Das Problem sind wir - Dirk Neubauer - E-Book

Das Problem sind wir E-Book

Dirk Neubauer

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Beschreibung

Demokratie kann nur gelingen, wenn alle daran mitarbeiten – Bürgermeister Dirk Neubauer zeigt, wie es gehen kann

Wir haben verlernt, wie Gesellschaft geht – und zwar nicht nur im Osten Deutschlands. Das sagt Dirk Neubauer, seit 2013 Bürgermeister der sächsischen Kleinstadt Augustusburg. Was er nach seiner Wahl in der Stadt vorfand, waren Intransparenz, Politikverdrossenheit und ein Gefühl der Verlorenheit. Neubauer ist überzeugt, dass das politische System – entgegen landläufiger Meinung – von innen heraus zu verändern ist und dass wir wieder lernen können, was es heißt, Eigenverantwortung zu tragen, statt sie an den Staat abzugeben. Seine Projekte für Augustusburg, die auf Bürgerbeteiligung setzen, zeigen: Das Engagement der Bürger, das früher wenig beachtet wurde, wächst langsam, aber stetig.

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Seitenzahl: 333

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Über das Buch:

Wir haben verlernt, wie Gesellschaft geht – und zwar nicht nur im Osten Deutschlands. Das sagt Dirk Neubauer, seit 2013 Bürgermeister der sächsischen Kleinstadt Augustusburg. Was er nach seiner Wahl in der Stadt vorfand, waren Intransparenz, Politikverdrossenheit und ein Gefühl der Verlorenheit. Neubauer ist überzeugt, dass das politische System – entgegen landläufiger Meinung – von innen heraus zu verändern ist und dass wir wieder lernen können, was es heißt, Eigenverantwortung zu tragen, statt sie an den Staat abzugeben. Seine Projekte für Augustusburg, die auf Bürgerbeteiligung setzen, zeigen: Das Engagement der Bürger, das früher wenig befördert wurde, wächst langsam, aber stetig.

Über den Autor:

Dirk Neubauer, geboren 1971, ist seit Oktober 2013 Bürgermeister der Stadt Augustusburg – 20 Kilometer östlich von Chemnitz. Parteilos gestartet, wurde er 2017 SPD-Mitglied. Der gebürtige Hallenser schlug 1993 zunächst den Weg in den Journalismus ein und war rund zehn Jahre als Reporter und später Geschäftsführer eines lokalen Fernsehsenders tätig. Nach zwei Jahren als Marketingchef bei mdr Jump und Sputnik wechselte er in die Selbstständigkeit. Er entwickelte Konzepte für Portallösungen von Zeitungshäusern. Für die sächsische SPD schreibt er derzeit an einem Konzept für mehr Bürgerbeteiligung auf Landesebene und setzt sich für ein landesweites Digitalkonzept ein. Für Augustusburg hat er das Projekt #diStadt ins Leben gerufen. Mit seiner Familie lebt Dirk Neubauer in Augustusburg.

Dirk Neubauer

Das Problem sind wir

Ein Bürgermeister in Sachsen kämpft für die Demokratie

Deutsche Verlags-Anstalt

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Copyright © 2019 Deutsche Verlags-Anstalt, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Typografie und Satz: Andrea Mogwitz, DVA

Gesetzt aus der Minion

ISBN978-3-641-25092-8V001

www.dva.de

Inhalt

Vorwort

1 Wir, die Bürger

Die Nichtwähler und die Protestwähler – Die untote DDR

Bleiben Sie ruhig, wir holen Hilfe

Die gefährliche Alternative

Ein noch immer geteiltes Land

Für eine Politik der Teilhabe

Die Stadt, das sind ihre Bürger

Die Flutmauer

Die schleichenden Totengräber der Demokratie

Kapitulation vor der Öffentlichkeit

Der Zündpunkt

Zuschauer, Feldspieler und resignierte Wutbürger

Selbstverantwortung und konkrete Projekte: Eine Stadt findet sich

2 Wir, der öffentliche Stillstand

Stillstand durch Angst und Mutlosigkeit

Stillstand in den Filterblasen und Echokammern

Die gelähmte Gesellschaft

Mission impossible – eine Arztpraxis entsteht

Der Wahnsinn mit den Schildern

Auf dem Holzweg der Entfremdung

Verteilen wir eine Milliarde Euro

Die letzte Meile der Politik

Die Unmöglichkeit, einen Sportplatz zu bauen

Ermächtigt die Kommunen!

Fährt der Zug der Digitalisierung ohne uns ab?

Die Politik ist in der Pflicht

3 Wir, die Politik

Der Osten – ein Reservat

Blick zurück: Bischofferode und die Folgen

Der Bürger – zu spät gehört und nie gefordert

Mehr Selbstbestimmung für die Kommunen!

Wie wir gerade die Zukunft verpassen

Wir verlieren künftige Generationen

Die abgehängte Region

Die vernachlässigte Bildung

Dem Bürokratieapparat ist egal, wer über ihm regiert

Schluss mit einem System, das nur Verlierer hervorbringt

Der Aufstieg der AfD

4 Wir, die Medien

Von den Medien in die Politik

Politik und Deutung

Die Ostpresse nach der Wende

Das gedruckte Wort muss kein wahres sein

»Du machst doch sowas«

Das Internet zündet den Turbo

Vertane Chancen: Chemnitz und die Folgen

Punkten beim täglichen Kleinkram

Die Gefahr der verschenkten Debatte

Posten, was passiert

Geborgen unter Gleichgesinnten

Die kommenden Gefahren

5 Wir, die Veränderer

Demokratie ist keine Party, zu der man eingeladen wird

Wir haben den Verlust des Miteinanders zugelassen

Wir sind das Problem

Die Politik muss liefern. Aber was?

Wie geht ein echter Neuanfang?

Vom Bittsteller zum Entscheider

Geht es vielleicht doch einfacher – und lokaler?

German Angst

Wir sind eine Gesellschaft in Ausbildung, nicht nur im Osten

Vorwort

Viel wurde über Sachsen geschrieben, zeitungskilometerweise. Was soll also dieses Buch noch sagen, geschrieben von einem Politikanfänger aus der Provinz? Wir wissen doch schon alles. Der Stempel ist in den letzten Monaten wiederholt aufgedrückt worden, die Debatte kann beendet werden. Doch ist es wirklich so einfach? Ist wirklich alles gesagt und vor allem: Ist alles verstanden? Ich denke nicht.

