Das Schild der Zeit - Poul Anderson - E-Book

Das Schild der Zeit E-Book

Poul Anderson

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Beschreibung

Einmal quer durch die Geschichte

Die Danellianer, eine Spezies von gottgleicher Macht, vertreten ihre Interessen nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit. Auch auf der Erde haben sie ihre Institution: Die Zeitpatrouille, deren Agenten in der Vergangenheit unterwegs sind, um die Geschichte im Sinne der Außerirdischen zu manipulieren. Auf einen Wink von ihnen hin fallen Reiche und sterben Millionen von Menschen. Manse Everard und Wanda Tamberley gehören der Zeitpatrouille an. Ihr Auftrag: Eine Gruppe junger Zeitreisender aufzuhalten, die die Vergangenheit so manipulieren wollen, dass die Danellianer nicht an die Macht kommen …

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Seitenzahl: 688

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POUL ANDERSON

DER SCHILD DER ZEIT

INHALT

Teil Eins – Der Fremde innerhalb deiner Tore

1987 n. Chr.

Teil Zwei – Frauen und Pferde und Macht und Krieg

1985 n. Chr.

209 v. Chr.

1987 n. Chr.

209 n. Chr.

976 v. Chr.

209 v. Chr.

1987 n. Chr.

209 v. Chr.

1988 n. Chr.

209 v. Chr.

1902 n. Chr.

1958 n. Chr.

Teil Drei – Von den Göttern, welche die Götter schufen

31 275 389 v. Chr.

Teil Vier – Beringia

13 212 v. Chr.

1965 n. Chr.

13 212 v. Chr.

1990 n. Chr.

13 211 v. Chr.

13 210 v. Chr.

1990 n. Chr.

Teil Fünf – Rate mal

1990 n. Chr.

Teil Sechs – Das Staunen der Welt

1137α n. Chr.

1765 v. Chr. – 15 926 v. Chr. – 1765 v. Chr.

1980α n. Chr.

18 244 v. Chr.

1989α n. Chr.

1137 n. Chr.

1137α n. Chr.

1138α n. Chr.

1137 n. Chr.

1989α n. Chr.

18 244 v. Chr.

1989β n. Chr.

1137 n. Chr.

1146 n. Chr.

1245β n. Chr.

1146 n. Chr.

1990 n. Chr.

TEIL EINS

1987 n. Chr.

Vielleicht war es ein Fehler gewesen, schon einen Tag nach seiner Abreise von New York dahin zurückzukehren. Selbst hier und jetzt war das Frühjahr zu schön. In einer solchen Abenddämmerung sollte niemand allein sitzen und sich an alte Zeiten erinnern. Der Regen hatte aufgehört. Durch die offenen Fenster drang ein Hauch von Blüten und frischem Grün herein. Die Lichter und Geräusche von den Straßen unten wurden gedämpft, plätscherten nur wie ein Fluss dahin. Manse Everard wollte hinaus.

Er hätte einen Spaziergang im Central Park machen können, wenn er für alle Fälle seine Betäubungspistole einsteckte. Kein Polizist dieses Jahrhunderts würde das Ding für eine Waffe halten. Aber in letzter Zeit hatte er so viel Gewalt gesehen – jedes bisschen Gewalt war schon zu viel. Da wäre es besser, eine sichere Route durch die Stadt zu wählen und in einer der kleinen Kneipen, die er kannte, ein Bierchen zu trinken und sich nett zu unterhalten. Wenn er ganz weg wollte, konnte er ein Zeitmobil im Patrouillen-Hauptquartier anfordern und damit jedes beliebige Zeitalter an jedem beliebigen Ort der Erde besuchen. Ein Unabhängiger Agent brauchte keine Gründe anzugeben.

Ein Telefonanruf hatte ihn in die Falle gelockt. Jetzt tigerte er in der dunkler werdenden Wohnung hin und her, rauchte Pfeife und verfluchte sich in regelmäßigen Abständen. Diese Stimmung war einfach albern! Klar, nach einem Einsatz war ein gewisses Abschlaffen nur natürlich; aber er hatte schon zwei lockere Wochen in Hiram's Tyre gehabt, um die nach abgeschlossener Mission noch übriggebliebenen Details zu erledigen. Und was Bronwen betraf – für sie hatte er gesorgt. Wenn er sie jetzt wieder besuchte, würde das nur die Zufriedenheit zerstören, die sie gefunden hatte. Laut Kalender lag sie zu Staub geworden schon zweitausendneunhundert Jahre da. Die Sache sollte beendet sein.

Die Türklingel erlöste ihn. Er schaltete das Licht ein. In der plötzlichen Grelle musste er blinzeln. Dann ließ er seinen Besucher ein. »Guten Abend, Agent Everard«, begrüßte ihn der Mann. Er sprach Englisch mit leichtem Akzent. »Ich bin Guion. Ich hoffe, dass Ihnen diese Zeit nicht allzu ungelegen ist.«

»Nein, nein. Ich war doch damit einverstanden, als Sie mich anriefen, oder?« Sie gaben sich die Hand. Everard bezweifelte, dass diese Geste in Guions heimischem Milieu üblich war, ganz gleich wann oder wo dies war. »Treten Sie ein!«

»Sehen Sie, ich dachte, Sie möchten vielleicht das weltliche Geschäft hinter sich bringen und vielleicht ab morgen Ferien – nein, ihr Amerikaner sagt ja ›Urlaub‹ – an einem ruhigen Plätzchen machen. Ich hätte Sie natürlich auch danach interviewen können; aber Ihre Erinnerungen wären nicht mehr so frisch. Außerdem möchte ich Sie – ehrlich gesagt – gern näher kennenlernen. Darf ich Sie in ein Restaurant Ihrer Wahl zum Abendessen einladen?«

Während Guion sprach, war er eingetreten und hatte sich in einen Lehnsessel gesetzt. Sein Äußeres war unauffällig. Er war nicht sehr groß, schlank und trug einen einfachen grauen Anzug. Sein Kopf aber war groß. Wenn man genau hinschaute, sah man, dass das fein gemeißelte Gesicht nicht das eines dunklen Weißen war. Es gehörte zu keiner Rasse, die gegenwärtig auf dem Planeten lebte. Everard überlegte, welche Mächte hinter seinem Lächeln lagen.

»Danke«, antwortete Everard. Oberflächlich betrachtet bedeutete das Angebot nicht viel. Ein Unabhängiger Agent der Zeitpatrouille verfügte über unbeschränkte Mittel. Aber tatsächlich gesehen, bedeutete es sehr viel. Guion wollte eine Lebensspanne für ihn ausgeben. »Was halten Sie davon, wenn wir die prinzipiellen Fragen zuerst klären? Möchten Sie was zu trinken?«

Guion äußerte seinen Wunsch. Everard ging zur Hausbar und mixte für beide Scotch und Soda. Guion störte die Pfeife nicht. Everard setzte sich auch.

»Darf ich Ihnen nochmals für ihre Erfolge in Phönizien meine Glückwünsche aussprechen«, sagte sein Besucher. »Einfach außergewöhnlich.«

»Ich hatte eine gute Mannschaft.«

»Gewiss; aber die Führung war erstklassig. Und Sie machten die Vorarbeiten solo unter erheblichem Risiko.«

»Sind Sie deshalb gekommen?«, fragte Everard. »Meine Abschlussbesprechung war verdammt gründlich. Sie haben sicher die Unterlagen gesehen. Ich weiß nicht, was ich Ihnen darüber hinaus sonst noch erzählen könnte.«

Guion starrte in sein erhobenes Glas, als seien die Eiswürfel das Orakel von Delphi. »Möglicherweise ließen Sie einige wenige Details aus, weil Sie sie für unwichtig hielten«, sagte er leise. Ihm war der finstere Ausdruck auf dem Gesicht seines Gegenübers nicht entgangen, auch wenn er gleich wieder verschwand. Er hob die Hand. »Keine Angst! Ich habe nicht die Absicht, in Ihre Privatsphäre einzudringen. Ein Detektiv, der keinerlei Gefühle für die Menschen hätte, mit denen er bei einer Mission zu tun hat, wäre – mangelhaft, wertlos oder geradezu gefährlich. Solange wir nicht zulassen, dass unsere Gefühle unsere Aufgaben gefährden, gehen sie … äh … niemanden etwas an.«

Wie viel weiß oder vermutet er?, überlegte Everard. Eine traurige, kleine Romanze mit einem keltischen Sklavenmädchen, zum Scheitern verurteilt allein schon durch den zeitlichen Abgrund zwischen den Geburtszeiten. Dass er am Schluss ihre Freilassung und Heirat arrangierte? Lebwohl – ich werde nicht nachfragen, sonst erfahre ich womöglich mehr, als mir lieb ist.

Man hatte ihm nicht mitgeteilt, was Guion wollte, auch nicht warum, lediglich, dass diese Person auf alle Fälle seinen Rang hatte, wahrscheinlich aber einen höheren. Die Patrouille führte außer bei den niedrigsten Chargen keine Organisationslisten und hatte auch nichts übrig für offizielle Befehlshierarchien. Das war auch gar nicht möglich. Die Struktur war viel subtiler und stärker. Wahrscheinlich verstanden nur die Danellier sie ganz.

