Das rote Tuch - Kristin Weber - E-Book
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Das rote Tuch E-Book

Kristin Weber

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Beschreibung

Das rote Tuch ist Mordwerkzeug und Talisman, es reizt den Stier im Manne und stimmt den Teufel milde: In zehn Epen im Miniformat erzählen neun Autorinnen und Autoren ihre Sicht auf dieses geheimnisvolle Stück Stoff und reichen sich den Staffelstab durch Zeit und Raum weiter. Die Reise führt vom minoischen Kreta zu Goldsuchern in Brasilien und auf einen mittelalterlichen Scheiterhaufen, macht einen Abstecher in ein 19. Jahrhundert, das es so nie gab, begleitet Drohnenpiloten bei einem brutalen Spiel und endet im Weltraum mit der Frage: »Ist morgen auch noch ein Tag?«

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Das rote Tuch

Eine phantastische Reise durch die Zeit

Anthologie

 

Hrsg. von derAutorinnengruppe KommPlot

 

 

 

 

 

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Gefördert von der Hessischen Kulturstiftung durch ein Brückenstipendium im Rahmen des „Kulturpaket II: Perspektiven öffnen, Vielfalt sichern“, 2021

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

© 2021 KommPlot & friends – alle Rechte vorbehalten

Adresse: Kristin Weber, Im Sieckgraben 5, 37276 Meinhard

Herausgeber: Die Autorinnengruppe KommPlot

Lektorat: KommPlot & friends

Korrektorat: Invar Thea Eickmeyer

Covergestaltung und Buchsatz: Laura Newman – design.lauranewman.de

ISBN: 978-3-949773-00-6

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung der Herausgeberin sowie der Autorinnen und Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

inhaltsverzeichnis

Minotaurus von Charlotte Fondraz
Litermont Lied von Heike Knauber
Das nasse Grab von D. O. Hasselmann
Luxemburg: Der Blitz von Lisa Feßler
Gold von Claudia Zentgraf
Der letzte Stier von Kim Skott
Das rote Tuch von Esther Geißlinger
Müller geht von Kristin Weber
Let’s Play »Wall of Europe III« #200 von Esther Brendel
Morgen ist auch noch ein Tag von Esther Geißlinger
Die Autorinnengruppe KommPlot
Danke

minotaurus

Von Charlotte Fondraz

 

 

Vor 3600 Jahren auf dem Minoischen Meer vor Kreta

 

Rolfr streckt den Kopf aus der Ladeluke des Frachtschiffes. Die gleißenden Strahlen der Sonne blenden ihn, er kneift die Augen zu und zieht sich hoch an Deck. Seit er dem ägyptischen Kapitän gehört, ist er kaum ans Tageslicht gekommen. Der Dolmetscher, ein zahnloser Seemann, sagt, der Kapitän will nicht, dass sich Rolfrs Haut bräunt. Sie soll möglichst hell und makellos sein. Deswegen peitscht der Kapitän ihn auch nicht aus, wie es sein vorheriger Besitzer getan hat, wenn er sich wehrte, sondern flößt ihm einen bitterscharfen Trunk ein, der ihn benommen macht.

Mit geschlossenen Augen setzt sich Rolfr auf die Decksplanken. Die Schläge der Trommel, die den Ruderern den Takt vorgibt, klingen heller als unten im Laderaum. Die Luft riecht frisch, der Wind streicht Rolfr sanft über die Haut. Vor einem halben Monat hat der Kapitän ihn an Bord gebracht. Es ist Nacht gewesen, daher kennt er vom Schiff nur den dunklen Laderaum, der den Rumpf einnimmt und nach oben durch die Decksplanken abgeschlossen ist. Nur wenn ein Seemann Essen bringt oder den Latrinen-Eimer leert, fällt Licht hinein. Der Laderaum ist mit Menschen, Tieren und Waren vollgestopft. Er sieht aus wie die Laderäume aller großen Frachter in den Häfen, die Rolfr mit Vater angefahren hat. Aber der Dolmetscher behauptet, dass das Segel dieses Schiffes blutrot und der Mast golden ist. Rolfr bedeckt seine Augen zum Schutz vor der grellen Sonne mit den Händen und späht vorsichtig zwischen den Fingern hindurch.