Ich bin seit Oktober 2013 Bürgermeister der Stadt Augustusburg, gut 20 Kilometer östlich von Chemnitz. Vorweg muss ich gleich sagen, dass dieses Buch weder ein »Handbuch Ost« noch eine Aburteilung des Ostens ist. Es erhebt ausdrücklich nicht den Anspruch, die alleinige Wahrheit zu schildern. Vielmehr beschreibt es viel selbst Erlebtes, viel selbst Gesehenes und Beispielhaftes, was – alles zusammengenommen – vielleicht einen möglichen Erklärungsansatz ergibt, warum es nun so ist, wie es ist. Wie es so weit kommen konnte, dass ein Großteil der Bevölkerung hier sich inzwischen – 30 Jahre nach dem Mauerfall – abwendet von dem, was er 1989 stolz erstritten hat. Warum die Menschen nicht mehr glauben, dass dieses System ihre Interessen vertritt und warum sich weite Teile der Gesellschaft im Osten noch immer besiegt und missachtet fühlen. Inzwischen trifft das sogar auf Menschen zu, für die friedliche Revolution und DDR nicht mehr sind als vererbter Schmerz und Erzählung.

Allem Aufschwung zum Trotz ist der Osten weitgehend noch immer das, was er schon damals, unmittelbar nach dem Fall der Mauer, war: Beitrittsgebiet. Mit einer Gesellschaft, die sich noch immer in Ausbildung befindet, weil wir einiges in Steine investiert haben und wenig in Menschen, deren Ideen und Vorstellungen. Weil wir kritiklos einem Land eine Struktur überhalfen, das eigentlich gerade Freiheit suchte. Bräuchte es einen Beweis, dass der vor drei Jahrzehnten begonnene Weg mit der milliardenschweren Förderung von Beton und Asphalt, dass die komplette Übernahme von Regeln und Strukturen zwar der einfachste, aber zugleich auch der falscheste aller Wege war, jetzt wäre er erbracht und wird weiter manifestiert durch die ungebrochene Flucht vieler Menschen in den noch immer goldenen Westen. Und durch Wahlergebnisse, die inzwischen die gesamte Republik erschüttern.

Was wir momentan im Osten Deutschlands erleben, ist eine Folge aus Missachtung von Lebensleistungen, entrückter Politik, überbordender Regelwut und Ignoranz gegenüber einer anderen, sich noch findenden Gesellschaft. Was hier gerade passiert, fiel nicht einfach so vom Himmel. Es ist das Ergebnis eines langen und schmerzhaften Prozesses voller Missverständnisse, gegenseitigen Desinteresses, einseitiger Sprach- und beidseitiger Gehörlosigkeit, politischer Fehler und der Arroganz des Überlegenen, aber auch der stetig zunehmenden Unfähigkeit, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Vor lauter Bekümmertwerden haben wir verlernt, unsere Interessen zu vertreten. Und das betrifft alle von uns. Jeder Einzelne darf während der Lektüre gern auch sich selbst erkennen und sich die Frage stellen, ob nicht auch er selbst vieles hätte anders machen müssen.

Insofern ist dieses Buch nicht nur eine Ostansicht. Es meint auch den Rest der Republik. Denn tatsächlich glaube ich, dass wir hier im Osten, einem Landstrich, dem schon einmal das Undenkbare eines grundlegenden Systemwandels widerfuhr, einen Erfahrungsvorsprung haben. Die Gesellschaft hier verfügt höchstwahrscheinlich über ein anderes Gefühl für Schieflagen und ihre Folgen als der Rest der Deutschen. Leider – und auch das gehört zu meiner Wahrheit dazu – fällt das momentane politische Beben in eine Zeit, in der Fakten oft nichts und Inhalte noch weniger zählen und in der das Meckern auf der bequemen Couch mehr wiegt als mühsames Verändern. So verwandelt sich Wut in eine sehr gefährliche Waffe. Elektronisch beschleunigt durch sich selbst zitierende Netzwerke und begünstigt durch eine indifferente Arbeit der klassischen Medien. Dem allem zu begegnen, ohne unsere freiheitliche Grundordnung zu zerstören, wird eine Herausforderung für uns alle. Denn wir müssen wieder lernen, dass wir alle, jeder Einzelne von uns, eine Verantwortung haben, dass wir uns alle auf den mühsamen Weg des Denkens, Schlussfolgerns und des Veränderns begeben müssen. Weit außerhalb unserer Komfortzone von Reihenhaus, Konsum und Urlaub. Demokratie ist Transparenz, Kompromissfähigkeit, Ehrlichkeit und Differenzierung und ihr Gelingen ist abhängig von der Teilhabe möglichst vieler. Das alles sind Punkte, die auf der derzeitigen Agenda auf allen Ebenen und allerorten nur noch kaum messbar vorhanden sind. Doch genau hier liegen die Schlüssel, wenn unsere Form des Zusammenlebens nicht an einer Art multiplem Organversagen zugrunde gehen soll. Wir können unsere Probleme nur gemeinsam lösen, wenn wir verstehen, dass wir alle das Problem sind.

Augustusburg, Juli 2019

1

Wir, die Bürger

Wir alle sind Bürger. Das mag eine profane Erkenntnis sein, aber sie ist grundlegend. Wir alle haben Rechte und auch Pflichten. Unsere Rechte glauben wir gut zu kennen und fordern sie energisch ein, wenn es uns sinnvoll erscheint oder nützt. Wenn wir vom Sinn und Nutzen nicht so sehr überzeugt sind, nehmen wir das mit den Rechten und Pflichten hingegen nicht so ernst. Werte, die noch 30 Jahre zuvor von den Bürgern der DDR in einer friedlichen Revolution erkämpft wurden, fallen inzwischen in letztere Kategorie, sie werden nicht mehr so ernst genommen. In einer Gesellschaft, die aus vermeintlich und manchmal tatsächlich fremdbestimmten und einem System »ausgelieferten« Menschen, die nicht gehört werden, besteht, ist das ein merkwürdiger Trend. Denn hatte nicht gerade ein solches Kollektivempfinden vor 30 Jahren dazu geführt, dass eine kritische Masse an Bürgern beschloss, dies alles so nicht mehr hinzunehmen, für ihre Rechte und ihre Freiheit einzutreten? Und ist das nicht von einem wirklichen Erfolg gekrönt worden? Im gesellschaftlichen Selbstverständnis und bei einem nicht geringen Teil genau dieser Bürger offenbar eher nicht.

