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In diesem Werk erklärt der Autor die Welt, in der Dostojewskis Meisterwerk "Die Brüder Karamasow" spielt -- dieses weite, so seltsame, dem allgemein-literarischen Russland Puschkins so unähnliche Reich. Wie eigen ist hier die Erde, und wie eigen der Himmel! Der Leser irrt inmitten einer Menge russischer Menschen der verschiedensten Art umher, trifft verzückte Lüstlinge und Heilige, welche wissen, auf was für schreckliche Kontraste sich das Leben gründet; Weise mit dämoniakalem Gedankenschwung; Menschen des "großen Zorns" und seelischer "Überspannung"; Besessene und Fanatiker; zwischen ihnen Kinder — sorglos wie die Vögel — und an der Grenze dieses Karamasowschen Reiches — weiße Klostermauern. Dieses Reich muss man aus nächster Nähe erforschen, denn nur in der Nähe kann man seine Erde betasten und seinen Himmel erfassen. Dieses Reich hat eben die Eigentümlichkeit, dass es sich von keinerlei allgemeinen Begriffen und von keinem Schema umfassen lässt, denn alles darin ist erst im Entstehen und Werden, ist erst angedeutet. Bei der Gärung psychologischer und ideeller Widersprüche entstehen irgendwelche neuen Elemente, kristallisieren sich irgendwelche neuen Typen und neuen Schönheiten.
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Seitenzahl: 307
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das Reich der Karamasows
AKIM LWOWITCH WOLYNSKI
Das Reich der Karamasows, A. L. Wolynski
Jazzybee Verlag Jürgen Beck
86450 Altenmünster, Loschberg 9
Deutschland
ISBN: 9783988681140
www.jazzybee-verlag.de
Widmung. 1
Einleitung. 2
Das infernale Weib. 3
Das Weib des "großen Zorns"21
Karamasow — Vater32
Dmitrij Karamasow.. 44
"Rossejuschka". 56
Die Prozessschlange. 68
Der dämoniakale Philosoph. 76
Der Großinquisitor89
Menschgott und Gottmensch. 101
Aljoscha. 116
Die Gören. 124
Die Theophilen.128
Die vielgesichtige Ikone. 129
Sossimas Ekstasen. 145
Schlußwort158
Meine Aufsätze über Dostojewskij, "Das Reich der Karamasow", widme ich meiner Mutter. Schon während der Arbeit an diesen Aufsätzen, und auch später, als ich sie im Zusammenhang durchsah, war ich mir bewusst, dass ich die mich bewegende theophile Stimmung, der ich bei der Analyse Dostojewskijs Ausdruck zu geben suchte, meiner Mutter zu verdanken habe. Sie erscheint mir als die Verkörperung der reinen und zarten Theophilie. Wenn man, sich selbst erforschend, die allmenschlichen Grundlagen des geistigen Lebens, eine allumfassende, nicht irgendwie national oder lokal gefärbte Idee der Gottheit sucht, beginnt das Herz plötzlich eine eigentümliche Unruhe und Sehnsucht zu empfinden. Während man die Zusammenhänge zwischen sich und dem, was unpersönlich und allweltlich ist, erfasst, fürchtet man, die kleine Welt seiner Abstammung und Existenz, in der alles persönlich, warm und farbig ist, aus dem Auge zu verlieren. Hier haben sich die ersten Lebenserfahrungen zu Kristallen gefügt, hier sind die ersten Berührungen mit dem Himmel entstanden, die ersten vagen, naiven, ewig naiven Hypothesen von der menschlichen Sendung. Durch die Vergötterung seiner eigenen Mutter gelangt man zu anderen, unpersönlichen Vergötterungen, zu der idealistischen Wahrheit, die wie eine mathematische Wahrheit für alle Völker und alle individuellen Temperamente gleich ist. Ich habe mit Liebe die Theophilie Dostojewskijs in ihrer russischen Färbung erforscht, ohne irgendwelche innere Widerstände gegen ein herzliches Einverständnis mit ihm zu empfinden. Sein furchtbar nationaler Genius, der dem russischen Volke alle Ehre macht, hat auch meiner eigenen schwachen Theophilie, in der irgendein Körnchen der allmenschlichen Wahrheit enthalten sein muss, Flügel verliehen. Darum widme ich diese Aufsätze einem Menschen, der mir die Theophilie durch seine Märtyrergestalt und seine ganze Lebensführung eingeprägt hat — meiner Mutter.
Petersburg, Januar 1901.
A. L. W.
Ich will versuchen, die "Brüder Karamasow" zu erklären, dieses weite, so seltsame, dem allgemein-literarischen Reiche Puschkins so unähnliche Reich zu erforschen. Wie eigen ist hier die Erde, und wie eigen der Himmel! Wir irren inmitten einer Menge russischer Menschen der verschiedensten Art umher; wir treffen verzückte Lüstlinge und Heilige, welche wissen, auf was für schreckliche Kontraste sich das Leben gründet; Weise mit dämoniakalem Gedankenschwung; Menschen des "großen Zorns" und seelischer "Überspannung"; Besessene und Fanatiker; zwischen ihnen Kinder — sorglos wie die Vögel — und an der Grenze dieses Karamasowschen Reiches — weiße Klostermauern. Dieses Reich muss man aus nächster Nähe erforschen, denn nur in der Nähe kann man seine Erde betasten und seinen Himmel erfassen. Dieses Reich hat eben die Eigentümlichkeit, dass es sich von keinerlei allgemeinen Begriffen und von keinem Schema umfassen lässt, denn alles darin ist erst im Entstehen und Werden, ist erst angedeutet. Bei der Gärung psychologischer und ideeller Widersprüche entstehen irgendwelche neuen Elemente, kristallisieren sich irgendwelche neuen Typen und neuen Schönheiten.
