Das rote Schaf der Familie - Susanne Kippenberger - E-Book

Das rote Schaf der Familie E-Book

Susanne Kippenberger

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Beschreibung

In Großbritannien sind die Mitford-Schwestern so bekannt wie bei uns die Familie Mann. Nur noch berüchtigter. Die Älteste wurde Schriftstellerin, die Zweitälteste stellte sich an den Herd. Die dritte heiratete den Faschistenführer Englands, die vierte wurde Hitler-Freundin. Die sechste wurde Herzogin von Devonshire. Und die fünfte? Schlug aus der Art. Wurde lebenslustige Kommunistin und kettenrauchende Amerikanerin mit englischem Upperclass-Akzent, Bürgerrechtlerin und Bestsellerautorin. Jessica Mitford floh vor ihrer Familie und kam doch nicht von ihr los. Ein hinreißendes Buch über Verwandte und Wahlverwandte, Freundschaft und Familie – und über einen fröhlich-entschlossenen Freiheitskampf.

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Seitenzahl: 1021

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Hanser Berlin E-Book

Susanne Kippenberger

Das rote Schaf

der Familie

Jessica Mitford

und ihre Schwestern

Hanser Berlin

Die Autorin dankt für die großzügige Unterstützung von

Villa Aurora

Spreewald Literatur-Stipendium

Tyrone Guthrie Centre

Soweit nicht anderweitig in den Anmerkungen angegeben, wurden alle Zitate aus veröffentlichten wie unveröffentlichten englischen Quellen von Barbara Schaden ins Deutsche übersetzt. Einige wenige Zitate in ursprünglich alter Rechtschreibung wurden an die sonst durchgängig verwendete neue Rechtschreibung angeglichen.

Abdruck der Auszüge aus Diana Mosleys Briefen mit frdl. Genehmigung des

Estate of Diana Mosley c/o Charlotte Mosley.

Abdruck aller Zitate von Deborah Devonshire (neben denen aus Wait for Me!),

Lord Redesdale, Lady Redesdale, Nancy Mitford, Pamela Mitford und

Unity Mitford mit frdl. Genehmigung des Chatsworth House Trust c/o Rogers,

Coleridge & White Ltd., 20 Powis Mews, London W11 1 JN, UK.

ISBN 978-3-446-24698-0

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2014

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Oben: ©The Illustrated London News Picture

Library, London, UK/Bridgeman Art Library.

Unten: mit frdl. Genehmigung von

Constancia Romilly & Benjamin Treuhaft.

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Für Benjamin,

Ritter und Retter des Internets

If you want to sing out, sing out

And if you want to be free, be free.

Cat Stevens, Harold and Maude

Inhalt

Der Triumph des Lachens

1  Die Mitfords im Wunderland

2  Swinbrook

3  Sturm and Drang

4  Ich kann, ich soll, ich werde

5  Amerika? Amerika!

6  Kriegsdienst

7  30. November 1941

8  Go West!

9  Endstation Sehnsucht: Oakland

10  Unamerikanische Umtriebe

11  Going Home Again

12  Hons and Rebels

13  American Ways

14  Frühling in der Luft

15  Die »Me Decade«: Die 1970er Jahre

16  Die Schmutzaufwühlerin

17  Ein englisches Herz

18  Die Regentin von Oakland

19  Es ist so komisch zu sterben

Dank

Anmerkungen

Quellen und Literatur

Bildnachweis

Der Triumph des Lachens

Ihre beste Freundin war ein Schaf. Wenn sie durchs Dorf lief, hoppelte Miranda neben ihr her, wenn die Tochter aus gutem Hause sonntags in die Kirche musste, wartete das Tier auf dem Friedhof auf sie, und wenn die Familie in ihr Stadthaus zog, hätte das Mädchen ihre wuschelige Freundin am liebsten in den Koffer gepackt und mitgenommen. »Das liebe Ding wäre so begeistert«, versuchte Decca ihre Mutter zu erweichen: »Sie war noch nie in London.« Manchmal schlief das Schaf sogar im Kinderbett (heimlich, der Vater wäre sonst explodiert), und wenn Miranda zum Scheren musste, litt Decca fast mehr als ihr Zögling: ein Waisenkind, das sie mit der Milchflasche aufgepäppelt hatte.

»Miranda war das Licht meines Lebens«, schrieb Jessica Mitford, die alle nur Decca nannten, Jahrzehnte danach. Die Einzige, mit der sie kuscheln konnte. Mutter Mitford nahm ihre Töchter nie in den Arm. Für Zuwendungen jeder Art war das Kindermädchen zuständig.

Die Familie wohnte auf dem Land, rund 150 Kilometer von London entfernt, in Oxfordshire, am Rande der Cotswolds, wo Schafe auf den Weiden so gewöhnlich sind wie Butterblumen. Was Freunde betrifft, hatte Decca auch keine große Wahl. Schulfreundinnen hatte sie keine, wie auch, wenn sie, zu ihrem allergrößten Kummer, gar nicht zur Schule gehen durfte. Meist durften die Mitfords nicht mal mit den Nachbarskindern spielen. Also blieben ihnen nur Schwestern und Tiere: Hamster, Ziegen, Hühner, Schlangen, Kühe, Tauben, Schildkröten, Mäuse, Ponys, Meerschweinchen, Hunde en masse – und sechs Mädchen, geboren in einem Zeitraum von sechzehn Jahren, gefangen in einer eigenen Welt, halb Bullerbü, halb Festungshaft.

Die beiden, das Mädchen und das Schaf, hatten durchaus Ähnlichkeit. Eigenwillig und entschlossen, ließen sie sich von nichts und niemand bremsen. Miranda, Stirn voran, schubste Menschen und Möbel, die ihr in die Quere kamen, einfach aus dem Weg. Decca ging etwas strategischer vor. Als Zwölfjährige, nach dem endgültig gescheiterten Versuch, doch noch eine Schule zu besuchen, erklärte sie ihrer Familie, dass sie Vorsorge treffen würde, falls sie später einmal weglaufen müsse. Die pragmatische Rebellin eröffnete ein »running away account« bei Drummonds, der vornehmen Londoner Privatbank der Familie, die sich höflichst bei der Halbwüchsigen dafür bedankte, dass diese ihr »Weglaufkonto« bei ihnen eröffnet hatte, das fortan ganz offiziell unter diesem Namen geführt wurde. Bis sie tatsächlich das ersparte Geld nahm, um wegzurennen und mit Esmond Romilly, ihrem Vetter zweiten Grades, in den Spanischen Bürgerkrieg zu ziehen. 1937 war das. Da war sie neunzehn Jahre alt.

Eben noch Debütantin der Londoner Gesellschaft, heiratete die Minderjährige das Enfant terrible Esmond, bekam ein Kind von ihm und verlor es wieder, ging mit ihrem Mann nach Amerika, arbeitete dort als Modeverkäuferin und Barkeeperin, wurde mit vierundzwanzig Jahren Kriegswitwe und bald darauf das, was sie schon lange werden wollte: Mitglied der Kommunistischen Partei. In den 1940er, 1950er Jahren, lange bevor die Bürgerrechtsbewegung richtig in Bewegung kam, setzte sie sich für die Rechte von Schwarzen ein, wurde vom FBI überwacht und vor den gefürchteten Hexenausschuss, das House Un-American Activities Committee, geladen. Eine Pionierin des neuen, persönlichen Journalismus, schrieb die englische Aristokratin mit amerikanischem Pass ebenso witzige wie engagierte Artikel und Bücher über die Gesellschaft und die Institutionen ihrer Wahlheimat. Fast ein Jahr lang stand The American Way of Death (Der Tod als Geschäft), ein ebenso komisches wie entlarvendes Werk über die Machenschaften der Bestattungsbranche, auf der Bestsellerliste, machte sie Mitte der 1960er Jahre zur Berühmtheit in den USA und zur viel gefragten Rednerin: So provokant und unterhaltsam wie Jessica Mitford sprach keiner. Auf ihren Tourneen durch die Universitäten lagen ihr die Studenten zu Füßen, vor allem – das war ihre Lieblingsstelle – wenn sie vorführte, wie Leichen einbalsamiert werden, wobei sie ganz ähnliche Grimassen schnitt wie als Kind für Miranda. Sie war die geborene Performerin, das Leben: eine Bühne. Mit größtem Vergnügen schmiss sie sich in jeden politischen oder sonstigen Kampf, sie liebte Konflikte, gern mit Krawall. A Fine Old Conflict hieß der Titel ihrer zweiten, 1977 erschienenen Autobiographie. Das rote Schaf wollte sie ihre erste nennen. Schwarze Schafe gab es in ihrer Familie schon genug.

Decca, 1917 geboren, war die zweitjüngste der sechs Mitford-Schwestern, Nancy, Jahrgang1904, die älteste und bissigste. Mit ihren amüsanten autobiographischen Romanen machte die Grande Dame der literarischen High Society ihre exzentrische Familie im ganzen Land bekannt; nach dem Krieg lebte sie, politisch liberal bis konservativ, als Schriftstellerin und Geliebte eines französischen Politikers in Paris.

Pamela, die schlichteste und häuslichste der Schwestern, von diesen deshalb nur »Woman« genannt, war die Einzige, wie Decca einmal bemerkte, deren Kindheitstraum nicht wahr wurde: Die Zweitälteste wollte Pferd werden. Irgendwie kam Pam dem Traum aber doch ziemlich nahe, lebte mit Hunden und Pferden auf dem geliebten Land, wo sie so gern am Herd stand wie Schwester Decca am Schreibtisch saß.