Was als Reminiszenz an diese friedliche Revolution übrig geblieben ist, das ist der eigenartige Wunsch nach einer Wiederholung des Ganzen. Wie aber kann es sein, dass nach drei Jahrzehnten, die hier im Osten viel verändert haben, ein solcher Wunsch erwachsen kann? Was ist so falsch gelaufen, dass wir an einen Punkt gekommen sind, der gut 30 Prozent der Bevölkerung dazu bringt, Protest zu wählen? Ich will im Folgenden versuchen, eine Antwort darauf zu finden, warum die Errungenschaften von damals heute nur noch Randnotizen einer bitteren Geschichte sind.

Die Nichtwähler und die Protestwähler

Eine dieser Errungenschaften ist das Recht auf eine freie und geheime Wahl. Es ist eines der wichtigsten Grundrechte unserer Demokratie. Doch dieses Grundrecht, das so eine große Bedeutung hat, wird kaum noch wahrgenommen. Während auf der einen Seite der Frust auf »die da oben« wächst, hält sich die Bereitschaft, Einfluss zu nehmen, schon bei dieser sehr einfachen Form der Beteiligung in überschaubaren Grenzen. Die Beteiligung an Bürgerprozessen auf allen Ebenen, auch der kommunalen, ist sogar rückläufig. Bei der letzten Bundestagswahl haben sich bundesweit 17 Millionen Wahlberechtigte der Stimme enthalten. Mehr Stimmen, als CSU, Linke, FDP, Grüne und AfD zusammen auf sich vereinigen konnten. Sechs Millionen Stimmen mehr als die SPD und zwei Millionen Stimmen mehr als die CDU. Das muss uns zu denken geben. Den Parteien sicher zuerst, denn offensichtlich ist etwas in der Beziehung zwischen Mensch und Partei kaputtgegangen. Aber auch uns Bürgern! Diese 17 Millionen Wähler hätten – entsprechende Einigkeit vorausgesetzt – die Wahl haushoch gewinnen können. Angesichts dieser Zahlen mutet die landläufige Behauptung, dass Wahlen nichts ändern können, dass man »ja sowieso nichts beeinflussen kann«, geradezu absurd an.

Tatsächlich haben nur 18 Prozent der Nichtwähler einen nachvollziehbaren Grund für ihr Fernbleiben: Sie sagen nämlich, dass keine der Parteien ihre Interessen vertritt. Warum dies ein nachvollziehbarer Grund ist? Weil diese Erkenntnis voraussetzt, dass man sich überhaupt mit dem Thema befasst hat, also seine Pflicht (ja, eine Pflicht!), als Bürger mitzuwirken, erfüllt hat. Dies ist zugleich ein Armutszeugnis für alle Parteien zusammen, egal wo sie stehen, denn offenbar gelingt es immer seltener, den Menschen erkennbare und klare Angebote zu unterbreiten.

Allen anderen Wahlverweigerern ist wohl nur sehr schwer zu helfen. Sie halten Parteien für »nicht unterscheidbar« oder gehen wegen Urlaub, schlechten Wetters oder sonstiger Widrigkeiten nicht zur Wahl. Begründungen, die eher von Bequemlichkeit als von Protest zeugen. Denn wer beispielsweise ernsthaft behauptet, dass die Linke sich nicht von der CDU oder die SPD sich nicht von der AfD unterscheidet, der erweist der Gemeinschaft und damit auch sich selbst einen Bärendienst. Der Zusammenhang zwischen eigenem Verhalten und gesellschaftlicher Konsequenz ist nur wenigen wirklich klar, auch wenn es kaum begreiflich ist, warum die Menschen diesen Zusammenhang nicht sehen. Es herrscht der Irrglaube vor, alles würde anders, wenn man es »denen da oben« nur mal richtig zeigt, indem man beispielsweise das System boykottiert. Dass damit die Erfüllung der eigenen Wünsche in keinster Weise wahrscheinlicher wird, ist zwar irgendwie klar, aber das ganze Protestverhalten unterliegt letztlich einer übermächtigen, unbestimmten und trotzigen Wut, oft auch einer grassierenden Resignation. So kommt es, dass sich erwachsene Menschen wie Kinder verhalten, die zwar Wunschzettel für den Weihnachtsmann geschrieben haben, sie aber nicht abgeben. Und sich dann wundern, wenn es statt des ersehnten Lego-Baukastens Socken gibt. Genau hier beginnt der Irrweg.

Mir gegenüber sagte neulich ein bekennender Nichtwähler und Bürger meiner Stadt: »Ich war immer wählen, es hat nichts gebracht.« Und das mag aus seiner Sicht, seiner persönlichen Erwartungshaltung heraus vielleicht sogar stimmen. Dass er aber nie Weiteres unternommen hat, um Einfluss zu nehmen, dass er beispielsweise nie versucht hat, seinen Landtagsabgeordneten in die Pflicht zu nehmen, und dass er schließlich mit seiner Nichtteilnahme an der Wahl die radikalen Ränder stärkt, weil dort eine hohe Wähleraktivierung vorherrscht – das alles war ihm nicht klar.

Die untote DDR

Wer jetzt sagt, dies spiele sich doch alles auf Bundesebene ab, sei damit weit weg und in einem anderen Orbit, der darf gern auf seine eigene Stadt blicken. Ja, hier, direkt vor der eigenen Haustür, funktioniert Demokratie anders und sehr viel direkter. Hier spielen in der Regel Parteien keine nennenswerte Rolle. Es werden Personen gewählt. Parteienproporz ist Nebensache. Dort, wo ich lebe, trifft man seinen Stadt- oder Gemeinderat noch täglich im Ort, hat eine Beziehung, sei es als Nachbar oder Freund. Auch den Bürgermeister kann man im Rathaus an den Sprechtagen persönlich erreichen. In meinem Fall und bei sehr vielen meiner Kollegen zudem per Mail, WhatsApp, Facebook oder schlicht per Telefon, oder man sieht sich auf der Straße. Alles wird von uns nahezu in Echtzeit beantwortet, oft bis spät in die Nacht hinein. Doch läuft es hier deshalb anders als im großen Orbit? Nein, leider nicht, denn die Beteiligung der Bürger an der Meinungsfindung liegt hier ebenfalls im unterirdischen Bereich.