Trotzdem war Everards Ton barscher, als er sagte: »Wir Unabhängigen haben einen großen Ermessensspielraum.« Und damit wiederholte er nicht nur Altbekanntes.

»Selbstverständlich, selbstverständlich«, meinte Guion mit katzenhafter Freundlichkeit. »Ich erhoffe mir ja nur ein paar weitere Tropfen Information aus allem, was Sie erlebten und beobachteten.« Noch butterweicher. »Darf ich fragen, ob Ihre Pläne auch Miss Wanda Tamberly einschließen?«

Everard zuckte zusammen. Beinahe hätte er seinen Drink verschüttet. »Was?« Reiß dich zusammen! Ergreif die Initiative! »Sind Sie deshalb gekommen? Um über sie zu sprechen?«

»Nun, Sie empfahlen ihre Einstellung.«

»Und sie hat die Aufnahmeprüfungen bestanden, stimmt's?«

»Gewiss. Aber Sie lernten sie kennen, als sie in dieser peruanischen Episode steckte. Eine kurze, aber anstrengende und aufschlussreiche Bekanntschaft.« Guion lachte leise. »Seitdem kultivierten Sie die Beziehung. Das ist kein Geheimnis.«

»Nicht sehr«, fuhr Everard ihn an. »Sie ist sehr jung. Aber – na ja, ich betrachte sie als eine Freundin.« Er machte eine Pause. »Eine Art Protégée, wenn Sie so wollen.«

Wir hatten ein paar Verabredungen. Dann bin ich nach Phönizien gegangen. Auf meiner Zeitlinie waren es Wochen … und ich kam in denselben Frühling zurück, als wir beide zum ersten Mal zusammen in San Francisco waren.

»Ja, ich werde sie bestimmt wiedersehen«, fügte er hinzu. »Aber sie hat viele andere Dinge, die sie auf Trab halten. Sie muss zurück in den September auf den Galapagos-Inseln, aus dem sie herausgerissen wurde, dann auf dem üblichen Weg wieder nach Hause. Danach hat sie mehrere Monate, um Auftritte im zwanzigsten Jahrhundert so zu arrangieren, dass sie verschwinden kann, ohne in den Köpfen der Leute Fragen auszulösen – Ach! Warum, zum Teufel, wiederhole ich, was Sie doch genau wissen?«

Laut denken, nehme ich an. Wanda ist keine Bronwen, könnte mir aber – natürlich ohne ihr Wissen – helfen, über Bronwen hinwegzukommen, was unbedingt sein muss. Was ich auch schon ab und zu früher tun musste … Everard neigte nicht zur Selbstanalyse. Es gab ihm einen Ruck, als ihm klar wurde, dass er, um seinen inneren Frieden zurückzubekommen, keine neue Liebesaffäre brauchte, sondern noch ein paar Aufenthalte unter Unschuldigen. Wie ein Durstiger hoch oben auf dem Berg eine Quelle findet – danach wollte er gern sein Leben weiterführen, wie auch sie ihr neues in der Patrouille.

Eiskalt: Es sei denn, sie akzeptieren sie nicht, trotz allem. »Und warum interessieren Sie sich überhaupt für sie? Sind Sie für das Personal zuständig? Hat irgendjemand Zweifel über sie geäußert?«

Guion schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Die Psychosondierung bescheinigt ihr ein hervorragendes Persönlichkeitsprofil. Die späteren Untersuchungen sind hauptsächlich für die üblichen Zwecke: Hilfreiche Richtlinien für ihr Training und ihre früheren Aufträge.«

»Gut.« Everard spürte ein warmes Gefühl aufsteigen das ihn ruhiger machte. Er hatte zu viel geraucht. Die Eiseskälte eines kräftigen Schlucks linderte das Brennen der Zunge.

»Ich erwähnte Miss Tamberly lediglich, da die Ereignisse, welche dazu führten, dass Ihre Weltlinie sich mit der von Miss Tamberly kreuzte, Exaltationisten miteinschlossen«, erklärte Guion. Seine Stimme war sehr leise für das, was sie mitteilte. »Sie hatten zu einem früheren Zeitpunkt Ihrer Linie deren Bemühungen, Simon Bolivars Karriere gewaltsam zu ändern, vereitelt. Bei Ihrer Hilfestellung für Miss Tamberly – die sich so hervorragend verteidigte – verhinderten Sie, dass die Exaltationisten Atahuallpas Lösegeld erbeuteten und die Geschichte der spanischen Eroberung veränderten. Und jetzt haben Sie das alte Tyros von ihnen befreit und die meisten erwischt, die noch frei waren, darunter Merau Varagan. Wunderbar gemacht! Doch ist die Arbeit noch nicht beendet.«

»Stimmt«, sagte Everard ebenfalls leise.

»Ich bin hier … um die Situation zu sondieren«, erklärte Guion. »Ich kann nicht deutlich sagen, wonach ich suche, selbst wenn ich Temporalsätze verwenden würde.« Er sprach ruhig weiter, lächelte aber nicht mehr. Hinter den Schlitzaugen stand etwas Schreckliches. »Worum es dabei geht ist der symbolischen Logik nicht mehr unterworfen als mutable Realität. ›Intuition‹ oder ›Offenbarung‹ sind ebenfalls unzureichende Begriffe. Ich suche … nach dem größtmöglichen Maß Verständnis.« Schweigen. Der Lärm der Stadt schien durch Entfernung verstummt. »Unterhalten wir uns doch ganz ungezwungen. Ich werde versuchen, etwas von dem zu erspüren, wie Sie ihre Erfahrungen fühlten. Das ist alles. Plaudern über alte Zeiten. Danach können Sie hingehen, wohin Sie wollen.

Doch überlegen Sie mal! Ist es wirklich purer Zufall, dass Sie, Manson Everard, schon dreimal im Einsatz gegen die Exaltationisten waren? Nur einmal äußerten Sie die Vermutung, dass sie vielleicht für gewisse Störungen verantwortlich seien. Nichtsdestotrotz wurden Sie die Nemesis Merau Varagans, der – das kann ich jetzt zugeben – beim Mittleren Kommando Angst auslöste. Alles nur Zufall? Wurde Wanda Tamberly nur rein zufällig in diesen Strudel gezogen – wo sie doch, ohne dass sie es wusste, einen Verwandten bei der Patrouille hatte?«

»Er war der Grund, dass sie …« Everards Protest verstummte. Eine eiskalte Stimme in seinem Innern fragte: Wer ist dieser Mann wirklich? Was ist er?

»Daher möchten wir gern mehr über Sie wissen«, sagte Guion. »Wir wollen nicht in ihren Privatleben herumschnüffeln. Wir hoffen aber auf einen Fingerzeig auf – ich kann es nur unzureichend so nennen –, auf die Hypermatrix des Kontinuums. Solche Erkenntnisse könnten uns bei der Planung helfen, die letzten Exaltationisten aufzuspüren. Sie sind verzweifelt und rachsüchtig, wie Sie wissen. Wir müssen es tun.«

»Ich verstehe«, sagte Everard.

Ein Impuls traf ihn hart und tobte in ihm. Er hörte kaum noch Guions Coda. »Und über diese Notwendigkeit hinaus, vielleicht eine größere Bedeutung, eine Richtung und ein Ende …« Er bemerkte nicht, dass Guion nur noch in Satzfetzen sprach, als sei ihm etwas gegen seinen Willen herausgerutscht. Everard lief auf der Fährte zurück, den Blick nach vorn, mit einem Schlag wieder Jagdhund. Ihm war jetzt klar, dass er nicht ein Abblasen, sondern die Beendigung der Jagd brauchte.

TEIL ZWEI

FRAUEN

UND PFERDE

1985 n. Chr.

Hier, wo die Sterne des Bären sich zu tief drehten, drang die Nacht mit Eiseskälte in Blut und Knochen. Am Tage begrenzten die Berge jeden Horizont mit Fels, Schnee, Gletschern und Wolken. Dem Mann trocknete der Mund aus, als er über den Grat keuchte. Unter seinen Stiefeln lösten sich Steine. Nie konnte er richtig Luft schöpfen. Hinzu kam noch die Angst, dass eine Gewehrkugel oder ein Messer in dunkler Nacht sein bisschen Leben in diesem leeren Land beendete.

Juri Alexejewitsch Garschin erschien der Offizier wie ein Engel aus dem Himmel seiner Großmutter. Es war am dritten Tag nach dem Überfall. Er hatte versucht, sich nach Nordost durchzuschlagen und talwärts, obwohl er die meiste Zeit nach oben zu gehen schien. Das Gewicht der Erde zog seine Füße herab. Irgendwo da drüben lag das Lager. Der Schlafsack gab ihm auch nicht viel Ruhe. Immer wieder riss ihn namenlose Angst zurück in eine ebenso grausame Einsamkeit. Er teilte seine Marschverpflegung sorgsam ein und aß nur ein paar Bissen, um den schlimmsten Hunger zu stillen. Dennoch blieb ihm nicht mehr viel. Wasser gab es reichlich. Er konnte seine Feldflasche in Quellen füllen oder Schnee schmelzen. Aber er hatte nichts, um es zu erwärmen. Der Samowar im kleinen Holzhaus seiner Eltern war ein halbvergessener Traum – ebenso wie die ganze Kolchose, das Lied der Lerchen über den Roggenfeldern, Blumen bis ans Ende der Welt. Er Hand in Hand mit Jelena Borisowna … Hier wuchsen nur Flechten auf dem Fels, ab und zu Dornenbüsche, blasse Grasklumpen. Außer seinen Schritten und seinem Pulsschlag war nur der Wind zu hören. Ein großer Vogel nutzte ihn hoch oben aus. Garschin kannte die Art nicht. Ein Geier, der auf sein Sterben wartete? Nein, die Geier labten sich an seinen Kameraden …

Aus dem Berghang vor ihm ragte ein Fels heraus. Er änderte seine Marschroute, um ihn zu umgehen. Um wie viel mehr würde ihn das vom direkten Weg zu seiner Einheit abbringen? Da sah er plötzlich den Mann unter dem Felsen.

