Das Restaurant am Rande der Zeit - Yuta Takahashi - E-Book

Das Restaurant am Rande der Zeit E-Book

Yuta Takahashi

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Beschreibung

An der fernen Küste Japans steht ein kleines Lokal namens Chibis Kitchen, unscheinbar auf den ersten Blick und doch zieht es verlorene Seelen wie magisch an. Auf der Speisekarte steht ein Gericht, das an keinem anderen Ort der Welt zu haben ist: Eine Suppe, die das Herz erwärmt. Eines Oktobermorgens spaziert Kotoko Niki den Strand des kleinen Küstenortes entlang, das Rauschen der See in den Ohren und ihr Ziel klar vor Augen: Im Chibis Kitchen will sie ihren geliebten Bruder wiedersehen. Denn an diesem außergewöhnlichen Ort wird das Unmögliche möglich. Hier verschmilzt die Welt der Lebenden mit dem Reich der Verstorbenen, hier lässt sich das Herz mit Wiedersehensfreude und Hoffnung füllen. Und Kotoko nutzt ihre Chance.

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Seitenzahl: 224

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ein Fisch, mild und edel im Geschmack. Man findet ihn in ganz Japan in der Nähe felsiger Küsten, die reichlich Nahrung bieten, sowie an Klippen im offenen Meer. Auch an der Uchibō-Bucht der Präfektur Chiba ist er zu finden. Seine Fangsaison ist von Sommer bis Winter. Er schmeckt hervorragend als Sashimi nach Yakishimo-Art, fein gewürzt und am Spieß gegrillt oder als Hauptzutat in einem Nabe-Eintopf.

Möwen am blauen Himmel. Sie kannte sie, diese Art Möwen, aus Bildbänden oder aus dem Fernsehen, doch sah sie die Vögel heute zum ersten Mal in echt. »Maau, maaau …« Ihr Ruf erinnerte wahrhaftig an das Miauen von Katzen, kein Wunder also, dass man sie Umineko, Meereskatzen, nannte. Doch in diesem Ruf lag auch etwas Trauriges. Ein Kätzchen, das sich verirrt hatte?

Die zwanzigjährige Kotoko Niki befand sich in einem Küstendorf in der Uchibō-Bucht der Präfektur Chiba. Sie hatte am frühen Morgen in Tokio den Zug hierhergenommen. Mit den Sandalen im Sand stehend, blickte sie in den Himmel und über das Meer. In einiger Entfernung ging ein schmaler Pfad ab. Er war nicht asphaltiert, sondern vollständig mit weißen Muscheln ausgelegt. Den Informationen zufolge, die Kotoko am Telefon erhalten hatte, musste das Chibis Kitchen am Ende dieses Pfads liegen.

Chibis Kitchen, das kleine Restaurant am Meer, war der Grund, weshalb Kotoko heute früh den weiten Weg aus der Stadt auf sich genommen hatte. Es war noch nicht einmal neun Uhr, und am Strand war noch kein Mensch zu sehen. Auch auf dem Weg vom Bahnhof war Kotoko kaum jemandem begegnet. Wie ruhig es hier doch war. Das kannte Kotoko aus Tokio nicht. »Ein Dorf am Meer …«, flüsterte sie.

Nachdem sie noch eine Weile über den Sandstrand geblickt und den Möwen zugeschaut hatte, betrat sie den weißen Muschelpfad. Das Knirschen ihrer Schritte hallte so laut in die Stille, dass sie fürchtete, damit das ganze Dorf zu wecken.

Obwohl sie schon Mitte Oktober hatten, war das Wetter noch immer sommerlich und die Sonne schien gleißend an einem wolkenlosen blauen Himmel. Kotoko war froh, dass sie ihren Hut dabeihatte. Mit seiner breiten Krempe bot er ihr Schutz vor dem starken Sonnenlicht. Er war weiß und passte perfekt zum ebenfalls weißen Kleid, das sie heute trug. Mit ihrer hellen Haut und dem langen schwarzen Haar stand ihr dieser etwas altmodische Stil gut. »Meine junge Lady aus der Shōwa-Zeit!«, hatte ihr zwei Jahre älterer Bruder Yuito sie oft hochgenommen. Bei diesem Gedanken füllten sich Kotokos Augen unwillkürlich mit Tränen. Nein, nicht etwa, weil sie beleidigt gewesen wäre. Die Tränen kamen, weil Yuito nicht mehr da war.

Yuito war nicht mehr auf dieser Welt.

