, denn ihn kann ich ja meist nicht mehr fragen, mag es jenem Menschen ergangen sein, ehe er schließlich zum Stift oder in die Tastatur griff und sich in sein Los schickte, das Los, schreiben zu müssen?

Ich habe davon ein inneres Bild, eine Karikatur, wie so oft, wenn ich mir etwas vorstelle: Da ist ein Autor, der hat eine Krise, die ist, wie jede Krise bei so einem, längst zur Schreibkrise geworden. Jeden Tag, jeden Abend, versucht er zu verdrängen, dass ihm der Kuli vertrocknet, der Bleistift abgebrochen, der Laptop verrostet ist und gibt sich frustriert die Kante. Dann liegt er abgefüllt in seinem Nest und pennt, bis, ja bis sie wieder an seiner Bettdecke zupfen, diese kleinen bunten Mensch-ärgere-dich-nicht-Figuren, und wispern: »Wach auf! Steh auf, du Pfeife! Wir sind es, Erna, Peter und Tarik. Du bist der, den wir uns ausgesucht haben. Du kennst unsere Geschichten, und die schreibst du jetzt mal. Wenn du dich nicht endlich hinsetzt und anfängst, kommen wir morgen zurück und übermorgen auch und Nacht für Nacht …«

Der Autor jammert: »Haut ab. Ich will nicht, ich kann nicht. Das ist zu schwer für mich. Sucht euch einen anderen. Gibt doch genug schreibfaule Schriftsteller …«

Aber schließlich, Krise hin, Krise her, wird der Autor nachgeben, nachgeben müssen, weil diese kugelköpfigen Plagegeister so hartnäckig sind. Er wird sich erheben, sein verquollenes Gesicht unter den Wasserhahn halten und anfangen zu tippen. Erna, Peter und Tarik lassen ihm keine Ruhe und keine Wahl. Und sicher werden sie, kaum dass der Autor begonnen hat, sie zu skizzieren, auch noch undankbar sein und mit ihm disputieren: »So mies, wie du uns siehst, sind wir nicht.« – »Ich will eine interessante dünne Frau sein«, sagt Erna, »keine hübsche, dicke.« – »Warum machst du einen intriganten Pizzaboten aus mir?«, beschwert sich Peter. – »Nicht alle Berliner Türken sind fantasielose Autoschrauber«, nölt Tarik.

»Klappe halten«, wehrt sich der Autor, »ihr seid, was mir vorschwebt, also meine Geschöpfe!« – »Nee«, erwidern Erna, Peter und Tarik, »wir sind die, die wir sind, nicht die, die du dir wünschst.«

Mal werden die Figuren ihren Willen durchsetzen, mal der Autor seinen. Doch bald übernehmen sie die Führung und ziehen den wehrloser und wehrloser werdenden Autor hinter sich her oder spannen ihn gar vor ihren Karren. Und wenn all diese Kämpfe ausgestanden sind, ist am Ende womöglich ein Text fertig, der den Leser spüren lässt, dass er geschrieben werden musste – von keinem anderen als diesem XY. Aber die Figuren sind immer die Ersten. Mit ihnen beginnt es, denn sie sind das Thema. Ohne sie würde es überhaupt kein Thema geben. Ich habe Autoren gelesen, die Thesenromane schrieben, was ja auch gut und interessant sein kann, Autoren wie Émile Zola oder Michel Houellebecq. Bei denen ist die Personnage vor allem dazu da, in disparaten Rollentexten die Ansichten des Autors und die seiner polemischen Widersacher zu verkünden. Das ist nicht meine Herangehensweise. Ich will wirklich etwas wissen von den Figuren, die sich für mich entschieden haben. Ich will, dass sie selbst reden, dass sie auch mal sagen: »Nein! So führst du mich nicht vor. Das ist falsch.« Und dann verhandle ich mit ihnen, bis wir zumindest einen Kompromiss gefunden oder sie gewonnen haben. Das ist ein bisschen wie bei der Commedia dell’Arte – man bastelt aus Pappmaschee ein paar Masken und drückt sie den Figuren aufs erst schemenhaft vorhandene Gesicht. Sie schauen einander an und fragen: »Wer bin ich?« Und jede Figur sagt, was sie denkt: »Du bist ein koreanischer Koch. Und du vielleicht ein futuristischer Frosch. Und du die strenge Chefsekretärin, die, wenn es keiner sieht, ihre Zimmerpflanzen streichelt.« – »Nein, bin ich nicht, will ich nicht sein«, protestiert nun jede, bis, etliche Vorschläge später, Maske und Figur zusammenpassen und alle Beteiligten sagen: »Ja, jetzt stimmt es. Damit sind wir einverstanden.« Und ungefähr ab Seite dreißig sind diese Figuren dann tatsächlich virtuelle Lebewesen, die respektiert werden, voneinander und womöglich sogar von mir und manchem Leser.