Feind! Er riss die Kalaschnikoff herunter, die ihm über der Schulter hing. Dann: Nein! Das ist eine sowjetische Uniform! Wohlige Wärme stieg in ihm auf. Seine Knie wurden weich.

Als er wieder sehen konnte, war der Mann näher gekommen. Seine Uniform war sauber und adrett. Offiziersabzeichen glitzerten im harten Gebirgssonnenlicht, trotzdem trug er einen Tornister und einen Schlafsack auf dem Rücken. Er führte nur eine Seitenwaffe mit sich, ging aber furchtlos und frisch dahin. Offensichtlich war er kein afghanischer Soldat, der in Sachen steckte, die die Verbündeten geliefert hatten. Er war kräftig, muskulös, das Gesicht unter dem Helm hell, aber breit an den Backenknochen, die Augen leicht schräg gestellt – aus der Gegend um den Ladogasee vielleicht, dachte Garschin erschöpft.

Und ich? Ich reiße nur meine Dienstzeit ab, halte in diesem elenden Krieg durch, bis ich nach Hause gehen kann, wenn ich noch lebe. Er salutierte.

Der Offizier blieb etwa einen Meter vor ihm stehen. Er war Hauptmann. »Nun«, fragte er. »Was machst du hier, Soldat?« Die finnischen Augen musterten ihn wie ein Wind bei Sonnenuntergang. Aber der Ton war nicht unfreundlich. Er sprach das Russisch Moskaus, das man in der Armee am meisten hörte. Allerdings klang seins gebildeter als üblich.

»B-b-bitte, Genosse …« Garschin zitterte und stammelte plötzlich hilflos. »Jurij A. Garschin, Soldat …« Irgendwie nannte er seine Einheit.

»Und?«

»Wir waren … Aufklärungstrupp … oben am Pass … Gewehrfeuer, Explosionen, Männer fielen rechts und links …« Sergeijs Schädel war grauenvoller Brei, sein schlaffer Körper flog beiseite, dann ein Knall, Rauch, Staub, flach auf dem Boden, in den Ohren dröhnte es so laut, dass man nichts anderes mehr hörte, im Mund ein medizinischer Geschmack: »Ich sah … die Guerillas … nein, ich sah einen Mann, Bart und Turban, er lachte. M-m-mich haben sie nicht gesehen. Ich lag hinter einem Busch, glaube ich … oder sie waren zu sehr beschäftigt, die verwundeten mit den Bajonetten abzustechen.«

Garschin wurde schlecht. Es kam nur Galle. Sein Hals brannte wie Feuer.

Der Hauptmann stand ruhig neben ihm, bis er fertig war und die anschließenden Kopfschmerzen etwas abgeklungen waren. »Nimm einen Schluck Wasser«, riet der Hauptmann. »Spül damit im Mund. Gurgeln und etwas ausspucken. Nur ganz wenig schlucken.«

»Jawohl.« Garschin gehorchte. Es half. Er versuchte aufzustehen.

»Bleib vorerst sitzen«, sagte der Hauptmann. »Du hast viel durchgemacht. Die mujahedin hatten Raketenwerfer und Schnellfeuergewehre. Du bist dann weggekrochen, nachdem sie abgezogen waren?«

»J-j-ja, Genosse Oberst. Aber ich wollte nicht desertieren oder so, nur …«

»Ich weiß. In dieser Situation konntest du nichts tun. Es war deine Pflicht, zur Einheit zurückzugehen und über das, was geschehen ist, Meldung zu machen. Direkt über den Pass wagtest du nicht zu gehen. Das wäre auch leichtsinnig gewesen. Du hast dich in die Berge geschlagen. Du warst immer noch benommen. Als du wieder klar denken konntest, wurde dir klar, dass du dich verirrt hattest, Korrekt?«

»Ich glaube schon.« Garschin hob den Blick zur Gestalt empor, die wie ein Fels vor ihm aufragte, ebenso fremd. Langsam arbeitete sein Verstand wieder. »Was ist mit Ihnen, Genosse Hauptmann?«

»Ich bin in einer Sondermission unterwegs. Du darfst mich nur in dem Maß erwähnen, wie ich es befehle. Verstanden?«

»Jawohl, Genosse Hauptmann. Aber …« Garschin setzte sich auf. »Sie sprechen, als wüssten Sie eine Menge über meine Truppe.«

Der Hauptmann nickte. »Ich kam kurz danach vorbei und rekonstruierte, was sich da anscheinend abgespielt hatte. Die Rebellen waren weg, aber die Leichen lagen da. Man hatte ihnen alles Nützliche abgenommen. Ich konnte sie nicht begraben.«

Er hielt sich zurück und sprach nicht von hochverdienten Helden. Garschin war nicht sicher, ob er dafür dankbar sein sollte oder nicht. Es war erstaunlich, dass ein Offizier einem einfachen Soldaten überhaupt etwas erklärte.

»Wir können einen Bergungstrupp schicken«, sagte Garschin. »Wenn meine Einheit davon erfährt.«

»Selbstverständlich. Ich werde helfen. Fühlst du dich besser?« Der Hauptmann bot Garschin die Hand und zog ihn hoch. Er stand einigermaßen fest auf den Beinen.

Die fremden Augen musterten ihn durchdringend. Die Worte trafen ihn langsam, wie Hammerschläge eines vorsichtigen Handwerkers. »In der Tat, Soldat Garschin, ist diese Begegnung für uns beide eine glückliche. Ich kann dich zu deinem Lager dirigieren, und du kannst etwas hinbringen, das unbedingt dort hin muss. Das kann ich aber nicht selbst erledigen, da meine Mission mir nicht genügend Zeit lässt.«

Wahrlich ein Engel vom Himmel! Garschin nahm Haltung an. »Jawohl, Genosse Hauptmann!«

»Ausgezeichnet.« Der Hauptmann betrachtete ihn immer noch. In der Ferne schoben sich Wolken über zwei Berggipfel. Jetzt hüllten sie sie ein, jetzt sah man wieder ihre Spitzen. Zweige knackten im Wind. »Erzähl mir mehr über dich, Junge. Wie alt bist du? Wo kommst du her?«

»N-neunzehn, Genosse Hauptmann. Von einer Kolchose in der Nähe von Schazk.« Kühner: »Wenn Ihnen das etwas sagt. Die nächste richtige Stadt ist Ryasan.«

Wieder nickte der Offizier. »Hm. Nun, du scheinst ein intelligenter und gewissenhafter Bursche zu sein. Ich glaube, dass du kapierst, was ich von dir will. Du sollst einen Gegenstand abliefern, den ich entdeckt habe. Es kann sich dabei aber um einen äußerst wichtigen Gegenstand handeln.« Er hakte die Daumen in die Gurte seines Tornisters. »Hier, hilf mir!«

Sie nahmen den Tornister ab und legten ihn auf den Boden. Der Hauptmann öffnete ihn und nahm ein Kästchen heraus. Dabei sprach er ganz unoffiziersmäßig weiter, blickte aber nicht Garschin an, sondern hinaus in eine unermessliche Ferne.

»Dies ist ein uraltes Land. Die Geschichte hat die Völker schon vergessen, die hier so viele Jahrhunderte lebten, kamen und gingen, kämpften und starben. Wir heute sind nur die letzten. Unser Krieg ist nicht populär, weder zu Hause noch in der Welt. Richtig oder falsch – er schmerzt uns ebenso, wie der Krieg in Vietnam den Amerikanern schadete, da warst du noch ein Kind. Wenn wir ein bisschen Ehre herausziehen können, ein bisschen Ansehen, wäre das nur gut für unser Vaterland, oder? Ist es nicht ein patriotischer Dienst?«

Der Wind strich Garschin über den Rücken. »Sie sprechen wie ein Professor«, flüsterte er.

Der Hauptmann zuckte die Achseln. Mit ausdrucksloser Stimme sprach er weiter. »Was ich im zivilen Leben mache, ist unwichtig. Sagen wir mal: Ich habe ein Auge für gewisse Dinge. Als ich auf den Schauplatz des Überfalls kam, sah ich unter anderem diesen Gegenstand dort liegen. Die Afghanen haben ihn wohl übersehen. Sie waren in Eile und sind einfache Burschen. Es muss schon lange in der Erde vergraben gewesen sein, bis ein Raketeneinschlag es herausschleuderte. Es lagen auch einige Metall- und Knochensplitter dabei; aber ich hatte nicht die Zeit, mich darum zu kümmern. Hier, nimm es!«

Er legte das Kästchen in Garschins Hände. Es war etwa dreißig Zentimeter lang, zehn breit und zehn hoch, mit graugrünem Belag (Grünspan auf Bronze?), aber durch die Trockenheit des Hochlandes durch die Jahrhunderte (wie viele?) gut erhalten. Der Deckel war mit Draht festgebunden und mit einem Klumpen aus Harz verklebt, auf dem früher etwas eingeprägt gewesen war. Man sah auch noch die Spuren von Figuren, die in das Metall eingegossen waren.