Das "infernale" Weib ist Gruschenjka. Sie ist noch nicht vor dem Leser erschienen, aber schon ist es klar, dass um sie herum sich die Stürme und Gewitter sammeln, die zur Katastrophe führen werden. Der alte Karamasow, Fjodor Pawlowitsch nennt sie eine "mutwillige und schamlose Betrügerin" und ruft unmittelbar darauf aus: "Heilige Väter, sie ist ja tugendhaft!" Sie hat einen durchaus unabhängigen Charakter, sie ist für alle eine uneinnehmbare Festung. "Dieses gemeine Geschöpf, dieses Weib, das ein unanständiges Leben führt," schreit er in der Zelle Sossimas, "ist vielleicht heiliger als ihr selber, meine Herren Hieromonachen, die ihr hier euer Seelenheil sucht!" Denn sie hat viel geliebt. Rakitin nennt sie eine "öffentliche Dirne", gibt aber zu, dass sie ein ganz ungewöhnliches Weib ist. Iwan Karamasow, der in seiner Art große dämoniakale Philosoph, nennt sie ein "Tier". Dmitrij Karamasow, der eigentliche Held des Romans, dieses große Herz, dem die höchsten Ekstasen und die höchsten Erleuchtungen verständlich sind, spricht von ihr in der Fülle der Leidenschaft und der Liebe, dass sie ein "Racker", dass sie eine "Menschenkennerin", dass sie eine "Katze" sei. Ihr Äußeres ist nicht erschütternd, aber irgendein schreckliches Gift ist in ihr, das die Menschen rasend macht. "Ich sage dir: sie hat eine Linie. Gruschenjka, der Racker, hat solch eine Linie, die sich selbst in ihrem Füßchen wiederholt, sogar im kleinen Zehchen des linken Fußes." Das ist die infernale Linie ihres ganzen Wesens.
Dieses "allerphantastischste von allen phantastischen Geschöpfen" erscheint endlich vor dem Leser im stillen Zauber seiner unheimlichen Schönheit. In der von einem wahrhaft infernalen Feuer erhellten kurzen Szene der Zusammenkunft Gruschenjkas mit Katja zeigt die erstere alle ihre wesentlichen Züge. Zuerst erklingt hinter der Portiere ihre zarte, etwas süßliche Stimme. Dann tritt sie lachend ins Zimmer. Sie ist "ziemlich groß, in der Gestalt recht voll, mit weichen, gleichsam lautlosen Körperbewegungen, als ob dieselben, wie ihre Stimme, gleichfalls so sonderbar, fast süßlich ausgearbeitet wären". Sie geht schwebend und lautlos auf Katerina Iwanowna zu. "Weich ließ sie sich auf den Lehnstuhl nieder, weich rauschte ihr prächtiges schwarzes Seidenkleid, und verzärtelt hüllte sie ihren vollen, wie Schaum weißen Hals und ihre breiten Schultern in einen teuren schwarzwollenen Schal." Man stellt sich Gruschenjkas Gesicht noch nicht vor, aber die ganze raubgierige katzenartige Natur dieser Frau mit dem heißen Blut eines Raubtieres lässt sich schon in ihrer vollen Kraft fühlen. Ihre lautlose, schleichende Gangart spricht, im Gegensatz zu anderen kraftvollen und lebhaften Schritten, von einer besonders starken inneren Sicherheit, von einer lauernden Grausamkeit, die mit ihrem Opfer liebevoll spielt, um es dann plötzlich zu überfallen. Trotz ihrer Jugend — Gruschenjka ist erst zweiundzwanzig — steht sie in ihrer vollsten Blüte. Sie hat einen kräftigen Körper, einen hohen Busen, breite Schultern und einen vollen Hals, so weiß wie Schaum. So ist die echt russische Schönheit beschaffen, "wie sie von vielen leidenschaftlich geliebt wird". Auch ihr Gesicht ist "sehr weiß, mit einem blass rosa Schimmer auf den Wangen". Das Gesicht ist vielleicht etwas zu breit, und der Unterkiefer tritt ein wenig vor. "Die Oberlippe ist schmal und sein, doch die Unterlippe ist voller und fast wie geschwollen." Gruschenjka hat herrliches, reiches, dunkelblondes Haar, Brauen, so dicht und dunkel wie Zobelfell, und "wundervolle graublaue Augen mit langen Wimpern". Ihr Händchen ist klein und voll. Ihr Lachen klingt nervös und hell. In ihrem Lächeln fällt manchmal "ein gewisser grausamer Zug" auf. So ist die ganze Gruschenjka, scheinbar nur von außen gesehen, in der Tat aber so vollkommen und vollständig gezeichnet, wie es nur ein Künstler vom Range Dostojewskijs zu tun vermag. Es sind uns in Linien und Farben materielle Formen gegeben, in denen sich scharf ausgeprägte 'Züge mit weichen, ein wenig verschwommenen paaren. Die lichten und zarten Töne des Gesichts und des Halses treten im schwarzen Rahmen des rauschenden kostbaren Kleides unheimlich hervor. Was wir hier vor uns haben, ist nichts weniger als eine lebendige menschliche Psyche in Andeutungen, in äußerlichen Symbolen. Wie herrlich sind diese Lippen gezeichnet: die feine böse Oberlippe und die raubgierige, launische Unterlippe, die ein wenig hervortritt und fast wie geschwollen ist. Das Ganze für die malerische Darstellung Gruschenjkas notwendige Material liegt vor unseren Augen und zwar so aufregend grell beleuchtet, wie man es nur bei Dostojewskij findet. In diesem echten Zauber der idealistischen Kunst fängt die Materie an, die lebende Sprache der Seele zu sprechen; sie ist selbst eine eigene Sprache der dem Menschen verständlichen Ideen; sie bricht ihr Schweigen, sie sprengt den Rahmen ihrer Stummheit. Die Linien und Farben wirken wie Worte. Darum fesselt das Äußere Gruschenjkas so suggestiv die Aufmerksamkeit: aus ihrem Antlitz spricht die Sphinx, die zwiegespaltene menschliche Natur, die nur in ihren metaphysischen Tiefen aus einem Guss ist. Wenn wir Gruschenjka in ihrer stillen tierischen Schönheit ergründen, begreifen wir auch ihre innere dämonische Raserei, ihre satanische Bosheit, die ihr Flügel wie zur Selbstverteidigung so auch zu ihren leidenschaftlichen, phantastischen Launen verleiht. Wir dringen in das Geheimnis des Kampfes zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Schönheit ein und schauen die geheimnisvollen Berührungen zwischen Erde und Himmel.
