Das Schicksal zweier Waisen - Jakob Bergen - E-Book

Das Schicksal zweier Waisen E-Book

Jakob Bergen

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Beschreibung

Diese Geschichte erzählt vom Schicksal eines deutschen Jungen und seiner Schwester, die durch die Turbulenzen des Krieges ihre Eltern und ihre Heimat verlieren. Fremde Menschen entscheiden über ihr weiteres Schicksal, sie werden getrennt und verlieren einander aus den Augen. Viel später treffen sie sich als fremde Menschen wieder und verlieben sie sich. Die Liebesgeschichte nimmt einen dramatischen Ausgang, doch trotz ihres schweren Schicksals finden sie zurück zu Gott und nach vielen überraschenden Lebenswendungen zu einem erfüllten Leben.

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Seitenzahl: 204

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Jakob Bergen

Das Schicksal zweier Waisen

© 2013 Lichtzeichen Verlag GmbH, Lage

Übersetzt aus dem Russischen von Dr. Walter Lange

Umschlag: Manuela Bähr-Janzen

Satz: Gerhard Friesen

ISBN: 9783869549996

Bestell-Nr.: 548999

E-Book Erstellung: LICHTZEICHEN Medien www.lichtzeichen-medien.com

Inhaltsverzeichnis

Deportation

Kinderheim

Flucht und das Vagabundenleben

Und wieder ein Kinderheim

Frühling des Jahres 1953

Zwei Jahre später

Nachwort

Deportation

Als der Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion am 22. Juni 1941 begann, wurden alle Deutschen im Schnellverfahren aus der Ukraine nach Sibirien und Kasachstan deportiert. Die Familie Peters war auch, als eine von vielen, dabei.

Ein junges Ehepaar mit zwei kleinen Kindern wohnte seit seiner Geburt im Dorf Chortitza, Saporoshje. Dort verbrachten sie ihre Kinder- und Jugendjahre, das war ihre Heimat. In Chortitza gründeten Anna und Gerhard auch eine neue Familie.

In den ersten glücklichen Jahren ahnte das junge Ehepaar noch nicht, wie kompliziert und dramatisch sich ihr Leben gestalten würde. Eigentlich ist es gut, dass der Mensch nicht weiß, wie seine Zukunft aussieht, sonst wäre er möglicherweise schon in seiner Kindheit unglücklich.

Das älteste Kind war ein Junge und bekam den Namen Gerhard, genau wie sein Vater. Dies war bei den Mennoniten so üblich. Wäre es eine Tochter gewesen, so hätte sie den Namen der Mutter bekommen. Bei den Peters’ war es anders, die Tochter bekam den Namen Klara. So hieß sie Klara Peters und war zwei Jahre jünger als ihr Bruder Gerhard.

Wer weiß, wie ihr Leben sich ohne den schrecklichen Krieg gestaltet hätte. Aber die Familie Peters, wie auch viele anderen Familien, sollten ihr Glück nicht erleben.

Der Beginn dieser Geschichte führt uns ins Jahr 1941 zurück. Als der siebenjährige Gerhard und seine fünfjährige Schwester Klara noch im Bett lagen, hörten sie von der Straße ein ungewöhnliches Geräusch. Menschen schrieen, Pferde wieherten, Wagenräder klapperten.

Dies passierte meist in der Erntezeit, da dann die Arbeit schon sehr früh begann, aber nicht mit so einer Lautstärke wie dieses Mal. Unerwartet kam ihre aufgeregte Mutter ins Schlafzimmer und rief:

„Kinder, steht schnell auf! Wir müssen unsere Abreise vorbereiten! Der Krieg nähert sich, wir werden verschickt!“

Gerhard wie auch Klara wussten nicht, was Krieg bedeutet, aber nach dem Benehmen der aufgeregten Mutter begriffen sie, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.