»Vorsichtig!«, warnte der Hauptmann. »Es ist zerbrechlich. Spiel nicht daran herum. Der Inhalt – ich vermute Dokumente – könnte zerfallen, wenn man es nicht fachmännisch unter scharfer Kontrolle von Wissenschaftlern öffnet. Ist das klar, Soldat Garschin?«

»Ja … jawohl, Genosse Hauptmann.«

»Sag deinem Feldwebel sofort, wenn du ankommst, dass du den Oberst sprechen musst, dass es lebenswichtig ist und dass du Informationen hast, die für keine anderen Ohren als die des Oberst bestimmt sind.«

Schreck. »Aber … ich brauche doch nur zu sagen …«

»Du musst dies persönlich übergeben, damit es nicht in der Bürokratie verlorengeht. Oberst Koltuchow ist keine gehirnlose Dienstvorschriftenmaschine, wie so viele andere. Er wird es verstehen und das Richtige tun. Erzähl ihm einfach die Wahrheit und gib ihm das Kästchen. Er wird meinen Namen und noch mehr wissen wollen. Sag ihm, dass ich ihn dir nie nannte, weil meine Mission so geheim ist, dass ich dir nur Lügen aufgetischt hätte. Aber er kann gerne die GRU{1} oder den KGB verständigen. Sollen sie mir doch nachspüren. Was dich betrifft, Soldat Garschin, du überbringst lediglich ein Kästchen, das von rein archäologischem Interesse ist und über das du ebenso gut wie ich hättest stolpern können.« Der Hauptmann lachte, doch seine Augen blieben ernst.

Garschin schluckte. »Verstehe. Ist das ein Befehl, Genosse Hauptmann?«

»Ja. Und jetzt wollen wir uns lieber beeilen.« Der Hauptmann fasste in seine Tasche. »Nimm diesen Kompass. Ich habe noch einen zweiten. Ich erkläre dir jetzt, wie du deine Einheit findest.« Er zeigte. »Von hier hältst du dich Nord-Nordost – so …

… und wenn der Gipfel dort genau Süd-Südwest ist …

… und …

Ist das klar? Ich habe einen Notizblock. Da schreibe ich dir alles auf.

Viel Glück, mein Junge.«

Garschin arbeitete sich vorsichtig den Abhang hinab. Das Kästchen hatte er in seinen Schlafsack gerollt. Obwohl es eigentlich nichts wog, hatte er das Gefühl, es drücke auf seinen Rücken so schwer wie die Stiefel. An allem zog die Erde. Hinter ihm stand der Hauptmann auf der Höhe und sah ihm mit verschränkten Armen nach. Als Garschin zum letzten Mal zurückblickte, bildeten die Sonnenstrahlen hinter dem Helm eine Art Heiligenschein, als stehe dort ein Engel, der einen geheimnisvollen und verbotenen Ort bewachte.

209 v. Chr.

Die Straße verlief auf dem rechten Ufer des Flusses Baktrus. Darüber waren die Reisenden froh. Eine Brise vom Wasser und Schatten von den Maulbeerbäumen oder Weiden am Wegesrand waren willkommene Erfrischungen, wenn die Sommerhitze über dem Land brütete. Die Weizen- und Gerstenfelder, die dazwischen liegenden Obstgärten und Weinberge, ja sogar die Mohnblumen und purpurfarbenen Disteln schienen von dem Licht aus einem von Wolken leergebrannten Himmel ausgebleicht zu sein. Aber es war ein reiches Land. Überall die nicht sehr großen Steinhäuser in einer Dorfgemeinschaft oder auch als Einzelgebäude. Es herrschte schon lange Friede. Manse Everard wäre es viel lieber gewesen, wenn er nicht gewusst hätte, dass sich dies bald ändern würde.

Die Karawane schleppte sich nach Süden. Staubwolken stiegen unter den Hufen der Kamele auf. Hipponikos hatte seine Waren nach dem Gebirge von Maultieren auf Kamele umgeladen. Auch wenn sie stanken und bösartig waren, konnte jedes Tier mehr tragen. Für die Dürregebiete, die er auf seiner Route durchqueren musste, war diese aus Zentralasien stammende Rasse besonders geeignet. Sie hatten gerade das Winterfell abgeworfen und sahen daher nicht übermäßig gepflegt aus. Die zweihöckrige Spezies, von der sie ihren Namen hatte, war noch nicht in dieses Land vorgedrungen. Sie zogen mit einem Höcker dahin. Geschirre knarzten, Metall klirrte. Doch klingelten noch keine Glöckchen, sie waren – ebenso wie der Name – noch in ferner Zukunft.

Die Männer waren froh, dass die wochenlange Reise der Karawane sich dem Ende näherte. Sie plauderten angeregt, lachten, sangen, machten Scherze und winkten den Vorbeikommenden zu. Manchmal riefen oder pfiffen sie auch einem hübschen Mädchen hinterher – manche auch einem niedlichen Jungen. Die meisten waren iranischer Herkunft: dunkel, schlank, bärtig, in weite Pluderhosen, lose Hemden oder lange Mäntel gekleidet, mit hohen Hüten ohne Krempe. Es waren auch einige Levantiner darunter, in Tunika, kurzem Haar und glatt rasiertem Kinn.

Hipponikos war Hellene, wie die meisten heutigen baktrischen Aristokraten und Großbürger. Er war ein stämmiger Mann mittleren Alters, mit Sommersprossengesicht und schütterem, rötlichem Haar und einer flachen Kappe. Seine Vorfahren stammten vom Peloponnes, wo jetzt noch kaum Vertreter der anatolischen Völker lebten, die in Griechenland zu Everards Zeit so beherrschend wurden. Hipponikos ritt auf seinem Pferd an der Spitze, war aber auch nicht weniger schmutzig und verschwitzt als der Rest. »Nein, Meander! Ich bestehe darauf, dass du bei mir wohnst«, sagte er. »Ich habe bereits Klytios vorausgeschickt und ihm unter anderem aufgetragen, meiner Frau zu sagen, dass sie alles für einen Hausgast vorbereitet. Du würdest mich ja zum Lügner machen! Und Nanno hat schon so eine verdammt scharfe Zunge.«

»Du bist zu freundlich«, widersprach Everard. »Wirklich. Du triffst dich mit wichtigen Männern in der Stadt, die reich und gebildet sind. Ich aber bin nur ein rauer, alter Glücksritter. Ich möchte dich auf keinen Fall in eine – nun – peinliche Lage bringen.«

Hipponikos betrachtete seinen Begleiter von der Seite. Es war wirklich schwierig und kostspielig gewesen, für einen solchen Mann ein Reittier aufzutreiben. Ansonsten war Meanders Kleidung rau und einfach, wenn man von dem Schwert absah, das er an der Hüfte trug. Niemand lief heutzutage noch bewaffnet herum. Der Kaufmann hatte die gemieteten Wachen sofort entlassen, als er in ein Gebiet kam, das allgemein als sicher galt. Meander war etwas Besonderes.

»Hör mal«, sagte Hipponikos, »in meinem Gewerbe ist es hilfreich, ein guter Menschenkenner zu sein. Du bist viel in der Welt herumgekommen, da musst du doch auch eine Menge gelernt haben – mehr als du zugibst. Ich erwarte, dass sich meine Geschäftsfreunde auch für dich interessieren. Offen gestanden, wird es nicht mein Schaden sein, wenn es darum geht, einige der Geschäfte abzuschließen, die mir vorschweben.«

Everard lächelte. Dabei erhellten sich seine schweren Züge und die blassblauen Augen unter den braunen Locken. Seine Nase hatte einen Knick, der von einem früheren Kampf stammte, über den er aber ebenso wenig gesprochen hatte wie überhaupt über seine Vergangenheit. »Nun, ich kann ihnen jede Menge Witze erzählen«, meinte er.