Raymond Queneau, der große französische Surrealist, und, laut Selbstbeschreibung, »Hersteller hochwertiger literarischer Scherzartikel«, als dessen bekanntestes Werk »Zazie in der Metro« gilt, hat aus dem Albtraum aller ernsthaften Schriftsteller – dem, dass die Protagonisten sich seinem Willen verweigern könnten – einen irrwitzigen Text gemacht. In »Der Flug des Ikarus«, so heißt dieser schmale Roman, malt er in den finstersten Farben und der ihm eigenen grotesken Manier aus, was passiert, wenn ein despotischer, gegen jede poetische Gerechtigkeit verstoßender Autor die fragilen Autoritätsverhältnisse zwischen sich und seinen Figuren missachtet. Und genau dies wurde bei Queneau ein wesentliches Thema der Literatur, seiner Literatur und der Literatur generell. Die Geschichte geht in etwa so: Ein fiktiver Schriftsteller namens Hubert Lubert, dem lange nichts geglückt ist, muss ein neues Buch anfangen und hat partout keine Lust dazu. Aber der Verlag drängelt, der Spirituosenhändler rückt auf Pump nichts mehr heraus, die Mäuse im Kühlschrank sind schon ganz dünn und haben verweinte Augen. Also setzt Hubert Lubert sich hin und entwirft schlecht gelaunt einige Figuren; es werden ziemlich misanthropische und blöde Vögel, die wirklich alles andere als liebenswert sind. Und dann leert er verunsichert seine letzte Flasche Pernod. Es gefällt ihm nicht, dass er diese Figuren nicht leiden kann, so wenig, wie sich selbst. Was bleibt ihm übrig?! Er haut sich blitzeblau ins Nest, wo ihn bald ein schwerer Katertraum plagt, der sich allerdings am nächsten Tag als real, vielmehr surreal, erweist. Ikarus, die erst einige Seiten alte Hauptfigur, fand sich viel zu unsympathisch; ja, sie war so sauer auf ihren Schöpfer, dass sie heimlich dessen Manuskript verlassen hat. Und seit den frühen Morgenstunden strolcht Ikarus, unfertig, aber fies angelegt wie er ist, durch Paris, säuft in diversen Kneipen Absinth und beginnt eine wüste Affäre mit LN, einer Dirne »kreuzwortistischer Herkunft«, wie es bei Queneau heißt, natürlich immer auf Kosten seines Erfinders, den er mal »Herrn Lubert« und mal seinen »bösen Papa« nennt und auch noch bei jeder Gelegenheit madig macht. Ikarus eignet sich ein Schicksal an, das Hubert Lubert für ihn gar nicht vorgesehen hatte; und der seither schreibbehinderte, weil von seiner Hauptfigur verlassene Autor vermutet, dass Ikarus von neidischen Kollegen gekidnappt worden ist. Dies wiederum veranlasst Lubert, einen dummschlauen Detektiv zu engagieren, der sich Ikarus’ Namen falsch notiert hat und einen »Nick Arus« sucht, den Entflohenen aber schließlich doch ausfindig macht. Von dem Moment an wird die Romanhandlung noch verwickelter. Als Gendarmen verkleidet und unter dem Vorwand, er sei nicht zur Musterung erschienen, entführen die Lubert-Kollegen Ikarus aus der Detektei und fesseln und verhören ihn tagelang. Ergebnis: Die erzwungenen Geständnisse des Ikarus infizieren das Personal ihrer eigenen in Arbeit befindlichen Romane. Immer mehr erdachte, aber eben noch unfertige literarische Gestalten aller möglichen Pariser Schriftsteller solidarisieren sich mit Ikarus und verlassen deren Manuskripte, um in der Stadt umherzustromern. Die Wirte sämtlicher Bohemien-Lokale gewähren, da die entlaufenen Protagonisten das Mobiliar zertrümmert und die Zeche geprellt haben, keinem Autor mehr Zutritt, nicht einmal dann, wenn der die Rechnungen seiner Pappenheimer begleichen konnte. Hubert Lubert landet auf der Couch eines in der Schriftstellerszene bekannten Psychoanalytikers. Doch der erhoffte Erfolg bleibt aus; Lubert wird seiner intriganten Hauptfigur nicht wieder Herr. Der, wie es bei Queneau heißt, »an der Spitze der Feder geborene« Ikarus weigert sich, in sein »Domicile Graphique« zurückzukehren. Das ihm angedichtete Interesse an der modernen Technik kann er allerdings auch im selbst gewählten Leben nicht abstreifen; und so entgeht er dem Ende, das Hubert Lubert für ihn geplant hatte, trotz mancher Vor- und Umsicht nicht. Ikarus, der Name ist Programm, stürzt mit einer der ersten Flugmaschinen vom Himmel und bricht sich das Genick, was folgerichtigerweise auch Hubert Lubert das Genick bricht, wenngleich nur das literarische.