Die Mutter blieb am Bett der Tochter stehen und schaute weinend eine Weile ihre Kinder an. Ihre Tränen tropften auf den Körper ihrer Tochter, so dass auch sie Angst bekam.

Peters’ waren sehr gläubige Menschen, sie waren überzeugt davon, dass nur Gott fähig ist, sie zu schützen und ihnen in schwierigen Minuten des Lebens zu helfen. Sie lebten nach den Gesetzen der Bibel und erzogen in diesem Sinne auch ihre Kinder.

Die Kinder wussten, dass ihre Mutter nicht ohne Grund weinen würde. Die Mutter nahm Klara auf den Arm, setzte sie neben Gerhard und begann zu beten. Jedes Wort an den himmlischen Vater sprach sie laut und deutlich aus, so dass auch die Kinder verstanden, in welcher Gefahr sie sich befanden.

Die Kinder hörten, dass die Mutter dieses Mal nicht wie üblich betete, sondern sie bat den lieben Gott, den Retter Jesus Christus, sie zu schützen und auf dem bevorstehenden Weg zu begleiten.

Im Anschluss an das Gebet sprach Anna zu den Kindern:

„Meine lieben Kinder, denkt an meine Worte: Gott bleibt immer mit uns, ganz gleich, wo wir uns befinden. Vergesst nie zu beten. Seid ihm dankbar, wenn ihr etwas bekommt, und bittet ihn um Hilfe, wenn ihr in Not seid. Er, unser großer Gott, hilft uns.“

Es vergingen mehrere Jahre, doch wie lange erschienen sie Gerhard und Klara, die während der Deportation Waisen wurden...?

Als Erwachsener konnte Gerhard sich deutlich an die schreckliche Zeit erinnern. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss und in Gedanken in die Vergangenheit zurück kehrte, sah er seine Eltern und hörte das Gebet der Mutter, das sie jenen Morgen sprach, als sie ihr Haus in Chortitza verlassen mussten. Er sah den Vater, den gesunden, starken Mann, den er sehr lieb hatte, er sah den Hof, in dem so oft Verstecken mit Freunden gespielt wurde. Und den großen Obstgarten hinter dem Haus! Das alles sah Gerhard mit geschlossenen Augen, oft auch im Traum.

Dort, in einem der ersten mennonitischen Dörfer in der Ukraine, das während der Regierungszeit der Kaiserin Katharina II. im russischen Reich gegründet wurde, verbrachte er die glücklichsten Jahre seines Lebens. Daran, was er in dieser kurzen Kinderzeit erlebt hatte, konnte er sich gut erinnern. Jedes Mal, wenn es ihm nicht gut ging und seine Seele unerträglich schmerzte, erinnerte er sich an seine Eltern, die ihm viel Freude geschenkt hatten.

Gerhard konnte sich an vieles erinnern, besonders an die Zeit der Deportation. Der Vater wurde beauftragt das Vieh, das der Kolchose gehörte, hinter den Dnjepr in Richtung Osten zu begleiten. Die Mutter begab sich allein mit den Kindern mit dem Pferdewagen zur Eisenbahnstation. Der Wagen war voll gepackt mit allerlei Gegenständen, mit Säcken, Koffern und mehreren Taschen. Vieles davon gehörte auch den Menschen, die hinter dem Wagen zu Fuß hergingen. Es war eine Vielzahl von Fuhrwerken, alle eilten nach Osten, um nicht von den deutschen Truppen eingeholt zu werden. Uniformierte Soldaten und Offiziere kontrollierten die Flüchtlingszüge und achteten darauf, dass niemand im Dorf zurück bliebe. Trotzdem kamen viele nicht mit, sie versteckten sich, weil sie Haus und Wirtschaft nicht im Stich lassen wollten. Eine lange Karawane von Pferdewagen bewegte sich Richtung Eisenbahnstation. Viele führten eine Kuh und anderes Vieh mit. Die Menschen gingen ins Ungewisse und wussten nicht, was sie erwarten würde. Man begegnete auch viel Militärtechnik und Soldaten. Am Himmel kreisten laut dröhnende Flugzeuge. Es brüllten die Kühe, die Kinder weinten und jede Familie war mit den eigenen Problemen beschäftigt.