Hipponikos wurde ernst. »Ich will dich nicht als Tanzbären, Meander! Bitte, glaube mir das. Wir sind doch Freunde, oder? Nachdem, was wir zusammen durchgemacht haben? Ein Mann gewährt seinen Freunden Gastfreundschaft.«

Everard nickte langsam. »In Ordnung. Danke.«

Du bist mir auch ans Herz gewachsen, dachte er. Wir haben zwar nicht viele wirklich schlimme Abenteuer gemeinsam erlebt. Eine Schlägerei, die Überschwemmung an der Furt, wo wir ganze drei Maultiere retten konnten, und ein paar ähnliche heikle Situationen. Aber es war die Art von Reise, auf der man seine Reisegefährten erst so richtig kennenlernt …

… in Alexandria Eschates am Jaxartes{2}, der letzten und einsamsten der Städte, die der Eroberer gründete und nach sich benannte, hatte Everard angemustert. Es lag im Machtbereich des baktrischen Königs, aber am äußersten Rand, so dass die Nomaden jenseits des Flusses in diesem Jahr herübergeritten kamen, da aus den Garnisonen viele Truppen abgezogen waren, um eine bedrohte Grenze im Südwesten zu verstärken. Hipponikos war froh gewesen, noch einen Bewaffneten zu bekommen, auch wenn es ein fahrender Söldner war. In der Tat mussten sie einen Banditenüberfall abwehren. Dann folgte der Weg nach Süden durch Sogdianes{3} zerklüftete, einsame und wilde Gegenden, in denen es aber auch kultiviertes und bewässertes Land gab. Jetzt hatten sie den Oxos{4} überquert und waren im eigentlichen Baktrien, in der Heimat …

… dies hatte auch der Untersuchungsbericht schon ergeben. Heute morgen hatten uns die optischen Geräte an Bord des unbemannten Raumschiffs eine Minute lang im Visier, ehe seine Umlaufbahn es zu einem anderen Rendezvouspunkt trug. Daher war ich auch zur Stelle, um dich in Alexandria zu treffen, Hipponikos. Man hatte mir mitgeteilt, dass deine Karawane an einem Tag Baktra erreichen würde, der für meine Zwecke günstig war. Aber ja, alter Gauner, ich mag dich und hoffe zu Gott, dass du überlebst, was deinem Volk bevorsteht.

»Ausgezeichnet«, sagte der Kaufmann. »Wolltest du etwa unbedingt deinen Sold in einer verlausten Spelunke ausgeben? Nein, bleib bei uns, nimm dir Zeit, schau dich um und amüsiere dich! Wahrscheinlich findest du auf diese Art eine bessere neue Arbeit als durch einen Agenten.« Er seufzte. »Ich wünschte, ich könnte dir einen Dauerposten anbieten; aber mit dieser blöden Kriegssituation weiß nur Hermes, wann ich wieder losziehe.«

Sie hatten in den letzten Tagen Nachrichten gehört, die verwirrend und scheußlich waren. Antiochus{5}, König syrischen Seleukidenreiches, war ins Land gefallen. Euthydemos{6} von Baktrien hatte seine Armee gegen ihn geführt. Einem Gerücht zufolge befand Euthydemos sich jetzt auf dem Rückzug.

Hipponikos fand zu seiner vorigen Fröhlichkeit zurück. »Ha, ich weiß, warum du dich geziert hast!«, rief er. »Du hattest Angst, die baktrischen Fleischtöpfe würden dir entgehen, wenn du bei einer respektablen Familie wohnst, stimmt's? Hat dir die kleine Flötenspielerin vor zwei Nächten nicht für eine Zeitlang gereicht?« Er stieß Everard den Daumen in die Rippen. »Du hast die Kleine so hergenommen, dass sie am nächsten Morgen o-beinig herumlief.«

Everards Haltung wurde starr. »Warum interessiert dich das so?«, brauste er auf. »War deine etwa nicht gut?«

»He, nun werde nicht wütend!« Hipponikos blinzelte ihn an. »Dir scheint es ja beinahe leid zu tun. Hättest du lieber einen Knaben gehabt? Ich dachte, das sei nicht dein Stil.«

»Ist es auch nicht!« Das war wahr; aber es passte auch zu Everards Rolle als halb barbarischer, halb hellenisierter Abenteurer aus dem Balkan, nördlich von Mazedonien. »Ich spreche nur nicht gern über mein Privatleben.«

»Nein, das tust du gewiss nicht«, murmelte Hipponikos. Ein Schatz farbiger Anekdoten; aber nichts Persönliches.

Eigentlich, gab Everard zu, war es doch idiotisch von mir, mich über diese Bemerkung so zu ärgern. Warum habe ich das getan? Es hatte doch überhaupt nichts zu bedeuten. Nach langer Abstinenz waren wir wieder in zivilisierten Gegenden und machten in einer Karawanserei halt, wo es Mädchen gab. Ich habe mich mit Atossa wirklich toll amüsiert. Das ist alles.

Vielleicht ist gerade das falsch, überlegte er, dass es alles war. Sie ist ein süßes Mädchen und verdient ein besseres Leben als das, was sie dort hat. Große Augen, kleine Brüste, schmale Hüften, wissende Hände. Doch gegen Morgen wurde ihre Stimme nachdenklich, als sie fragte, ob ich je wiederkommen würde. Dabei hatte Everard ihr außer der bescheidenen Gebühr und einem großzügigen Trinkgeld nur die Rücksichtnahme gegeben, die fast jeder Amerikaner des zwanzigsten Jahrhunderts Frauen gegenüber zeigen will. Natürlich war das in dieser Gegend unüblich.

Ich mache mir immer noch Gedanken, was wohl aus ihr werden wird. Sie könnte von einem Haufen Schurken vergewaltigt werden, vielleicht getötet, vielleicht in die Sklaverei verschleppt werden, wenn Antiochus' Truppen diesen Landstrich überrennen. Bestenfalls wird sie mit dreißig dahingewelkt sein, jede niedere Arbeit verrichten, die sie finden kann. Mit vierzig ist sie verbraucht und zahnlos und noch vor fünfzig tot. Ich werde es nie erfahren.

Everard schüttelte sich. Hör auf mit dieser Gefühlsduselei! Er war kein zartbesaiteter, frischer Rekrut, dem alles an die Nieren ging. Er war ein Veteran, ein Unabhängiger Detektiv der Zeitpatrouille, der voll und ganz verstand, dass die Menschheit ihre Geschichte nun mal erleiden musste.

Oder fühle ich mich etwa doch ein bisschen schuldig? Warum? Das ergab noch weniger Sinn. Wer ist verletzt worden? Gewiss nicht er, nicht einmal potentiell. Die künstlichen Viren, die man ihm eingepflanzt hatte, vernichteten jeden Bazillus, der im Laufe der Menschheit Krankheiten erregt hatte. Daher konnte er auch an Atossa – außer Erinnerungen nichts weitergegeben haben. Und für den Illyrer Meander wäre es nicht natürlich gewesen, eine solche Gelegenheit auszulassen. Ich habe während meiner Lebenslinie schon mehr ausgenutzt, als ich noch weiß – und nicht immer, um meine jeweilige Rolle in einer Mission gut zu spielen.

Okay, okay! Kurz vor dieser Mission hatte ich eine Verabredung mit Wanda Tamberly. Na und? Sie geht das auch einen Dreck an, oder?

Jetzt erst bemerkte er, dass Hipponikos zu ihm sprach. »Schon gut! Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Keine Angst, du kannst die meiste Zeit nach Lust und Laune umherlaufen. Ich werde beschäftigt sein. Ich sage dir, wo die besten Orte sind. Vielleicht kann ich auch das ein oder andere Mal mitkommen; aber die meiste Zeit bist du allein. Und in meinem Haus werden dir keinerlei Fragen gestellt.«

»Danke«, antwortete Everard. »Tut mir leid, dass ich so ekelhaft war. Aber Müdigkeit, Hitze und Durst.«

Gut, dachte er. Ich scheine Glück zu haben und kann Chandrakumar ohne Probleme aufsuchen. Und wer weiß? Vielleicht erfahre ich von Hipponikos' Bekannten etwas Nützliches. Zugegeben, er würde etwas mehr auffallen, als er geplant hatte; aber im kosmopolitischen Baktra würde er keine Sensation hervorrufen. Er brauchte sich keine ernstlichen Sorgen zu machen, sein Zielobjekt zu alarmieren.

»Darum werden wir uns bald kümmern«, versprach der Kaufmann.

Wie zur Bestätigung seiner Worte lag die Stadt nach der nächsten scharfen Wegbiegung in voller Schönheit vor ihnen. Massiv ragten die gelbbraunen, mit Türmen bestückten Mauern über den Hafenanlagen am Fluss empor. Ihr Umfang betrug sieben Meilen. Rauch stieg aus den Häusern und Werkstätten. Der Lärm von Karrenrädern und Hufen war zu hören. Durch die großen Stadttore strömte reger Verkehr. Reiter, Fußgänger und Gespanne. Um einen freien Verteidigungsstreifen scharten sich Häuser, Schenken, Gewerbebetriebe und Gärten.

Wie die Karawanenreisenden waren die Bewohner hauptsächlich iranischer Abstammung. Ihre Vorfahren hatten die Stadt gegründet und sie Sariaspa, Stadt der Pferde, genannt. Für die Griechen war sie Baktra. Je näher man kam, desto mehr Griechen sah man. Einige waren schon in dieses Land gekommen, als es noch unter der Herrschaft des persischen Reiches war. Oft waren die Bewegungen nicht freiwillig erfolgt. Die achaimenidischen Schahs deportierten ihnen lästige Ionier. Nach Alexanders Eroberung wurde die Einwanderung noch stärker, da Baktrien sich in ein vielversprechendes Land gewandelt hatte, das sich schließlich selbst zu einem unabhängigen Königreich machte, regiert von Hellenen. Die meisten von ihnen waren in den Städten, beim Militär oder bereisten die Handelsstraßen, die im Westen ans Mittelmeer, im Süden nach Indien und im Osten nach China führten.