Vor drei Monaten hatte er gehen müssen.

Und sie war schuld daran.

 

Es war ein Sommerabend zu Beginn der Schulferien. Das neue Buch ihrer Lieblingsautorin war gerade erschienen, und sie beschloss, sich zur großen Buchhandlung am Bahnhof aufzumachen. Natürlich hätte sie es auch online bestellen können, doch um gegen das grassierende Sterben der Buchläden anzukämpfen, kaufte sie Bücher, wenn möglich, im Laden. »Ich bin kurz draußen!«, rief sie ins Wohnzimmer und sprang aus dem Haus. In der Buchhandlung lag der Roman bereits in mehreren Stapeln aus. Sie war offensichtlich nicht die Einzige, die gebannt auf ihn gewartet hatte. Sie schnappte sich ein Exemplar und ging zur Kasse. Als sie wieder aus dem Laden trat, war es kurz nach sechs Uhr. Die orangefarbene Abendsonne blendete sie. Sie blinzelte zum Bahnhof hinüber, da sah sie ihren Bruder auf sich zukommen. »Oh, hey!«, begrüßte sie ihn. Sie waren nicht verabredet, aber die Wahrscheinlichkeit war groß, Yuito hier über den Weg zu laufen. Der Bahnhof lag etwa zehn Gehminuten von ihrem Zuhause entfernt, und wenn sie pünktlich zum Abendessen daheim sein wollten, war es höchste Zeit loszulaufen.

»Na, auf dem Heimweg?«, fragte Yuito ruhig.

»Mhm«, gab Kotoko zur Antwort. Auf dem Weg sagte keiner etwas. Sie verstanden sich zwar gut, zählten aber nicht zu den Geschwistern, die sich ständig über alles austauschten. Sie genossen es, schweigend nebeneinander hergehen zu können, ohne dabei ein ungutes Gefühl haben zu müssen. Kotoko war in Gedanken bei dem Roman, den sie gerade gekauft hatte. Sie konnte es kaum erwarten, zu Hause mit dem Lesen zu beginnen. Es würde ein gemütlicher Abend werden. Als sie etwa fünf Minuten so nebeneinander hergeschlendert waren, kamen sie zu einer schmalen Kreuzung an der Straße, die direkt zum Bahnhof führte und an der es sich häufig staute. Sie standen an der Ampel und warteten. Kotoko schaute nicht zu ihrem Bruder hinüber. Warum auch? Einen Augenblick später wurde es grün. Kotoko lief los, noch immer ohne sich nach Yuito umzudrehen.

Es geschah, als sie den Zebrastreifen etwa zur Hälfte überquert hatten. Kotoko hörte plötzlich ein dröhnendes Motorgeräusch. Sie schaute erschrocken auf. In einem Höllentempo raste ein Auto auf sie zu. Hilfe! Vor Schreck erstarrte sie vollends und konnte sich nicht mehr bewegen, ihre Beine waren wie gelähmt. Sie wollte nur noch ihre Augen schließen. In dieser Sekunde spürte sie einen heftigen Stoß im Rücken. Zunächst glaubte sie, vom Auto erwischt worden zu sein, aber nein, es fühlte sich anders an. Mit voller Wucht schlug Kotokos Körper auf dem gegenüberliegenden Gehweg auf. Ihre Knie waren aufgeschürft. Ihre Ellbogen schmerzten. Doch wie es schien, hatte das Auto sie nicht erwischt. Was war passiert? Benommen drehte sie sich zur Straße um. Da sah sie es. Warum hatte sie ihre Augen nicht geschlossen gehalten? Warum musste sie das sehen?

Es war Yuito gewesen, der sie auf den Gehweg gestoßen, der sie gerettet hatte. Einen winzigen Augenblick bevor das Auto sie erfassen konnte.

»Warum …?«

Niemand hörte ihr Flüstern.

Kotoko war heil davongekommen. Doch für Yuito war es zu spät. Das Auto, das auf den Zebrastreifen zugerast war, hatte ihn erfasst. Er wurde durch die Luft geschleudert, um wenig später, gleich einer Marionette, der man die Fäden abschneidet, wieder auf die Straße zu plumpsen. Dort blieb er in einer unnatürlich verbogenen Haltung reglos liegen und gab kein einziges Zucken von sich. Lautes Hupen von allen Seiten. Irgendwo ein greller Schrei. Passanten begannen zu rufen: »Einen Krankenwagen!«, »Einen Krankenwagen, schnell!«

»He, alles in Ordnung mit dir?« Die Frage war an Kotoko gerichtet. Sie realisierte es, konnte aber nicht antworten. Sie konnte an nichts denken. Ihre Stimme war weg. Die vielen Fragen der Leute drangen nicht zu ihr durch, sie starrte nur auf Yuitos reglosen Körper. »Yuito«, flüsterte sie leise. Sirenen heulten auf. Als der Krankenwagen kam, war ihr Bruder bereits tot.