Der Mast spiegelt das Sonnenlicht, sodass er kaum hinsehen kann. Er ist tatsächlich vergoldet. Und ein leuchtend rotes Segel bläht sich im Wind. Ein solch großes Tuch zu färben, muss viel Silber gekostet haben. Ein Aufbau auf dem Deck ist mit mannshohen Federn bemalt. Normalerweise sehen Frachtschiffe eher unscheinbar aus. Doch dieses hier ist so prächtig, als führe ein König persönlich mit.

Rolfr atmet die frische Luft ein. Der Wind weht ihm den Gestank des Laderaums aus der Nase. Langsam gewöhnen sich seine Augen an die Helligkeit. Das Meer schimmert so blau wie Glockenblumen. Unglaublich, dass Wasser diese Farbe annehmen kann. Zu Hause, in Jörginsland, kann die See meisenblau oder heidelbeerblau werden, aber meist hat sie einen gedeckten Farbton. Den von Schiefer oder von Taubengefieder, und die Wellen glänzen silbrig wie Fischschuppen. Hier ist das Meer glatt wie ein Teich. Am Horizont erhebt sich eine bergige Insel. Um sie herum schwimmen Hunderte von Booten, winzig klein aus der Entfernung.

Die alte, bucklige Dienerin des Kapitäns tritt zu ihm. Sie trägt einen Korb, in dem sich Goldbänder ringeln. Die Bucklige gibt ihm den Korb, dann kämmt sie Rolfrs Haare. Es ziept, doch es hilft nichts, wenn er protestiert. Dann setzt es nur Backpfeifen oder er muss wieder den Trunk schlucken. Deshalb sagt er nichts und hält still. Die Bucklige teilt sein Haar in dünne Strähnen. Er muss ihr aus dem Korb die Bänder reichen, und sie flicht sie ein.

Eine Strähne fällt ihm auf die Brust. Das Gold glitzert in seinen hellblonden Haaren, als wäre er ein siegreicher Anführer, dabei ist er nur ein Sklavenjunge. Na ja, fast ein Mann. Hätte er sich nicht überrumpeln und fangen lassen, dann wäre er bei der letzten Sonnenwende in den Kreis der Erwachsenen seines Stammes aufgenommen worden. Das wird jetzt wohl nie passieren. Er wischt sich über die Augen.

Aus der Kajüte tritt der Kapitän aufs Deck. Wie damals, als er Rolfr auf dem Markt erworben hat, trägt er ein weißes, gefälteltes Gewand und viele Ringe an den Fingern. Heute hält er eine mit zwei gewaltigen Hörnern besetzte Lederkappe in den Händen.

Dem Kapitän folgt der zahnlose Dolmetscher. Er hockt sich neben Rolfr, als seien sie befreundet, aber alles, was ihn interessiert, ist, dass Rolfr seinen Anweisungen Folge leistet. Dann, das hat der Dolmetscher Rolfr selbst erzählt, wird er vom Kapitän mit einer Extraration Bier belohnt.

Der Kapitän sagt etwas, und der Dolmetscher übersetzt: »Du bleibst nur so lang draußen, bis du dich wieder ans Licht gewöhnt hast. Damit deine Augen nicht tränen, wenn du vor Pasiphaë trittst.«

Als die Bucklige mit dem Flechten fertig ist, reicht der Kapitän Rolfr die Hörnerkappe. Die soll er tragen, wenn sie im Hafen anlegen, sagt der Dolmetscher. »Wenn du auf Kreta von Bord gehst, halt Ausschau nach einer Frau, die einen silbernen Gürtel mit eingravierten Bienen um den Leib trägt.«

Sie fahren nach Kreta! In diesem sagenumwobenen Land sollen die Menschen auf Stieren reiten. Kreta ist von Ölbäumen bedeckt und mit Häfen gesäumt, der Vater hat ihm davon erzählt. Die kretische Königin erhält Tribut von allen Ländern, die an das Südmeer angrenzen.