Everard erinnerte sich an elende Hütten, mittelalterliche Ruinen, verarmte Bauern und Hirten, hauptsächlich türkisch-mongolische Usbeken. Aber das war 1970 in Afghanistan gewesen, unterhalb der nahen sowjetischen Grenze. Viele Veränderungen würden noch aus der Steppe in den zukünftigen Jahrtausenden über dies Land hereinbrechen. Verdammt zu viele!

Er schnalzte seinem Pferd zu. Hipponikos trabte schon. Die Kameltreiber feuerten ihre Tiere ebenfalls an. Die Männer zu Fuß hielten fröhlich Schritt. Sie waren beinahe zu Hause.

Zu Hause, um Krieg zu führen, wusste Everard.

Sie betraten die Stadt durchs Skythische Tor. Es stand offen, wurde aber von einer Abteilung Soldaten bewacht. Helme, Schilde, Kürasse, Beinschienen, Piken blitzten im Sonnenlicht. Sie musterten alle, die durchs Tor passierten, aufmerksam. Es herrschte auch nicht das laute Treiben, wie sonst im Orient üblich. Alles war etwas gedämpfter. Die Leute sprachen leise und höflicher. Eine stattliche Anzahl von Ochsen- oder Maultierkarren waren mit der Familienhabe beladen. Die Bauern, die es sich leisten konnten, suchten mit Frau und Kindern Zuflucht hinter den mächtigen Mauern.

Hipponikos bemerkte es. Sein Mund wurde schmal. »Es sind schlimme Nachrichten gekommen«, teilte er Everard mit. »Zwar nur Gerüchte, da bin ich sicher; aber die Wahrheit folgt auf den Fersen. Ich muss Hermes ein Opfer darbringen, dass wir nicht später kommen.«

Aber das tägliche Leben ging weiter. Das tut es irgendwie immer, bis alles im gierigen Schlund verschwindet. Menschen drängten durch die Straßen zwischen den Häusern, die glatten Fassaden waren oft bunt bemalt. Wagen, Lasttiere, Träger, Frauen mit Wasserkrügen oder Marktkörben auf dem Kopf schoben sich durch Handwerker, Arbeiter und Haussklaven. Ein reicher Mann in einer Sänfte, ein Offizier zu Pferd, sogar ein Kriegselefant mit seinem Mahaut drängte sich durchs Gewimmel und hinterließ vor und hinter sich heftig wogende Menschenmassen. Räder knarzten, Hufe klapperten, Sandalen klatschten auf dem Pflaster. Geschwätz, Lachen, Liedfetzen, Flötentöne, Trommeln, Gestank nach Schweiß oder Dung, Rauch, Kochdünste, Räucherstäbchen. Im Schatten von Imbissbuden saßen Männer im Schneidersitz, tranken Wein, vertrieben sich die Zeit mit Brettspielen und betrachteten die vorüberziehende Welt.

Am Heiligen Weg standen Bibliothek, Odeon, ein Gymnasium, alles mit Marmorfassaden, prächtigen Säulen und kunstvollen Friesen. In Abständen ragten die ithyphallischen Steinpfosten auf, mit bärtigen Köpfen als Abschluss, welche man Hermen{7} nennt. Everard wusste, dass überall verstreut Schulen und öffentliche Bäder waren, ein Stadium, ein Hippodrom und ein Königspalast, der dem der Seleukiden in Antiochia nachgebaut war. Die Hauptstraße hatte an den Seiten erhöhte Gehsteige, um dem Abfall und der Gülle zu entgehen. An den Kreuzungen gab es Trittsteine. So weit hatte sich der Samen griechischer Zivilisation ausgebreitet.

Es spielte dabei keine Rolle, dass die Griechen Anaitis mit Aphrodite Urania gleichsetzten und ihr ein Heiligtum in ihrem Stil erbauten. Sie blieb eine asiatische Gottheit, und ihr Kult der am weitesten verbreitete. Westlich von Baktra war das aufstrebende Königreich der Parther gerade dabei, ein neues persisches Reich zu errichten, auch das war hier noch unwichtig.

Der Anaitis-Tempel ragte neben der Stoa von Nikanor, dem Hauptmarktplatz der Stadt, auf. Überall standen Buden mit Seide, Leinenzeug, Wollstoffen, Wein, Gewürzen, Süßigkeiten, Drogen, Edelsteinen, Messinggeräten, Silber- und Gold- und Eisenschmiedearbeiten, Talismanen … In das Geschrei der Händler und das Feilschen der Käufer mischten sich Tänzer, Musiker, Wahrsager, Zauberer, Prostituierte, Bettler, Müßiggänger … Die Gesichter, die bunten und unterschiedlichen Kleidungstücke kamen aus China, Indien, Persien, Arabien, Syrien, Anatolien, Europa, den wilden Hochländern und den Steppen im Norden …

Everard war die Szene auf unheimliche Art fast vertraut. Er hatte ähnliche schon in vielen anderen Ländern und einer Reihe von Jahrhunderten gesehen. Jede war einzigartig, doch vibrierte in allen eine prähistorische, uralte Verwandtschaft. Everard war hier noch nie zuvor gewesen. Das Balkh zur Zeit seiner Geburt war nicht einmal ein Abklatsch des hellenistischen Baktra. Trotzdem kannte er sich aus. Eine ganz feine Elektronik hatte seinem Gehirn die Karte, die Geschichte, die wichtigsten Sprachen und Informationen eingeprägt, die nie aufgezeichnet worden waren, sondern nur Chandrakumars Geduld zusammengetragen hatte.

So viel Vorbereitung, so lange und riskante Bemühungen, um vier Flüchtige in die Finger zu bekommen!

Aber sie bedrohten die Existenz seiner Welt!

»Hier rüber!«, rief Hipponikos und zeigte vom Sattel aus den Weg. Seine Karawane zog weiter in einen weniger bevölkerten Bezirk und hielt vor einem Lagerhaus. Die nächsten Stunden vergingen mit dem Abladen, der Inventur und dem Verstauen der Waren. Hipponikos gab jedem Mann fünf Drachmen Abschlagzahlung und Anweisungen, wie die Tiere unterzubringen und zu versorgen seien. Morgen wollte er sie bei der Bank treffen, wo er den Großteil seines Geldes aufbewahrte, und sie auszahlen. Im Augenblick wollten alle nur so schnell wie möglich heim und hören, was passiert war. Anschließend würde man – je nachdem, wie die Nachrichten ausfielen – mehr oder minder fröhlich feiern.

Everard wartete. Er vermisste seine Pfeife. Und ein kaltes Bier wäre der himmlischste Willkommenstrunk! Aber als Zeitpatrouillenmann hatte er gelernt, Wartezeiten zu überstehen. Er beobachtete die Vorgänge um sich herum, ansonsten träumte er vor sich hin. Nach einiger Zeit führte sein Tagtraum ihn in einen Nachmittag, der mehr als zweitausend Jahre später kam.

1987 n. Chr.

Sonnenschein, eine sanfte Brise und der Lärm der Stadt drangen durchs offene Fenster herein. Everard blickte hinaus und schaute zu, wie Palo Alto ein verlängertes Wochenende verbrachte. Er saß in einem Studentenapartment in Stanford. Die schäbigen Möbel, der mit Büchern und Papieren beladene Schreibtisch, das Regal voll Krimskrams und der mit Reißzwecken an der gegenüberliegenden Wand angebrachte Poster der National Wildlife Föderation verbreiteten Gemütlichkeit. Von der Gewalt des gestrigen Abends war nichts mehr zu sehen. Wanda Tamberly hatte phantastisch sauber gemacht, damit die Wohnungsinhaberin nichts bemerkte, wenn sie vom Familienausflug zurückkam – sie war vier Monate jünger in ihrer Lebenszeit und ein Weltraumzeituniversum jünger an Wissen als Wanda, die jetzt vor ihm saß.

Everard schaute nicht öfter hinaus, als es die gewohnte Vorsicht erforderte. Viel lieber widmete er seine Aufmerksamkeit der hübschen kalifornischen Blondine. Licht schimmerte in ihrem Haar und auf dem blauen Bademantel, der zu ihrer Augenfarbe passte. Auch wenn man bedachte, dass sie rund um die Uhr geschlafen hatte, war sie nach dem schrecklichen Erlebnis erstaunlich frisch und munter. Ein Mädchen – oder auch ein Junge –, der von Pizarros Conquestadores entführt und durch ein mehr als waghalsiges Manöver gerettet wurde, hatte alle Entschuldigungen der Welt, die nächsten Tage wie betäubt zu verbringen. Wanda hatte mit ihm ein Riesensteak in der Küche geteilt und dabei alle möglichen intelligenten Fragen gestellt. Jetzt fuhr sie damit im Wohnzimmer fort.