 

Kotoko ging den mit Muscheln gepflasterten Pfad entlang. Ihre Augen füllten sich immer mehr mit Tränen, die Landschaft um sie herum verschwamm. Seit Yuitos Tod konnte sie nicht aufhören zu weinen. Unaufhörlich liefen ihr Tränen über die Wangen. Doch jetzt wollte sie das nicht. Es wäre peinlich, so verheult im Restaurant aufzutauchen. Wenn sie nicht rasch aufhörte, wären ihre Augen gleich völlig verquollen. Kotoko blieb stehen und warf ihren Kopf in den Nacken. Sie blickte in den Himmel. Das grenzenlose Blau umhüllte sie wie eine Umarmung. Nur langsam beruhigte sie sich. Sie schaute auf die Armbanduhr. Schon so spät? Die Reservierung! Jetzt aber los, dachte sie und schritt entschlossen voran, als ihr plötzlich ein heftiger Windstoß den Hut vom Kopf blies. Bei diesem heiteren Wetter war sie darauf nicht gefasst gewesen. »Oje … was nun?« Ihr weißer Hut wirbelte hoch in den Himmel und segelte Richtung Meer. Ernüchtert sah sie ihn bereits irgendwo ins Wasser fallen. Sie hatte zwei Möglichkeiten. Entweder sie rannte ihm nach, oder sie ließ es bleiben und würde ihn damit für immer verlieren. Aber sie mochte diesen Hut doch! Nein, sie konnte das nicht einfach geschehen lassen! Obwohl sie noch nie eine gute Sprinterin gewesen war, spurtete sie dem Hut hinterher. Doch was war das? Plötzlich bemerkte sie, wie der Schatten eines jungen Mannes an ihr vorbeizog. Versuchte er etwa, ihren Hut zu fangen? Diese Frage kam Kotoko jedoch erst später. Zu sehr erschrak sie bei seinem Anblick. Er sah von hinten wie Yuito aus! Dieser hohe, gerade Rücken, schlank und doch muskulös. Auch das halblange Haar war das ihres Bruders. »Yuito …«, rief sie zaghaft, doch ihre Stimme verlor sich im Wind. Der junge Mann blickte nicht zurück, sondern sprang hoch ins Sonnenlicht. Wie wunderschön seine Silhouette aussah. Wie ein Engel mit Flügeln am Rücken, dachte sie. Yuito! Das ist Yuito! Ihr Bruder war aus dem Jenseits zurückgekehrt. Auf dem ganzen Weg hierher hatte sie nur an ihn gedacht, ja, sie war hergekommen, um ihn wiederzusehen, um dieses Wunder zu erleben. War es wirklich geschehen? Ein größeres Glück konnte es nicht geben!

Doch natürlich war dem nicht so. Es war kein Wunder geschehen, wie sie gleich erfuhr.

Der junge Mann schaffte es tatsächlich, den Hut einzufangen, der bereits fast über dem Wasser segelte. Er schnappte ihn mit der rechten Hand und landete galant im Sand. Dann drehte er sich zu Kotoko um. Jetzt erst konnte sie sein Gesicht sehen. Er musste, wie auch Yuito, etwa Anfang zwanzig sein, doch sah er überhaupt nicht aus wie ihr Bruder. Während Yuito ein männliches, markantes Gesicht hatte, dem die Sonnenbräune stand, hatte dieser junge Mann etwas Knabenhaftes an sich. Seine Züge waren fein und zierlich, seine Haut schneeweiß, fast durchsichtig. Auf der Nase trug er eine teuer anmutende Brille mit dünnem Rahmen. Kotoko fragte sich, ob das nicht eher eine Frauenbrille war, doch zu seinem Gesicht, das nicht männlich, aber auch nicht weiblich war, passte sie irgendwie. Der Held eines Shōjo-Mangas …, ging es Kotoko durch den Kopf. Ja, er hatte die grazilen Züge eines jener Helden, in die sich die Protagonistinnen in diesen Mangas mit vor allem junger und weiblicher Leserschaft Hals über Kopf verliebten. Er kam auf Kotoko zugelaufen und streckte ihr den Hut hin. »Bitte sehr«, sagte er.