Wenden wir uns den Einzelheiten dieser wunderbaren malerischen Charakteristik zu, so bleiben wir unwillkürlich vor der zarten, süßlichen Stimme und den verzärtelten "fast süßlich ausgearbeiteten" Körperbewegungen stehen. Darin liegt etwas Russisches im orientalischen Sinne, etwas Passives, Träges, Verträumtes, das sich mit dem Bewusstsein der eigenen raubsüchtigen Macht paart und auch mit einer gewissen Sorglosigkeit sich selbst gegenüber. Ihre Geziertheit, ihr singender Tonfall, die Manier, Silben und Vokale in die Länge zu ziehen, die ganze Süßlichkeit, das Unterstreichen der vorhandenen natürlichen Züge — das alles macht Gruschenjka zu einer typischen Manifestation der russischen Schönheit — einer lockeren, unbeständigen Schönheit, "mit einem Wort, einer flüchtigen Augenblicksschönheit". Dostojewskij zeichnet dieses Mädchen absichtlich mit den Zügen einer vergänglichen, flüchtigen Schönheit in der Sturmperiode ihres Lebens, die bei einer Russin, der die hartnäckige Energie des heidnischen Elements fehlt, schnell vergeht und zu ganz anderen Stimmungen führt. "Kenner russischer Frauenschönheit", sagt Dostojewskij, "hätten vielleicht bei Gruschenjkas Anblick gesagt, dass solche frischen, noch jugendliche Schönheiten schon mit dreißig Jahren die Harmonie verlieren, dass auch das Gesicht dann schon verschwommen aussieht, dass um die Augen herum und auf der Stirn ungewöhnlich schnell kleine Fältchen entstehen und die Gesichtsfarbe ihre Zartheit verliert und rot wird." Die russische infernalische Schönheit ist der kurze Frühlingstaumel des persönlichen theophilen Prinzips vor dem Eintritt in die grenzenlosen Ekstasen neuer theophiler Räusche.
In der Szene der Begegnung zwischen Gruschenjka und Katerina Iwanowna sind die beiden Charaktere — der eine dämonisch-schön und verführerisch, in jeder seiner infernalen Linien sich selbst treu, der andere selbstbewusst und stolz, doch nur menschlich-selbstbewusst und menschlich-stolz — in einem anfangs heimlichen und dann offenen Kampfe dargestellt, in dem jeder Charakter die ihm eigene Kraft zeigt. Die hochmütige Katja will diese Wildkatze in Menschengestalt mit ihrer Freundlichkeit gleichsam bestechen und bezaubern. Sie überschüttet Gruschenjka freigebig und ungestüm mit überschwänglichem Lob und spricht, den kommenden Ereignissen blind vorauseilend, die Überzeugung aus, dass Gruschenjka den Dmitrij Karamasow nicht heiraten werde. Eigentlich zeigt sie auch dadurch ihren Hochmut, dass sie ihre Nebenbuhlerin übermäßig verherrlicht und beinahe über sich selbst erhebt, ihre Verachtung gegen dieses gefallene Mädchen, eine Geringschätzung, die sie durch besondere Nachsicht, durch Sympathie, durch ein tiefes Verständnis für das "phantastische Köpfchen", für das "eigenwillige, stolze, überstolze Herzchen" maskieren will. Gruschenjka versucht vorsichtig mit ihrer süßlichen, singenden Stimme den für sie unerträglichen und ärgerlichen Ausbruch der feurigen Beredsamkeit, diese Ergüsse der übertriebenen Großmut einzudämmen: "Sie verteidigen mich schon gar zu lebhaft, mein liebes Fräulein, Sie übertreiben." Aljoscha, dieser durchgeistigte, weitblickende und sogar hellseherische Junge, der dieser Szene beiwohnt, fühlt, wie erheuchelt die Begeisterung Katerina Iwanownas und wie ungleich der Kampf zwischen diesem in Raserei geratenen Mädchen und der in ihrer Wut still gewordenen Gruschenjka ist. "Aljoscha war rot im Gesicht und zitterte. Es war ein bebendes, unmerkliches Zittern." Doch Katerina Iwanowna geht durch wie ein scheu gewordenes Pferd. Von ihrem Sieg beinahe überzeugt, küsst sie dreimal Gruschenjkas reizendes, volles, "vielleicht etwas zu volles" Händchen; sie küsst den Handrücken und die Handfläche, als ob sie mit der Pfote eines unschuldigen, hübschen Kätzchens spielte. Sie bewundert ihre vermeintliche Demütigung und überschüttet sie mit ihrem Danke für den vernünftigen Rückzug. Gruschenjka ihrerseits betrachtet diese Komödie mit unschuldigem und lustigem Gesichtsausdruck, mit unschuldigen, heiteren, scheinbar zutraulichen Augen. Sie hat Katja schon die Andeutung gemacht, dass sie "im Herzen schlecht, eigensinnig und herrschsüchtig" sei. Sie versucht, ohne ihr passives Verhalten aufzugeben, den unbedachten Feuereifer des "lieben Fräuleins" abzukühlen und ihre wahre Natur zu zeigen. Doch Katerina Iwanowna, von ihrem eigenen Überschwall mitgerissen, überhört die trägen, von verborgenem Spott erfüllten, scheinbar ihre Schuld bekennenden Repliken Gruschenjkas mit dem unheilkündenden Unterton. Nun kommt aber der entscheidende Augenblick, und die Wildkatze springt in einem unerwarteten Anfalle ihrer infernalen Natur aus dem Hinterhalt hervor und wirft ihr sehr ehrliches, doch nicht sehr kluges Opfer um. Die schreckliche, bezaubernd schöne Linie, die durch ihren ganzen Körper geht, die, wie Mitja sagt, "sich selbst im kleinen Zehchen ihres linken Fußes wiederholt", lässt sich auch jetzt mit der gleichen unveränderlichen Kraft in jeder ihrer seelischen Regungen erkennen. Es ist ein vollkommener Parallelismus zwischen der Struktur der Seele und der Struktur des Körpers, die gleiche tierische und dämonische Schönheit in zwei Äußerungen, die beide gleich blendend dargestellt sind. "Geben Sie mir Ihr liebes Händchen, Sie Engel!"