Zwar sind die Quoten bei den Landtags- und Kommunalwahlen noch ein wenig besser als bei der Bundestagswahl, aber mit Blick auf die besondere Geschichte unseres Landstrichs, in dem jahrzehntelang Wahlen eine Farce waren, sollte dies eigentlich ganz anders sein. Hier, in der Wiege der friedlichen Revolution, müsste das damals Errungene doch einen hohen Stellenwert haben. Doch neben einem eher nostalgischen Stolz macht der Verweis auf diese friedliche Revolution eine Enttäuschung sichtbar. Eine Enttäuschung, die sich – insbesondere mit Blick auf das, was in den 30 Jahren seither geschaffen wurde – ansatzweise, aber nicht vollständig begründen lässt. Das ist sogar bei den Bürgern so, die im teuren Blech zweimal im Jahr in den Urlaub rollen in Länder, die man früher nur mit dem Finger auf einem der selten kaufbaren Globen »bereisen« konnte. Heißt also, das Gefühl des Besiegtwordenseins hat an Gewicht gewonnen, nicht nur bei den Verlierern der Wende, die es leider eben auch gibt. Und damit geht einher eine nostalgische Sehnsucht nach einem Damals, das DDR war. Diese Mischung aus Klappehalten, Unfreiheit und Tauschhandel wird inzwischen in vielen Köpfen als Hort des Zusammenhalts, der Solidarität und der Zwischenmenschlichkeit erinnert. Ein warmer Ort. Mit Versorgungslücken und Meinungseinheit, aber irgendwie vertraut. Dieses Land von einst, das auch Unrecht, Unfreiheit, Mangel und Stasi war, ist bei vielen noch immer oder erneut der Sieger der Herzen. Zumindest jener Teil, den man positiv erinnert. Und der wabert wie ein Gespenst über den Stammtischen. Untot, weil nie wirklich aufgearbeitet.

Nein, keiner von denen will im Ernst jenes Land zurück. Davon bin ich überzeugt. Vielmehr ist es die Ablehnung des neuen Systems und der Hinweis auf die eigene Lebensleistung. Die aber ist mit dem Land von einst untergegangen, hat nie eine Würdigung erfahren. Zudem wurde jenes sterbende Land von einem Monster begleitet, das Treuhand hieß, viel Unrecht produzierte und nicht selten Glücksrittern und Kapitalinteressen die Menschen und ihre Geschichte opferte. Das ist die Wahrheit und zugleich unaufgeklärte Geschichte. Vieles wurde den Zielen einer schnellen Einheit und den Interessen im Westen geopfert. Dennoch – dies gehört der Vollständigkeit und Ehrlichkeit halber dazu – trug die Treuhand auch vieles zu Grabe, was längst tot oder dem Tode geweiht war. Eine schmerzhafte Wunde, die bis heute nicht verheilt ist.

Und einer der Gründe, warum kaum einer fragt, warum das Ganze wirklich zu Ende ging und was man selbst womöglich dazu beigetragen hat. Kaum zulässig ist die Äußerung, dass dieses kuschelige Land, aus dem auch ich stamme und das mir eine schöne Kindheit und eine wirklich gute Bildung zuteilwerden ließ, schlicht abgewirtschaftet hatte. Dass es zu viele Menschen und ihre Bedürfnisse zu lange ignorierte. Ganz oft hört man die These, nahezu jeder ehemalige Betrieb im Osten hätte im Westen eine blühende Zukunft gehabt, wenn bloß die Treuhand nicht gewesen wäre. Diese viele Tausend traurige Schicksale produzierende Abwicklungsmaschine überdeckte den objektiv unabwendbaren Tod unzähliger Betriebe mit vielen Ungerechtigkeiten und auch nicht selten mit kriminellen oder undurchsichtigen Machenschaften. Der Schmerz, den diese Zeit über das Land brachte, von der alle glaubten, sie würde Landschaften im Sofortmodus in Blüte stehen lassen, dieser Schmerz sitzt noch immer tief. Der Mangel an Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Wende befeuert die Sage von der Zerschlagung und Plünderung einer prosperierenden DDR-Volkswirtschaft. Eine Mär, die als solche hinlänglich bewiesen und dennoch von den Menschen als Fakt nicht anerkannt wird, weil sich nur so die eigene Würde und Lebensleistung schützen lassen. Eine verständliche Reaktion, denn diese Anerkennung wurde hier in jener Zeit und wird auch noch heute verwehrt. Das Gefühl, verloren zu haben, übernommen und besiegt worden zu sein, kommt nicht von ungefähr. Es wurde erzeugt. Und tatsächlich muss man feststellen, dass die Einheit zu Teilen eher eine Übernahme als ein Zusammenkommen war.

Wer verstehen will, warum unsere Gesellschaft gerade von Wut und Enttäuschung mitbestimmt wird, muss eben auch zurückblicken. Der Mauerfall, dieser Umbruch, zerstörte, so wie er vonstattenging, schon von Beginn an Hoffnungen, setzte falsche Prioritäten und verstand damals schlicht nicht, die Menschen einzubinden. So ließ sich keine dauerhaft tragende Aufbruchstimmung generieren. Die Lähmung und Resignation, die stattdessen eintraten, waren der Grund, warum von vornherein wichtige Debatten nicht stattfinden konnten. Beispielsweise um die Frage nach der Verantwortung eines jeden Einzelnen für diesen Zusammenbruch eines Landes, das Heimat war. In einer solchen Debatte hätte die Chance gelegen, das faktische Ende der DDR zu begreifen. Ersatzweise wurde die Jagd auf Stasi-Informanten ausgerufen, sicher auch wichtig, aber nicht entscheidend. Schließlich brachte der Versuch, das Land juristisch aufzuarbeiten, am Ende nur zwei Ergebnisse zutage. Für diejenigen, die unter dem System gelitten hatten, waren die Prozesse wenig befriedigend und waren behaftet mit dem Geruch von Siegerjustiz. Und für die anderen verstärkte dies das Gefühl, mit abgewickelt worden zu sein.

Dieser lähmende Makel liegt noch heute wie Mehltau über dem Land. Es bewegt all jene, die mit dem Regimewechsel nicht das erhielten, was sie sich erträumt hatten. Dieses Gefühl entstand damals und überlagerte vieles, bekam ein festes Fundament, das tatsächlich bis heute hält. Es macht sich in Sätzen Luft wie: »Ja, es stimmt schon, dass viel entstanden ist. Aber es war auch nicht alles schlecht, damals.« Oder schlicht in der Aussage: »Für mich hat sich nichts geändert.«

Bleiben Sie ruhig, wir holen Hilfe

Was ich soeben beschrieben habe, ist wichtig, wenn man verstehen will, was der Anfang war von dem, was heute ist. Denn wir hätten eine Generaldebatte gebraucht, die die richtigen Fragen stellt und Verantwortung benennt. Ein 1968 der Neunziger, wenn man so will. Stattdessen aber kam Politik übers Land, die statt Selbstverantwortung das Motto ausgab: Bleiben Sie ruhig, wir holen Hilfe. Die handelnden Personen verstanden es nicht, die Schmerzen durch Aufklärung des Damals oder durch Anerkennung und Klarheit zu lindern, und sie entwickelten auch wenig Ehrgeiz, die vielen Wendeungerechtigkeiten konsequent, auch strafrechtlich zu verfolgen. Sie versprachen stattdessen blühende Landschaften und gedachten diese mit einer Mischung aus Kader zweiter Garnitur West und Altkader DDR umzusetzen. Ein fataler Fehler, denn so missachtete man die Gefühle und die Fähigkeiten der Menschen und versuchte somit, den Neuaufbau einer Gesellschaft weitgehend ohne ihre Bürger zu bewerkstelligen.