Davor, die Charaktere von Protagonisten, die sich ihren Autor, und warum nicht Sie oder mich, ja eigens erwählt hatten, unmäßig verändern oder gar entstellen zu wollen, sei also dringend gewarnt, nicht jedoch vor diesem wahrhaft »tollen« Dialog-Roman Raymond Queneaus, der sich prima als Hörspiel oder auf der Bühne inszenieren ließe und den Sie, falls Sie ihn noch nicht kennen, unbedingt lesen sollten.

Ach ja, es ist schon so, wie es Heinrich Heine sagt, wenngleich weitaus heroischer als Queneau:

… – nein, wir ergreifen keine Idee, sondern die Idee ergreift uns und knechtet uns, peitscht uns in die Arena hinein, daß wir wie gezwungene Gladiatoren für sie kämpfen.[1]

Christian Morgenstern sagt es dann wieder lakonischer:

Blödem Volke unverständlich

treiben wir des Lebens Spiel.

Gerade das, was unabwendlich,

fruchtet unserm Spott als Ziel.[2]

Und weise wie keiner sonst sagt es Fernando Pessoa:

Der Poet verstellt sich, täuscht uns so vollkommen und gewagt,

daß er selbst den Schmerz vortäuscht, der ihn wirklich plagt.[3]

Was ich Ihnen mitteilen wollte, ist, dass hinter dem griffigen Begriff originäre Literatur nichts anderes steckt als dringlich Geschriebenes, Notwendiges, buchstäblich, im Sinne von Not-Wenden. Texte, die geschrieben werden mussten – oder zumindest geschrieben werden wollten, unterscheiden sich schon sehr von solchen, die sich nur dem Beruf des Autors verdanken, der ein Schriftsteller, ein aus seiner Redaktion entlassener Journalist oder ein alternder Moderator sein mag. So einer sitzt zwischen den Citrus-Bäumchen auf seiner Dachterrasse, blinzelt in die Sonne und fragt sich: Worüber möchte ich denn heute mal was schreiben, etwas, das die Menschen interessiert und sich, was ja keine Schande ist, außerdem gut verkaufen lässt. Texte, die auf diese Art entstehen, können interessant, ja, lesenswert sein, doch ob sie auch Literatur sind, entscheiden nicht einmal die Leser. Lesern, oder zumindest Buchkäufern, ist es, wie die Bestsellerlisten zeigen, oft egal, ob das, was sie favorisieren, das Prädikat »Literatur« verdient – und dies wiederum macht es der Literatur nicht gerade leichter.