sagt sie zärtlich zu Katerina Iwanowna. Schon bei diesen Worten Gruschenjkas wird es dem Leser ganz unheimlich zumute. "Nun, liebes Fräulein, werde auch ich Ihr Händchen nehmen und ebenso küssen, wie Sie meine Hand küssten. Sie küssten dreimal, ich aber mühte sie Ihnen dreihundertmal dafür küssen, um es quitt zu machen." Sie gibt sofort zu fühlen, dass sie die verschlossen hochmütige Psyche Katerina Iwanownas bis auf den Grund durchschaut hat, dass sie nun weiß, mit welcher Elle sie zu messen ist, und dass sie durchaus nicht die Absicht hat, sie als ihresgleichen anzusehen: wenn Katerina Iwanowna ihr die Hand dreimal geküsst hat, so muss sie, um es "quitt zu machen", um diese Erniedrigung, die aber höchster Hochmut ist, nach Gebühr heimzuzahlen, ihr die Hand dreihundertmal küssen. Was für eine weise Bosheit steckt in diesen Worten, was für ein glänzender Sieg dieser trägen russischen Bacchantin lässt sich schon voraussehen! Sie fürchtet nicht, das triviale Pathos der Distanz zwischen ihr und Katerina Iwanowna mit einer fremden Elle zu messen, denn sie weiß, dass dieses Pathos hohl, verlogen und kraftlos ist, dass die wahre natürliche Macht auf ihrer Seite liegt. "Und so mag es denn auch sein; dann aber, wie Gott will, vielleicht werde ich ganz Ihre Sklavin werden und Ihnen alles sklavisch zu Gefallen tun. Wie Gott will, so mag es sein, ohne alle Besprechungen und Versprechungen untereinander. Ihr Händchen, Ihr liebes Händchen, Fräulein, Ihr Händchen! Mein liebes Fräulein, Sie — Sie unglaubliche Schönheit!" Durch den Hohn, durch das Gift der geheuchelten Demut hindurch gibt sie Katja zu verstehen, dass jene sie einer "sklavischen" Handlung für fähig hält. Die offizielle Braut des Dmitrij Karamasow, Katerina Iwanowna, hält es nicht einmal für nötig, mit ihr zu unterhandeln, von ihr irgendwelche bestimmte Versprechungen zu verlangen! Aus den Worten Gruschenjkas klingt ein leises, doch ekstatisches Lachen über den Hochmut dieses tugendhaften, durch sein Rechtsbewusstsein starken Menschen, über den loyalen Gott der ordinären Menschenseelen. Sie führte das "liebe Händchen" Katerina Iwanownas langsam an ihre Lippen, "doch kurz vor den Lippen zögerte sie plötzlich und hielt inne, als ob sie über etwas nachdachte". — "Aber wissen Sie was, Sie Engel," sagte sie plötzlich mit der zärtlichsten, süßesten Stimme, "wissen Sie was: ich werde Ihr Händchen jetzt einfach nicht küssen!" Das ist der betäubende Schlag dieses Panthers. Das Opfer ist umgeworfen, und das nun folgende Geschimpfe Katerina Iwanownas ist nur eine vulgäre Revanche für den eleganten tödlichen Hieb Gruschenjkas. Gruschenjka ergötzt sich aber am Anblick des Sturzes ihrer Gegnerin mit der gleichen ruhigen Beherrschung, mit der sie vorhin den feurigen Ausbruch ihrer stolzen Großmut betrachtet hatte. "Es blitzte etwas in Gruschenjkas Augen. Sie blickte Katerina Iwanowna schrecklich aufmerksam an." Dieser schrecklich aufmerksame, auf das gestürzte Opfer gerichtete Blick ist gleichsam die letzte Äußerung ihrer infernalen seelischen Linie, die durch ihr ganzes Wesen geht, von den unbewussten Tiefen des bösen Instinkts bis zum bewussten Spiel mit ihrer Umgebung.
So verläuft diese Szene, in der Gruschenjka zum ersten Mal auftritt und in der sie sich uns mit allen ihren Eigenheiten zeigt. Sie verlässt Katja mit einem hellen Lachen und wendet sich an Aljoscha mit folgenden rätselhaften Worten: "Ich habe ja nur für dich, Aljoscha, diese Szene gespielt. Begleite mich, Liebling, wirst später damit zufrieden sein." Was soll das besagen? Was hat dieser Kamps der beiden Nebenbuhlerinnen mit dem herzensreinen Aljoscha zu tun? Warum soll ihm das Benehmen Gruschenjkas später gefallen? Diese Worte sind nicht leer, nicht zufällig. Gruschenjka mit ihrer tiefen Selbsterkenntnis, mit ihrem tiefen Gewissen fürchtet Aljoscha schon lange, diesen menschgewordenen Engel, der ihrer boshaften Natur als lebender Vorwurf dienen kann. Vielleicht fühlt sie unter allen zügellosen und wahnsinnigen Helden des Reiches der Karamasow gerade in ihm das andere, das nicht-karamasowsche Element, das er in sich trägt, obwohl er dabei ein Karamasow bleibt. Ihre Seele reagiert mit hellem Klange auf den Ruf dieses nicht-karamasowschen Elements, denn sie ist, bei allen ihren Widersprüchen, gar nicht chaotisch: die einander widersprechenden Elemente des persönlichen und des göttlichen Prinzips sind in ihr ebenso deutlich getrennt, wie Erde und Wasser sich getrennt haben, nachdem sie dem Chaos entstiegen. Wenn aus ihr das persönliche irdische Prinzip spricht, so enthüllt es sich in seiner reinsten Form, in seiner ganzen Größe und erreicht so den Glanz einer wahrhaft dämonischen Schönheit. Und wenn in ihr das göttliche Prinzip seine Stimme erhebt, so äußert es sich ebenfalls in seiner reinsten elementaren Gestalt, ohne Beimengung einer vernunftmäßigen, erklügelten Theophilie, ohne Beimengung der Lebensmoral, und erreicht gleichfalls einen überirdischen Glanz. Aljoscha steht gerade diesem geistigen Element ihres Wesens besonders nahe, er peinigt sie durch ihr eigenes Gewissen, und darum möchte sie, wenn sie sich in ihrem dämonischen Element befindet, ihn "verschlingen", besiegen und verführen. In der Szene mit Katerina Iwanowna hat sie sich in ihrer ganzen bösen, raubsüchtigen Schönheit gezeigt, weil sie instinktiv wusste, dass sie damit in ihm, in Aljoscha sein Karamasowsches Element in Wallung brachte, dass gerade dieser böse Zauber ihn früher oder später betören und gefangen nehmen muss: "wirst später damit zufrieden sein," sagt diese erfahrene Verführerin, sicher und selbstbewusst mit den Karamasowschen Leidenschaften spielend. Die niedergeschmetterte Katerina Iwanowna schreit: "Das ist ja ein Tiger! Peitschen muss man sie aus dem Schafott, durch den Henker, öffentlich!" Und als Dmitrij Karamasow von Aljoscha von dieser Szene hört, reagiert er "in geradezu krankhaftem Entzücken, in schamlosem Entzücken" auf die ihm wiedergegebenen Worte Katerina Iwanownas: "Also sie schrie, sie sei ein Tiger! Das ist sie ja auch, ein Tiger! Also aufs Schafott soll man sie bringen? Ja, ja, das müsste man, das muss man, das ist auch meine Meinung, schon lange müsste man's! Siehst du, Bruder, meinetwegen aufs Schafott, aber vorher muss man noch geheilt werden. Oh, ich erkenne die Königin der Unverschämtheit, hierin ist sie ganz enthalten, ganz, in diesem Händchen hat sie sich ganz ausgesprochen, hierin liegt das ganze infernale Weib! Das ist die Königin aller infernalen Weiber, die man sich in der Welt nur denken kann! In seiner Art kann's einen wirklich