»Wie funktioniert Zeitreisen überhaupt? Ich habe gelesen, dass es unmöglich und absurd ist.«

Er nickte. »Gemäß heutiger Physik und Logik ist das richtig. Man wird aber in der Zukunft mehr wissen.«

»Und trotzdem – ich studiere Biologie; aber ich hatte auch ein paar Physikkurse und halte mich auch auf dem laufenden. Science News, Analog …« Sie lächelte. »Ich bin ehrlich, wie du siehst, auch Scientific American, wenn ich bei dem Stil nicht einschlafe. Doch, ganz ehrlich!« Ihr Humor verschwand. Sie hatte ihn wohl als Verteidigung benutzt. Die Situation blieb kritisch, vielleicht sogar hoffnungslos. »Du springst da auf so eine Art Buck-Rogers-Motorrad ohne Räder, gibst Gas, erhebst dich in die Luft, fliegst dahin und drückst auf einen anderen Knopf. Dann bist du augenblicklich an einem anderen Ort, irgendwo und irgendwann. Ohne Rücksicht auf Höhenunterschiede oder … Woher kommt eigentlich die Energie? Und die Erde dreht sich, sie läuft um die Sonne, die Sonne um den Mittelpunkt der Galaxis. Was ist damit?«

Everard lächelte etwas. »Eppur si muove?«

»Was? O ja, klar. Galilei hat das gesagt, nachdem man ihn zwang, zuzugeben, dass die Erde stillsteht. ›Und sie bewegt sich doch.‹ Stimmt's?«

»Stimmt. Ich bin überrascht, dass … eh … jemand deiner Generation diese Geschichte kennt?«

»Ich verbringe meine Freizeit nicht nur mit Skindiving und Bergsteigen, Mr. Everard.« Das klang leicht gekränkt. »Ich nehme auch ein Buch mit.«

»Aber sicher. Entschuldigung …«

»Offen gesagt, bin ich überrascht, dass Sie das wissen.«

Na klar, dachte er, ganz gleich, wie verrückt die Umstände auch sind, ich bleibe unverwechselbar der einfache Kerl aus dem Mittelwesten, der nie so ganz die Erde von den Stiefeln abgestreift hat.

Ihre Stimme wurde sanfter. »Aber Sie leben natürlich die Geschichte.« Sie schüttelte das honigfarbene Haar. »Ich kann es noch immer nicht ganz fassen. Zeitreisen. Trotz allem, was passiert ist, kommt es mir nicht real vor. Zu phantastisch. Bin ich beim Höhenflug zu langsam, Mr. Everard?«

»Ich dachte, wir würden Vornamen benutzen und du sagen?« Das war doch die Norm dieses Zeitabschnitts in Amerika, der mir nicht mal so verdammt fremd ist. Schließlich stamme ich von hier. Ich gehöre auch hierher. Ich bin nicht wirklich alt. Vor dreiundsechzig Jahren wurde ich geboren. Habe aber sehr viel mehr Zeitspannen rumgebracht auf diesen Zeitausflügen. Aber biologisch bin ich Mitte dreißig, wollte er ihr erklären, durfte aber nicht. Antialterungsbehandlung, präventive Medizin, die für dieses Jahrhundert noch in ferner Zukunft liegt. Wir Patrouillenagenten haben unsere Muntermacher. Die brauchen wir, um so manches zu verkraften, was wir erleben. Er zwang sich zu fröhlicheren Gedanken. »Eigentlich hat Galilei dieses Zitat nie gesagt, weder laut noch leise. Es ist frei erfunden.« Eine von den Geschichten, von denen die Menschen sich mehr als von Fakten leiten lassen.

»Schade!« Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und lächelte ihn an. »Manse, diese Zeitmobile oder Flitzer oder wie du sie sonst nennst, sind so, wie sie sind. Und wenn du sie erklären wolltest, würden dich heutige Wissenschaftler nicht verstehen, oder?«

»Sie haben einen ganz schwachen Schimmer. Nichtträge Beziehungssysteme. Quantenschwerkraft. Energie aus dem Vakuum. Beils Theorem wurde kürzlich im Laboratorium verletzt, nicht wahr? Oder wird das noch ein oder zwei Jahre nicht passieren? Zeug über Wurmlöcher im Kontinuum, Kerr-Metrik, Tipler-Maschinen – nicht, dass ich das alles selbst verstehe. Physik war beileibe nicht mein bestes Fach auf der Patrouillenakademie. Vielleicht werden die letzten Entdeckungen erst in tausend Jahren gemacht und das erste funktionierende Raumzeitfahrzeug erst dann gebaut.«

Sie runzelte die Stirn und konzentrierte sich. »Und … Expeditionen beginnen. Wissenschaftliche, historische, kulturelle – kommerzielle, nehme ich an. Militärische auch? Ich hoffe, die nicht. Aber ich verstehe, dass man sehr bald eine Polizei braucht, eine Zeitpatrouille, um zu helfen, zu beraten, zu retten und … Reisende zu beaufsichtigen, damit sie nicht rauben, betrügen oder …« – sie verzog das Gesicht – »Menschen in der Vergangenheit ausnützen. Sie müssten dann gegen Wissen und Apparate aus der Zukunft helfen, oder?«

»Nicht immer, wie du selbst bezeugen kannst.«

Sie lachte. Es klang etwas zittrig. »Mann, o Mann! Das kann ich! Gibt es in der Historie viele Typen, die so hart und ausgekocht sind wie Luis Castelar?«

»Genug. Unsere Vorfahren wussten nicht alles, was wir heute wissen; aber dafür andere Dinge, die wir vergessen haben oder die in unseren Bibliotheken verschimmeln. Und sie verfügten im Schnitt über das gleiche Gehirn.« Everard beugte sich vor. »Ja, wir in der Patrouille leisten hauptsächlich Polizeiarbeit und tun das, was du erwähntest. Hinzu kommen aber noch eigene Forschungen. Sieh mal! Wir können den geordneten Ablauf der Ereignisse nicht beschützen, wenn wir ihn nicht genau kennen. Und unsere Hauptaufgabe ist: Schutz. Deshalb begründeten die Darnellier unser Corps.«

Sie hob die Brauen. »Die Darnellier?«

»Das ist die englische Entsprechung ihres Namens in temporal. Temporal ist unsere gemeinsame Sprache. Sie ist künstlich und wurde entwickelt, um mit den Windungen und Drehungen von Zeitreisen fertig zu werden. Die Danellier – einige erschienen, werden erscheinen, als Chronokinese neu entwickelt wurde.«

Er machte eine Pause. Dann sprach er leise und langsam weiter. »Das muss … ehrfurchteinflößend gewesen sein. Ich traf einen, nur ein einziges Mal und nur für ein paar Minuten; aber ich brauchte Wochen, um darüber hinwegzukommen. Natürlich können sie sich verkleiden, wenn sie wollen, und in menschlicher Gestalt herumlaufen, falls sie das je wollten. Ich bin nicht sicher, ob sie wollen. Sie sind das, was in der Evolution nach uns kommt, so in einer Million Jahren oder noch mehr. So wie wir nach dem Menschenaffen gekommen sind. Zumindest ist das bei uns die gängige Meinung. Niemand weiß es genau.«

Mit großen Augen blickte sie an ihm vorbei. »Wie viel konnte der Australopithecus schon genau über uns wissen?«, flüsterte sie.

»Ja, so etwa.« Everard zwang sich, eher gelangweilt zu sprechen. »Sie tauchten auf und befahlen die Gründung der Patrouille. Andernfalls war die Welt, ihre und die aller, zum Untergang bestimmt. Sie würde nicht einfach ruiniert werden, nein, sie hätte niemals existiert. Mit Absicht oder durch Zufall würden Zeitreisende die Vergangenheit so verändern, dass alles, was nach ihnen kommen würde, völlig anders gestaltet würde. Und das würde immer wieder geschehen, bis – ich weiß es nicht. Bis zum kompletten Chaos oder der Auslöschung der menschlichen Rasse, es sei denn, etwas Ähnliches würde Halt gebieten, und Zeitreisen wären nie erfolgt.«

Sie war blass geworden. »Aber das ergibt keinen Sinn.«

»Gemäß normaler Logik nicht. Aber überlege! Wenn du in die Vergangenheit gehen würdest und völlig frei handeln könntest – welche mystischen Mächte besitzt sie, um deine Handlungen zu bändigen, die die Gegenwart nicht besitzt? Keine. Du, Wanda Tamberly, könntest deinen Vater töten, ehe er dich zeugte. Nicht, dass du das willst. Aber nimm einmal an, dass du unschuldig in einem Jahr herumläufst, in dem deine Eltern noch jung waren, und du etwas tätest, wodurch sie einander nie kennenlernen würden?«

»Würde ich … aufhören zu existieren?«

»Nein. Du wärst in jenem Jahr noch da. Aber du erwähntest doch deine Schwester. Sie würde nie geboren.«

»Aber woher bin ich dann gekommen?« Ihre Augen blitzten verschmitzt. »Wohl kaum aus einem Storchennest.« Doch schon war sie wieder ernst.