Und nun sage ich unumwunden, also überspitzt, was ich für »wahr« halte, obwohl ich weiß, dass die Wahrheit keine private, sondern eine philosophische Kategorie ist: Wenn ein erzählender Text, ein Stück, ein Gedicht so gar nichts Autotherapeutisches hat, ein Stoff seinem Verfasser nicht »in der Seele brennt«, er nicht schreibend versucht, einige – zunächst nur für ihn selbst – lebenswichtige Fragen zu ergründen, kommt selten einmal Literatur dabei heraus.

Ob meine – vergleichsweise wenigen – Erzählungen und Romane, zu denen ich ja wohl noch etwas mehr sagen soll und sagen werde, in dieser und der letzten Vorlesung, meinen strengen Literatur-Kriterien entsprechen, auch das bestimme nicht ich; nein, das beurteilen Sie – und andere – und womöglich erst nach meinem mehr oder minder seligen Ende. Aber das Privileg, von, nicht etwa über, Literatur zu reden, wenn ich die Werke einiger, mir besonders wichtiger Autoren als »Argumentationsstoff« heranziehe, möchte ich uns schon einräumen.

Und damit komme ich zu dem, was sich, reichlich hochtrabend, Poetik nennt. Meine Poetik unterstelle ich einem Teil jenes Titels, den ich gerne auch zur Oberüberschrift aller fünf Vorlesungen ernannt hätte: »Mit links (und links hätte in diesem Fall nicht meine politische Gesinnung bezeichnet) oder das Problem als Katalysator«. Aber um genau diesem Missverständnis vorzubeugen, beschloss ich schließlich, nur den zweiten Teil davon stehen zu lassen, darum heißt das Ganze nun: Das Problem als Katalysator. Wenn ich dem folgenden, also dem ersten Teil meiner Vorlesungen, einen Extra-Namen geben sollte, so würde dieser einfach Katjas Brühwürfel lauten.

 

Letzte Sätze eines Textfragments, aus meiner »Schublade«:

Seit ich fühlen und denken kann, fürchte ich mich vor dem Schreiben noch mehr als vor der Liebe. Das eine rührt daher, dass ich ein extremer Linkshänder bin, das andere wohl kaum. Geliebt und geschrieben habe ich trotzdem immer wieder, doch sicher nie aus Liebe, weder der zu meinen literarischen Figuren noch der zu einem Leser oder gar zu mir; und das, obwohl viele schreibende und nichtschreibende Menschen unbeirrbar glauben, ein Autor müsse, damit ihm etwas gelinge, sich selbst, seine Leser und vor allem seine Figuren lieben, einfache Sympathie reiche da nicht aus.

Wenn Schriftsteller Träume erzählen, höre ich gerne und neugierig zu. Wenn sie ihre Träume aber schreibend erzählen, habe ich gleich zwei Probleme: Zum einen irritiert mich bis heute, dass man im Deutschen erzählen sagen und damit auch schreiben meinen kann, zum anderen misstraue ich niedergeschriebenen (und veröffentlichten!) Träumen entschieden mehr als tatsächlich erzählten, also recht privat oder ziemlich intim oder einigermaßen vertraulich einem geneigten Ohr verratenen. Ob diese Träume dem erzählenden Schriftsteller – oder Fliesenleger oder Bäcker oder sonst wem – nun wirklich im Schlaf passiert sind oder erdichtet, erfunden, erlogen, interessiert mich in dem Fall weniger. Von literarisierten Träumen hingegen fühlte ich mich meist peinlich berührt. Da folgt man gespannt, ja ergriffen, der Eskalation eines existenziellen Verhängnisses, nur um dann, im letzten Satz, zu erfahren, dass des Erzählers Wecker klingelt – und schon soll alles bloß ein böser Traum gewesen sein. Andere, der jeweiligen (und meist auch noch als Ich-Erzähler verkleideten) literarischen Figur flugs untergeschobene Träume instrumentalisieren und psychologisieren diese Figur, manchmal so grob deutlich, dass der Leser frei nach der »alten Fundgrube« Johann Wolfgang Goethe sagen möchte: Ich spüre die Absicht und bin verstimmt.