Eine zweite, schleichende Erkrankung der noch jungen, nicht gefestigten Selbstbestimmung kam übers Land. Das Zeitalter der Kümmerer brach an. Ein fataler Ansatz, wenn man bedenkt, dass hier eine Gesellschaft in Ausbildung gerade damit beschäftigt war, sich selbst zu finden. Denn bei allem richtigen Bemühen, diesen gewaltigen Wandel sozial abfedernd zu begleiten und den Menschen, die gewaltigen Brüchen unterworfen waren, Hilfe anzubieten, war es von Anfang an zu viel »Wir machen das« und viel zu wenig »Wir brauchen euch«. Und kaum ein »Ihr müsst«.

Ich war zu jener Zeit angehender Journalist einer Tageszeitung in Bitterfeld. Dort schossen in jener Zeit die Beschäftigungsgesellschaften wie Pilze aus dem Boden. Jeder Chemiebetrieb in Abwicklung schickte seine Leute in den zweiten, staatlich subventionierten Arbeitsmarkt. Schnell waren die mit mehreren Tausend Mitarbeitern die größten Arbeitgeber. Sie ließen kaum Luft, rechts und links etwas entstehen zu lassen, weil sie beispielsweise öffentliche Aufträge, unterstützt durch gewaltige Lohnsubventionen, komplett abgrasten, während neu entstandene Unternehmen nicht mithalten konnten. So wichtig und alternativlos diese Instrumente eine Zeit lang waren, ihr Einsatz wurde zu lange fortgesetzt und machte etwas mit den Menschen. Sie hielten diese zwar mehr schlecht als recht am Leben und nahmen damit die größten Härten, aber sie nahmen ihnen auch die Chance, die eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu erkennen, Initiative zu ergreifen und in Verantwortung zu gehen. Für Menschen, die gerade einem Bevormundungssystem entkommen waren, ist so etwas nicht unbedingt ein Befreiungsschlag oder gar ein Anreiz zum Aufbruch. Die unmittelbare Nachwendezeit hat nicht wenige hervorgebracht, die nie aus diesen Beschäftigungsmaßnahmen herausfanden und ihr Leben in der Folge als Bittsteller verbrachten. Auch das kann Wut produzieren und in der Sicht auf sich selbst die eigene Lebensleistung zerstören. Es kann Biografien und damit Menschen vernichten. Denn nicht alles, was gut gemeint ist, wird am Ende auch gut.

Was auf der Strecke blieb, waren Bürgersinn und das Wachsen der eigenen Verantwortung. Natürlich gab es viele, die ihre Chancen erkannten, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nahmen. Doch es waren zu wenige. Zu viele suchten ihr Heil in der Flucht aus den östlichen Bundesländern, weil es die Politik nicht verstand, Ermöglichung zu leisten. Statt Verantwortung und Anerkennung gab es Stütze. Heimat war plötzlich keine Heimat mehr, und die Menschen gingen fort. Hier in Sachsen konnten wir diese massive Fluchtbewegung zwar bremsen, doch der Verlust an Menschen und Ideen ist dennoch gigantisch.

Zuerst gingen diejenigen, die mussten, weil sie eben nicht in diesen Maschinerien auf bessere Zeiten hoffen wollten oder weil sie schlicht keine Arbeit fanden. Dann gingen jene, die zwar Arbeit hatten, aber um sie fürchteten und Angst hatten, später im Westen keinen Job mehr zu finden. Dann schickte man die Kinder weg. Was wir heute neudeutsch Braindrain nennen – es war der zweite Geburtshelfer der jetzigen Situation. In Sachsen-Anhalt zahlte man einem jungen Menschen, der sich im Westen eine Ausbildungsstelle suchte, sogar eine Umzugshilfe. In dem Irrglauben, diese Köpfe würden den Weg zurück nach Hause finden, wenn sie erst einmal ausgebildet wären. Dabei war klar, dass dies nicht viel mehr war, als ein frommer Wunsch. Dieser beispiellose Exodus junger Menschen und gut ausgebildeter Köpfe produzierte eine Gesellschaft, die sich zu einem großen Teil aus jenen zusammensetzt, die sich – ob zu Recht oder zu Unrecht, sei einmal dahingestellt – vergessen, missachtet und stimmlos fühlen. Die nach dem eigenen Jobverlust dann noch ihre Kinder verloren haben. Das machte einen von allen ersehnten Aufschwung nur begrenzt möglich und spaltete schon damals nachhaltig ein Land, das gerade auf dem Weg war, zusammenzukommen.

Noch heute gehört Wegzug zu jungen Lebensplänen, zwar weniger in den Westen, eher in die großen Städte im Osten, aber eben weiterhin weg. Wenn wir wirklich etwas ändern wollen, dann müssen wir hier ansetzen. Noch heute überwiegt in vielen Regionen eine gefühlte Perspektivlosigkeit. Gefühlt deshalb, weil man, objektiv betrachtet, momentan überall alles tun könnte, denn der Mangel an Fachkräften und kreativen Köpfen ist gewaltig. Gerade im ländlichen Raum, wo auch ich gemeinsam mit anderen versuche, Zukunft zu gestalten. Hier gilt noch immer ein inzwischen zum Mantra aufgestiegenes geflügeltes Wort: Verlass deine Stadt, wenn du etwas werden willst. Und unsere Kinder lernen dies ab der vierten Klasse. Denn wer die Oberschule besuchen will, beginnt seinen langen Tag an der Bushaltestelle in Richtung Nachbarstadt. Nur wer ein privates Gymnasium ermöglicht bekommt, darf am Ort bleiben. So lernen schon die Kleinsten, dass die Zukunft nicht zu Hause wohnt. Zudem übersehen wir, dass man ja Dinge selber machen und auf die Beine stellen kann, die hier fehlen.