entzücken!" Und diese Königin aller infernalen Weiber liebt er mit wütender Leidenschaft in ihrer Infernalität, in ihrer satanischen Unverschämtheit, in ihrer phantastischen Bosheit, in ihrer Schönheit. Ihre Schönheit ist infernal, denn jede Schönheit, mit Ausnahme derjenigen, die langsam in den neuen, noch nicht stark genug zum Ausdruck kommenden theophilen Strömungen der Weltgeschichte geboren wird, ist infernal und verdient das "Schafott". Am aber das Recht zu haben, diese Schönheit zu richten und zu verurteilen, muss man erst "geheilt werden", d. h. in eine andere Sphäre kommen und geistig und körperlich ein neuer Mensch werden. Wenn einmal auf Erden die neue, von der dämonischen verschiedene, gottmenschliche Schönheit, die Iwan Karamasow eine "menschgöttliche" nennen würde, ihre Verkörperung findet, wird jede Infernalität, jede Bosheit, jede wahnsinnige Ausbildung des persönlichen Prinzips in theophober Richtung ihre Anziehungskraft für die Menschen verlieren. Es wird eine neue Ära in der Entwicklung der Menschheit anbrechen, und über ihr wird sich ein neuer Himmel auftun. Ohne Schafott, ohne Peitsche und ohne Henker wird die Tyrannei der alten morschen Schönheit stürzen. Dostojewskij öffnet mit einem einzigen Wort wie mit einem Zauberschlüssel die Tür, die zu einer neuen Unendlichkeit führt, und erscheint als Vorbote neuer Strömungen im Leben und in der Kunst. Er steht auf dem für die alttestamentarischen Propheten der russischen Literatur unerreichbaren Gipfel, und sogar Leo Tolstoi, der jahrelang den Boden um diese verborgene Quelle lebendigen Wassers durchschürfte, vermochte nicht bis zu ihr vorzudringen. Diese Quelle sprudelte erst unter den Füßen Dostojewskijs aus der Tiefe hervor.
In der Szene bei Gruschenjka, zu der Rakitin auf ihren Wunsch Aljoscha gebracht hat, fängt der Künstler an, sie uns von einer neuen Seite zu zeigen. Sie macht einen schrecklichen seelischen Sturm durch. Pan Mutzjalowitsch, der Offizier, der sie vor fünf Jahren verführt und als ein schmächtiges scheues Waisenkind sitzen gelassen hat, will mit ihr wieder zusammenkommen. Sie weiß, dass es nur eines Wortes, eines Pfiffes von ihm bedarf, damit sie "wie ein Hündchen" zu ihm gekrochen kommt. Aber die Kränkung brennt noch immer in ihrer Seele, und man hat den Eindruck, dass sie, sobald die "Estafette" kommt, in großer Toilette, mit einem Messer in der Hand ins Dors Mokroje eilen wird, um für alle Erniedrigungen, die sie erlitten, Rache zu nehmen. Das ist der Sturm, der jetzt in ihr tobt. Doch mitten im Sturm dieser menschlichen Bosheit erwacht ihr wahres tiefes Herz, das beide Elemente des Menschenlebens enthält: Gut und Böse, himmlisches Licht und höllische Finsternis. Trotz der Bosheit, die in ihr durch den Gedanken an ihre, wie sie glaubt, mit Füßen getretenen Rechte geweckt wird, befindet sie sich jetzt in einer reinen, gnadenreichen Strömung, die sie auf einen ganz anderen Weg bringen kann. Es ist ein Moment, wo der Dämon still geworden ist und der Hass nur noch auf der Oberfläche, nur noch in der Erinnerung flammt, sie selbst aber auf einmal gütig ist und von seelischen Regungen tiefer ergriffen wird, als sie es selbst glaubt. In diesem bedeutungsvollen Augenblicke ihres Lebens, der sich sogar in ihrem Äußeren spiegelt, merkt Aljoscha, dass die gewohnte Süßlichkeit ihres Tonfalles gleichsam verschwunden ist. Ihre Bewegungen, die sonst immer "fast süßlich ausgearbeitet" scheinen, sind jetzt schnell, geradeaus und von einer gutmütigen Zutraulichkeit. Durch die äußere Hülle hindurch, die bei ihr das gleiche Leben wie die Seele lebt, kann man alles sehen, was in ihr vorgeht. Es ist nicht der Moment, um Aljoscha zu betören! Und obwohl sie sich ihm auf den Schoß setzt, sich "wie ein Kätzchen" an ihn schmiegt und bereit ist, zu trinken und zu tollen, ist es dem Leser klar, dass ihre raubsüchtige Natur jetzt von anderen Kräften ergriffen ist. Aljoscha hat jetzt keine Angst vor diesem "schrecklichen" Weibe. Sie erregt in ihm "ein ganz anderes, unerwartetes und besonderes Gefühl, das Gefühl einer ungewöhnlichen, noch nie so empfundenen herzensreinen Anteilnahme, und alles das ohne jegliche Furcht, ohne den geringsten früheren Schrecken". Der Grund für diese plötzliche Änderung in seinem Verhältnis zu ihr liegt in ihr selbst, in Gruschenjka, in ihren eigenen neuen Stimmungen. Ihre raubsüchtige Absicht, ihn zu "verschlingen", sinkt ganz von selbst kraftlos in sich zusammen, und sie sagt in ihrer gewohnten weiblichen weichen Art, die viel großartiger ist, als die temperamentvollsten Ausbrüche anderer Naturen, ganz aufrichtig, dass sie Aljoscha "mit der Seele" liebe, dass sie, die Gemeine, Wahnsinnige ihn "auf eine andere Weise" liebe. Rakitin beobachtet mit Misstrauen dieses seltsame, ihm komisch erscheinende Spiel Gruschenjkas auf den neuen Saiten, aber Gruschenjka enthüllt erst an dieser Stelle des Romans jene Wahrheit, die nicht nur in ihr, sondern auch in jedem Menschen lebt und die vorläufig nur den Willen hat, sich "auf eine andere Weise" des Lebens der Menschenseele zu bemächtigen und es in eine neue Unendlichkeit zu lenken. Sie sagt dieselben Worte, die von vielen, die von allen in gewissen Fällen gesprochen werden, die aber in ihrem Munde besonderes Vertrauen wecken. Sie hat ebenso ein "Stündlein", wo sie mit hellem Klang auf alles reagiert, was die guten Elemente in ihr unterstützt. Als sie hörte, dass Sossima gestorben sei, "sprang sie sofort von Aljoschas Knien herab und setzte sich auf den Diwan". Aljoscha fühlt, dass dies eine reflektive, unwillkürliche und daher besonders bedeutsame Äußerung ihrer besseren, tieferen Natur ist. Er ist in einer kritischen Verfassung zu ihr gekommen, bereit, sich den Karamasowschen Leidenschaften hinzugeben, und findet in ihr "eine aufrichtige Schwester, eine liebende Seele", die vielleicht noch nicht ausgesöhnt ist, aber lebendige Berührungen mit höheren Welten hat. An diesem plötzlichen Herabspringen von Aljoschas Knien scheint nichts Besonderes zu sein, und doch ist es herrlich, in einem besonderen Sinne herrlich als das erste Aufleuchten des sich in ihrer Seele regenden Heiligsten, ein Aufleuchten, das allein schon genügt, um den Menschen vor dem Gerichtshof des Gewissens freizusprechen. Ein böses Weib hatte während seines ganzen Lebens nur ein einziges Mal einer Bettlerin ein "Zwiebelchen" geschenkt, und der Engel des Lichts brachte es fertig, wegen dieses einen Zwiebelchens für sie den Freispruch vor dem Gerichte Gottes zu erwirken. In Aljoschas Augen ist die keusche Bewegung Gruschenjkas das gleiche rettende "Zwiebelchen".