Dennoch kann ich mir am zweiten Anfang meines Redens zu meinem Schreiben nicht verkneifen, einen Traum gerade so zu erzählen, wie ich es eben kritisiert habe, womöglich noch plumper: Eines Nachts, und das werde ich nie vergessen, erschien mir eine riesige, klapperdürre, von pinkfarbenem Tüll umwehte Gestalt, in deren sieben Augenhöhlen ebenso viele 1000-Watt-Lampen leuchteten. Diese offensichtlich böse Roboterfee oder -hexe – oder was das nun war – zückte ein gewaltiges Krummschwert und ließ dessen dünne Klinge etliche Male singend durch die Luft sausen; erst dann öffnete sie ihren grün-blau-violetten Geierschnabel, dem gelbe Schwefeldämpfe entwichen, aber auch folgende Worte: »Ab jetzt darfst du nur noch eins, lesen oder schreiben. Ich zähle laut rückwärts. Bei null musst du dich entschieden haben, sonst kannst du beides nimmermehr!«

Mir kamen im Schlaf, im Traum, die Tränen; ich rang mit dem Schwindel, der mich zu erfassen drohte, doch die Gestalt zählte bereits: »Fünf, vier, drei, zwei, …« – Weil ich nicht daran zweifelte, dass sie Ernst machen würde, winselte ich: »Dann lesen, lass mich bitte …« – Aber da sagte sie schon: »Eins!« – Halt, wollte ich rufen, ich nehme das zurück. Gib mir noch die Viertelsekunde bis null! – In dem Moment klingelte glücklicherweise das Telefon oder der Wecker. Ich fuhr, mein schweißnasses Haupt schüttelnd, vom Kissen hoch, und der fette langweilige Roman, über, richtiger unter dem ich eingeschlafen war, fiel polternd zu Boden.

Vor einiger Zeit, auf Schloss Elmau, habe ich diesen Traum, jedenfalls ungefähr diesen, schon einmal erzählt – in des Wortes ursprünglicher Bedeutung – und der geselligen Runde etlicher Kollegen, die ich, ehe ich preisgab, wie meine Entscheidung ausgefallen war, erst mal fragte, was sie wohl gewählt hätten in einer derart bedrohlichen Situation. Alle sagten: schreiben; das sei ihnen wichtiger, davon lebten sie schließlich – alle, außer einem Dichter. Es war, Ihnen kann ich es ja verraten, Durs Grünbein. Der meinte, dieser Traum sei eine perfide Schnapsidee von mir, an der Priorität des Lesens aber nicht zu rütteln, denn nichts wecke das Bedürfnis, zu schreiben, so sehr wie das Lesen. Und überhaupt müsse man die Sache mal weiterdenken. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder nur noch schreiben wollte und keiner mehr lesen?! Das sei ja viel schlimmer als umgekehrt. – »Genau«, schob ich, den Rest Whiskey aus einer eingeschmuggelten Literflasche konspirativ auf unsere beiden Zahnputzgläser verteilend, nach, »Erzähler, die nicht lesen, sind selten besser als Erzähler, die nicht schreiben.«