Seine Stimme war so auffallend sanft wie seine Gesichtszüge. Er kam ihr seltsam bekannt vor … Doch sie fasste sich. Erst einmal sollte sie sich bei ihm bedanken.

Schnell verbeugte sie sich und nahm den Hut entgegen.

»Danke.«

Sie hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie so völlig in die Gedanken an ihren Bruder abgedriftet war, während dieser Mann ihr ihren Hut zurückgeholt hatte. Woher kam er überhaupt? Die Frage, die er ihr stellte, verwirrte sie dann erst recht:

»Sie sind Frau Kotoko Niki, richtig?«

Er kannte ihren Namen? Aber sie sahen sich doch gerade zum ersten Mal.

»Ja, schon … Und Sie sind …?«, stotterte Kotoko.

Nachdem er sich tief und lang verbeugt hatte, stellte er sich ihr vor.

»Aufrichtigen Dank für Ihre Reservierung. Verzeihen Sie, dass ich mich erst jetzt vorstelle. Mein Name ist Kai Fukuchi vom Restaurant Chibis Kitchen.«

Kotoko hatte gedacht, sie wäre diejenige, die immer so überanständig war, doch dieser Mann, dem die elegante Brille mit den dünnen Rändern gar nicht schlecht stand, übertraf sie bei weitem. Er war also vom Restaurant, zu dem sie gerade gehen wollte. Auf einmal wusste sie auch, warum seine Stimme ihr so bekannt vorkam. Er war am Telefon gewesen, als sie angerufen hatte, um den Tisch zu reservieren.

 

Nach Yuitos Beerdigung versank das Haus der Familie Niki im Dunkeln. Die Lampen waren eingeschaltet und verbreiteten doch kein Licht. Kotoko und ihre Eltern verfielen in ein langes Schweigen, das noch immer schwer auf ihnen lag, auch wenn die Eltern von Natur aus bereits ruhige Menschen waren. Der Vater arbeitete in einer kleinen Volksbank nicht weit von zu Hause, die Mutter jobbte im Supermarkt. »Sind bestimmt total nett, deine Eltern«, bemerkten Kotokos Freunde alle, wenn sie sie zum ersten Mal besuchen kamen. Tatsächlich hatte Kotoko ihre Eltern noch nie wütend oder außer sich erlebt. Yuito, der von klein auf in der Schule brilliert hatte, war ihr großer Stolz gewesen. Auch beim Sport hatte er alle beeindruckt, und in der Mittelschule war er sogar zum Schulsprecher ernannt worden. Als wäre es das Natürlichste der Welt, nahm ihn dann das Gymnasium mit dem höchsten Notendurchschnitt der Region auf, und drei Jahre später schaffte es Yuito auf Anhieb in den Jura-Studiengang einer der renommiertesten Privatuniversitäten Tokios. Alles lief wie am Schnürchen, und jeder nahm an, dass Yuito nach seinem Abschluss eine Karriere als Polizeibeamter oder Anwalt angehen würde.

Doch es kam anders. Nicht einmal ein Jahr nach Beginn seines Studiums verkündete Yuito, dieses wieder abbrechen zu wollen. Kotoko hatte diese Nachricht ziemlich überrascht, doch bei ihren Eltern saß der Schock noch viel tiefer.

»Was ist bloß in dich gefahren?«, »Bist du dir bewusst, was du da tust?«, bombardierten sie ihn mit Fragen. Ihre blassen Gesichter zeigten nur zu gut, dass sie den Entschluss ihres Sohnes nicht akzeptierten. Yuito aber blickte ihnen unbeirrt in die Augen.

»Ich will ans Theater!«, verkündete er dann.

Yuito hatte sich nach der bestandenen Aufnahmeprüfung der Uni im kleinen Theater ihres Stadtteils vorgestellt und von da an regelmäßig an den Proben teilgenommen. Doch dass er dafür sein Studium abbrechen würde, hätten weder Kotoko noch ihre Eltern jemals gedacht.

»Kannst du das Theaterspielen denn nicht neben dem Studium verfolgen, als Hobby?«, fragte der Vater fassungslos. Kotoko verstand seine Reaktion. Welche Eltern würden schon gern mit ansehen, wie ihr Sohn sein hart erarbeitetes Studium gleich wieder abbrach?