An das alles erinnerte sich nicht nur Gerhard, sondern auch seine fünfjährige Schwester Klara. Kinder und Mutter wussten nicht, wo und wann sie ihren Vater wieder treffen würden. Sie wurden schon am ersten Tag der Vertreibung getrennt.

Als die Flüchtlingskarawane die Eisenbahnstation erreichte, durften die nun Heimatlosen in die Güterwaggons des langen Zuges einsteigen. Viele weigerten sich jedoch, weil ihre mitgebrachte Sachen und Haustiere zurück bleiben mussten.

Die bewaffneten Begleiter in Uniform übernahmen das Kommando über die Flüchtlinge. Sie befahlen, nun in die Waggons einzusteigen. Jeder durfte nur einen Koffer oder einen Sack mitnehmen. Die Leute stritten, bettelten und wollten sich durchsetzen, aber alles half nicht.

„Seid dankbar, dass ihr evakuiert werdet, sonst kommt ihr unter dem Bombardement der Deutschen um“, sagte laut ein Offizier.

Das Verladen nahm viel Zeit in Anspruch, aber auch als alle schon in den Waggons saßen, stand der Zug noch eine lange Zeit. Auf dem Bahnsteig rannten Bahnarbeiter, Soldaten, Offiziere hin und her und gaben einander unterschiedliche Befehle.

Es stellte sich heraus, dass an den Zug noch Plattformen mit Werkzeug und Fabriktechnik angehängt werden sollten.

Als der Zug losfuhr, seufzten viele vor Erleichterung, weil man die Bombenexplosionen schon ganz in der Nähe hörte. Alle Pferdewagen und das Vieh der Flüchtlinge blieben zurück. Das Getöse und Geschrei der Menschen, das laute Weinen der Frauen und Kinder übten einen starken Eindruck auf die Kinder aus und prägten sich tief in ihr Gedächtnis ein.

Anna war Gott dankbar, dass ihre Kinder bei ihr waren und sie einen Vorrat an Nahrungsmitteln für mehrere Wochen bei sich hatte. Viele hatten das nicht. Nur das Eine beunruhigte Anna - die Abwesenheit des Vaters ihrer Kinder und ihres Ehemannes, Gerhard.

„Wo ist er jetzt, bleibt er wohl am Leben?“ – dieser Gedanke drehte sich ständig in ihrem Kopf. „Wenn ja, wo treffen wir uns?“ Durch diese Sorge fand sie keine Ruhe. Sie wusste nicht, dass eine noch schlimmere Gefahr sie und ihre Kinder erwartete.

Zuerst hielt der Zug nicht an den kleinen Stationen, aber das änderte sich bald. Kurz vor einer größeren Station hörten die Flüchtlinge, wie ganz niedrig über dem Zug Flugzeuge heulten. Man konnte sie aus den Waggons nicht sehen, aber schon bald fielen ganz in der Nähe Bomben und explodierten mit großer Wucht. In diesem Moment begann die Dampflok laut zu pfeifen an, was die Gefahr eines Luftangriffes andeutete.

Aber was konnten die Frauen und Kinder dagegen machen? Sie waren hilflos dem drohenden Tod ausgesetzt.

Der Luftangriff dauerte nur wenige Minuten und der Zug wurde nicht getroffen. Dann wurde es wieder still. Die Stille dauerte jedoch nicht lange, denn die Gefahr war noch nicht vorüber. Der Zug näherte sich einer großen Station und hielt an. Die Türen der Waggons wurden geöffnet und viele eilten zum Wasserhydrant, um Trinkwasser zu holen. Der Wasserhahn war nicht weit entfernt. Die Menschen eilten mit einem Eimer, einer Teekanne oder auch nur einer Flasche dahin. Wasser brauchten alle und niemand wusste, wann es das wieder geben würde.