Diana, die eleganteste, klügste, belesenste der sechs schönen Schwestern, heiratete 1929 mit neunzehn Jahren auf der Traumhochzeit des Jahres den Guinness-Erben, um ihn, vier Jahre und zwei Kinder später, für Oswald Mosley zu verlassen, den Führer der faschistischen Partei Großbritanniens. Bei ihrer Hochzeit 1936 in Berlin war Goebbels Gastgeber und Hitler Ehrengast, während des Kriegs wurde das Paar prophylaktisch festgenommen und ein paar Jahre lang inhaftiert; nach 1945 lebten sie, in England geächtet, als Mitglieder des Jetsets in Paris. Diana schwärmte bis zu ihrem Tod von Hitlers blauen Augen, während ihr Mann auf ein politisches Comeback hoffte.

Unity Valkyrie, in einem kanadischen Ort namens Swastika (»Hakenkreuz«) gezeugt, wurde, durch Schwager Mosley angesteckt, feurige Anhängerin Hitlers und setzte sich so lange in dessen Münchener Stammlokal, bis der »Führer« sie endlich ansprach. Fortan innige Freunde, fuhren sie gemeinsam zu Parteitagen und den Festspielen nach Bayreuth, gern empfing Hitler sie, auch mit ihrer Familie, zum Tee.1939, als der Krieg zwischen Deutschland und Großbritannien ausbrach, schoss sie sich im Englischen Garten in München in den Kopf, überlebte, mit kindlichem Gemüt und von der Mutter gepflegt, bis sie neun Jahre später starb.

Deborah, die Jüngste und die Einzige, die heute noch lebt, wurde, was sie nach Auskunft von Decca schon als kleines Mädchen werden wollte: Herzogin. Als Duchess von Devonshire und clevere Geschäftsfrau machte sie Schloss Chatsworth zu einer der größten Touristenattraktionen im Land. Ihrem Freund Lucian Freund, von dem sie sich in seiner gewohnt erbarmungslosen Art porträtieren ließ, brachte Debo immer Eier von eigenen Hühnern nach London mit. Für historisches Geflügel hatte die passionierte Jägerin von klein auf eine große Leidenschaft.

Und mittendrin: Tom, der einzige, hochmusikalische Bruder, der früh aus dem Alltag der Schwestern ins Internat verschwand, bevor er nach Deutschland und Österreich ging, um Deutsch zu lernen, Klavier zu spielen und schließlich in England Jurist zu werden. Über seine sexuellen Neigungen gab es ebenso unterschiedliche Meinungen wie über seine politischen: Decca schwor, dass er den Kommunisten nahestand, Diana, dass er Faschist war. Auf jeden Fall zog er als Soldat, der er zur Überraschung der Familie gern war, nicht gegen die Deutschen in den Krieg; in Burma ist er 1945 gefallen. Das war auch das Ende dieser Adelslinie: Nur ein Sohn konnte den Titel, Lord Redesdale, erben, der damit an einen Verwandten fiel, zusammen mit dem Sitz im Oberhaus.

»Ich bin normal, meine Frau ist normal, von meinen Töchtern aber ist eine verrückter als die andere«, hat der Vater der Sippe einmal gestöhnt. Ganz so normal war der zweite Baron Redesdale freilich nicht, eher ein exzentrischer und reaktionärer Poltergeist, ein Macho mit ausgeprägtem Sinn für Humor. Er interessierte sich vor allem für die Jagd und das Häuserbauen, seinen Londoner Herrenclub und das Oberhaus. Ursprünglich ein leidenschaftlicher Deutschenhasser, war auch er von Hitler fasziniert, bevor er sich mit Kriegsbeginn wieder seiner patriotischen Pflichten besann, während seine Frau weiter für den »Führer« schwärmte. Daran ist ihre Ehe zerbrochen.

In Großbritannien sind die Mitfords so bekannt wie bei uns die Familie Mann. Nur noch berüchtigter. Nach Deccas Tod schrieb Debo ihrer Schwester Diana, in den Nachrufen seien die Mitford Sisters »abwechselnd als Berühmt, Berüchtigt, Begabt, Glamourös, Unberechenbar, Stürmisch, Umjubelt, Verrufen, Rebellisch, Farbenfroh & Eigensinnig« beschrieben worden. »Also such Dir was aus.« Vor allem in den 1930er Jahren sorgten sie ständig für Skandale und Schlagzeilen, so dass ihre Mutter irgendwann seufzte: »Wenn ich ›Tochter eines Peers‹ in einer Schlagzeile lese, dann weiß ich gleich: Es geht um eines von euch Kindern.« Ihre Geschichte ist auch eine Mediengeschichte. Denn wer glaubt, die Promiberichterstattung sei eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts, wird von den Mitfords eines Besseren belehrt. Sensations- und glamourlüsterne Journalisten stürzten sich in Horden auf die Schwestern.

Sie haben es gehasst und genossen, die legendären Mitford Sisters zu sein, haben die Aufmerksamkeit der Medien für eigene Zwecke genutzt und selber fleißig am Mythos mitgeschrieben. Heute füllen sie in den britischen Buchhandlungen ganze Regale mit Biographien und Autobiographien, Briefbänden und Romanen, Sachbüchern und Kochbüchern, noch zu Lebzeiten lieferten sie den Stoff für Fernsehspiele, Dokumentationen, ja, sogar ein Musical. »Die Mitford-Industrie« haben sie selbst das Phänomen genannt. Mitford Sister schien fast so etwas wie ein Beruf, ein Lebensinhalt zu sein. Als Decca 1977 in der populären BBC-Musiksendung Desert Island Discs zu Gast war, wurde sie als »Mitford-Schwester, Schriftstellerin« vorgestellt. Diana, 1989 eingeladen, war »Mitford-Schwester, Gattin von Sir Oswald Mosley«.

In England kann man der Familie gar nicht entkommen. Selbst die Queen ist der Mitford-Mania verfallen. Zumindest in der Fiktion von Alan Bennetts Erzählung The Uncommon Reader (Die souveräne Leserin). Da entdeckt die Königin im Bücherbus der Bezirksbibliothek durch einen glücklichen Zufall Nancy Mitfords Familienroman The Pursuit of Love (Englische Liebschaften). »Hat ihre Schwester nicht diesen Mosley geheiratet?«, fragt die Queen den Bibliothekar. »Und die Schwiegermutter einer weiteren Schwester war meine Oberhofmeisterin? … Und dann war da natürlich noch dieser eher traurige Fall, die ein Techtelmechtel mit Hitler hatte. Und eine wurde Kommunistin.« Also legt sich die Queen mit dem Roman ins Bett und steht so schnell nicht mehr auf. Als ihr Mann sie durch die Tür laut lachen hört, kommt er besorgt herein und fragt, ob alles in Ordnung sei. In bester Ordnung! Auch am nächsten Tag bleibt die Königin im Bett liegen und schützt eine Erkältung vor, um die Mitford-Saga ungestört zu Ende zu verschlingen. Danach kann sie vom Lesen nicht mehr lassen.

Und in Deutschland? Trotz der engen politischen Verbindungen von Diana und Unity: nichts. Das zumindest war der Stand zu Beginn dieses Projekts. 2010 waren die Bücher, die es einmal auf Deutsch gab, vergriffen – darunter Deccas Bestseller über die Bestattungsindustrie, Nancys Romane und Karlheinz Schädlichs Sammelbiographie über die Schwestern; der Graf Verlag hatte noch nicht mit der Neuauflage von Nancys Büchern begonnen, Deccas Erinnerungen an Kindheit und Jugend waren noch nicht im Berenberg Verlag erschienen.

Dieses Buch ist nicht »Die Biographie« Jessica Mitfords, wie gleich mehrere Autoren ihre Bücher über Schwester Nancy nannten. Ich werde die Mitfords auch nicht neu erfinden. Dazu ist das Leben und Treiben der Familie längst viel zu gut dokumentiert – »die bekannteste und exzessivst beschriebene Kinderstube des 20. Jahrhunderts außerhalb des Buckingham Palace« hat der Guardian sie einmal genannt – und fiktionalisiert. Wobei oft schwer zu sagen ist, wo das eine aufhört und das andere beginnt. »Dichtung und Wahrheit bei den Mitfords« hat Deccas Schwager Bryan Guinness einen Text über die Familie betitelt. Nancy hat sich gleich für die Romanform entschieden, wobei ihre satirisch zugespitzten Schilderungen der Familie von dieser zwar als übertrieben, aber im Prinzip als realistisch beurteilt wurden.

Aus Familiengeschichten wurden Legenden, und je mehr Zeit verstrich, je häufiger sie erzählt wurden, desto unmöglicher wurde es, den Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Am Ende ist es eine Frage des Glaubens, welche Version man für die realistischste hält. So erzählt Decca in ihrer 1960 erschienenen Autobiographie Hons and Rebels (Hunnen und Rebellen)– den Titel Das rote Schaf hatte sie auf Wunsch des Verlegers wieder verworfen –, wie sie sich als Kind bockig der Aufgabe verweigerte, eine Geschichte nachzuerzählen. Als die Mutter sie anflehte, irgendetwas müsse sie doch behalten haben, presste sie sich trotzig ein »the« ab. Genau so steht es auch in den Memoiren ihrer Schwester Debo – nur ist Unity dort die störrische Schülerin.

Man kann diese Episode auch als Beleg dafür lesen, wie ähnlich sich die Schwestern trotz ihrer politischen Differenzen in vielem waren: der scharfe Humor und die Lust, andere auf den Arm zu nehmen, die Eloquenz und Schlagfertigkeit, die Furchtlosigkeit und starrsinnige Entschlossenheit, die Leidenschaft des Briefeschreibens, überhaupt, die Begabung zum Schreiben, das Talent zum Fies-Sein und zur Freundschaft, der Hang zum Extremismus und ihre grenzlose Loyalität.