»Vor der Frau mit dem Bienengürtel kniest du nieder, vor keiner anderen! Wenn du es richtig machst, wird sie die neue Minas, das ist das kretische Wort für Königin, und dann behält sie dich. Und wie du vielleicht weißt, leben die Sklaven auf Kreta wie freie Leute.«

»Sie wird Königin, nur weil ich vor ihr knie?«, fragt Rolfr, aber der Dolmetscher winkt ab. Doch als er ihn wieder zum Laderaum führt, flüstert er ihm zu: »Ein Orakel hat vorhergesagt, dass Poseidon, der Meeresgott, für die neue Königin einen weißen Stier aus dem Meer entsteigen lässt. Und genau das wird geschehen.« Er grinst und öffnet die Luke. »Wenn du deine Sache gut machst, darfst du bleiben. Sonst schickt dich Pasiphaë, die Frau mit dem Bienengürtel, zurück aufs Schiff und du wirst in Thrakien auf dem Sklavenmarkt angeboten. Dann kannst du den Rest deines Lebens in Ketten verbringen.«

Er soll also der Stier sein, von dem das Orakel gesprochen hat. Orakel sind nie wörtlich zu nehmen, in Jörginsland hat die Zauberin einmal vorausgesagt, dass die Eisriesin Futter für ihre Wölfe sucht. Aber im Winter sind keine Wölfe gekommen. Nur zwei Wanderer, die sich im Schneesturm verlaufen hatten. Sie trugen Mäntel aus Wolfspelzen. Die Zauberin erkannte in ihnen die Wölfe der Eisriesin und nahm sie als Gäste im Dorf auf. Alle im Dorf bewirteten die Wanderer, obwohl sie selber kaum genug zu essen hatten.

Der Dolmetscher öffnet die Luke, Gestank dringt heraus, der Geruch der Menschen und Tiere, mit denen Rolfr seit vielen Tagen eingesperrt ist. Er schüttelt sich. Aus dem Mief tritt schon hier an Deck ein stechender Geruch hervor; es ist der der großen gefleckten Katze, die in einem Käfig sitzt und jeden Tag Fleisch zu fressen bekommt. Vorn an der Leiter stapeln sich die Kisten mit Schmuck, Stoffen und Instrumenten. Obenauf steht eine kleine silberne Truhe. Rolfr wirft einen Blick zurück auf die Insel, der sie inzwischen so nah gekommen sind, dass er einen Hafen mit steinernem Ufer und weiße Gebäude dahinter erkennen kann. Vielleicht dürfen die Sklaven dort in den Häusern schlafen, ohne Ketten an den Füßen.

Über die Leiter kehrt er in den Laderaum zurück. Selbst die anderen Sklaven können sich hier nur gebückt fortbewegen, Rolfr muss fast auf allen Vieren kriechen. Mit einer Hand hält er die Kappe mit den spitzen Hörnern in die Höhe, damit er im Gedränge niemanden verletzt. Die Bucklige folgt ihm und schließt von innen die Ladeluke.

Nach all den Tagen findet Rolfr seinen Platz auch im Dunkeln. Links vorn hecheln die Hunde, der Gestank der großen Katze kommt von rechts. Dazwischen sitzen Menschen, es ist nicht genug Platz da, damit alle sich hinlegen können. In einer Hand die Hörnerkappe, tastet er sich voran. Vorsichtig setzt er seine Füße zwischen die Körper. Jemand reicht ihm die Hand und rutscht zur Seite, das ist sicher der dunkelhäutige Mann mit den krausen Haaren, sein Sitznachbar. Rolfr ergreift die Hand und setzt sich an der freigewordenen Stelle nieder.

Leben wie ein freier Mensch, das bedeutet sicher nicht, dass er Kreta wieder verlassen darf. Aber vielleicht müssen die Sklaven dort nicht bis in die Nacht hinein schuften. Vielleicht werden sie nicht ausgepeitscht, nur weil sie sich unterhalten. In der Nacht gibt man ihnen vielleicht eine Decke zum Schlafen, und vielleicht bekommen sie mehr als nur Abfälle zu essen. Was würde er nicht für eine Schale Hirsebrei mit Heidelbeeren geben.

Ein wenig Licht dringt durch die Ritzen an der Ladeluke. Draußen warten frische Luft und Wind und Sonne auf ihn. An Deck knarzen die Ruderangeln, zum Takt der Trommel platschen die Blätter der Riemen ins Wasser. Rufe ertönen, zuerst leise, dann immer lauter. Schließlich stößt das Schiff gegen Holz, es schaukelt sacht - sie haben angelegt.