Anna entschied sich auch, Wasser zu holen. Sie goss den übrig gebliebenen „Prips“ in einen Becher und sagte zu den Kindern:

„Bleibt sitzen, nach ein paar Minuten bin ich wieder zurück“ und zeigte mit der Hand in Richtung Wasserhydrant, wo schon eine Schlange von Flüchtlingen wartete.

Die Kinder blieben still sitzen und Anna sprang aus dem Wagen.

Gerhard und Klara schauten ihr nach und sahen, wie ihre Mutter zur Wasserstelle lief. In diesem Augenblick explodierte mit großer Wucht eine Bombe, so dass auch der Waggon ins Schaukeln gebracht wurde.

Vor Staub und Rauch wurde es fast dunkel. Auf die Waggons fielen Steine, Holzstücke und Dreckklumpen. Die Leute schrieen vor Angst, viele weinten laut, weil sie bereits ahnten, was geschehen war. Es war eine große Bombe, die unmittelbar an der Wasserstelle explodiert war. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich dort gerade viele Menschen versammelt. Nach einigen Minuten setzte sich der Staub und die am Leben gebliebenen Flüchtlinge sahen ein großes Loch, das einem Trichter ähnelte ...

Die Menschen, die noch eben am Wasserhahn standen, waren nicht mehr sichtbar. Am Kraterrand lagen Leichen und menschliche Körperteile, einige unmittelbar vor dem Wagen, in dem Gerhard und Klara auf die Mutter warteten.

Am Leben gebliebene Frauen und Männer waren so erschrocken, dass einige den Verstand verloren zu haben schienen und vor Angst schrieen.

Gerhard und Klara begriffen erst gar nicht, was tatsächlich passiert war. Sie wollten es nicht glauben, dass ihre liebe Mama auch umgekommen war. Ihre Rufe nach der Mutter blieben ohne Antwort. Sie war gestorben, wie mehrere andere Mütter und Väter auch ...

In diesem Moment begann der Zug sich zu bewegen, um schleunigst die Station zu verlassen. Dieser Augenblick brannte sich unauslöschlich ins Gedächtnis von Klara und Gerhard. Sie hatten es nicht nur gesehen, sondern auch die schreckliche Explosion der Bombe gehört. Und die letzten Worte der Mutter „Ich hole Wasser und bin bald wieder bei euch“ klangen noch in ihren Ohren.

So wurden Gerhard und Klara zu Waisen.

Die Flüchtlinge im Waggon hatten Mitleid mit den weinenden Kindern, wussten aber nicht, wie sie sie beruhigen könnten. Aus diesem Wagen waren noch einige Menschen umgekommen, aber die zurück gebliebenen Kinder hatten immer noch entweder eine Mutter, einen Vater oder erwachsene Geschwister. Nur Gerhard und Klara hatten niemanden mehr. Eine Frau, die nicht mehr tatenlos zusehen konnte, näherte sich den Kindern, umarmte sie und versuchte sie zu beruhigen. Es fiel ihr schwer, passende Worte zu finden. Wie tröstet man jemand, der gerade seine Mutter verloren hatte? Es ist kaum möglich, Trostworte zu finden, wenn ringsum Krieg herrscht, Bomben explodieren und Kinder in eine fremde, unbekannte Gegend gebracht werden. Wer wird sich um sie kümmern, ihnen zu essen und ein Dach über dem Kopf geben?