Nach zwei weiteren Romanseiten lassen sich in dieser wunderbaren Szene neue Stimmungen in Gruschenjka erkennen und leuchtende Perspektiven ahnen. An dieser Stelle müssen wir eine Bemerkung einschalten: einige Einzelheiten dieser Szene erinnern lebhaft an die stürmische Unterredung zwischen Nastassja Filippowna und Myschkin im "Idioten" und stellen gleichsam eine Wiederholung desselben künstlerischen Motivs dar. Gruschenjka fragt Aljoscha, ob sie den, der sie ins Unglück gestürzt hat, noch liebe, ob sie ihm vergeben würde oder nicht. Vielleicht hat sie in diesen fünf Jahren Geschmack an jener Kränkung gefunden und ihren Hass liebgewonnen. "Entscheide du, Aljoscha, jetzt ist es Zeit, wie du bestimmst, so wird es geschehen. Soll ich ihm vergeben, oder soll ich ihm nicht vergeben?" Aljoscha antwortet lächelnd: "Du hast ihm doch schon vergeben." Ihre Erbostheit zittert in der Tat nur noch in ihren Nerven, aber im Herzen liebt sie ihren Verführer. "Ja, ich habe ihm wirklich vergeben," entgegnet Gruschenjka nachdenklich. "Was für ein niedriges Herz! Ich trinke auf mein niedriges Herz!" Sie ergriff ein Glas, leerte es bis auf den Grund, hob es in die Höhe und warf es mit Wucht zu Boden. Die Scherben klirrten. — Der hellseherische Aljoscha hatte ihr die Wahrheit gesagt. Ihr Herz liebt den Pan Mussjalowitsch trotz seiner augenscheinlichen Gemeinheit; es hat nicht die Kraft, sich von diesem gemeinen, doch geliebten Mann abzuwenden, denn es ist, von Leidenschaft ergriffen, zu jeder Erniedrigung bereit. Sie trinkt auf ihr in der Leidenschaft ohnmächtiges, niedriges Herz und wirft das Glas zu Boden, wie es einst Mitja, als er sich seiner erniedrigenden Leidenschaft zu ihr hingegeben, gemacht hatte. Sie zerbricht im gleichen Augenblick ihren Stolz, etwas Menschliches, etwas Unbegreiflich-Starkes, und im Klirren des zerschellenden Glases ist auch das zitternde Klingen ihrer Seele zu hören, die von unbekannten Elementen zu noch unbekannten Ereignissen getragen wird. Sie wird kein Messer mitnehmen, ihr Herz ist für echte innere Tragödien offen: das Herz ahnt schon etwas, es hat etwas Neues von außen, aus den Worten Aljoschas wie aus seinem Innern vernommen. Die "Estafette" ist angekommen, und Gruschenjka eilt nach Mokroje, "wie berauscht", aber von viel größerer Kraft erfüllt, als sie sich dessen bewusst ist. Aljoschas Gesicht bleibt in ihrer Seele, einzelne Funken leuchten in ihr noch auf, und im letzten Augenblick schreit sie mit einer von Schluchzen erstickten Stimme, dass sie wohl ein "Stündlein" gehabt, wo sie Mitja, den in allen seinen Karamasowschen Leidenschaften edlen Mitja geliebt habe. Dieses "Stündlein" war eben das erste spürbare Moment in ihren beginnenden Wandlungen, der erste Durchblick in eine andere Zukunft.