Draußen rufen viele Menschen in einer fremden Sprache. Sie lachen und pfeifen gellend. Sicher haben sie noch nie ein Schiff mit rotem Segel und goldenem Mast gesehen.

Die Stimmen verstummen. Jemand öffnet die Ladeluke.

Die Bucklige winkt den dunkelhäutigen Sklaven neben Rolfr heran. Vor der Leiter gibt sie ihm die kleine silberne Truhe. Damit klettert der Dunkelhäutige die Sprossen der Leiter empor und tritt auf das Deck. Draußen johlen die Menschen.

Schnell gibt die Bucklige dem nächsten Sklaven ein Zeichen. Einen nach dem anderen schickt sie mit Waren oder mit einem dressierten Tier nach oben. Als alle Kisten und Tiere ausgeladen sind, kommen die beiden Musikantinnen an die Reihe. Die braunhäutigen Frauen tragen mit Saiten bespannte Holzkisten vor der Brust. Mit kleinen Hämmern schlagen sie auf die Saiten; sie spielen schon, während sie an Deck klettern. Die Musik ist schnell und mitreißend.

Nun befinden sich nur noch Rolfr und die Bucklige im Laderaum. Er kriecht zur Ladeluke, wo ihm die Bucklige die Hörnerkappe aus der Hand nimmt. Er kniet sich vor sie, damit sie ihm den Kopfschmuck aufsetzen kann. Die Bucklige muss kräftig ziehen, damit sie die Kappe auf seinen Schädel bekommt. Das Leder spannt um seine Stirn. Draußen endet schmetternd die Musik. Die Bucklige stupst ihn an und lächelt.

Vorsichtig reckt er seinen gehörnten Kopf aus der Ladeluke und blinzelt in die Sonne. Das Schiff liegt zwischen vielen anderen in einem Hafen. Der ganze Küstenstreifen besteht aus Stein. Aber nicht aus Felsen, sondern aus ebenen, glatten Blöcken. Dort stehen viele Leute, die Kreter, die er zuvor hat rufen und pfeifen hören, aber nun schweigen sie. Langsam steigt Rolfr an Deck. Die Kreter sind durchweg braunhäutig und von kleiner Statur, die meisten mit dunklen, langen Haarkordeln, in bunte, faltenreiche Gewänder gehüllt. Viele Frauen tragen Blusen mit so weiten Ausschnitten, dass ihre Brüste unbedeckt bleiben. Alle diese Leute sehen zu ihm herauf. Ein Kind lacht und winkt, ein kahlköpfiger Mann legt langsam die Hand auf seinen Mund. Selbst in der Heimat gehört Rolfr zu den hochgewachsenen Männern, für die Kreter hier muss er wie ein Riese aussehen. Seine Stammesgenossen in Jörginsland würden staunen, wenn sie wüssten, dass es hier erwachsene Männer gibt, die ihm kaum bis zur Brust gehen. Von einer Straße, die von den braungrünen Hügeln hinunter zum Hafen führt, kommen noch immer Menschen heran. Sicher haben alle diese Leute von dem fantastischen Boot gehört und wollen es sehen.

Ganz vorn am Ufer sitzt eine Dame auf einem Esel. Sie trägt eine goldene Krone auf dem Kopf und viele Ketten und Ringe um den Hals, an den Armen und in den Ohren. Um sie herum stehen mehrere reich geschmückte Frauen mit hohen Steckfrisuren, schillernder Schminke um die Augen und blutrot gefärbten Lippen. Drei von ihnen tragen silberne Gürtel um die Hüften. Eine davon muss die Frau sein, von der der Dolmetscher gesprochen hat. Die, die ihn als einen fast freien Sklaven haben will.