Mit diesem zweifelhaften Selbstzitat wäre ich nun endlich bei meinem dritten und letzten Anfang: Schreiben können setzt, wie wir seit anno Schnee wissen, Lesen können voraus. Doch lange bevor die meisten von uns lesen und dann schreiben lernen, hören, sehen, sprechen sie bereits. Bei mir, wie bei vielen späteren Schriftstellern, war das meiste wie bei diesen meisten – und trotzdem irgendwie anders, was vermutlich erst einmal noch nicht mit meiner ausgeprägten Linkshändigkeit zusammenhing, denn die hinderte mich ja seltsamerweise kaum am Lesen. Sobald ich einigermaßen begriffen hatte, was ein Text ist, galt meine Aufmerksamkeit so oft wie möglich nur noch Gedrucktem. Ich wollte nichts mehr hören, nicht mehr sprechen, wurde wirklichkeitsflüchtig und, da Fernsehapparate wohl bereits erfunden, im Osten Deutschlands aber noch ziemlich rar waren, eine manische Betäubungsleserin. Die dicksten Schwarten zog ich aus dem nicht eben kanonisch sortierten Bücherregal meiner Eltern, und wenn sie hübsche Einbände hatten und Roman draufstand oder gar Kriminalroman, las ich sie – von der ersten bis zur letzten Seite. Wichtig war mir nur, dass der jeweilige Buchstabensalat gut gewürzt war, dass die Lektüre einen spannenden, jedoch relativ gefahrlosen Leseabenteuerurlaub gewährte, mich verführte zu imaginären Fernreisen über die unberechenbaren Weltmeere oder in schwüle Dschungel voller seltsamer, womöglich gefährlicher Pflanzen und Tiere, eben Gegenden, in denen ich mich und mein Leben, das einer lust- und trostlosen, frühreifen, pummligen Schulversagerin, für ein paar Stunden vergessen konnte. Nachdem ich mit den Romanen durch war, griff ich zum Rest des Regalinhalts. Ich las außer den gesammelten Werken von Marx, Engels, Lenin und Stalin jedes Buch, das wir im Hause hatten, auch »Frauenleiden von A bis Z«, »Die Saratower Methode der fehlerfreien Arbeit« und »Diensthunde richtig führen«, behielt jedoch bestenfalls die Titel im Kopf und ansonsten fast nichts davon. Jedes weitere Buch löschte das vorige, überschrieb es quasi mit einem neuen Programm.

Lesen, also Buchstaben verfolgen und verstehen, konnte ich früh, eigentlich schon, bevor ich in die Schule kam. Und auch das Schreiben wäre mir sicher leicht gefallen, wenn, ja, wenn ich es mit jener Hand hätte tun dürfen, mit der ich alles andere tat. Aber das strenge Fräulein Meinel, meine erste Klassenlehrerin, ließ es nicht zu. Sie störte der Anblick meiner, wie sie sagte, »linken, krummen Kralle« ganz gewaltig. Ihr werde, meinte sie, direkt schlecht, wenn sie sehe, wie meine Linke mit Bleistift oder Füllfederhalter Buchstaben aneinanderkratze; dabei tat ich dies willig und für mein damaliges Verständnis sogar recht flott. Was ich schrieb, war richtig, nur, wie ich schrieb, das war grundsätzlich falsch, in Fräulein Meinels Augen fast schon eine Art Verbrechen. Also entriss sie mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit Heft oder Schreibwerkzeug und forderte mich schrill quietschend auf, wie »jeder vernünftige Mensch« die rechte Hand zu gebrauchen. Seltsamerweise war ich tatsächlich das einzige linkshändige Kind in jener 1b, eines, das vielleicht nicht unbedingt wie die anderen sein, doch ebenfalls, besser noch ebenso, schreiben können wollte – und wenn es das mit der Hand, die ihm gehorchte, nicht durfte, dann musste dieses Kind namens Katja seine bislang eher inaktive rechte Hand halt irgendwie dazu zwingen.