Auch der Drang, der Familie zu entfliehen, war ihnen gemeinsam. Was noch lange nicht bedeutet, dass sie tatsächlich voneinander losgekommen sind. Sie sind in die Welt hinausgezogen, haben Pferde gezüchtet, Bücher geschrieben und Kinder gekriegt, Ehen und Affären gehabt, Freundschaften wie Gärten gepflegt, politische Kämpfe ausgefochten und viele, viele Partys gefeiert. Und doch haben sie sich etwas Kindliches, oft auch Kindisches bewahrt, waren noch im hohen Alter die Mädchen, als die sie zusammen aufgewachsen sind. Eine Mitford zu sein, meinte Deccas amerikanischer Lektor Robert Gottlieb über seine Autorin, »ist wesentlicher Bestandteil ihres Erbguts, hat alles geprägt, was sie getan hat. Und sie besitzt die Tatkraft der Familie, die Ungeheuerlichkeit der Familie, die Unbefangenheit der Familie, die Gnadenlosigkeit der Familie und den Humor der Familie.«

Einmal Mitford, immer Mitford. Das Freifräulein mochte die Festungsmauern der Kindheit sprengen, aber deren Steine bildeten das Fundament ihres Lebens. Entkommen ist Decca ihrer Herkunft, ihrer Kultur und vor allem dem komplexen Kosmos Familie nie. Ihr englischer Upperclass-Akzent, den abzulegen sie sich anfangs in Amerika solche Mühe gab, wurde im Laufe der Jahrzehnte eher stärker. Selbst wenn ihre englische Familie in ihrem täglichen Leben in Amerika keine Rolle spielte, als emotionale Kraft behielt sie eine enorme Wucht. Auch im Streit und im Schweigen waren die Schwestern einander so eng verbunden, dass Decca es schwierig, ja, unmöglich fand, ihrem eigenen Ehemann zu erklären, was Nancy, Debo und die anderen ihr bedeuteten. Nachdem sie der ländlichen Langeweile der Cotswolds erst einmal entflohen war, schreibt Peter Sussman, der Herausgeber ihrer Briefe, »verbrachte sie den Rest ihres glanzvollen Lebens und ihrer Laufbahn – und das betrifft auch ihre umfangreiche Korrespondenz – in einer Art fortgesetzter Konversation, oder Auseinandersetzung, mit ihrer privilegierten Erziehung, ihrer ungebärdigen Familie und den stürmischen Leidenschaften der Zeit, in der sie aufwuchs«.

Das rote Schaf der Familie ist nicht die – es ist eine Biographie über Jessica Mitford (eine andere, Leslie Brodys Irrepressible, mit Fokus auf ihr Leben in Amerika, ist 2010 erschienen). Warum von den sechs Schwestern gerade sie? Weil Decca für mich nicht nur die faszinierendste, sondern auch die sympathischste ist. »Die Beste von allen« hat ein Journalist sie genannt. Die originellste der Schwestern war sie auch. Kein Wunder, sagt ihre Freundin, die Londoner Literaturagentin Mary Clemmey, dass die Ohio State University jeden Fetzen Papier von ihr aufbewahrt. »Bei ihr waren selbst die Einkaufszettel eigenwillig.«

Als ihr Freund Philip Toynbee einmal gefragt wurde, ob er Decca mit einem Wort – »in a nutshell« – beschreiben könne, konnte der nur lachen. In eine Nussschale passte sie nicht rein, Decca war eine komplexe Figur, überlebensgroß. Wobei Toynbee sie dann doch in einem Satz zusammenfasste: »Ich würde sagen, dass eine Clownin aus der englischen Upperclass mit sehr, sehr linken Ansichten, die in Kalifornien lebt und wie eine typische Oaklander Hausfrau aussieht, durchaus etwas Exzentrisches hat.« »Eine Naturgewalt«, so beschreibt sie ihr Freund Doug Foster. Jessica Mitford war immer für eine Überraschung gut. Contrastiness, »Gegensätzlichkeit«, ist das Wort, das ihr Mann Bob Treuhaft für sie geprägt hat – ein Leben voller munterer Widersprüche, eine Achterbahnfahrt zwischen englischen Gartenpartys und Berkeleys Studentenbewegung, zwischen Lunch mit Liz Taylor und dem Kampf an der Seite der Black Panther. Sie, die so schlampig und so aufmüpfig war, sich über alles und jeden lustig machte und für ein paar Lacher alles tat, war bis 1958 treues, diszipliniertes Mitglied der ziemlich humorlosen Kommunistischen Partei, gegenüber der sie auch nach ihrem Austritt noch extrem loyal blieb. Unrecht brachte sie auf die Palme, in Bezug auf die unmenschliche Diktatur in den Ostblockstaaten zeigte sie sich jedoch merkwürdig blind. Und sie, die sich so unermüdlich für die Rechte der Schwarzen einsetzte, interessierte sich nicht weiter für das Schicksal von Hispanics und anderen Minderheiten. Pünktlichkeitsfanatikerin und Freiheitsadvokatin ist sie gewesen, Trinkerin und Kämpferin für Gerechtigkeit, Kettenraucherin und besessene Briefeschreiberin, Klatschtante, Clown und Agent provocateur. Eine bodenständige Grande Dame, wie der San Francisco Chronicle sie beschrieb, frech, launisch, fröhlich, ungeduldig, gastfreundlich, verbohrt.

Zu den Widersprüchen ihres Lebens gehört auch das unterschiedliche Verhältnis zu ihren beiden Nazi-Schwestern. Von Unity, die keine Gelegenheit ausließ, ihren Schwarm Adolf Hitler zu feiern, hat Decca immer mit großer Zärtlichkeit gesprochen, ihr bis zu ihrem Tod geschrieben. Diana dagegen, einst ihre Lieblingsschwester, hat sie regelrecht gehasst, hat sie für Hitlers Terror und den Tod ihres ersten Mannes verantwortlich gemacht und jeden Kontakt zu ihr abgebrochen.

»Kein Aber«, hatte Decca für ihre Trauerfeier angeordnet. Keiner sollte sagen: »Wir haben sie sehr geliebt, aber …« So soll dies denn kein Buch des »Abers«, sondern ein Buch des »Unds« sein. Decca selbst war eine Meisterin in der Kunst des fröhlichen Paradoxes.

Sie war die geborene Rebellin, der wandelnde Protest. Als Teenager fing sie an, sich über das Unrecht in der Welt zu empören, und hörte nicht mehr auf, bis sie starb. Dabei hat sie durchaus das Zeug zur Terroristin gehabt, hatte vor allem in jungen Jahren etwas Fanatisches, Wütendes, Kriminelles an sich. Als Teenager wollte sie Piratin werden; damals, so ihr Freund Philip Toynbee, hätte der Unterschied selbst zu den liberalsten Mädchen ihrer Schicht nicht größer sein können: »Sie waren von Decca so verschieden wie ein christlicher Sozialist von einem Nihilisten mit Bombe.« Was sie davor bewahrte, Terroristin zu werden, waren ihre Bodenständigkeit und Menschlichkeit, ihr trockener Humor und ihre Lebenslust.

Gefragt, was ihnen als Erstes einfällt, wenn sie an Decca denken, sagen denn auch die meisten ihrer Freunde: ihr Witz und ihre Schlagfertigkeit. Gerade unter den politischen Tieren machte sie das zur Rarität. »Ihr größtes Verdienst war wohl die Lebensfreude, die sie unter den trübseligen amerikanischen Linken verbreitete«, schrieb ihr Freund Alexander Cockburn, der als Kind kommunistischer Eltern diesen düsteren Ernst nur allzu gut kannte.

Freiheit war das, wofür Decca vor allem kämpfte. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, war schließlich die prägende Erfahrung ihrer Jugend gewesen. Für Meinungs- und Pressefreiheit hat sie sich eingesetzt; für die Freiheit, zu wohnen, wo man wohnen, zu essen, wo man essen möchte, egal, welche Hautfarbe man hat. Es ist kein Zufall, dass sie in dem Land geblieben ist, das sich so viel auf seine Freiheit zugutehält wie kein anderes. Allerdings gab sie sich nicht mit dem Mythos zufrieden, überprüfte ihn permanent an der Realität.

Vor allem hat sie sich die Freiheit genommen, Jessica Mitford zu sein. Sie tat, was sie wollte, sagte, was sie dachte, und scherte sich nicht darum, was andere davon hielten. Peinlich ist ihr nichts je gewesen. »Decca sein«: Das, so ihr Freund Bob Scheer, war ihr größtes Verdienst.

Hier ist eine Frau, die eins war mit sich, die schrieb, wie sie sprach, frisch und lebendig, und sie sprach mit jedem auf die gleiche Art, egal, wie jung, wie reich, wie gebildet, ob Arbeiter oder Graf, sie sprach mit ihnen als Decca Mitford. Nicht zufällig wurden ihre Freunde und Fans am Ende ihres Lebens immer jünger: Decca ist eine Frau ganz von heute. Ihre Art des Schreibens – schnell und persönlich – passt perfekt ins Zeitalter des Internets, hätte sie länger gelebt, wäre sie sicher Bloggerin geworden. Die zufällige Entdeckung des Faxgeräts war für sie ein Himmelsgeschenk, fortan schossen die Briefe nur so hin und her. Was hätte sie mit ihrem Kommunikationsbedürfnis und ihrer Ungeduld erst mit E-Mails, WhatsApp oder Twitter gemacht.