Er läuft das Fallreep hinunter, das das Deck mit dem steinernen Ufer verbindet. Seine Schritte tappen leise auf dem Holz. An Land weichen die Einheimischen vor ihm zurück. Der Kahlköpfige lächelt ihn an, eine junge Frau lacht leise auf. Die Frauen mit den Silbergürteln sehen ihm ernst entgegen. Auf einem Gürtel ist ein Muster eingepunzt, auf dem zweiten Fische. Auf dem dritten glänzen Bienen im Sonnenlicht. Mit feinen Linien sind ihre Flügel ins Silber eingraviert. Er geht zu der Frau mit dem Bienengürtel. Ihre blutrot gefärbten Lippen glänzen wie mit Öl bestrichen. Ihre Brauen sind dick mit Kohle nachgezogen, auch um die Augen verlaufen schwarze Striche. Die violette Schminke auf den Oberlidern schimmert im Sonnenlicht. In der Steckfrisur der Bienenfrau glitzern Perlen. Er kniet vor ihr nieder. Die Dame neben ihr, es ist die mit dem Fischgürtel, tritt einen Schritt zurück und stößt mit dem Rücken gegen den Esel. Das Tier schnauft leise.

Mit beiden Händen ergreift die Bienenfrau die Hörner seiner Kappe. Er neigt den Kopf. Hoffentlich rutscht die Kappe nicht ab.

Das Volk bricht in Jubel aus. Rolfr hört das Wort »Minas« aus den Rufen heraus, was Königin bedeutet, hat der Dolmetscher gesagt. Die Leute stimmen einen Sprechchor an. »Mi-nas Pasi-phaë! Mi-nas Pasi-phaë!«, tönt es laut über den Hafen. Die Bienenfrau lässt ihn los und wendet sich der Greisin auf dem Esel zu. Diese regt sich nicht, das Volk ruft immer lauter. Ein junger Mann mit langen Haaren pfeift auf zwei Fingern, der Kahlköpfige klatscht im Rhythmus in die Hände.

Endlich steigt die Greisin mühsam von ihrem Esel. Die Dame mit dem Fischgürtel greift nach ihrem Arm, doch die Greisin wehrt sie ab. Sie tritt vor die Bienenfrau und setzt ihr die Krone auf. Rolfr rückt sich die Kappe zurecht.

Der Dolmetscher beugt sich zu Rolfr herunter. »Natürlich hat hier keiner damit gerechnet, dass sich das Orakel gerade heute erfüllt.« Er lacht leise auf. »Aber es hat geklappt. Du kannst aufstehen.«

Die Kreter jubeln und pfeifen, Rolfr dröhnen die Ohren von ihrem Lärm. Ein schlanker Mann mit langen Haaren und einer Federhaube auf dem Kopf läuft zu der Bienenfrau und umarmt sie. Vier Seeleute bringen das Fallreep vom Frachtschiff. Die Bienenfrau löst sich von dem Mann mit der Federhaube und steigt so selbstverständlich auf das Fallreep, als hätte sie es geübt. Die Kreter drängen sich um das Brett und heben ihre Arme. Jeder will mithelfen, die Bienenfrau zu tragen. Mit erhobenem Kopf steht sie auf dem wankenden Fallreep. Sie federt in den Knien und gleicht so die Bewegungen des Brettes aus. Bestimmt gehört auch sie zu den Stierreitern. Und nun ist sie Königin geworden, Minas. Wegen ihm.

Mit der neuen Minas über ihren Köpfen ziehen die Leute auf der gepflasterten Straße den Hügel hinauf. Der Dolmetscher führt Rolfr im Zug mit. Sechs Kreter in grünen Mänteln und blau-weißen Röcken begleiten sie. Ihre Oberkörper sind bis auf den Mantel nackt. In ihren Ledergürteln stecken Schlagstöcke. Sie lachen und jubeln wie ihre Landsleute.

»Die Kreter nennen dich Tauros«, sagt der Dolmetscher. »Sie rufen: Der weiße Stier ist übers Meer gekommen.« Lächelnd klopft er sich auf seinen bronzebeschlagenen Gürtel.

Hinter den Dünen liegt ein weites Tal, in dem sich eine Stadt ausdehnt. Felder bedecken die Hänge. Die Häuser in der Stadt haben mehrere Stockwerke, in der Mitte sind die Gebäude am höchsten. Sie stehen dicht an dicht, von hier oben sieht die Stadt wie ein bunter Ameisenhaufen aus.

Die gepflasterte Straße führt zwischen den Feldern hindurch. Knorrige, kaum hüfthohe Bäumchen wachsen hier in einer Reihe. Neben Rolfr unterhält sich der Dolmetscher im Gehen mit einer jungen, barbusigen Frau. Ab und zu sagen die Wachen in den grünen Mänteln etwas in ihrer kretischen Sprache zu Rolfr, sie lächeln. Aber als er versucht, aus der Menschenmasse hinauszutreten, werden sie ernst. Einer zieht seinen Stock und tippt ihm damit in die Rippen. Tja, offensichtlich werden auch auf Kreta die Sklaven bewacht.