»Nein. Ich kann es nicht einfach nebenher tun, Papa. Ich will mich mit Herzblut hineingeben, ich will Schauspieler werden!«

»Schauspieler? Beruflich? Yuito, nun mal Halt! Das kann doch nicht dein Ernst sein, oder?«

»Doch!« In Yuitos Stimme lag feste Entschlossenheit.

»Bist du dir bewusst, dass das ein steiniger Weg ist, Yuito?«, dieses Mal war es die Mutter, die sich besorgt einbrachte. Auch ihre Bedenken waren für Kotoko nachvollziehbar. So genau kannte sie sich nicht aus, aber bekanntlich schafften es nur eine Handvoll angehender Schauspieler zum Erfolg. Das Studium zu Ende zu führen und Jurist zu werden wäre fraglos der sicherere Weg für Yuito.

Doch dieser blieb standhaft.

»Mir ist klar, dass es hart sein wird. Aber ich will mich der Aufgabe stellen!«

In seiner Stimme war kein Zittern, keine Spur von Unsicherheit zu spüren. Yuito sah seinen Weg in aller Deutlichkeit vor sich. »Mama, Papa, man lebt nur einmal. Ich will nichts bereuen!«

Am Ende schaffte er es, die Eltern mit einem Deal zu überzeugen: Er versprach ihnen, innerhalb von drei Jahren seinen ersten Erfolg als Schauspieler zu erzielen. Dazu würde er auch versuchen, eine Rolle in einer Fernsehserie zu bekommen. Sollte ihm das nicht gelingen, würde er erneut die Aufnahmeprüfung an der Uni ablegen und Beamter werden. Endlich willigten die Eltern ein. Vielleicht, weil sie keinen Sinn mehr darin sahen, ihren so felsenfest überzeugten Sohn umzustimmen. Vielleicht aber auch, weil sie sich ziemlich sicher waren, dass er sowieso bald Beamter werden würde. Wenn Kotoko ehrlich war, dachte sie nicht anders. Ein erfolgreicher Schauspieler? In Fernsehserien auftreten? Das klang alles sehr utopisch.

Doch es vergingen keine drei Jahre, und Yuito feierte tatsächlich seine ersten Erfolge. In dem Jahr, in dem Kotoko ihre Aufnahmeprüfung an der Uni ablegte, wurde Yuito aus einer Reihe von Kandidaten für die Hauptrolle eines Theaterstücks ausgewählt. Nur ein Jahr darauf castete man ihn für eine Fernsehserie, in der er den guten Freund des Vaters der Hauptfigur spielen sollte. Diese prominente Rolle katapultierte ihn als neuen Star in den Schauspielhimmel und brachte ihn in Zeitschriften und Illustrierte. Noch bevor die Serie überhaupt ausgestrahlt wurde, trat er regelmäßig in Fernsehshows auf.

»Na, wenn das keine Leistung ist!« Der Vater hatte Yuitos Entscheidung akzeptiert, und die Mutter schnitt jeden Artikel über ihn aus den Zeitungen aus und hütete ihn wie einen Schatz. Voller Vorfreude erwarteten die beiden den Beginn der Serie. Auch Kotoko war stolz auf ihren Bruder, vor allem, weil sie genau wusste, wie sehr er sich angestrengt hatte. Gewiss hatte Yuito Talent, doch er hatte auch geübt wie kein anderer. Kotoko wusste nur zu gut, wie viel Blut und Schweiß es ihn nach dem Abbruch des Studiums gekostet hatte, um es bis hierher zu schaffen. Wie viele Stunden er bereits damit verbracht hatte, auf dem Spielplatz seine Sprechübungen zu machen.

»Man lebt nur einmal, ich will nichts bereuen!«, das war sein Spruch gewesen.

Und nun?

Nach Yuitos Tod ging das Leben für Kotoko und ihre Eltern weiter. Statt zu viert nun nur noch zu dritt. Um Kotokos Leben zu schützen, hatte einer von ihnen gehen müssen. Hätte Yuito sie an jenem Abend nicht vor dem Auto gerettet, wäre sie jetzt fraglos tot. Doch er würde weiterleben! Nein, Kotoko wollte dieses Leben nicht, dessen Preis das Ende eines anderen war, sie wollte nicht ein Leben annehmen, für das ihr Bruder das seine hergeben musste.