Die Frau streichelte die Kinder über den Kopf, dann holte sie aus ihrem Sack eine Flasche mit süßem Tee und bot ihn Klara an:

„Hier, meine Liebe, trink mal süßen Tee, ich hole gleich auch Brot für jeden von euch heraus.“

Das Mädchen schluchste ununterbrochen, aber als sie die Flasche sah, unterdrückte sie das Weinen und begann zu trinken. Gerhard weinte auch immer noch, aber langsam fing er an zu begreifen, dass die Mutter nicht mehr zurückkommen würde und er als der Ältere sich nun um seine Schwester zu kümmern hatte. Eine Viertelstunde später umarmte er sie so fest, als ob jemand sie von ihm wegnehmen wollte.

Im mit Menschen und Gepäck überfüllten Waggon herrschte eine traurige Stimmung. Wie konnte es auch anders sein, wenn vor aller Augen viele Angehörige durch die Bombe hatten sterben müssen?

Die Situation war schlimm genug, besonders für die kleinen Waisenkinder. Dabei waren diese noch einigermaßen gut aufgehoben, solange sie sich unter den deutschen Landsleuten befanden. Für Gerhard und Klara war Russisch nämlich eine völlig fremde Sprache, von der sie kein einziges Wort verstanden. Das bedeutete, dass sie auch keinem Beamten erklären konnten, wer sie seien, wie sie hießen und wie ihre Mutter umgekommen war. Die im Waggon anwesenden Erwachsenen aus dem gleichen Dorf wussten auch nicht, wie es mit den Kindern weiter gehen sollte. Solange sie alle im gleichen Zug fuhren, konnten sie sich um die Kinder kümmern und sie versorgen. Doch wer wollte es riskieren, die Kinder zu übernehmen, wenn niemand wusste, wie ihre eigene Zukunft aussehen würde?

Es gab scheinbar nur eine Lösung: Die Kinder in die Hände der Miliz zu übergeben. „Sie werden sie in einem Kinderheim unterbringen“, war man sich nach reichlichen Überlegungen einig. Das geschah aber erst nach vier oder fünf Tagen Fahrt. In der Zwischenzeit hatten sich die Kinder etwas beruhigt und sich an die neuen Weggefährten gewöhnt, zumal sie einige von ihnen noch von Chortitza her kannten.

Als der Zug wieder einmal hielt, traten in den Wagen zwei Milizionäre, ein Mann und eine Frau. Den Passagieren war es sofort klar, dass sie Gerhard und Klara abholen würden. So geschah es auch. Der Augenblick, in dem die Kinder unter Tränen von den bekannten Menschen getrennt und ins Ungewisse abgeführt wurden, wühlte doch ziemlich die Gemüter auf. Mit Sicherheit hatten manche ein schlechtes Gewissen, weil sie die Kinder nicht zu sich genommen hatten. Aber es war Krieg – ein Krieg, der jeden Tag neue Leiden brachte. Jeder kämpfte ums eigene Überleben.

Kinderheim

Nur jemand, der auch nur für kurze Zeit im Kinderheim leben musste, hat Vorstellungen davon, wie das Leben dort aussieht. Das Wort „Kinderheim“ lässt sich leicht aussprechen, aber was bedeutet es für die Kinder und wie erleben sie diese Umstellung, wenn sie noch vor paar Tagen sorglos und glücklich bei den Eltern lebten? Ein Kinderheim ist ein Haus für elternlose Kinder, also ein Haus für Waisen. In so einem Haus sind Kinder unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Nationalität untergebracht und der staatlichen Gewalt unterworfen. Es herrscht ein kaltes Klima und es hat keinen Sinn zu klagen und die Mama um Hilfe zu rufen. Dort gibt es kein Mitleid und keinen, der einen umarmt und Liebe zeigt, wie es die eigenen Mutter und Vater machen. Ein Kinderheim ist eine „Einrichtung“ für Waisen, um sie von der Straße zu holen und vom Sterben zu retten.