Die ersten Häuser der Stadt sind flach und weiß gekalkt, doch bald stützen rote und schwarze Säulen obere Stockwerke. Gemalte Tiere und Pflanzen schmücken die Wände. Sogar Fabeltiere sind dargestellt, Vögel mit Wolfstatzen, geflügelte Esel und Schlangen. Die Gemeinschaft zu Hause würde nicht glauben, was Rolfr hier zu sehen bekommt. Dass nicht alle Häuser der Welt eingeschossig und aus Flechtwerk sind wie in der Heimat, hat Rolfr schon in der Stadt mitbekommen, in der der Sklavenmarkt abgehalten wurde. Doch diese Gebäude hier sehen aus, als wären die glatten Wände, die gleichmäßigen Säulen und Treppenstufen mit Gussformen erschaffen worden. Je weiter es ins Innere der Stadt geht, desto näher rücken die Häuser zusammen. Die Gassen werden enger und schattiger. Schließlich halten Strohdächer die Sonne ganz ab. Rolfr und der Dolmetscher treten durch ein Tor, das so hoch ist, dass sogar Rolfr seinen Kopf nicht einziehen muss. Die anderen Leute bleiben zurück. Hinter dem Tor erwartet sie eine Frau mit vor Alter zerfurchten Wangen. Sie führt Rolfr und den Dolmetscher weiter, durch Gänge und Tore, treppauf, treppab. Überall kommen ihnen Menschen entgegen, laufen vor ihnen oder hinter ihnen her. Diese Stadt ähnelt auch im Inneren einem Ameisenhaufen mit vielen verschlungenen Tunneln. Ein einziges verwinkeltes Gebäude, ein prächtiger bunter Irrgarten, der sich über viele Stockwerke ausdehnt. Vielleicht muss man so alt werden wie die Frau, die ihn geleitet, um alle Wege zu kennen.

Schließlich gelangen sie in einen riesigen Saal, in dem gerade Kreter in blau-weiß gestreiften Röcken Teppiche und Kissen zurechtlegen.

»Hier wird gleich Pasiphaës Krönung gefeiert«, sagt der Dolmetscher zu Rolfr. »Auf dem Fest sollst du Gewichte heben und zeigen, wie stark du bist. Ich glaube, die neue Minas will dich behalten. Also enttäusche sie nicht.«

 

 

 

Es ist Nacht. Rolfr liegt auf dem „Bett“ in seinem Zimmer. Das Lager ist extra für ihn angefertigt worden, wegen seiner Körpergröße. Es passt gerade noch in den Raum hinein. Der Stoff, der über das Bett gespannt ist, das „Laken“, riecht nach Blumenwiese, denn der Diener, der täglich vorbeikommt und schaut, ob es Rolfr an nichts fehlt, besprüht es jeden Morgen mit Duftwasser. Seit einem Monat lebt er nun schon auf Kreta, er hat den Mond über dem Lichthof, der an sein Zimmer grenzt, schwinden und wieder wachsen gesehen.

Er dreht sich auf die andere Seite, die Spannriemen des Bettes knarzen leise. In das dunkle Holz des Bettgestells sind Fabelwesen eingeschnitzt. Mit dem Finger fährt er an den Linien entlang. Da ist das achtfüßige, rumpflose Tier. Nun ist es zu dunkel, um es zu sehen, aber am Tage schaut es freundlich aus seinen riesigen Augen. Das weiche Kissen schmiegt sich an Rolfrs Wange. So viel Prunk, dieses Gemach wäre eines Häuptlings würdig.