 

Yuito war ein beliebter Schauspieler gewesen und hatte viele Fans. Kotoko wusste das, denn sie verbrachte viel Zeit im Theater, diese Welt interessierte auch sie. Sie sah sich Yuitos Vorführungen an und wohnte häufig den Proben bei. Auf Anfrage des Theaterleiters stand sie sogar einige Male selbst auf der Bühne, da dem kleinen Theater ständig Schauspieler fehlten, besonders für die Statistenrollen, wie etwa vorbeigehende Passanten. Eines Tages, nach ihrem zweiten kleinen Auftritt, rief sie der Theaterleiter – von allen Kumagai genannt – zu sich.

»Du hast eine besondere Gabe, Kotoko.«

Kumagai war ein großer, stämmig gebauter Mann. Das Wort Kuma, Bär, in seinem Nachnamen passte gut zu ihm. Mit seinem buschigen Bart hätte man ihn für vierzig oder sogar fünfzig halten können, doch war er in Wahrheit keine zehn Jahre älter als Yuito. Obwohl sein Äußeres etwas Furchterregendes hatte, wegen dem sogar eine Bande halbstarker Jungs die Straßenseite wechseln würde, strahlten seine warmen Augen und sein brummendes Lachen eine immense Gütigkeit aus. Kumagai hatte dieses Theater ins Leben gerufen, er war es, der Yuitos Talent entdeckt und es auch Kotoko ermöglicht hatte, auf der Bühne zu stehen. Dieser Mann hatte irgendetwas an sich, das einem Mut gab und einen mitriss.

»Ich? Aber …«, Kotoko hatte doch bislang nur stumme Passantinnen gespielt. Sie dachte, Kumagai nehme sie auf den Arm. Doch sein Gesicht blieb ernst.

»Die Bühne beginnt zu leuchten, wenn du da oben stehst, Kotoko. Du sagst vielleicht keinen Text auf, doch allein durch deine Haltung, deine Präsenz wird etwas lebendig.«

Noch nie zuvor hatte das jemand zu ihr gesagt. Sie war schon immer schüchtern gewesen und hatte sich als Kind, anders als Yuito, am liebsten in ihr Winkelchen zurückgezogen, das wussten alle um sie herum. Doch Kumagai hörte nicht auf, sie zu loben. »Ich würde sogar behaupten, dass du eine stärkere Ausstrahlung hast als Yuito.« Sein Blick blieb weiter ernst. Und auf einmal stimmte ihm jemand zu. Es war Yuito selbst, der die ganze Zeit schweigend danebengestanden hatte.

»Die Hauptrolle habe ich gespielt, aber das Publikum hat nur auf dich geschaut«, sagte er.

»Ach Quatsch! Das war doch nur, weil ich so unbeholfen war.«

»Nein. Es war, weil du sie verzaubert hast, Kotoko. Als einfache Passantin die Herzen der Zuschauer zu berühren, das muss man erst einmal schaffen.«

»Ach, hör auf!«

Als sich Kotoko verärgert aufbäumte, zuckte Yuito nur mit den Schultern. Genervt wollte sich Kotoko weiter wehren, als Kumagai wieder das Wort ergriff.

»Kotoko, willst du es nicht versuchen? Du würdest Yuito vielleicht sogar übertreffen.«

»Nein … das kann ich nicht«, lehnte Kotoko reflexartig ab.

Sie liebte das Theater, aber sie konnte das alles nicht glauben. Außerdem hätte sie niemals den Mut gehabt, eine solche Laufbahn einzuschlagen. Sie war glücklich damit, im Schatten von Yuito auf der Bühne stehen zu dürfen; diese stummen Nebenrollen passten doch perfekt zu ihr. Sie war am Theater, weil Yuito da war, nur deshalb.

Nach seinem Tod ging sie nicht mehr hin. Aber auch die Vorlesungen an der Uni besuchte sie nicht mehr. Sie wollte nichts mehr tun, verbrachte die Tage in ihrem Zimmer. Wenn sie rausging, dann nur zum Grab ihres Bruders.

 

Den Rat, zu diesem Dorf am Meer zu fahren, gab ihr Kumagai, der auch privat mit Yuito befreundet gewesen war. An freien Tagen waren die beiden manchmal mit Kumagais Motorrad zum Angeln gefahren, nicht selten auch an etwas weiter entfernte Strände. Kotoko begegnete Kumagai auf dem Friedhof wieder. Er stand mit geschlossenen Augen vor Yuitos Grab. Sie hatte keine Lust, ihm zu begegnen, doch jetzt kehrtzumachen wäre auch komisch gewesen, und überhaupt fehlte ihr die innere Kraft dazu. Kumagai hielt inne, er hatte sie bemerkt.