In so ein Kinderheim kamen Gerhard und Klara Peters im Herbst 1941. Sie kamen in diese staatliche Einrichtung, wo alles für sie fremd war und sie niemand verstehen konnte. Zu Hause hatten sie bis dahin ja immer nur Plattdeutsch gesprochen. Gerhard Peters, der von jetzt an den Namen Grischa bekommen hatte, konnte nicht verstehen, was die fremden „Onkels und Tanten“ von ihm wissen wollten. Aber die Mitarbeiter des Heimes begriffen sofort, dass es sich um deutsche Kinder handelte. Den Namen der Schwester, Klara, musste Grischa selber nennen, weil die Kleine immer noch weinte und kein Zutrauen zu den Fremden hatte.

In einem großen Raum standen viele eiserne Betten, in denen kleine und große Kinder nachts schliefen. In einem waren die Kinder alle gleich – sie waren Waisenkinder.

Hinter einer Trennwand war ein anderer großer Raum mit langen Tischen, in dem gegessen wurde. Es gab noch mehrere Zimmer, wo die Kinder spielen oder basteln konnten. Der Bade- und Waschraum sowie die Toiletten befanden sich in einem separaten Gebäude im Hof. Das alles wurde den Kindern noch am ersten Tag gezeigt. Grischa konnte sich von Anfang an nicht mit der Situation anfreunden, so dass in seinem Kopf allmählich Fluchtgedanken entstanden. Doch wohin fliehen, wusste er noch nicht.

Abends wurde nach Kommando schlafen gegangen. Grischa und Klara konnten noch lange nicht einschlafen. Ihre Betten standen nebeneinander. Unbemerkt von den anderen kroch Grischa in der Dunkelheit in das Bett seiner Schwester, umarmte sie, wie das ihre Mama immer gemacht hatte, und so schliefen sie bald ein. Nach dem Aufwachen stellten sie erneut fest, dass sie sich unter fremden Menschen in einem fremden Haus befanden.

Im Kinderheim gab es viele Kinder. Fast täglich kamen neue dazu. Auch sie weinten, wollten nicht essen und den Erziehern gehorchten, doch auch sie wurden gezwungen, sich an das Heim zu „gewöhnen“.

Es vergingen einige Tage. Grischa und seine Schwester Klara gewöhnten sich langsam an das neue Leben. Gewiss, das bedeutete nicht, dass sie zufrieden und fröhlich waren, nein, sie hörten einfach auf zu weinen, wohl deswegen, weil ihre Tränen versiegt waren. Ein Tag glich dem anderen. Zum Frühstück bekamen sie ein Brötchen oder Brot mit Tee, der Klara nicht schmeckte, weil er nicht süß genug war. Zu Mittag gab es Suppe oder sauren Borschtsch, als Zulage Brei. Dengleichen Brei bekamen die Kinder zum Abendbrot.

Damit konnten sich die Kinder noch zufrieden geben, sie mussten nicht hungern und frieren. Weit schwieriger war für sie, mit anderen Kinder zu kommunizieren, besonders mit denen, die nicht Deutsch sprachen. Als die Erzieher und andere Kinder Fragen an Grischa und Klara stellten, blieben diese stumm, weil sie die Fragen nicht verstanden.

Am zweiten Tag ihres Aufenthalts im Heim näherte sich eine ältere Erzieherin Klara, umarmte sie und sagte ihr etwas in russischer Sprache. Bei Klara kamen gleich die Tränen und weinend sagte sie: „Etj well nu Mama!“. Die Erzieherin drehte sich sofort weg und Klara merkte auch Tränen in ihren Augen. Die Frau verstand nur das Wort „Mama“ und verstand den Sinn.

Zu einem weiteren Problem für Klara und Grischa wurde, dass alle Kinder und Erwachsene nun mitbekommen hatten, dass sie Deutsche seien.