Dies alles muss man vorausschicken, wenn man die Gegenwart wenigstens ansatzweise verstehen möchte. Nein, es soll nichts entschuldigen von dem, was falsch läuft. Nichts relativieren, was auch der Bürger an Verantwortung dafür trägt, was momentan nicht funktioniert. Aber es erhellt aus meiner Sicht ein wenig die Hintergründe und macht zumindest fassbar, warum sich die Dinge entwickeln, wie sie sich entwickeln.

Auch meine Stadt Augustusburg hat die Zäsur der Wende- und Nachwendezeit durchlaufen. Hunderte Arbeitsplätze in der Baumwollspinnerei, die jahrzehntelang für das Leben hier die Basis bildeten, verschwanden damals und hinterließen Ruinen, Leerstand und Menschen, deren Lebensleistung nun mit verschwunden war. Menschen, die seither teils mehrfach umlernten, nicht nur Arbeitgeber, sondern ganze Berufsbilder wechselten. Die Folgegeneration pendelt oft Hunderte Kilometer in jeder Woche, um ein Einkommen zu haben, mit dem man auch auskommen kann. Sie belasten ihre Familie mit der Pendelei und erleben nur an Wochenenden Heimat. Dabei müssen sie immer wieder hören, dass die Ostdeutschen doch einfach nur flexibler sein müssen, dann würde schon alles werden. Viele waren darunter, die mutig anpackten und erlebten, dass auf sie keiner wartete, dass sie nicht gebraucht wurden.

Einige machten die Erfahrung, dass sie sich nach dem Zusammenbruch der verordneten Sprach- und Debattenlosigkeit endlich einbringen wollten und dabei enttäuscht wurden, weil auch Demokratie gelernt werden musste oder weil mancherorts die alten Kader von einst die Ansager von heute wurden und weiter ­autokratisch die Geschicke lenkten. Viele scheiterten an der demo­kratischen Teilhabe, weil niemand über Nacht die Möglichkeiten eines neuen Systems, der Freiheit des Wortes, der Meinung und der Idee verinnerlichen konnte. Nicht wenige resignierten und kehrten zurück in eine ihnen wohlvertraute Position der heimlichen Opposition, wo sie sich bestätigt fühlten, aber ohne Vorwärts auskommen mussten, was eine neue Enttäuschung zementierte. Und letztlich sind da auch viele, die lernten, dass Anpassung auch in der neuen Zeit ein probates Mittel der Existenzsicherung sein kann, indem man sich ausschließlich auf das Ich und die eigenen Ziele besinnt. So speist sich das Jetzt aus einer breiten, sehr stillen und eigentlich versorgten Masse, die wenig Interesse hat, sich einzubringen, Menschen mit enttäuschten Hoffnungen, Lebensbrüchen und dem Gefühl, erneut einem großen Ganzen ausgeliefert zu sein; Menschen, die mitschwimmen; Menschen, die nicht gehört wurden. Ein Lernergebnis aus 30 Jahren Nachwende. Ebenso logisch wie traurig, aber real. Es gibt freilich auch diejenigen, die trotz allem weiterkämpfen und Gesellschaft, Kultur und Miteinander mit Leben erfüllen und sich und ihre Kraft in den Dienst aller stellen, die Vereine gründen und da sind, wenn ihre Stadt sie braucht. Es sind wenige, und derzeit werden sie auch nicht mehr.

Die gefährliche Alternative

Mich erstaunt, dass diese Realität ausgerechnet in der Politik Verwunderung auslöst, dass sich Politik so oft fragt, weshalb eigentlich keiner mehr mitmachen möchte und warum ein Drittel der Bevölkerung auch in meiner Stadt eine inzwischen vermeintliche Alternative wählt. Die dabei aber eigentlich nichts weiter ist als das, was Sahra Wagenknecht mit der Initiative »Aufstehen« nahezu verzweifelt versucht hat, ins Werk zu setzen, bevor sie sich selbst daraus wieder zurückzog: eine massive Protestbewegung.

Und bevor es zu harmlos klingt: Gerade das macht diese Alternative eben auch so gefährlich. Sie ist für mich nicht einfach eine neue, populistische Partei, die auf der Welle schwimmt. Diese Bewegung ist ein Lebensgefühl und ein Ventil und nichts, was aus dem Nichts kam oder rein rechtsradikale Züge trägt. Natürlich ist sie eine Bewegung für Rechte, aber auch für viele, die weder rechts noch links politisiert sind. Sie ist eine Sammlungsbewegung enttäuschter Biografien, unerfüllter Hoffnung und gewachsenen Misstrauens gegenüber allem, was etabliert ist oder zu sein scheint und gegenüber allen, die drei Jahrzehnte lang in den Augen vieler Menschen nicht das umgesetzt haben, was sie erwartet haben. Sie bietet eine Orientierung für die Menschen, die für ihr Gefühl des Ausgeliefertseins keine andere Form des Ausdrucks und der Umsetzung finden. Auch für diejenigen, die in der anonymen Wahlkabine 30 Jahre Vereinigungsschmerz – den eigenen oder den bei den Eltern erlebten – mit einem Kreuzchen rächen wollen.

Das ist das Umfeld, in dem meine Mitarbeiter und ich jeden Tag arbeiten. Natürlich gibt es eine Menge Bürger, die unsere Arbeit unterstützen und mittun. Doch auch die sind nicht befreit von dieser Historie und machen jeden Tag die Erfahrung, dass es mehr als kompliziert ist, etwas zu wollen, und viel einfacher, etwas zu lassen. Sie sehen, wie aus einer guten Idee unter Umständen nichts werden kann, weil Möglichkeiten und Mittel für uns mehr als begrenzt sind. Wir hantieren in einem entsetzlich regulierten System, das jegliche Pragmatik schon im Ideenstadium ersticken kann. Es sei denn, es spannen sich Menschen davor, die mit Herzblut und Hartnäckigkeit das System solange stürmen, bis dieses an irgendeiner Stelle entnervt aufgibt.

Die Bürger – wie auch unsere Stadträte – erleben regelmäßig, dass ein Stadtratsbeschluss eben kein Beleg für die verfassungsrechtlich gewährte kommunale Selbstverwaltung ist, sondern eher eine Art Absichtserklärung. Denn eigentlich bedeutet ein solcher Beschluss in zwei Dritteln der Fälle, dass wir sagen, dass wir etwas wollen. Ob dies aber Wirklichkeit wird, entscheiden nicht die gewählten Räte, sondern die Förderbehörde, die Rechtsaufsicht oder sonst eine übergeordnete Stelle, die uns Geld oder Genehmigungen zuteilt. Oder eben auch nicht. Diese Entscheidung wiederum ist oft abhängig davon, wie durchsetzungsfähig oder vernetzt der Bürgermeister unterwegs ist. Leider führen die Umstände nicht dazu, dass engagierte Menschen ehrenamtlich weiterarbeiten, sondern eher dazu, dass sie sich zurückziehen. So schreiben wir fort, was schon falsch begonnen hat.