»Ist lange her«, grüßte er, als sie näher kam.

»Vielen Dank für damals«, erwiderte Kotoko und wollte der Unterhaltung möglichst schnell ein Ende bereiten, doch Kumagai begann sich nach ihr zu erkundigen.

»Isst du auch genug?«, fragte er. Bestimmt hatte er Kotokos eingefallene Wangen bemerkt. Seit Wochen hatte sie keinen Appetit mehr. Damit sie nicht umkippte, zwang sie sich, regelmäßig etwas zu sich zu nehmen, aber es gab auch Tage, an denen sie keinen Bissen hinunterbrachte.

»Ja, tue ich, danke«, gab sie zur Antwort. Das brauchte Kumagai ja nicht zu wissen. Wozu auch?

Kumagai fragte nicht weiter. Wie um vor seinem besorgten Blick zu fliehen, wandte sich Kotoko schnell ihrem Familiengrab zu. Es war ein schönes Grab, in dem bereits Vorfahren mehrerer Generationen ruhten. Kotokos Eltern kümmerten sich gut darum. Der Grabstein war blank poliert und ohne jeden Schmutz. Kotoko sah ihre Eltern vor sich, wie sie ihn mit einem Lappen sauber wischten. Vielleicht mit Tränen in den Augen. Ihr Sohn, ihr ganzer Stolz, war nicht mehr da.

Er hätte mich nicht retten sollen.

Fast hätte Kotoko, immer noch zum Grabstein gewandt, diesen Satz laut ausgesprochen. Es zerriss ihr das Herz, dass sie lebte und er nicht. Sie fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Als sie gerade damit kämpfte, den Kloß im Hals runterzuschlucken und nicht loszuheulen, drang Kumagais Stimme wieder an ihr Ohr.

»Hast du schon einmal vom Chibis Kitchen gehört?«

Kotoko war so überrumpelt von der Frage, dass der Kloß von selbst verschwand.

»Ein … Restaurant?«, riet sie zögernd aufgrund des Wortes »Kitchen«.

»Na ja, Restaurant … Ganz etwas Einfaches, du weißt schon. Ein Bistro am Strand mit Tagesgerichten und so. Liegt in einem Dorf in der Uchibō-Bucht. In Chiba. Hast du wirklich noch nie von dem Laden gehört?«

Kotoko hörte tatsächlich zum ersten Mal davon. Überhaupt reiste sie so gut wie nie nach Chiba. Als Yuito noch gelebt hatte, waren sie vielleicht ein- oder zweimal im Jahr zum Disneyland in der Präfektur gefahren, aber das war es auch schon. Sie konnte sich jedenfalls nicht erinnern, in Chiba jemals ein Bistro in einem Dorf am Meer besucht zu haben.

Als Kotoko den Kopf schüttelte, begann Kumagai zu erklären: »Yuito und ich sind nach dem Angeln einige Male dort gewesen. Der Laden wird von einer Frau um die fünfzig geführt … bildhübsch.« Er hielt kurz inne und fügte dann hinzu: »Ihre Spezialität ist das Gericht von damals, wie sie es nennt.«

»Ein Gericht von damals …«

»Ein Kagezen sozusagen«, erklärte Kumagai.

Das kannte Kotoko. Mit Kagezen hatte man ursprünglich das Gedeck für ein Familienmitglied, das für längere Zeit von zu Hause fort war, bezeichnet. Es war Brauch, für diesen abwesenden Menschen ebenfalls den Tisch zu decken, als Zeichen, dass man an ihn denkt. Heute war mit Kagezen aber meist das Gericht gemeint, das man bei der buddhistischen Totenmesse für die verstorbene Person auftischte. Auch Kumagai sprach wohl eher von der zweiten Bedeutung. Während Yuitos Totenwache sowie beim Gedenkmahl nach seiner Beerdigung war jeweils auch für ihn gedeckt und serviert worden.

»Während du im Chibis Kitchen dein Gericht von damals isst, kannst du die Stimme eines dir lieben Menschen hören und ihm noch einmal ganz nah sein, heißt es«, sagte Kumagai.

»Eines mir lieben Menschen …«, murmelte Kotoko anstandshalber, doch sie verstand nicht ganz, was Kumagai ihr sagen wollte.

»… der nicht mehr da ist«, fügte er hinzu.