Er ist nur ein Sklave, aber er ist auch der Stier, den der Meeresgott geschickt hat, deshalb halten ihn die Kreter für sehr wertvoll. Jetzt gehört er zu den Akrobaten, einer Truppe, die bei Festen ihre Kunststücke zeigt. Die Erste Akrobatin hat gesagt, dass dies eine besondere Ehre ist, die für gewöhnlich nur Kretern zuteilwird. In Knossos, so heißt die Stadt, leben viele Akrobaten, Musikanten und Tänzer, sie üben den ganzen Tag und haben keine anderen Aufgaben. Bisher hat Rolfr noch bei keiner Vorstellung mitgewirkt, er muss die komplizierten Figuren erst einüben. Aber die Erste Akrobatin ist mit seinen Fortschritten zufrieden. Wenn er ihr Vertrauen gewinnen kann, bietet sich eines Tages vielleicht die Gelegenheit zur Flucht. Oder er kann sich vielleicht seine Freiheit verdienen, mit einer Heldentat oder durch jahrelange treue Dienste. Jemand aus Jörginsland kommt vielleicht mit einem Frachter und löst ihn aus. Er zieht die Decke bis unter sein Kinn. So ein Unsinn, Jörginsland liegt am anderen Ende der Welt.

Bestimmt haben Mutter und Vater die Hoffnung aufgegeben, ihn je wiederzusehen. Aber sicher denken sie an ihn. Sie sitzen mit der Gemeinschaft am Feuer und reden darüber, was ihm wohl passiert sein mag. Ob er im Meer ertrunken ist. Getötet oder verschleppt. Sie weinen. In der Heimat ist jetzt noch Winter ... Die Tränen laufen über sein Gesicht in das duftende Laken.

Draußen im Lichthof rascheln Blätter, ein Zweig bricht. Der Hof kann nur von Rolfrs eigenem Gemach aus betreten werden. Bestimmt ist ein Tier hineingefallen, die dreibeinige Katze vielleicht, die manchmal oben an der Dachkante vorbeiläuft. Sie muss verletzt sein, der Hof ist drei Stockwerke tief. Er setzt sich auf.

Schritte tappen im Raum vor dem Schlafzimmer, jemand muss durch den Lichthof in die Wohnung gekommen sein. Da erscheint eine kleine Gestalt in der Tür.

Ganz leise kommt sie herein. Ihre Umrisse zeichnen sich in der Dunkelheit ab. Ein Mädchen, sie trägt nur einen Rock. Ihr Haar hängt nach kretischer Art in Kordeln herab. Langsam nähert sie sich seinem Bett. Die Art, wie sie ihre Hüften schwingt, passt eher zu einer erwachsenen Frau als zu einem Mädchen. Der Lichthof ist hoch und schmal, deshalb kommt der Mondschein kaum bis nach unten, doch Rolfr kann die hellen Streifen auf ihrem Rock erkennen. Das ist die Tracht der Dienerschaft, Rolfr besitzt auch so einen Rock. Die Dienerin kommt langsam näher, so als hätte sie Angst, ihn zu erschrecken.

Ein bisschen Kretisch spricht er ja schon, für einen Gruß reicht es. »Guten Tag.« Er bemüht sich, den singenden Ton der fremden Sprache nachzuahmen.

Als Antwort neigt die Frau den Kopf. Irgendetwas sollte er jetzt sagen, damit sie nicht denkt, er sei vor Schreck erstarrt.

»Du ... wie?« Er zeigt zum Fenster und zum Lichthof dahinter.

Mit Gesten erklärt die Dienerin ihm, dass sie sich abgeseilt hat. Er beugt sich zum Fenster. Im Lichthof hängt tatsächlich ein Seil. Sie muss es oben auf dem Dach befestigt haben.

Wahrscheinlich gehört die Dienerin auch zu den Akrobaten. Es sind so viele, und die kleinen Kreter mit ihren schwarzen, langen Haaren sehen sich alle ähnlich. Heute bei der Probe ist ihm ein blinder Trommler aufgefallen, doch ob diese Frau dabei gewesen ist, daran erinnert er sich nicht.

Sie setzt sich zu ihm aufs Bett. Ihre Hände legt sie auf das Laken, Rolfr spürt, wie sie zittern. Unter ihrem Rock steigt der Duft auf, den er von der Nachbarstochter im Heimatdorf kennt. Der einzigen Frau, mit der er bereits geschlafen hat.

Er lacht. Das hat er seit Monaten nicht getan. »Komm her, aber erwarte nicht zu viel von mir.« Natürlich versteht die Dienerin kein Wort, nur deshalb traut er sich, seine Unerfahrenheit so offen zuzugeben.

---ENDE DER LESEPROBE---