Wir generieren also zwei Perspektiven für die Bürger: eine lähmende, die als Folge des ewigen Kümmerns der Politik von unerfüllbaren Erwartungshaltungen geprägt ist, und eine, die Menschen zwar aktiviert, sie aber irgendwann resignierend aufgeben lässt, weil sie zunehmend enttäuscht werden. Es gibt nur ganz wenige, die immer wieder neu ansetzen und aufs Neue versuchen, etwas zu verändern. Das ist nicht eben das, was man als Aufbruchstimmung bezeichnen würde.

Ein noch immer geteiltes Land

Ich kann mich an ein Gespräch erinnern, das ich vor nicht allzu langer Zeit mit Martin Dulig, Chef meiner SPD in Sachsen, Wirtschaftsminister und stellvertretender Ministerpräsident des Freistaats, führte. Das war gerade in dem Moment, als er zum Ostbeauftragten der SPD gewählt wurde. Meiner Skepsis, ob man denn so etwas 30 Jahre nach der Wende braucht, begegnete er mit den Worten: »Wir brauchen das, weil alle anderen eine Politik für den Westen machen.« Ich sagte darauf: »Das ist wohl so, aber ich fühle mich wie ein Indianer im Reservat, wenn es jemanden gibt, der sich um mich hier im Osten kümmern muss.« Einig wurden wir uns nicht. Auch wenn ich Duligs Politik sehr schätze, halte ich solche Institutionen für die Fortschreibung der Nachwendefehler. Wir im Osten sind nicht besser oder schlechter als die Menschen im Westen. Wir müssen machen, beweisen, umsetzen. Solange wir den Menschen hier aber mit dem Symbol eines »Beauftragten« kommen, wird das immer bedeuten: Um euch muss man sich kümmern. Ihr braucht eigens jemanden, der eure Interessen vertritt. Eben wie bei Indianern im Reservat.

Ich kenne viele Menschen, die das Ost-West-Gebaren in der Politik kaum noch ertragen und die zu Recht darauf verweisen, dass es am Ende auch nicht wirklich etwas bringt. In den entscheidenden Fragen von Tarifpolitik und Arbeitslohn, die Stellschrauben von Wertschöpfung und Zufriedenheit sind, ändert es zu wenig. Wir haben hier noch immer ein klar geteiltes Land, was auch Ostbeauftragte nicht ändern konnten. Weniger Lohn für gleiche Arbeit ist für viele 30 Jahre nach der Wende ein Affront und legt in den Köpfen die Basis von Zweitklassigkeit. Das ist eine vielschichtige Tatsache, die nicht ausschließlich von Politik bestimmt oder geregelt werden kann. Für viele Menschen hier ist es aber natürlich ein gewichtiges Argument und eben auch ein Stück Wahrheit.

Ich halte es für falsch, den Osten immer weiter als vermeintliches Schutzgebiet zu behandeln, vor allem dann, wenn man so grundlegende Dinge wie beispielsweise Lohn und Rente nicht miteinbezieht. Es ist ein grandioser Fehler, denn am Ende bestätigt es Schmerz und verhindert Aufbruch. Nur Menschen, die an sich glauben können, schaffen Aufbruch. Ein einiges Land kann durch solche Schutzmaßnahmen ebenfalls nicht entstehen. Denn solange wir explizit über den Osten reden, wird es ihn auch geben. Und diese Protektionen produzieren noch etwas anderes: einen neuen, handfesten inner-ostdeutschen Generationenkonflikt. Ich habe mit vielen jungen Menschen zu tun, die in digitalen, teils selbst gegründeten Unternehmen arbeiten und wegen ihres Alters mit der DDR nichts zu tun hatten. Die schütteln nur die Köpfe ob solcher Ostkümmerer-Positionen, denn junge Unternehmer wollen keine Reservatindianer sein und wissen, was sie können. Die wollen gefragt und eingebunden werden. Genau das wird durch solche politischen Instrumente beschädigt. Die Folge kann auch jetzt – wie in der unmittelbaren Nachwendezeit – sein, dass man schlicht fortzieht und sich mit einer Hamburger oder Berliner Adresse davor schützt, ein Ossi zu sein. Es wäre dramatisch, würde es uns doch der einzigen Chance berauben, diesem Dilemma des abgekoppelten Ostens aus eigener Kraft zu entrinnen. Auf dem besten Weg, den es geben kann: durch Stolz auf die eigene Leistung.

Wer dies alles ins Bild setzt, der darf sich also kaum über die um sich greifende Teilnahmslosigkeit an politischen Gestaltungsprozessen auf Bürgerebene wundern. Die alten Distanzen, die man zum Apparat früher besser einhielt, haben aus den besagten Gründen überlebt. Dass in den jüngeren Generationen die Aufmerksamkeit meist nur noch geweckt werden kann, wenn es um das eigene Interesse geht, ist zum einen dadurch und zum anderen durch den Megatrend »Ich-Gesellschaft« gut umrissen. Den Rest macht der Blick auf die Historie der Eltern. So haben wir durch die Politik von Jahrzehnten dafür gesorgt, dass sowohl die Zufriedenen als auch die Unzufriedenen mehr und mehr die Dinge laufen lassen, ja teilweise komplett ignorieren.

Selbst jener Teil der Politik wird ignoriert, der quasi vor den eigenen Füßen stattfindet und damit eine hohe Relevanz für jeden hat, der in einem Ort wohnt. In der Phase, in der Projektideen entstehen, rührt sich kaum ein Bürger. Auch bei uns in Augustusburg nicht. Dabei habe ich von Beginn meiner Amtszeit vor sechs Jahren an vieles getan, um bezüglich der Stadt und ihrer Führung keinerlei Geheimniskrämerei aufkommen zu lassen und Beteiligung zu ermöglichen. Blogs, soziale Medien, Presse-, Fernseh- und Radiopräsenz und Bürgerkontakt verhindern dennoch nicht, dass Bürger regelmäßig von Entwicklungen überrascht werden. Das wird dann moniert und oft mit dem Unterton des Nicht-gefragt-worden-Seins untermalt. Und wenn ich dann sage: »Dann komm doch das nächste Mal dazu, wenn wir das diskutieren«, dann entschuldigt man sich schnell mit privaten Verpflichtungen. Bürgerkonferenz am kommenden Dienstag? Ganz schlecht. Da habe ich Yoga. Es wäre auch am Mittwoch nicht gegangen. Ganz sicher nicht.