In Mokroje erlebt Gruschenjka tatsächlich eine augenblickliche Enttäuschung am Pan Mussjalowitsch, der in den fünf Jahren dick und trivial geworden ist, und zeigt nun ihre ganze geistige Schönheit. Sie erklimmt schnell die Höhe, die man nur mit einem einzigen mächtigen Anlauf, aber niemals mit allmählichen prosaischen Bemühungen ausgeklügelter Tugend erreichen kann. Kaum ist die Binde von ihren Augen gefallen, kaum hat sie eingesehen, wer der neue, echte und von jetzt ab ewige Held ihres Herzens ist, als sie in neue Ekstasen gerät und von nun an sich selbst und ihre Umgebung nur durch diese Ekstasen hindurch sieht. Sie trinkt Champagner und gibt ihrem "Falken" Mitja zu verstehen, wen sie jetzt liebt. Es beginnt ein Trinkgelage, das wie ein Delirium ist, ein Bacchanal, in dem aber die zärtlichen Töne verzückter Rührung erklingen. Alles tanzt um sie her; Gruschenjka sitzt, vom Wein und ihrer Stimmung berauscht, im Sessel, ihre "liebevollen heißen Blicke" unverwandt auf Mitja gerichtet. Wir stehen vor einer Illusion, die die Kunst des größten Künstlers geschaffen hat: Gruschenjka sitzt mitten im allgemeinen Tanz unbeweglich im Sessel, und man hat trotzdem den Eindruck, als ob auch sie unter den anderen, mit den kaum merklichen Bewegungen eines Schwanes ein weißes Tüchlein in der Hand schwingend, den Nationaltanz tanzte. Mitja geht jeden Augenblick auf sie zu, entfernt sich und kehrt immer wieder zurück; sie selbst ist aber von einer solchen Erregung, von einem so leidenschaftlich pulsierenden Leben erfüllt, dass der Leser sie gleichsam in der rhythmischen Bewegung des Tanzes empfindet. In diesem Bacchanal ist ihre ganze selige Seele zu sehen. Der Wein hat diese Seele aus der Tiefe heraufbeschworen; der Wein, das alte, doch ewig junge Getränk, ohne das kein Mensch auskommen kann, der Vergessen im Leide und Trost in der Trauer sucht und in der Ekstase das Aufleuchten ferner Sterne sehen will. In dieser Ekstase, von der sie ergriffen ist, erscheint ihr alles des Mitleids und der Liebe wert. Sie sieht die Welt ebenso, wie sie in Wirklichkeit ist, wie man sie niemals durch die trübe Brille der Vernunft, sondern nur im Lichte einer wahnsinnigen bacchantischen Inbrunst sehen kann. Wenn Gruschenjka aus ihren bisherigen Stimmungen in neue tritt, wird sie auch den neuen Weg bis ans Ende gehen. "Wenn ich Gott wäre, würde ich allen Menschen vergeben," sagt sie. "Ihr meine lieben, kleinen Sünder, würde ich sagen, von heute ab vergebe ich euch allen ... Ein Scheusal wie ich will beten! Mitja, lass sie tanzen, störe sie nicht. Alle Menschen auf der Welt sind gut, alle bis auf den letzten . . . Es ist schön, in der Welt zu leben . . . Wenn wir auch schlecht sind, es ist doch schön auf der Welt. Schlecht und gut sind wir, schlecht und gut . . ." In ihrem Delirium, in ihrem Rausch ist wirklich das Leuchten ferner Sterne. Sie verschmilzt innerlich mit der ganzen Menschheit, deren Böses sie sieht, aber durch ihre durchgeistigte Vergebung überwindet. In ihrem Herzen vollzieht sich der religiöse Kult der Vereinigung mit allen Menschen, und die Welttragödie des Kampfes zwischen der: infernalen und himmlischen Mächten erstirbt um sie her in der tiefen Rührung vor dem Leben als Ganzes, vor dem Leben in seiner Herrlichkeitsfülle. So ist der Rausch Gruschenjkas beschaffen, und das hat der Rausch für tiefe Seelen zu bedeuten. "Rein, sagt mir, ich frage euch, kommt alle her, ich frage euch, antwortet mir alle auf die Frage: Warum bin ich so gut? Ich bin doch gut — bin sehr gut . . . Run, darum also: Warum bin ich so gut?" Plötzlich hat sie inmitten der allgemeinen ausgelassenen Freude sich selbst in ihrer wahren Tiefe erblickt, in der Tiefe, in der alle Seelen gut, in der alle in ihrer Kleinheit groß sind, in der alle eine unsichtbare Liebkosung, eine liebevolle Berührung der Gottheit empfinden. Aus dieser lichten Tiefe erblickt Gruschenjka die ganze Welt und alle Menschen in dieser Welt, Und sie will tanzen. "Sie warf den Kopf in den Nacken, ihre Lippen öffneten sich halb, sie lächelt, schwenkte schon das Taschentuch und plötzlich — wankte sie und blickte sich verwundert im Kreis um." Dem Leser genügt es aber schon, sie einen einzigen Augenblick in dieser Tanzstellung zu sehen, damit die ganze vorhergehende Illusion — das Gesicht der tanzenden Gruschenjka — durch einen realen Pinselstrich vollendet wird. Das ist auch alles, was der Künstler will.
Diese Szene, die dem Beginn der schweren Prüfungen für Dmitrij Karamasow vorangeht, endet mit einigen blendenden Lichteffekten. In der ganzen russischen Literatur kann man nichts finden, was an poetischer Schönheit dieser Stelle im Roman Dostojewskijs gleichkäme. Es ist die Halluzination eines russischen Genius, einer russischen Seele, die die frostigen Weltenräume mit eigenem Klange erfüllt. Im Rausch der Leidenschaft, die jedoch den verfeinerten inneren Anstand nicht außer Acht lässt, lallt Gruschenjka: "Was ist uns Geld? Wir würden es ohnehin durchbringen ... Wir wären die Rechten, die es halten könnten." Ein herrlicher Zug, der die bisherigen schweren Zweifel des Lesers löst: Gruschenjka, die Ersparnisse hat und in Geldsachen Bescheid weiß, ist gar nicht geizig. Ihre boshafte Gier und ihr Geiz waren nur eine Rache an der Gesellschaft für ihre Schutzlosigkeit. "Wir beide wollen lieber gehen und die Erde pflügen. Mit diesen meinen Händen will ich die Erde aufscharren ... Ich werde dir nicht Geliebte sein, ich werde dir treu sein, werde deine Sklavin sein, werde für dich arbeiten." Welchen Genuss schafft hier der Künstler für die Seele des Lesers: die Schönheit verzichtet freiwillig auf ihren Stolz, um sich einem Arbeitsleben zuzuwenden. Es gibt in der Welt keinen größeren, keinen herrlicheren Effekt. "Meinetwegen auch nach Sibirien, wenn du willst, mir soll's recht sein . . . einerlei . . . wir werden arbeiten ... in Sibirien ist Schnee . . . Ich liebe es, im Schlitten über Schneefelder zu fahren . . . Das Pferd muss eine Glocke am Krummholz haben ... Weißt du, wenn in der Nacht der Schnee schimmert und der Mond scheint, ist es mir, als ob ich nicht auf der Erde wäre." Gruschenjka hört in ihrer Versunkenheit das Klingen der nahenden Schlittenschellen — Polizei- und Gerichtsbeamte kommen gefahren, um Mitja zu verhaften, sie aber gibt sich ihren schönsten Träumen hin: sie fährt mit dem Geliebten über ein weißes Schneefeld bei Mondlicht und bei Schellengeläute. Sie liebt den Schnee und die Schellen, und wenn der Schnee schimmert, ist es ihr, als ob sie nicht auf der Erde wäre. Das weiße, stille und grelle Licht und die grenzenlose Weite der Ebene entführen sie in eine Märchenwelt, in ein Reich phantastischer Visionen.