Obwohl die Kinder in Altersgruppen aufgeteilt waren, kamen sie dennoch oft zusammen, z.B. im Speisesaal oder wenn sie im Hof spielten, der mit einem hohen Zaun umzäunt war. Dabei beleidigten die Älteren die Kleinen. Nach ein paar Tagen des Aufenthalts im Kinderheim von Klara und Grischa wussten bereits alle, dass sie Deutsche seien, und fingen mit Schikanen an. Sie wurden nicht mehr mit Namen genannt, sondern waren jetzt „Fritze“ oder sogar „Faschisten“, obwohl niemand wusste, auch Grischa nicht, was diese Worte bedeuteten. Er war gezwungen, sein Brot und seinen Zucker mit den Großen zu teilen und so die Hetzerei von sich und seiner Schwester abzuwehren. Unter den großen Kindern gab es richtige Zankhähne, auch wenn sie nur drei bis vier Jahr älter waren als Grischa. Sie hatten keinen Respekt vor der Erzieherin und machten, was sie wollten. Eines Tages, als alle Kinder draußen im Hof spielten, näherte sich ein Junge Grischa und rief laut, so dass alle ihn hören konnten:

„Schaut mal her, Jungs, das ist ein Deutscher. Es kann sein, dass sein Vater eure Eltern getötet hat!“

Eine Erzieherin hörte es, rief die Kinder zu sich und sagte:

„Kinder, dieser Junge und seine Schwester sind auch Waisen, sie tragen keine Schuld, dass es Krieg gibt, sie können auch nichts dafür, dass sie Deutsche sind. Ihr solltet sie nicht beleidigen. Sie sind genauso ohne Eltern wie ihr alle.“

„Wieso sind sie genau so ohne Eltern wie wir alle?“, meldete sich sofort einer von der Größeren, „die Deutschen führen Krieg mit uns, sie möchten alle Russen töten und Sie, Maria Michailowna, sagen, sie sind die Gleichen wie wir?!“

„Nein, Kolja, sie sind nicht die Deutschen, die Krieg gegen die Russen führen, die Kinder sind in Russland bzw. in der Ukraine geboren und sind keine Faschisten.“

Nach diesem Gespräch wurde es für kurze Zeit ganz still, aber viele Kinder betrachteten Grischa mit neugierigen Augen und wunderten sich, dass ein Deutscher genau so einer sein könne wie sie.

Es verging eine Zeit und Grischa beherrschte relativ gut die russische Sprache. Dann passierte ein Zwischenfall, der größere Spannungen zwischen Grischa und den älteren Kindern verursachte.

Einer von den größeren Jungen, vielleicht elf oder zwölf Jahre alt, machte Grischa folgendes Angebot:

„Du bist ein Deutscher und ich sehe, wie oft dich die Anderen beleidigen. Wollen wir uns so einigen: Du gibst mir jeden Tag ein Stück Zucker von deiner Portion und ich verteidige dich dafür?“

„Nein, damit bin ich nicht einverstanden“, antwortete Grischa, ohne sich das Angebot lange zu überlegen.

„Pass auf, du wirst dies noch bereuen! Merke es dir, ich werde dich nicht verteidigen!“

„Ich brauche keinen Verteidiger. Ich kann selbst für mich sorgen“, antwortete Grischa und entfernte sich vom ‚Verteidiger‘.

Am anderen Tag, nach dem Frühstück, versammelten sich im Hof wieder viele Kinder, darunter auch der ‚Verteidiger‘, der dann laut meldete:

„Jungens, wisst ihr, warum ihr heute so wenig Zucker bekommen habt?“

Ihm erwiderte einer von den Mutigsten, der vorher wusste, dass er dafür Schläge bekommen würde:

„Weil du den Zucker von unseren Tischen stiehlst.“

„Du irrst dich! Schuld daran hat dieser vor euch stehende Fritz. Und wenn ihr es nicht glaubt, dann kontrolliert mal seine Taschen! Ich habe selber gesehen, wie er euren Zucker vom Tisch geklaut hat!“

Als Grischa diese lügnerische Beschuldigung hörte, wollte er seinen Peiniger aus Wut am liebsten vernichten. Spontan trat er vier Schritte zurück und rannte mit gesenktem Kopf den Lügner an. Das war für diesen eine unerwartete Aktion, er stürzte zu Boden und tat sich sehr weh.