Einer ihrer jungen Fans ist J.K. Rowling gewesen, ja, vielleicht gäbe es ohne Jessica Mitford Harry Potter nicht. Als Vierzehnjährige bekam Rowling Deccas Autobiographie von ihrer Großtante geschenkt. Danach war es um sie geschehen. Die Jugendliche erklärte die adelige Rebellin sofort zu ihrer Heldin, noch heute nennt sie Decca die für sie wichtigste Schriftstellerin. »Ich glaube, ich habe alles gelesen, was sie geschrieben hat.« Rowling bewundert sie für ihren Mut und Witz und Stil, dafür, dass sie »einigen ihrer jugendlichen Eigenschaften nie entwachsen ist, ihrer politischen Einstellung immer treu blieb« – so groß ist ihre Bewunderung, dass sie ihre eigene Tochter Jessica nannte.

Jessica Mitford ist eine Entdeckung wert. Wann, wenn nicht jetzt. Sie ist eine der faszinierendsten, hierzulande praktisch unbekannten Frauenfiguren des 20. Jahrhunderts, eines Jahrhunderts, das sich mit all seinen Konflikten und Facetten auf einzigartige Weise in ihrer Biographie bündelt. Englische Aristokratie und High Society, Kommunismus und Faschismus, Kapitalismus und New Deal, Spanischer Bürgerkrieg und Zweiter Weltkrieg, Kalter Krieg und Vietnamkrieg, McCarthyismus und Bürgerrechtsbewegung, Free Speech Movement und Black Panther, all das hat Jessica Mitford nicht nur selbst erlebt, sondern auf ihre ganz eigene Weise mitgeprägt.

Sie war, so ihre Freundin Mary Clemmey, Kapitän ihres eigenen Schiffs. Es ist ein Piratenschiff gewesen, mit dem sie durchs Leben steuerte, es hatte schon Fracht geladen, als sie das Ruder übernahm. Einiges davon hat sie über Bord geworfen, viele neue Passagiere hat sie an Bord genommen – Menschen waren für sie das Allerwichtigste. Aber ein Teil der alten Fracht fuhr weiter mit – ihr langes, trotz aller politischen Enttäuschungen und persönlichen Tragödien glückliches, selbstbestimmtes Leben lang.

Dieses Buch ist, wenn man so will, ein Schelmen- und Familienroman. Nicht, dass ich etwas dazuerfunden hätte. Das musste ich nicht, die Geschichte ist phantastisch genug. Schreiben ist für mich eigentlich immer der Versuch, zu verstehen. Bei den Mitfords bin ich da zuweilen an meine Grenzen gestoßen. Manchmal blieb nur ungläubiges Staunen, das Staunen von Alice im Wunderland: curiouser and curiouser, seltsamer und seltsamer …

1 Die Mitfords im Wunderland

»Achtung!« warnt ein Schild. »Hühner auf der Straße!« Das scheint so ziemlich das Gefährlichste zu sein, was einem in den Cotswolds begegnen kann, wo England noch heute so englisch ist wie kaum irgendwo sonst, wo Straßen »Buttermilk Lane« heißen und Cottages keine Hausnummern tragen, sondern Namen wie »Summerhaze«, wo Rosen üppig wie Unkraut an Häusern hochklettern und lässig von Garagen herunterhängen. Sanft rollen sich die Hügel durch das Windrush Valley, unter uralten Bäumen dösen Schafe, Wanderer laufen querfeldein. Wenn man nicht selber im Auto säße, man könnte fast glauben, das Automobil sei noch nicht erfunden, so unversehrt wirken die alten Dörfer mit ihren Natursteinhäusern, die Landschaft mit ihren Weiden und Hecken und Flüsschen, die kein Mensch je begradigt hat.

Es ist eine Bilderbuchlandschaft, aufgeklappt zum Vergnügen von Touristen und wohlhabenden Londonern, die am Wochenende in ihre Landhäuser ziehen, um sich vom Stress der Hauptstadt zu erholen. Swinbrook und Umgebung, 30 Kilometer nordwestlich von Oxford, gehört inzwischen zu den teuersten Gegenden im ganzen Land, gerade weil die Idylle so nah an der Metropole liegt. Und weil hier alles so wie früher ist. Nur viel komfortabler. Die Cotswolds sind wie ein dickes Federbett, in das man sich gerne plumpsen lässt.

Auch in der Swinbrooker Dorfkneipe, dem Swan Inn, sind die Hühner allgegenwärtig. Sie hängen als Schild an der Klotür und liegen als Matte vorm Kamin, im Garten des dreihundertsechzig Jahre alten Pubs laufen sie frei herum. Natürlich handelt es sich hier nicht um ordinäre Stall-, Wiesen- und schon gar nicht um Legebatterien-Hühner. Es sind historische Rassehühner, die selbstbewusst über Biertisch und Wiese flanieren. Im Garten sind sie die Könige.

Der malerisch am Windrush gelegene Swan Inn gehört Deborah, Dowager Duchess of Devonshire, Herzogin im Ruhestand. Vier ihrer Schwestern sind auf dem Friedhof hinter der Dorfkirche begraben: Nancy, Unity, Diana und, etwas im Abseits, wie sie es im Leben schon war, Pam, wie Debo eine große Hühnerzüchterin. Fans haben den Schwestern Blümchen aufs Grab gelegt. Nur die fünfte Schwester fehlt: Decca liegt Tausende von Kilometern weiter westlich im Meer. Ihre Asche wurde 1996 im Pazifik zerstreut. Sie war schließlich nicht weggerannt bis ans Ende der Welt, um hinterher als Leiche doch noch zurückzukehren.

Mit etwas Mühe ist das lustige Etwas auf Nancys verwittertem, pockigem Grabstein als Maulwurf zu erkennen, jenes Tier, das die Schriftstellerin so gern hatte, dass sie es sich ins Reisebriefpapier prägen ließ. Der Maulwurf ist das Wappentier der Familie. Deren Begründer, Sir John Mitford of Mitford in Northumberland, besaß Ländereien in Molesdon, was ungefähr so viel wie Maulwurfingen bedeutet. Auch sein Nachfahre Algernon Bertram Mitford, geboren1837, der Großvater der Schwestern, hatte im Nordosten, knapp vor der schottischen Grenze, in Redesdale, Besitz und wurde 1902 wegen seiner Verdienste um die Nation zum ersten Baron von Redesdale geadelt.

Eigensinn und Temperament: Die Großeltern

Algernon Bertram Mitford war noch ein kleines Kind, als seine Mutter mit ihrem Geliebten und späteren Ehemann durchbrannte und damit für immer aus dem Leben des Jungen verschwand: Über Affären und uneheliche Kinder regte sich damals niemand weiter auf, aber wer es wagte, sich scheiden zu lassen, wurde von der Gesellschaft verstoßen. Bertie, wie ihn alle nannten, war voller Ehrgeiz und Energie und schlug eine klassische Laufbahn ein, erst Eton, dann Oxford und schließlich St. Petersburg. Mit einundzwanzig Jahren wurde er Diplomat, diente in Russland und im Fernen Osten, in die japanische Geschichte und Kultur hat er sich regelrecht verliebt; das feudale System in Japan erinnerte ihn an sein geliebtes Mittelalter. Das Buch, das er 1871 über dieses fremde Land schrieb, eine bunte Mischung aus Geschichte, Politik, Folklore und Schauerroman, wurde zum Bestseller und wird bis heute immer wieder neu aufgelegt.

Nachdem Bertie Anfang der 1870er Jahre aus der diplomatischen Laufbahn ausgestiegen war, ließ er sich in London nieder, wo Benjamin Disraeli, der neue Premierminister, ihn 1874 zum Bauleiter für Londons Schlösser und Gärten ernannte. Als solcher kümmerte sich der tatkräftige Amateur um die heruntergekommenen Paläste, vor allem um Hampton Court und den Tower, war zuständig für die Royal Parks und gestaltete Teile des Hyde Parks um. Munter und gesellig, genoss der Womanizer das Londoner Leben in vollen Zügen. Erst mit Ende dreißig gründete er eine Familie; Lady Clementine Ogilvy gebar ihm neun Kinder. Als er 1886 von einem Vetter Batsford Park erbte, gesellte er dessen Namen Freeman seinem dazu und gab seinen Posten in London auf, um sich ganz dem riesigen Anwesen zu widmen. Zum Abschied bedankten sich Premierminister und Queen persönlich für seine Arbeit. Decca gehörte nicht zu den Fans von Großvater Redesdale, war er doch ein Freund von Houston Stewart Chamberlain, dem geistigen Wegbereiter des nationalsozialistischen Rassenwahns, und ein Bewunderer von dessen Schwiegervater Richard Wagner.

Auch der andere Großvater, eine nicht weniger schillernde Figur, war ohne Mutter groß geworden. Nur ihren Nachnamen, Bowles, hat er getragen. Thomas »Tap« Gibson Bowles wurde 1841 geboren, als unehelicher Sohn des liberalen Politikers Thomas Milner Gibson, der ihn in seine Familie aufnahm und großzog. Mit zwölf wurde der Junge nach Frankreich aufs Internat geschickt, als junger Journalist von sechsundzwanzig Jahren gründete Tap die Zeitschrift Vanity Fair, die ihm, so Enkelin Diana, »ein kleines Vermögen und unzählige Feinde einbrachte«. Das Magazin, berühmt für seine Karikaturen, war ebenso witzig und böse wie sein Besitzer. Außerdem gehörte ihm The Lady, die zwar nicht Englands erste Frauenzeitschrift war, aber, 1885 gegründet, die älteste, die bis heute erscheint und sich noch immer im Besitz der Familie befindet.

Großvater Bowles war ein Mann von unerschöpflicher Energie, so temperamentvoll wie kompromisslos. Nie soll er vor vier Uhr morgens ins Bett gegangen sein. Eine Weile saß er auch im Parlament, nicht so lange, wie er gern gewollt hätte, aber seine Zeit als Abgeordneter nutzte er für finanzpolitische Vorstöße und parlamentarisches Unterhaltungsprogramm. Tap lebte nach seinen eigenen Regeln und nahm am liebsten alles in die eigene Hand; sogar seine Hemdkragen hat er selbst entworfen.