»Wie?«

»Ja, du kannst dabei die Stimme eines verstorbenen Menschen hören. Es kann sogar sein, dass du ihn siehst.«

»Einen verstorbenen Menschen sehen?«

»Verstehst du nicht?«

Kotoko schüttelte den Kopf.

»Wenn du hingehst, kannst du vielleicht noch einmal mit Yuito sprechen.«

Das konnte doch nicht sein. Würde das nicht jeder für einen schlechten Scherz halten? Doch Kumagai blickte sie ernst an. Nein, er log nicht, das konnte sie in seinen Augen sehen. Kumagai, Yuitos Mentor und Freund. Während Yuitos Beerdigung hatte er heftiger geweint als alle anderen. Kotoko spürte, dass er die Wahrheit sagte. Wie märchenhaft diese Sache auch klang, sie wollte ihm glauben.

»Kann ich meinen Bruder wirklich wiedersehen?«

»Es kann sein, Kotoko. Genau weiß ich es auch nicht.«

Das war Kumagais knappe Antwort, doch sie reichte ihr. Entschlossen fragte sie jetzt:

»Können Sie mir mehr über dieses Chibis Kitchen erzählen?«

Plötzlich hatte sie ganz vergessen, dass sie eigentlich hergekommen war, um Yuitos Grab zu besuchen.

 

»Chibis Kitchen, guten Tag«, sagte eine junge Männerstimme am anderen Ende der Leitung. Damals wusste Kotoko noch nicht, dass er Kai hieß. Es war die Nummer, die Kumagai ihr auf dem Friedhof aufgeschrieben hatte.

»Ich … ich würde gern reservieren.«

»Gern. Allerdings haben wir immer nur morgens bis zehn Uhr geöffnet. Passt das für Sie?«

»Morgens?«

»Ja. Bis zehn Uhr. Geht das?«

»Ja … das passt.«

Dann musste das also etwas wie ein Bistro sein, das Frühstück serviert. Kagezen in einem Bistro? Irgendwie ergab das alles wenig Sinn, doch was wusste sie schon, schließlich war jeder Restaurantbesitzer frei darin, sein Angebot so zu gestalten, wie es ihm passte. Wenn sie den ersten Zug am Morgen erwischte, würde sie rechtzeitig dort sein.

»Gern, dann notiere ich das so«, sagte der junge Mann, wobei Kotoko auffiel, wie allzu förmlich, ja fast schon altbacken er sprach. Die Stimme, die durch den Hörer drang, war sanft und strahlte eine Ruhe aus, die sich auf Kotoko übertrug. Sie fühlte, dass sie jetzt ihr Anliegen äußern konnte, ohne nervös zu werden.

»Ich würde gern ein Gericht von damals bestellen.«

»Selbstverständlich.«

Umgehend nahm der junge Mann ihren Wunsch entgegen. Kotoko gab ihm ihren Namen und ihre Telefonnummer durch. Nachdem er sich beides notiert hatte, fragte er plötzlich, als hätte er beinahe etwas Wichtiges vergessen:

»Wir haben eine Katze in unserem Restaurant. Ist das in Ordnung für Sie?«

Vielleicht war das ihr Maskottchen. Und ob der Name der Katze wohl »Chibi« war?

»Das ist überhaupt kein Problem«, versicherte sie ihm, da sie weder etwas gegen die Vierbeiner hatte noch allergisch auf sie reagierte.

»Das freut mich, vielen Dank«, sagte der junge Mann, und Kotoko konnte sich bildlich vorstellen, wie er sich am anderen Ende der Leitung verneigte. Irgendwie spürte sie, dass es sich um einen sehr aufrichtigen, lieben Menschen handeln musste. Und sie mochte seine Stimme …

»Dann freuen wir uns auf Ihren Besuch. Vielen Dank für die Reservierung.« Er blieb bis zum Schluss höflich.

 

Kumagai hatte ihr den Weg zum Restaurant genau beschrieben. Sie musste vom Bahnhof Tokio den Schnellzug nehmen, der sie etwa in anderthalb Stunden dorthin bringen würde. Sie konnte also gut am selben Tag hin- und wieder zurückfahren.

»Grüße Nanami-san und den kleinen Chibi schön von mir«, meinte Kumagai, als Kotoko ihn anrief und erzählte, dass sie hinfahren würde. Nanami, so hieß anscheinend die Ladenbesitzerin.

»Ja, klar …«, gab Kotoko zur Antwort, doch hatte sie seine Bitte im Nu wieder vergessen. Sie würde bald ihren Bruder sehen! An etwas anderes konnte sie jetzt nicht denken.