Dann stand er auf, schaute die anderen Kinder an, die sich im Kreis versammelt hatten, und sagte:

„Jetzt seht ihr, wer vor euch steht! Er ist ein Faschist und würde uns am liebsten alle töten. Dazu ist er auch noch ein Dieb! Kontrolliert seine Taschen, dann könnt ihr euch überzeugen, dass es so ist.“

Nachdem sie diese Worte gehört hatten, gingen drei oder vier große Jungs auf Grischa zu, hielten ihn fest und untersuchten seine Taschen. Grischa leistete keinen Widerstand, weil er sicher war, keinen geklauten Zucker in der Tasche zu haben. Widerstand hatte auch keinen Sinn, weil die Jungen viel stärker waren als er. Aber in dem Moment passierte etwas Unerwartetes: Einer von den Jungens fand in der äußeren Tasche von Grischas Jacke drei Würfel Zucker. Grischa sah diesen Zucker mit offenem Mund und Erstaunen an. Er konnte nicht begreifen, wie so etwas passieren konnte. Sich zu rechtfertigen war unmöglich. Er bekam Faustschläge von allen Seiten und nachdem er am Boden lag, wurde er mit Füßen getreten. Der Anstifter dieser Schlägerei stand an der Seite und schrie:

„Schlagt das Ekel! Kein Mitleid mit ihm! Er ist unser gemeinsamer Feind!“

Grischa lief das Blut aus dem Mund, sein ganzer Körper schmerzte, doch die Tritte hörten nicht auf. Erst als eine Erzieherin das bemerkte und sich einmischte, verschwanden alle. Der geschlagene und gedemütigte Grischa blieb zurück. Er konnte sich schon denken, wer den Zucker heimlich in seine Tasche gelegt hatte, nämlich der „Verteidiger“, der ihm einen Deal angeboten hatte. Nach diesem Zwischenfall war Grischa noch mehr davon überzeugt, dass er im Kinderheim nicht länger bleiben könne.

Mehrere Tage vergingen, es wurde immer kälter, regnete längere Zeit - der Herbst nahte. Grischa und Klara wohnten schon mehr als einen Monat im Kinderheim. Untereinander redeten sie immer noch plattdeutsch, aber so leise, dass es niemand hören konnte. Sonst gaben sie ihr Bestes, Russisch zu reden, oder schwiegen, um den Spott zu vermeiden.

Eines Tages erfuhren sie, dass sie bald getrennt werden sollten. Das wurde von der Heimleitung endgültig so entschieden und konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. Es wurde den Kindern erklärt, dass es mit der Vorbereitung für den Schulunterricht verbunden sei und in Altersgruppen der Unterricht effektiver liefe.

Als diese traurige Nachricht unter den Kindern bekannt wurde, waren viele enttäuscht, ebenso Grischa und Klara, weil auch sie nun getrennt werden sollten. Das würde bedeuten, dass sie sich in Zukunft nicht mehr sehen, zusammen spielen und nebeneinander schlafen würden.

Die kleine Klara hatte sich darüber noch keine Gedanken gemacht, sie begriff noch nicht so recht, dass Grischa ihr nun fehlen wird, aber er, ihr Bruder, der älter war, ahnte bereits, was die Trennung für beide bedeuten würde. Ja, Grischa war sehr aufgeregt und machte sich Sorgen, weniger um sich selber als um seine kleine Schwester. Insgeheim schmiedete er Pläne... Eines Tages saß Klara im Hof und beobachtete die gelben Blätter, die von den Bäumen segelten. In dem Moment kam zu ihr eine Erzieherin, die alle Vera Maximowna nannten, und sagte: „Klara, komm mit mir, wir packen zusammen deine Sachen, du kommst in ein anderes Kinderheim.“