In Jessica Evans Gordon, die schottische Generalstochter, nach der Jessica Mitford benannt wurde, hat er sich bei der ersten Begegnung verliebt. Deren Familie war anfangs gar nicht begeistert, der Möchtegern-Schwiegersohn war ihnen etwas zu überschwänglich und selbstbewusst. Aber schließlich durften die beiden doch heiraten und bekamen zwei Söhne und zwei Töchter. Sydney, das ältere der beiden Mädchen, wurde die Mutter der Mitford-Schwestern. Als Taps Frau, eher schwach und kränkelnd, zum fünften Mal schwanger wurde, drängten die Ärzte sie zur Abtreibung, an deren Folgen sie mit fünfunddreißig Jahren starb.

Da er das Meer mehr als alles andere liebte, stach der Witwer mit seinen vier Kindern erst mal in See. Monatelang reisten sie mit dem schweren Schoner herum, bis nach Ägypten, Beirut, Damaskus und ins Heilige Land. Auch später schleppte er seinen Nachwuchs überallhin, in der Regel im Matrosenanzug (dann musste er mit ihnen keine Kleider einkaufen gehen): zur Jagd nach Schottland, in den politischen Wahlkampf, in die mondänen Badeorte Deauville und Tréauville, zu seinen Künstlerfreunden. Wann immer es ging mit der Yacht, die ihm sein liebstes Verkehrsmittel, Büro und Zuhause war.

Mit elf bekam seine Tochter Sydney von Lewis Carroll, dem Autor von Alice im Wunderland und Freund ihres Vaters, einen Brief. Er habe ja nicht mal gewusst, dass es sie gebe!, schrieb der Schriftsteller. Er hätte ihr trotzdem Grüße ausrichten lassen sollen, »ohne so pingelig darin zu sein, ob es dich gibt oder nicht. In gewisser Weise, weißt du, sind Leute, die es nicht gibt, viel netter als Leute, die es gibt … Aber egal! Man hat ja sowieso nichts mitzureden, ob es einen gibt oder nicht; und ich wage zu behaupten, dass du genauso nett bist, wie wenn es dich nicht gäbe.« Sie soll ihren Schwestern und sich liebe Grüße und einen Kuss ausrichten, aber bitte nicht den Kuss für sich selbst vergessen, »auf die Stirn, das ist der beste Platz«.

Ob Sydney es versucht hat, ist nicht überliefert. Wahrscheinlich nicht, die Halbwaise war ein ernsthaftes Kind und neigte auch als Erwachsene nicht zu Zärtlichkeiten. Mit vierzehn musste Sydney ihrem Vater den Londoner Haushalt und die Bücher führen; wenn er auf Reisen ging, war sie das Familienoberhaupt. Auch wenn die männlichen Dienstboten das nicht so sahen. Oft betrunken, machten sie ihrer jungen Chefin das Leben so schwer, dass sie später für ihr eigenes Haus nur weibliches Personal einstellte.

Unterrichtet wurden Sydney und ihre Geschwister von einer Gouvernante, Tello genannt, die später ein Verhältnis und drei Söhne mit ihrem Arbeitgeber hatte. Tap kaufte ihr ein Haus und machte sie zur Chefredakteurin der Lady, was sie ein Vierteljahrhundert blieb. Sydney hat sie später oft zu sich eingeladen, zur Freude ihrer Töchter: Tello konnte so schön Geschichten erzählen.

Beide Großväter waren eine Zeitlang konservative Parlamentsabgeordnete und alte Parteifreunde. Zu einem Besuch bei Bertie in Batsford Park hatte Tap, wie üblich, seine Tochter (im Matrosenkleidchen) mitgebracht. So sind sich David Bertram Ogilvy Freeman-Mitford und Sydney Bowles das erste Mal begegnet, da war er siebzehn und sie vierzehn. Als sie David so am Kamin stehen sah, hat sie sich gleich in ihn verliebt, wie sie später erzählte. Danach hat sie sich erst mal wieder entliebt und in andere Männer verguckt, unter anderem in ihren schwedischen Schlittschuhlehrer. Bis sie sich näherkamen, dauerte es noch einige Jahre. Als sie sich 1904 trauen ließen, war Sydney vierundzwanzig Jahre alt und angeblich bei der Hochzeit in Tränen aufgelöst, weil sie einer anderen Liebe nachtrauerte. Sie habe ihren Mann, der entbrannt war für sie, gemocht, glaubt ihr Enkel Jonathan Guinness, der heutige Lord Moyne. Aber erst mit der Ehe habe sie ihn lieben gelernt.

David und Sydney Mitford

Die Eltern der Mitford-Schwestern hätten nicht unterschiedlicher sein können. David war ein Eigenbrötler und brüllender Löwe, neben dem die eigentlich gesellige Sydney fast wie eine stille Maus wirkte. Sie soll, so heißt es, als junge Frau eine Schönheit gewesen sein, als Debütantin umschwärmt. Auf den späteren Familienfotos lässt sie Schultern und Mundwinkel hängen, nie sieht man ein Lächeln auf ihrem schwermütigen Gesicht. Das, erklärte ihr ein heimlicher Verehrer Jahrzehnte danach, habe ihm gerade so imponiert: dass sie wirklich nur gelächelt habe, wenn sie Grund dazu hatte, sich etwa freute, jemanden zu sehen. Die gnadenlose Ehrlichkeit war etwas, was sie mit ihrem Mann und ihren Töchtern verband.

Sie war wohl bei weitem nicht so missmutig, wie sie auf den Bildern aussieht, und er nicht so gefährlich, wie er klang. Überhaupt waren die beiden immer für eine Überraschung gut: altmodisch und streng in vielen Dingen, in anderen progressiv und liberal.

David wirkte wie ein zweiter Clark Gable, ein stattlicher Mann von lässiger, ländlicher Eleganz. Nur: Er hatte nichts und konnte nichts. Nichts zumindest, worauf er in London eine Karriere hätte aufbauen können. Als Zweitgeborener war David Mitford ohnehin schlecht dran. In englischen Adelsfamilien erbte der älteste Sohn praktisch alles, Titel, Geld und Besitz. Die Jüngeren hatten zwar karrierefördernde gesellschaftliche Verbindungen, mussten im Wesentlichen aber selber sehen, wo sie blieben.

Schon als kleiner Junge war David ein Vulkan. Wegen seiner gewaltigen, manchmal auch gewalttätigen Wutausbrüche wurde er nicht wie sein großer Bruder nach Eton geschickt, sondern nach Radley. Die Schule hat David gehasst, er trieb lieber Sport. Als er die Internatsjahre endlich überstanden hatte, wurde er für ein paar Jahre nach Ceylon entsandt. Aber auch zum Plantagenverwalter war er nicht geboren. Die Sauferei seiner Kollegen dort schreckte ihn so ab, dass er zum lebenslangen Abstinenzler wurde.

Seine Rettung war der Krieg. Als 1899 der Burenkrieg ausbrach, meldete sich David sofort. In Uniform blühte er auf, aber das Glück hielt nicht lange an. Schwer verletzt, wurde er vorzeitig und mit einem Lungenflügel weniger nach Hause geschickt. Seine Begeisterung fürs Militär hat das nicht getrübt. Auch im Ersten Weltkrieg hat er sich gleich wieder gemeldet, musste dann aber nach kurzem Einsatz auf dem Kontinent doch wieder an die Heimatfront.

David Mitford war ein Mann, der sich am wohlsten in der Gesellschaft von Männern fühlte. Wenn er in seinen Lieblingsladen, dem Army & Navy Store in London, einkaufen ging, stand er pünktlich um neun als Erster vor der Tür, um sicherzugehen, dort keinen Frauen zu begegnen. Sein zweites Zuhause in London war der Marlborough Club – for gentlemen only; als Mitglied des Oberhauses kämpfte er vehement gegen den Plan, aus dem House of Lords auch eins für Ladys zu machen.

Als jemand, der neben männlicher Gemeinschaft vor allem das Land und die Jagd liebte, war er denkbar unqualifiziert für den Posten, den ihm sein Schwiegervater nach der Hochzeit verschaffte: David wurde Geschäftsführer der Zeitschrift The Lady. Aber er hielt durch, jahrelang sogar. Schließlich musste er eine schnell wachsende Familie ernähren.

Am Ende seiner Arbeitswoche, diese Geschichte wird gern erzählt, zog der junge Ehemann los, um von seinem nicht sehr üppigen Gehalt einen Pfirsich zu kaufen und ihn seiner Frau feierlich zu überreichen, die ihn genauso feierlich verspeiste. Erst Jahre später erfuhr David, dass seine Frau Pfirsiche gar nicht mochte. Sie hatte es ihm nie gesagt. Überhaupt hat er mit seinen Geschenken kein Glück gehabt. Egal was er Sydney zu Weihnachten besorgte, sie tauschte es im Army & Navy Store sofort um. Die Verkäufer waren schon vorgewarnt.

Was den Geschmack anging, waren die beiden nicht kompatibel. Ihrer Liebe zueinander aber konnte das nichts anhaben. David betete seine Frau an. Zum Lachen gebracht hat er sie auch, über seine Witze hat sie sich amüsiert. »Nie hätte ich mir solches Glück träumen lassen«, schrieb er, als seine Frau zum ersten Mal schwanger wurde. Sydney, die sich sieben Söhne wünschte, war fest überzeugt, dass es ein Junge würde, der Paul heißen sollte, die blauen Pullöverchen hatte sie ihm schon gestrickt. Im November1904, neun Monate nach der Hochzeit und fast noch im Viktorianischen Zeitalter, kam Nancy auf die Welt. Bei der Geburt war der Vater, wie bei fast all seinen Kindern, dabei. »Unser Glück ist sehr groß«, schrieb er danach.