Und Katja, die jedes Wort und beinahe jede Antwort wusste, stand an der Tafel und nahm, um ein Wort oder eine Antwort draufzuschreiben, die Kreide in die linke Hand … »Nein, nein, mit rechts, mit rechts«, riefen die vom Fräulein Meinel angestifteten neunundzwanzig Rechtshänder der 1b. Und Katja versuchte es, und die Kreide brach ab, und Katja ging unverrichteter Dinge wieder zu ihrem Platz und bemühte sich und krampfte »das schöne Händchen« um den Füller, dessen mit viel zu großem, ungleichmäßigem Druck geführte Feder sich spreizte und kleckste oder gar keine Tinte mehr freigab und manchmal auch noch das Papier zerriss. Katja schwitzte, knurrte vor Wut, verbiss sich die Tränen, die ihr oft genug trotzdem die Wangen runterliefen und auf das soeben Niedergeschriebene tropften, doch ihre nun völlig verschmierten, rechtshändig gekrakelten Buchstaben blieben unbeholfen und schief, einfach schrecklich hässlich. Darum begann die »ABC-Schützin« (noch so ein saublödes Wort) Katja, das Schreiben zu hassen. Und was tut jemand, der das Schreiben hasst, aber nicht das Geschriebene? Er liest. Ich jedenfalls tat es, denn merkwürdigerweise vergaß ich beim Lesen am besten, dass ich nicht schreiben konnte, weder mit der Linken, die als Schreibhand nicht akzeptiert wurde, noch mit der Rechten, die lange, weit über die zweite Klasse hinaus, keine Fortschritte im Schönschreiben erzielte. Beim Lesen vergaß ich alles: mein Problem, die reale Welt um mich herum, mich selbst – und sogar, dass das Einzige, was mich alles vergessen machte, das Lesen war.

Noch immer verblüfft mich der Gedanke, dass Lesbares, sofern es sich dabei nicht um die Spuren von Tieren oder Menschen handelt, nichts anderes ist als Geschriebenes. Etwa ab der vierten Klasse, nach diversen Förderungsmaßnamen und vielem widerwilligen Üben, ging es einigermaßen mit dem rechten Schreiben, nur leider nicht mit der Rechtschreibung; die Blockade im Kopf und die daraus resultierenden Fehler sowie die Buchstaben- und Wortfindungsschwierigkeiten blieben. Bis heute verkrampft sich meine rechte Hand beim Schreiben, so schmerzhaft, dass ich sie bereits nach wenigen Zeilen schütteln muss.

Dass ich zu den manischen Betäubungslesern gehörte und Buchseiten verschlang, wahllos und massenhaft wie mancher Schokolade, das allerdings änderte sich radikal, als mir eine Bibliothekarin, von der ich »Aufregendes« gefordert hatte, Herman Melvilles Erzählung »Bartleby, der Schreiber« in die linke Hand drückte. Noch am Tresen der Bücherei begann ich zu lesen; meine Ohren fingen Feuer, meine Augen wurden feucht – und bei Bartleby vergaß ich mich erstaunlicherweise nicht, sondern fühlte mich, zum ersten Mal, seit ich Bücher konsumierte, an mich erinnert. Bartleby war mein Mann – und nicht in Havanna oder Ostberlin, sondern in New York! Bartleby war mein Freund, mein Bruder, Bartleby war ich, nur eben weder linkshändig (obwohl sich Melvilles Erzähler, dieser Wall-Street-Anwalt, dazu gar nicht dezidiert äußert) noch ein Mädchen und vielleicht deshalb mutiger oder zumindest sturer, ja, ausgesprochen unnachgiebig; der sagte, was ich bloß dachte, wenn mich meine Oma oder ein Lehrer mich nötigten, mein Buch wegzulegen, weil ich Kartoffeln schälen oder vor die Klasse treten und auf Fragen antworten sollte, die ich kaum verstanden hatte: »Ich möchte lieber nicht.« Die explosive Mischung dieses Wörter-Amalgams aus rebellischer Demut und sanfter Verweigerung, die Bartleby die Freiheit und schließlich das Leben kostet, bewirkte, dass auch bei mir nichts so blieb, wie es einen Tag zuvor noch gewesen war. Bartlebys Satz