Für eine Politik der Teilhabe

Das alles hat sich für mich überraschend so entwickelt, weil meine Wahl im Oktober 2013 eigentlich darauf zurückzuführen war, dass es einen massiven Gesprächsstau zwischen der Stadt und ihren Bürgern gab. Das war einer der Gründe, die damals die Bürger von Augustusburg dazu bewogen haben, einen weitgehend unbekannten, zudem zugereisten Neubürger zum Bürgermeister zu küren. Ich ging raus zu den Leuten, hörte zu, versprach nichts Haltloses und signalisierte einzig, dass die bis dahin weitgehend als Blackbox geführte Stadtpolitik sich für die Bürger öffnen müsse. Und dass wir etwas tun müssen, wenn wir eine Zukunft haben wollen. Das war mein Wahlkampf. Ich unterliege ganz sicher nicht der Hybris, dass die Menschen mich persönlich für das neue Maß der Dinge hielten. Es war vielmehr die große Unzufriedenheit in der Stadt, die meiner Kandidatur den Sieg eintrug. Denn in einer Gegend, in der man als Zugereister erst dazugehört, wenn man schon 20 Jahre auf dem Friedhof liegt, ist es nicht selbstverständlich, eine etablierte, in der in Sachsen bis dahin heiligen CDU organisierte Bürgermeisterin vom Thron zu stürzen. Die Menschen wollten einen Wechsel, und dieser kam – auch zu meiner eigenen Überraschung.

Obwohl wir seither nahezu alles anders machen als vorher, die vorhandenen Bürgerbeteiligungen stärkten und eine ganze Reihe neuer Möglichkeiten schufen, also trotz dieses wirklich gründlichen Umbruchs, den wir in den letzten Jahren erlebten und noch erleben, scheint dieser Aufbruch in Teilen allmählich wieder den alten Mustern zu weichen. Angesichts der Fülle dieser Möglichkeiten der Bürgerbeteiligung dürfte man auf Bürgerbeschwerden im Nachgang von Entscheidungen eigentlich gar nicht mehr eingehen, schon aus Rücksicht auf all diejenigen, die sich inzwischen eben doch einbringen. Und doch tun wir das. Denn Teilhabe einzufordern, war bisher keine Politik.

Dabei ist es gerade in einer Stadt dieser Größe nicht so schwer, vor Ort direkt gehört zu werden. Wir haben öffentliche Sitzungen, die in jedem Ortsteil und in der ganzen Stadt stattfinden. Wir haben gewählte Ortschafts-, Gemeinde- oder Stadträte. Überwiegend arbeiten diese ehrenamtlich, sind also im jetzigen, von sozialen Medien getragenen, politischen Klassenkampf nicht des Platzes am »Futternapf« verdächtig. Zudem sind sie bekannt in der Stadt, weswegen sie ja auch gewählt wurden. Diese Räte, die sich um ihre Ortschaften bemühen, tagen in der Regel mindestens einmal im Monat. Dazu Fachausschüsse und Stadtrat noch einmal an drei Abenden im Monat. Meist geschieht das öffentlich. Dennoch sind die Mitglieder dieser Gremien oft ziemlich allein mit sich und den Problemen, die es zu lösen gilt, wenn man von den wenigen Lautsprechern einmal absieht, die seit eh und je alles ablehnen, was solche Gremien hervorbringen. Die Besucherzahlen in öffentlichen Stadtrats- oder Ortschaftsratssitzungen, also den Sitzungen direkt in den Ortsteilen, liegen nach wie vor überwiegend bei nahe null. Dort wo, öffentlich angekündigt, die Diskussionen über Probleme und die Pläne zu ihrer Behebung stattfinden, ist der Bürger selten bis gar nicht vorhanden. Auch jene, die die Lautsprecherfunktion ausführen, suchen dort nur ganz selten das Gespräch.

Nun könnte man sagen, das Vertrauen wäre so groß, dass eben diese Kontrolle durch den Souverän als überflüssig empfunden wird. Doch dies ist eine schöne Illusion. Denn mit der Präzision der Braunschweiger Atomuhr wird vom Bürger erst dann etwas diskutiert, wenn es längst beschlossen oder sogar gebaut ist. »Hätten die mich mal gefragt, ich hätte gewusst, wie man das richtig macht«, heißt es dann im Supermarkt, an der Tankstelle oder auf der Straße. Oder – in unseren Breiten – vor einer der unzähligen Garagen, wo man das Feierabendbier teilt. Was schon in sich zwei wichtige Botschaften birgt. Erstens: Jeder ist – ähnlich wie bei Strategiefragen der deutschen Fußballnationalmannschaft – bei jedem Thema Spezialist und weiß ganz selbstverständlich aus sich heraus, wie man Dinge besser machen kann und wie es eigentlich wirklich funktionieren müsste. Und zweitens: Besser wissen, nachdem eine Sache zu Ende gebracht wurde, ist extrem komfortabel. Hat man doch, nachdem etwas gelaufen ist, immer die Möglichkeit, diesen Ausgang der Sache schon vorhergesehen zu haben. Sich hingegen rechtzeitig in die Diskussion einzubringen, wäre ein Risiko. Denn das bedeutet unter Umständen, sich kontroversen Meinungen auszusetzen, sich zu erkennen zu geben und Stellung zu beziehen, was zwar möglicherweise tatsächlich zu einer besseren Lösung führen könnte, aber vielen hier nicht liegt. Die geballte Faust beim Bier im vertrauten Umfeld ist bequemer als die Aufgabe dieser Anonymität der eigenen Meinung, das Eintreten für eine Sache in aller Öffentlichkeit.

Oft sagen mir Bürger hinter vorgehaltener Hand, was sie denken. Und erwidert man dann, dass man diesen Beitrag für die Mehrheitsfindung gebrauchen könnte, erfolgt der Rückzug. »Ist ja nur meine Meinung«, heißt es dann. »Das wollte ich nur mal so gesagt haben.« Und mancher, der tatsächlich mal einen solchen Anlauf genommen hat, zieht sich exakt dann zurück, wenn sich seine Meinung oder sein Wunsch als nicht mehrheitsfähig oder gar als irgendwie verkehrt erweist. Nicht selten passiert es, dass nach einem solchen Erlebnis der direkte Wechsel in die Opposition erfolgt. Rückzug statt Auseinandersetzung in der Sache. Dahinter steckt die Haltung, dass Demokratie nur dann mein Freund ist, wenn sie meine Positionen vertritt.

Die Stadt, das sind ihre Bürger