Sechzehn Jahre, eine ganze Generation, lagen zwischen der Ältesten und der Jüngsten. Pam kam 1907 auf die Welt, Tom1909, ein Jahr später Diana, Unity wurde im August1914, zu Beginn des Ersten Weltkriegs geboren, und als Debo auf die Welt kam,1920, war die Mutter vierzig Jahre alt und die Moderne hatte längst begonnen – so wie der Untergang des britischen Empires. Nur die Eltern, tief im 19. Jahrhundert verwurzelt, hatten es noch nicht bemerkt.

Als The Honourable Jessica Lucy Freeman-Mitford am 11. September 1917 ihren ersten Schrei tat (vermutlich einen lauten), lebte die Familie schon nicht mehr in London, sondern auf dem Land, auf Großvater Redesdales Anwesen in Gloucestershire. Davids älterer Bruder Clement, der eigentliche Erbe, war im Ersten Weltkrieg gefallen. Ein paar Monate lang hatten alle den Atem angehalten, denn Clements Frau war schwanger, als ihr Mann starb. Würde sie einen Sohn auf die Welt bringen, wäre er der nächste Lord Redesdale. Es wurde eine Clementine.

Nur ein Jahr nach seinem Lieblingssohn starb auch Vater Bertie Mitford, aus Kummer, wie es hieß. Und so erbte der Zweitgeborene den Titel und alles, was damit zusammenhing, die Ländereien, Batsford Park und den Sitz im Oberhaus. Jetzt war David Mitford ein echter Gentleman. Auch wenn er sich nicht immer als solcher benahm.

Für reiche Verhältnisse waren die Mitfords mit all ihren Ländereien und ihrem Personal ziemlich arm. Und wurden im Laufe der Jahre immer ärmer, so hat es sich für sie zumindest angefühlt. David hatte ein sicheres Gespür für Fehlinvestitionen, und das wenige Barvermögen, das er hatte, gab er mit beiden Händen aus. Einmal steckte er es in eine Firma, die Verkleidungen für Radios fabrizierte, Pappmaché-Hüllen in Form von Särgen und Buddhas. Die Investition endete vor Gericht. Alle paar Jahre fuhr David mit seiner Frau nach Kanada, in eine Blockhütte, in der Sydney sich überaus wohlfühlte. In Swastika, Ontario, hatte er 1908 ein Stück Land gekauft, um nach Gold zu schürfen. Sein Nachbar scheffelte reichlich, er selbst kam jedes Mal mit leeren Händen zurück.

Vor allem aber litt David unter dem, was Decca als Teenager seine »manie de l’architecture« nannte. Die Krankheit hatte schon seinen Vater befallen. Der leidenschaftliche Gärtner hatte sein ganzes Vermögen in ein gigantisches Haus im Victorian-Tudor-Stil mit ebenso extravagantem, japanisch-chinesisch angehauchten Park gesteckt. Die Mitford-Kinder waren von ihrem neuen Zuhause begeistert: Einen so tollen Spielplatz wie Batsford hatten sie noch nie gehabt. Sie tobten durch den weitgehend unbewohnten Bau, die fünf Treppenhäuser hoch und runter, spielten Fangen und Verstecken, und oft spielte der Vater mit. Oder sie zogen sich zum Lesen in eins der fünfzig Zimmer zurück, in dem die Möbel wie Gespenster aussahen, mit weißen Tüchern abgedeckt.

Dann,1919, hat David Batsford verkauft. Für den Unterhalt fehlte ihm das Geld, außerdem wollte er selber bauen. Er brauchte ein Projekt.

Die Kinder von Asthall

Eigentlich sollte Asthall in Oxfordshire nur eine Übergangslösung sein. Für den Vater war es das auch. Asthall, so hieß das Haus wie das kleine Dorf, in dessen Herzen es lag, nur ein paar Kilometer von Swinbrook entfernt. Dort hatte David Land geerbt; auf dem Hügel, wo die Fasanen wohnten, wollte er sein Traumhaus errichten.

In der Zwischenzeit verbrachte die Familie in dem verwunschenen Herrenhaus mit den vielen Giebeln und dem lila Flieder ihre glücklichste, unbeschwerteste Zeit – ohne finanzielle Sorgen und politische Grabenkämpfe, ganz ohne Skandale. Der Vater konnte sich mit Umbauten und Ausbauten austoben, elektrisches Licht installieren und moderne Glühbirnen reinschrauben, die Mutter richtete ein, dafür hatte sie ein Händchen. Als einen einzigen Sommer wird Lady Redesdale die knapp sieben Jahre in Asthall später in Erinnerung haben. Freundlich, gemütlich und warm war das Haus, großzügig, aber nicht überdimensioniert. Kirche und Friedhof lagen gleich nebenan; aus ihrem Kinderzimmerfenster hatten die Mädchen einen prächtigen Blick auf die Gräber. Vermutlich haben sie dort auch mal das Gespenst gesehen, das zu Asthall gehören sollte und vor dem sich niemand so fürchtete wie der Vater.

Ein paar Schritte nur, und sie konnten in den River Windrush hüpfen, in dem die Kleinen schwimmen lernten; dafür hatte Lord Redesdale einen eigenen Bereich mit Sprungbrett abgetrennt. Er selber konnte im Fluss fliegenfischen, hatte auch sonst immer was im und am Wasser zu tun: Otter jagen, Dämme bauen …

Das Beste an Asthall aber war das eigene Kinderreich, eine vom Vater umgebaute Scheune, mit dem Haupthaus durch einen überdachten Gang verbunden. Hier konnten die Geschwister machen, was sie wollten, Hauptsache, sie erschienen pünktlich zu Tisch, denn nichts hasste der Patriarch so heftig wie Unpünktlichkeit. Im Kinderreich stand der Flügel, auf dem Tom Händel und Bach, Beethoven und Mozart spielte, so virtuos, dass er eine Weile mit dem Gedanken spielte, Pianist zu werden. Vor allem aber war in der Scheune, die nach Bedarf zum Ballsaal für die Großen umfunktioniert wurde, die Bibliothek untergebracht – »das Paradies«, wie Diana es nannte. Auf Sesseln und Sofas konnten sich die Geschwister in dem holzgetäfelten Raum mit den hohen Fenstern und zwei Kaminen lümmeln und lesen.

David Redesdale war bekennender Nichtleser (einzige Ausnahme: Jack Londons Wolfsblut), aber in Lektürefragen tolerant, was seinen Nachwuchs betraf. Von ihrer Bibliotheks-Freiheit machten die Geschwister denn auch reichlich Gebrauch. Mit Ausnahme von Debo und Pam waren sie vom Lesen besessen. »Diese Kinder lesen zu viel«, seufzt die Mutter in Nancys autobiographischem Familienroman Love in a Cold Climate (Liebe unter kaltem Himmel). »Aber ich kann sie nicht daran hindern. Ich glaube wirklich, ehe sie gar nichts zu lesen hätten, läsen sie auch noch das Etikett auf einem Medizinfläschchen.«

Den Struwwelpeter hat Decca, wie all ihre Schwestern, ganz besonders geliebt, die politisch so unkorrekten Geschichten von den ungezogenen Kindern mit drastischem Ende waren ihr noch als Erwachsene ein besonderes Vergnügen. Außerdem hat sie alle Bücher von Edith Nisbit verschlungen, Charles Dickens natürlich, Lewis Carroll sowieso und die Märchen von Oscar Wilde. Später kamen die Klassiker dazu, Jane Austen, die Brontë-Schwestern, Thomas Hardy … Abgeschnitten von allem, öffneten die Bücher den Mädchen Türen zur weiten Welt – und je älter sie wurden, desto breiter und moderner wurden die Türen auch.

Im Hause Mitford gab es zwei Klassen von Kindern: die Großen und die Kleinen. Tom war eine Klasse für sich. Nancy, Pam und Diana – »die anderen«, wie Debo sie nannte – durften sogar im eigenen Ex-Scheunen-Reich schlafen, oben, im ersten Stock.

Ihr Oberhaupt, daran hegte niemand Zweifel, war Nancy, die Älteste und einzige Grünäugige unter lauter Blauäugigen. Nancy war ein Biest. Ein unglaublich witziges, brillantes, von ihren Geschwistern gerade deshalb bewundertes, aber ziemlich fieses und gefürchtetes Biest. Nancy hat es nie verwunden, dass Pam sie drei Tage vor ihrem dritten Geburtstag vom Thron der Alleinherrscherin gestoßen hatte. Die Älteste wollte ungeteilte Aufmerksamkeit, und zwar lebenslang. Stattdessen musste sie diese mit immer mehr Geschwistern teilen. Dafür ließ sie sie leiden.

Teasing war Nancys Rache. Teasing hieß die Sprache, die die Schwestern in der Abgeschiedenheit ihres Lebens entwickelten, verfeinerten und schärften: sich hänseln, sich lustig machen, den anderen veralbern, auf den Arm nehmen, erklärt das Lexikon. Der Mitford-Tease wurde weltberühmt. Keiner hat diese Waffe so gut beherrscht wie Nancy. »Dieses Aufziehen«, schreibt Charlotte Mosley, Dianas Schwiegertochter und Hüterin des literarischen Familienerbes, »war eine relativ ungefährliche Art, mit geschwisterlicher Rivalität fertigzuwerden und Zuneigung zu bekunden.« Denn Gefühle zu zeigen war bei den Mitfords ganz besonders verpönt. Gefährlich war es außerdem: So zeigte man sich verwundbar, konnten die anderen sich über einen lustig machen. Da machte man sich doch lieber schnell selber lustig. Immer auf der Hut, Gewehr im Anschlag.