Gruschenjkas infernale Linie verschwindet, und vor den Augen des Lesers ersteht in ihr schnell ein anderes Element. Sie weiß noch nicht, dass Mitja unschuldig ist, im Gegenteil: bei der ersten Nachricht von der Katastrophe glaubt sie wie alle, er sei der Mörder. Aber sie entschließt sich sofort, sein Los zu teilen, da sie sich an allem schuld fühlt. Sie wirst sich dem Polizeichef zu Füßen und schreit: "Richtet uns zusammen hin, ich gehe mit ihm selbst in den Tod!" Das infernale Weib verwandelt sich augenblicklich in eine Mitmärtyrerin, beinahe in eine Heilige. Sie hält die Äußerungen ihres Schmerzes nicht zurück, ihre Bewegungen sind von einem tragischen Schwung und zeigen, dass ihr ganzes Wesen, Leib und Seele, von heroischer Entschlossenheit erfüllt ist. Der dem Verhör beiwohnende Polizeichef ist von ihrer Märtyrerstimmung ganz gerührt. "Sie hat ja ein christliches Herz," sagt er, "jawohl, meine Herren, sie ist eine fromme Seele, die keine Schuld kennt." Nicht nur für Mitja, sondern für alle, die sie sehen, strahlt sie auf ihrer neuen Höhe in reinstem Licht. Während der Voruntersuchung benimmt sie sich mit echter Selbstbeherrschung und Würde. Der angeborene Stolz spricht aus der vornehmen Zurückhaltung ihrer Bewegungen, aus dem ernsten Ausdruck des strengen Gesichts. Sie hüllt sich in ihren schönen schwarzen Schal und — eine kleine doch bedeutungsvolle Einzelheit — dieser teure Schal ruft die frühere Gestalt der infernalen Gruschenjka in Erinnerung, die mit der neuen Gruschenjka gleichsam zusammenfließt. Nun kommt eine kurze, doch an moralischer Schönheit wunderbare Szene. Während des Verhörs Gruschenjkas erhebt sich Mitja plötzlich von seinen: Stuhl und sagt: "Agrafena Alexandrowna, glaube Gott und mir: an dem Blut meines gestern erschlagenen Vaters bin ich nicht schuldig!" Als Gruschenjka diese feierlichen Worte hörte, erhob sie sich gleichfalls, wandte sich zur Ecke, in der das Heiligenbild hing, und bekreuzigte sich andächtig. "Gelobt seist Du, mein Herr und Gott!", sagte sie mit großer Inbrunst und tief erschütterter Stimme. "Glauben Sie dem, was er soeben gesagt hat!" Dieses fromme Zeichen des Kreuzes ist der unmittelbare Ausdruck ihres Glaubens. Als sie in der Szene mit Aljoscha vom Tode Sossimas hörte, bekreuzigte sie sich ebenso fromm. Während der Orgie zu Mokroje "winkte Gruschenjka ab und zu eines der Chormädchen zu sich heran, küsste sie oder machte mit der Hand das Zeichen des Kreuzes über sie": eine reflektorische, von Kind auf gewohnte Geste, welche zeigt, dass in ihrer Seele selbst die Ausgelassenheit sich zu einer religiösen Ekstase vertieft. Die Erleichterung, die sie empfindet, als sie von der Unschuld Mitjas hört, hat gleichfalls einen höheren Sinn und findet unwillkürlich im Zeichen des Kreuzes ihren Ausdruck; es ist wie ein stummes Dankgebet. Eine ganze Weltanschauung, und zwar eine tragische Weltanschauung kommt in diesem plastischen Symbol zum Ausdruck; in Gruschenjka geschieht dies unbewusst, weil sie ganz dem Volkselement angehört. Sie glaubt ebenso unmittelbar an Gott, wie sie unmittelbar an ihren Mitja glaubt. Sie fordert keine anderen Beweise, denn ihre Seele sieht und hört die Wahrheit, die man durch keinerlei Verhör, durch keinerlei äußere prozessuale Mittel aufdecken kann. In dieser Beziehung steht sie auf der gleichen Höhe wie Aljoscha, der gleich ihr von der Unschuld Mitjas überzeugt ist, da er diese Unschuld in Mitjas Gesicht liest. Er blickt durch das Gesicht in Mitjas Seele, und seinem Seherblick erscheinen die materiellen Züge als stumm sprechende Worte. Durch ihren Glauben an die Unschuld Mitjas reißt sich Gruschenjka sofort von der rohen Welt los, vom Alltag mit seiner ohnmächtigen Blindheit und Taubheit gegen die innere Wahrheit, mit seiner Neigung, in den Bergen oberflächlicher und widerspruchsvoller logischer Beweise, in den Haufen juristisch anerkannter Tatsachen, denen aber Seele und Sinn fehlen, herumzuwühlen. Es gibt nichts, was die Menschen mehr entzweit, als gegenseitiges Misstrauen, die Unfähigkeit, von Seele zu Seele zu sprechen. Gruschenjka aber hat die Fähigkeit, in eine fremde Seele auf den ersten Anruf, auf den ersten Hilfeschrei einzudringen, und dadurch strahlt sie unter den blinden und feindlichen Mächten, die sich um Mitja drängen, allein in einem höheren Lichte, in einer höheren Schönheit. Sie spricht ihre unerschütterliche Überzeugung von der Unschuld Mitjas, die sie auf einem den anderen Menschen so seltsam erscheinenden Wege gewonnen hat, auch vor Gericht aus, ohne irgendeinen logischen Beweis anzuführen.
Die wenigen Zeilen, die von ihrem Abschied von Mitja zu Mokroje, bevor er ins Gefängnis abgeführt wird, handeln, haben den gleichen volkstümlich-erhabenen Charakter. "Gruschenjka verneigte sich tief vor Mitja. ,Ich habe dir gesagt, dass ich dein bin und ewig dein bleiben werde. Mit dir gehe ich bis in die Ewigkeit, wohin man dich auch verschicken sollte. Leb wohl, du, der du dich unschuldig zugrunde gerichtet hast!" Ihre Lippen bebten, Tränen blitzten an ihren Wimpern und rollten plötzlich herab." — Die gleichen Kräfte ihrer Natur, die sich bisher in ihrer Infernalität geäußert hatten, werden sie jetzt, in ihrer Liebe zu Mitja nicht zu einer passiven Mitmärtyrerin machen, sondern zu einer wahren Heldin. Ihre frühere satanische Macht und Schönheit werden nach ihrer Wiedergeburt zu einer neuen Macht und einer neuen Schönheit werden.