»Schwestern«, hat Nancy kurz vor ihrem Tod dem Observer erklärt, »stehen zwischen einem und den grausamen Umständen des Lebens.« – »Schwestern sind die grausamen Umstände des Lebens«, erwiderte Decca darauf. Dabei war sie durchaus überzeugt, dass es was Gutes hatte, als Nancys kleine Schwester aufgewachsen zu sein: »Es war eine Erfahrung, die ungemein abhärtet.« In dieser Schule lernte sie einzustecken und auszuteilen. Nancy, die spätere Schriftstellerin, sprudelte nur so vor Ideen, wie sie die anderen zum Lachen und zum Weinen bringen konnte. Die Schwestern mochten noch so viele Anti-Nancy-Vereine gründen, es half alles nichts, die Größte war immer die Stärkste. Die gutmütige Pam und die sentimentale Debo waren die einfachsten Opfer. Pam fiel auf alles rein, Debo fing praktisch auf Kommando an zu heulen.

Seit einer Kinderlähmung mit drei Jahren war Pam noch langsamer im Denken und Lernen, als sie es wohl von Natur aus war. Legasthenikerin ist sie auch gewesen, eigenwillig war ihre Orthographie. Mit der Schlagfertigkeit ihrer Schwestern konnte sie nie mithalten, also versuchte sie es gar nicht erst. Sie legte sich ein dickes Fell zu, stiefelte oft allein durch die Felder. Ansonsten widmete sich »Woman«, wie die Schwestern Pam nannten, eher den praktischen als den geistigen Dingen, war die häusliche Tochter und patente Tierfreundin, die den Eltern nie Kummer machte und das Landleben so liebte wie sie, weswegen Pam auch der Liebling aller Tanten und Onkel war. Mit größtem Vergnügen kümmerte sie sich um ihre Ponys und Schweine. »AlsKind wäre sie am liebsten ein Pferd gewesen«, erinnerte sich Decca, »sie verbrachte lange Stunden mit Übungen, bei denen sie realistisch mit den Hufen scharrte, den Kopf zurückwarf und wieherte.«

Diana, die Drittälteste, war von dem Moment, da sie die Augen aufschlug, eine Schönheit, der alle zu Füßen lagen, eine, die wie Nancy Bücher nur so verschlang. Auch wenn Diana sich nicht so viele Späße ausdachte, so hat sie doch gebührend darüber gelacht. Ein gutes Jahr älter als Tom, war dieser ihr so nah wie ein Zwillingsbruder. Beim Spaziergang liefen die beiden Hand in Hand, Tom hörte dann mit dem Reden gar nicht mehr auf. Stundenlang konnte Diana ihrem Bruder beim Klavierspielen zuhören, sie liebte klassische Musik bis ans Ende ihres Lebens. Die beiden lasen dieselben Bücher, seine Freunde wurden ihre Freunde, gemeinsam fuhren sie in den Ferien zu Randolph und Diana Churchill, deren Mutter Clementine eine Cousine von Lord Redesdale war. Ihr Mann Winston, der spätere Premierminister, gehörte damals als Schatzkanzler dem konservativen Kabinett an.

Sensibler und weicher als Nancy, war Diana die große Schwester, die Decca unter ihre sanften Fittiche nahm, ihr beim Klavierspielen und Französischlernen half und das Reiten beizubringen versuchte. Ein hoffnungsloses Unterfangen, so unsportlich, wie Decca war. Decca hat Diana damals zu ihrer Lieblingsschwester erklärt, was umgekehrt ihrer Meinung nach genauso galt: »Ich war Dianas Hauptfavoritin.«

Tom lief außer Konkurrenz. Er war everybody’s darling, über den die Schwestern auch als Erwachsene kein böses Wort verloren, der große Bruder, mit dem, um den sie sich ein bisschen kabbelten und den sie aus der Ferne umso mehr liebten: Tom kam schon als kleiner Junge nach Eton ins Internat. Als einziger Sohn konnte er selbst in den Augen der Eltern nichts falsch machen, obwohl er das Gegenteil dessen war, was sie sich von einem männlichen Nachkommen erhofft hatten – Reiten, Jagen, Schießen, Tiere, das ganze Landleben interessierten ihn nicht, Literatur und Musik umso mehr. Etwas Melancholisches hatte er auch, kam manchmal, wie Debo erzählte, aus heiterem Himmel mit Depressionen nach Hause und versank eine Zeitlang in Schweigen – bevor er wieder aufstand und ging. Sensibel, intelligent und beherrscht, war er zudem der geborene Diplomat, der mit all seinen Schwestern auch in turbulentesten Zeiten Kontakt hielt, zwischen ihnen und den Eltern vermittelte. Trotz seiner Privilegien war er der Einzige, auf den sie nicht eifersüchtig waren.

Unity war das ganze Gegenteil: In der Schar eigenwilliger Schwestern war sie die allereigenwilligste. Schon rein äußerlich stach sie hervor, hatte mit ihren dicken blonden Zöpfen, ihrer Übergröße und unbeholfenen Art etwas von einem linkischen Wikinger, wie Decca sie beschrieb. Als kleines Mädchen eine Träumerin, warmherzig und verletzlich, wurde sie als Teenager die Bockigste, Schockierendste, Furchtloseste und Ungezogenste von allen, der Schrecken der Erzieherinnen, die wandelnde Provokation. Selbst den Vater zwang sie in die Knie, brachte ihn allein durch ihre Blicke auf die Palme. Im Starren und Schweigen war sie Weltmeisterin, schaufelte Berge von Kartoffelbrei in sich hinein und starrte den Vater dabei so lange an, bis er die Fassung verlor und auf den Tisch haute: »Hör auf, mich anzustarren, verdammt!«

Ein Jahr lebte Unity von Kartoffelbrei, mit viel Butter und Sahne, ein anderes von Bananen, Schokolade und Milch. Wenn Unity Nachschlag wollte – ihr Hunger war unersättlich –, dann sagte sie nichts, sondern guckte Mabel, die Haushälterin, einfach nur mit aufgerissenen Augen an. Kam Besuch zum Essen, fing sie mittendrin an, Kirchenlieder zu pfeifen – das Pfeifen war ihre Leidenschaft. Künstlerisch begabt, Liebhaberin der Poesie, Fan von Shakespeare und Edgar Allan Poe, war sie eine noch leidenschaftlichere Kinogängerin als ihre Schwestern.

Debo dagegen, die Jüngste, der Sonnenschein, war geboren fürs Leben auf dem Land. Sie setzte sich gern zu den Hühnern in den Stall und beobachtete deren Gesichtsausdruck beim Eierlegen. Als Schlittschuhläuferin ein großes Talent, wurde sie noch als Erwachsene von den Großen »Nine« genannt – neun Jahre, das, hatte Nancy beschlossen, war das geistige Alter, in dem Debo stehengeblieben war. Wie der Vater, mit dem sie sich bestens verstand, rührte Debo freiwillig kein Buch an.

Und Decca – pausbäckig und blond gelockt, sah wie ein Engel aus, war aber keiner. Dass sie sich mit zehn schon zweimal den Arm gebrochen hatte, darauf war sie besonders stolz: Im ewigen Konkurrenzkampf mit den fünf Schwestern wurde alles, was außergewöhnlich war, zum Triumph. Frech, fröhlich und originell, entwaffnete sie alle mit ihrem Charme. Selbst den Vater, so Debo, konnte sie um ihren kleinen Finger wickeln, ihn nahm sie in ihren frühen Briefen – mit Kritzelzeichnungen illustriert – und fiktiven Artikeln besonders gern auf den Arm. Mit Debo zusammen schrieb sie wilde, blumige Bittbriefe auf Anzeigen, in denen die beiden ausmalten, worunter ihre angeblichen Babys alles litten, nur um Milchpulver geschickt zu bekommen. Auch Shampoo-Proben ließen sie sich zusenden, und der Zeitungs-Kummerkastentante legten sie ihre erfundenen Probleme vor, von denen manche sogar gedruckt wurden: »Liebe Mag, ich habe ein kleines pflaumenblaues Seidenkleid, das unter dem Arm kaputt ist, der Rest aber ist gut erhalten, und ich mag es nicht wegwerfen.«

Ihrer Mutter schenkte Decca zu Geburtstag und Weihnachten Selbstgedichtetes wie folgende Verse über ihr Schaf Miranda, das im wirklichen Leben allerdings dem Schlachtermesser entkam. Schon mit neun war Deccas schriftstellerisches Selbstbewusstsein so ausgeprägt, dass sie sich gleich zwei Autorenzeilen gönnte, eine oben und eine unten:

MYLAMB. By Jessica Mitford

Mer-ran-der is my little lamb

She is a ewe and not a ram

Mer-ran-der Mer-ran-der

She has such lovely wooly fur!

Soon we’ll have to cut off her tail

When we do that she’s sure to wail

Mer-ran-der Mer-ran-der

But I’ll love her just the same sir!

Once I took her out for a walk

My only complaint is she cannot talk

Mer-ran-der Mer-ran-der

Soon to the butcher I must hand her.

MEINLAMM. Von Jessica Mitford

Mer-ran-der heißt mein kleines Lamm

Es ist weiblich und kein Mann

Mer-ran-der Mer-ran-der

Hat den allerliebsten Pelz!

Bald müssen wir ihr den Schwanz abschneiden

Ach, da wird sie furchtbar heulen

Mer-ran-der Mer-ran-der

Aber ich mag sie noch genauso!

Mal ging ich mit ihr spazieren

Schade nur, dass sie nicht redet

Mer-ran-der Mer-ran-der

Bald muss ich sie zum Metzger bringen.

Darunter stand noch einmal: JLM

Das war erst der Beginn ihrer literarischen Laufbahn, die sie als Dreizehnjährige mit einem Krimi fortsetzte (sie war, wie Nancy, großer Dorothy- Sayers-Fan). Darin brachte sie einen Freund der Familie, den Gelehrten Roy Harrod aus Oxford, um, worüber dieser sich sehr amüsierte.

Familienleben: Bigger Than Life

Stille – so etwas gab es im Hause Mitford nicht. Der Vater rumorte schon vor Sonnenaufgang herum, um fünf stand er auf und rannte mit seinem Tee in der einen und Zigarette in der anderen Hand durchs Haus, hörte im Arbeitszimmer seine Lieblingsplatten in voller Lautstärke – er hatte ein Faible für dramatische Opernarien und schaurige Balladen –, schnauzte Dienstmädchen und Hunde an.

Waren die Kinder erst einmal aufgestanden, lieferten sie die Hintergrundmusik, polterten durch die Gänge, knallten die Türen, weinten, ärgerten und zankten sich. Alles, was sie taten, taten sie laut, ihr Lachen war ein einziges Schreien, Heulen und Quietschen. Shriek (kreischen) und roar (brüllen) zählten, noch als sie erwachsen waren, zu ihren Lieblingsvokabeln. Es gab, erinnert sich Debo, kein Mittagessen, bei dem es nicht zum großen Krach kam. Und selbst wenn es friedlich zuging: Sie hörten einfach mit dem Reden nicht auf. »Haltet den Mund!«, brüllte die Jüngste eines Tages ihre versammelte Familie an, als sie zum Frühstück herunterkam. »Alle!«

Nur manchmal wurde es bei den Mahlzeiten ganz still, wenn Nancy oder Diana wieder etwas Unerhörtes getan hatten, wenn sie Lippenstift benutzt, geraucht, Hosen angezogen hatten oder allein mit einem Mann ausgegangen waren. Aber auch dann dröhnte die Stille ziemlich laut.

Alles, was sich in der Familie abspielte, war bigger than life, früher hätte man überspannt gesagt. So maßlos und extrem wie später in ihren politischen Ansichten verhielten sich die Schwestern schon als Kinder. Das Leben war mal Melodram, mal Burleske. Himmelhoch jauchzend oder zu Tode betrübt, »sie lebten in einer Welt der Superlative«, wie es in Nancys Roman The Pursuit of Love heißt. Noch im Greisenalter haben ihre Briefe etwas leicht Hysterisches, wimmeln nur so von Ausrufezeichen.

Das Leben war ein einziges Spiel. Ein Theaterspiel. Heiligabend gab’s erst Bescherung für die Kinder aus dem Dorf, der Vater oder der Pfarrer spielte den Weihnachtsmann; am ersten Weihnachtstag wurden im Mitford’schen Wohnzimmer die Kerzen am Baum angezündet (der, glaubt man Decca, jedes Mal in Flammen aufging), am Abend dann war Karneval, da haben sich alle verkleidet. Für eine Charade oder einfach nur so, auf dem Dachboden stand eine große Kiste mit Kostümen bereit. Pam machte es sich einfach, sie war jedes Jahr Lady Rowena aus Ivanhoe, der Vater setzte sich eine rote Perücke auf und übernahm die Rolle des Fotografen, die Mutter verkleidete sich als ihr eigenes Dienstmädchen. Nancy hatte als Schauspielerin das größte Talent. Ob als Penner oder Leiche, als tschechische Ärztin (eine ihrer Lieblingsrollen, wegen des Akzents) oder alte Tante mit Damenbart, auf den Star der Familie fielen alle rein.

Als spielten sie bloß Rollen auch im richtigen Leben, gaben sich die Schwestern so viele Spitznamen, dass der Schriftsteller Alan Bennett sich wunderte, wie sie überhaupt den Überblick behielten. Diana zum Beispiel wurde von ihrer Mutter Dana genannt, von ihrem Vater Dina, von Nancy Bodley, von Pam und Unity Nardy, von Decca Corduroy oder Cord und von Debo Honks. Tom war Tud oder Tuddemy, Nancy hat Debo manchmal Linda genannt, die Eltern hießen Muv und Farve oder TPOF (The Poor Old Female) und TPOM (The Poor Old Male) oder Poor Old Subhuman. Der Vater wurde von den Kindern auch Old Jew genannt (wegen seiner großen Nase), von Decca zu Absolutely Super Jew gesteigert, Kröte oder Morgan, wie der Sportwagen, die Mutter Aunt Syd. Um die Sache noch verwirrender zu machen, riefen sich einige Schwestern gegenseitig beim selben Namen: Decca und Debo waren füreinander bis zum Ende ihres Lebens nur Hen (oder Henderson), Decca und Unity (von den anderen Bobo genannt) waren füreinander Boud oder My Boud, während Nancy und Decca sich beide Susan nannten. Warum, wussten sie selber nicht mehr. Und für Pam war Decca Steake.

Ein Fernsehjournalist, der die Schwestern gut kannte, erklärte Decca einmal, er habe immer das Gefühl gehabt, dass die Mitfords »den Rest der Welt und alles, was darin passiert, als Riesenwitz, veranstaltet zu ihrem Vergnügen« betrachteten. Als ziemlich harte Arbeit hat sie es beschrieben, den Schritt aus diesem Biotop der Scherze in die wirkliche Welt zu tun.

Und doch gab es in dem ganzen Trubel einen ruhenden Pol. So unterschiedlich die sechs Schwestern und ihre Erinnerungen an die Kindheit waren, in einem waren sich alle einig: in ihrer Liebe zu Blor. Das Kindermädchen war die liebevolle Konstante ihres Lebens, die mütterliche Figur, die nicht urteilte und nie böse wurde, die alle gleich behandelte und mit beiden Beinen auf der Erde stand. Die Gouvernanten kamen und gingen, von den Kindern vergrault oder von der Mutter entlassen, Blor blieb dreißig Jahre lang. Und selbst als sie 1941 in den Ruhestand trat, kehrte sie immer mal wieder zum Aushelfen zurück, brach der Kontakt, auch zu Decca in der Ferne, nie ab.

Dabei war sie, als sie sich für den Posten der Nanny bewarb, schon ziemlich alt. Laura Dicks, wie die Tochter eines Schmieds mit richtigem Namen hieß, war neununddreißig bei ihrem Vorstellungsgespräch. Sie kam aus einem politisch liberalen, religiös nonkonformistischen Haus, aber respektierte stets die Form und die Förmlichkeiten ihrer Zunft, kritisierte weder Arbeitgeber noch Gouvernanten, trug immer Uniform, und wenn sie ausging, Handschuhe und Hut. Sie war auch die Einzige, die Decca meist bei ihrem richtigen Namen, Jessica, rief. Aber noch häufiger sagte sie einfach nur darling.

Blor hielt Debo die Hand, wenn dieser im Auto wieder schlecht wurde, und fuhr mit den Kindern im Sommer ans Meer, wo sie selbst am Strand noch Handschuhe trug. Blor nahm ihre Schützlinge zu ihren eigenen Geschwistern mit, ging mit ihnen nach Oxford zum Einkaufen und anschließend zum Tee ins Café oder zum Affengucken in den Londoner Zoo. Als Decca aufhörte, am Daumen zu lutschen – da war sie schon sechs –, schenkte die Nanny ihr ein Portemonnaie mit sechs Shilling drin. Egal, wie ungezogen sie am Tag wieder gewesen waren, am Abend vor dem Schlafengehen sang das fromme Kindermädchen mit ihnen jene Kirchenlieder, die die Schwestern noch als Erwachsene so liebten. Am allerallerliebsten hatten sie »The Ninety and Nine«, das Lied von dem Schaf, das weit in die Hügel davonläuft, dem Hirten aber so wichtig ist, dass er die neunundneunzig anderen im Schutz des Pferchs zurücklässt und loszieht, um das eine zu suchen. »There were ninety nine that safely lay / in the shelter of the fold, / but one was out on the hills away, / far off from the gates of gold.«

Blor putzte den Kindern die Nase, zog sie an und wieder aus, und als sie groß genug waren, das selber zu tun, begleitete sie sie als Anstandswauwau. Blor besuchte sie immer noch, als sie schon verheiratete Frauen waren, und wenn es ihnen schlecht ging, kümmerte sie sich wieder eine Weile um sie. Als Decca mit Esmond aufs Schiff stieg, um nach Amerika auszuwandern, war das Kindermädchen neben Tom die Einzige der Familie, die kam, um sie zu verabschieden.

Sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, das war die zentrale Lektion, die Blor ihren aufgedrehten Schäfchen erteilte. Von Arroganz und Eitelkeit hielt sie so wenig wie Lady Redesdale. Noch im hohen Alter erzählen die Schwestern amüsiert, wie Nanny sie immer wieder beruhigte, wenn eines der Mädchen auf ein Fest ging: »Dich schaut sicher niemand an, Liebes.« Wenn die Kinder sie anfeuerten, mit ihnen um die Wette zu rennen, dann winkte sie nur ab: »Ich kann nicht, Liebes, ich hab einen Knochen im Bein«, und wenn eine von ihnen frech genug war, sie nach ihrem Alter zu fragen, antwortete sie: »So alt wie meine Zunge und ein bisschen älter als meine Zähne.«

Ohne Blor, glaubte Nancy, wäre sie noch viel fieser gewesen, als sie ohnehin war. Als Schriftstellerin hat sie dem Kindermädchen später mit einem Text ein Denkmal gesetzt, der zum großen Kummer der eigentlichen Mutter, kurz vor deren Tod, in der Times