»Von nirgendwo. Aus dem Nichts. Ursache und Wirkung – das gilt nicht. Es ist ähnlich wie Quantenmechanik und ist auf einer Skala von der subatomaren zur menschlichen Ebene heraufgeklettert.«

Beinahe hörbar knisterte die Spannung. Everard wollte sie lösen. »Aber keine Angst«, sagte er. »In der Praxis sind die Dinge nicht so hauchfein ausbalanciert. Das Kontinuum kann man nur sehr selten verformen. Um beim Beispiel von dir und deinen Eltern zu bleiben: Da wäre dein gesunder Menschenverstand ein Schutzfaktor. Mögliche Zeitreisende werden auf Herz und Nieren geprüft, ehe man sie unbeaufsichtigt losziehen lässt. Außerdem bewirkt das meiste, was die tun, keine weitreichenden Änderungen. Spielt es eine Rolle, ob du oder ich im Globe Theatre eine Aufführung sahen, bei der Shakespeare selbst auf der Bühne stand, oder nicht? Selbst wenn, ja, wenn du die Ehe deiner Eltern oder das Leben deiner Schwester annullieren würdest – bei allem gebührendem Respekt –, ich glaube kaum, dass die Weltgeschichte davon etwas merken würde. Der Wäre-gewesene-Ehemann deiner Mutter hätte eine andere geheiratet, und dieses andere Person würde … irgendwie eine solche Person sein, dass der Genenpool nach einigen Generationen wieder derselbe sein würde. Derselbe berühmte Nachkomme würde geboren werden – mehrere Jahrhunderte später. Und so weiter. Kannst du mir folgen.«

»Du schmeißt mir da harte Bälle zu, dass mein Kopf sich pausenlos dreht. Aber … ja, ein bisschen habe ich auch über Relativität gelernt. Weltlinien, unsere Spuren durch die Raumzeit. Sie sind wie ein Netz aus zähen Gummibändern, nicht wahr? Wenn man daran zieht, wollen sie zurück in ihre richtige … hm … Anordnung springen.«

Er pfiff anerkennend. »Du kapierst verdammt schnell.«

Sie war nicht im mindesten erleichtert. »Jedoch gibt es Ereignisse, Leute, Situationen, wo das Gleichgewicht … instabil ist. Die gibt's doch oder? Wenn zum Beispiel irgendein Idiot in guter Absicht, Booth davon abhält, Lincoln zu erschießen. Das würde doch später alles verändern.«

Er nickte.

Sie saß ganz aufrecht da und hielt die Knie umschlungen. Sie zitterte. »Don Luis wollte – er will moderne Waffen in die Finger bekommen – dann ins Peru des sechzehnten Jahrhunderts zurückgehen und … die Eroberung übernehmen und hinterher die Protestanten in Europa auslöschen und die Moslems aus Palästina vertreiben …«

»Du hast's erfasst.«

Everard beugte sich noch weiter vor und nahm ihre Hände. Ihre waren kalt. Sie drückte sie fest. »Hab keine Angst, Wanda«, beschwor er sie. »Ja, es ist erschreckend. Es könnte passieren, dass du und ich uns heute niemals unterhielten, dass wir und unsere gesamte Welt niemals waren, nicht einmal ein Traum von jemand. Es ist schwieriger vorzustellen und zu akzeptieren als die Vorstellung persönlicher Vernichtung, wenn wir sterben. Das weiß ich nur zu genau! Aber es wird nicht soweit kommen, Wanda! Castelar ist ein schlauer Fuchs. Durch einen unglücklichen Zufall fiel ihm ein Zeitmobil in die Hände, und er lernte, es zu bedienen. Aber er ist nur ein einziger Mann und hat von allem anderen keine Ahnung. Gestern Abend ist er von hier nur mit knapper Not entkommen. Die Patrouille ist auf seiner Spur. Wir nageln ihn fest, Wanda, und reparieren den Schaden, den er vielleicht angerichtet hat. Dazu sind wir da. Unsere Erfolgsbilanz sieht verdammt gut aus, wenn ich das sagen darf. Und ich tue es.«

Sie schluckte. »Okay, ich glaube dir, Manse.« Er spürte, wie die Wärme in ihre Finger zurückfloss.

»So ist's gut! Du hilfst uns wirklich sehr. Dein Bericht über das, was du erlebt hast, war hervorragend, voll mit Hinweisen, auf das, was er als nächstes versucht. Ich erwarte noch mehr Anhaltspunkte zu erfahren, sobald mir neue Fragen einfallen. Aber wahrscheinlich hast du auch ein paar Vorschläge zu machen.«

Weiterer Zuspruch: »Deshalb bin ich auch mit dir so offen. Wie ich schon sagte, ist es normalerweise streng verboten, Außenstehenden zu enthüllen, dass es Zeitreisen gibt. Mehr als verboten. Wir sind dagegen konditioniert. Wir können es gar nicht weitererzählen. Aber dies sind außergewöhnliche Umstände, und ich bin, was man einen Unabhängigen Agenten nennt, mit der Befugnis, mich über die Bestimmungen hinwegzusetzen.«

Sie entzog ihm sanft, aber bestimmt ihre Hände. Ein kalter Typ, dachte er. Ich meine nicht frigide. Unabhängig. Mut, Rückgrat, Verstand. Und das mit einundzwanzig. Sie schaute ihn wieder ganz klar an. Ihre etwas heisere Stimme klang fest. »Danke. Ich danke dir mehr, als ich ausdrücken kann. Du bist auch etwas Besonderes, weißt du?«

»Nein. Ich bin nur zufällig der Detektiv, der an diesem Fall arbeitet.« Er lächelte. »Zu schade, dass du nicht einen von diesen tollen Burschen gewonnen hast, wie sie zum Beispiel bei den Planetarischen Pionieren vorkommen.«

»Bei den was?« Sie wartete die Antwort nicht ab. »Ich nehme an, die Patrouille nimmt Leute aus allen Perioden.«

»Nun, genau genommen nicht. Vor der wissenschaftlichen Revolution um 1600 gibt es nur ganz wenig Personen, die sich die Idee vorstellen können. Castelar ist eine Ausnahmeerscheinung.«

»Und wie sind sie auf dich gekommen?«

»Ich habe mich auf eine Anzeige gemeldet und einige Tests bestanden. Das war – warte mal – na ja, ist schon einige Zeit her.« Um nicht zu sagen ›1957‹. Warum nicht? Weil sie nicht den ganzen Hintergrund hat. Sie würde mich für uralt halten … Und warum würde das eine Rolle spielen, Everard, du alter Bock? »Man findet Rekruten auf viele verschiedene Arten.« Er streckte sich. »Hör zu, mir ist klar, dass du zehn Millionen Fragen hast. Ich würde sie auch alle gern beantworten. Vielleicht kann ich es später tun; aber im Augenblick sollten wir zur Sache kommen. Ich möchte noch mehr Einzelheiten über das, was passiert, hören. Die Zeit ist kurz.«

»Wirklich«, sagte sie leise. »Ich dachte, du könntest in einem Sekundenbruchteil kurz vor oder nach einem Ereignis landen?«

Gerissen, gerissen. »Sicher können wir das. Aber – na ja, wir im Corps haben nur eine begrenzte Lebensspanne zur Verfügung. Früher oder später holt uns der Alte alle ein. Und die Patrouille hat zu viel Geschichte zu bewachen. Wir haben grauenvollen Personalnotstand. Und – mir fällt es schwer, so ruhig dazusitzen, wenn noch eine Aktion bevorsteht. Ich möchte … gern zu dem Punkt auf meiner persönlichen Weltlinie vorstoßen, wo ein Fall abgeschlossen ist und ich weiß, dass wir in Sicherheit sind.«

»Verstehe«, sagte sie schnell. Dann: »Es fängt doch nicht mit Don Luis an oder hört mit ihm auf, oder?«

»Nein«, gab Everard zu. »Er erwischte ein Zeitmobil, weil Banditen aus der fernen Zukunft versuchten, eines Nachts Atahuallpas Lösegeld zu stehlen, als er gerade dort war. Diese Banditen sind die wirklich gefährlichen Typen. Aber im Augenblick müssen wir erst mal unseren Conquistador aufspüren.«

209 n. Chr.

Wie die meisten reichen hellenistischen Häuser so weit im Osten, vereinigte auch das von Hipponikos klassische Einfachheit mit orientalischem Prunk. Im Speisezimmer umrahmten vergoldete Stuckleisten farbenfrohe Fresken mit exotischen Vögeln, Tieren und Pflanzen. Räucherstäbchen versüßten die Luft. Jetzt, im Sommer, stand eine Tür zum Fischteich und den Rosenbeeten im Innenhof offen. Doch die Anwesenden saßen bequem nach attischer Sitte zu zweit auf Couchen, neben denen zwei Tischchen standen. Sie trugen weiße, wenig verzierte Tuniken. Sie mischten den Wein mit Wasser und aßen gut, aber nicht üppig: Suppe und weiches Brot, gefolgt von einem Lammgericht, Gerste und Gemüse, alles nur leicht gewürzt. Fleisch war etwas Besonderes. Als Nachspeise gab es frisches Obst.

Normalerweise hätte der Kaufmann das erste Abendessen nach seiner Rückkehr als eine Familienangelegenheit betrachtet und als Gast nur seinen Freund Meander geladen. Am nächsten Abend wäre dann eine reine Männergesellschaft gewesen, für die er Mädchen gemietet hätte, die Musik machten, tanzten und auch sonst die Gäste unterhielten. Doch die Umstände waren jetzt anders. Er brauchte eine möglichst rasche und vollständige Aufklärung über die Lage in der Stadt und im Land. Daher hatte er seiner Frau die Botschaft vorausgeschickt, bestimmte Männer zusammen einzuladen. Sie wurden von Sklaven bedient.

Hipponikos' Stellung in der Stadt war so bedeutend, dass die beiden Männer, die so kurzfristig eingeladen wurden, auch kamen. Außerdem könnte nützlich sein, was er von der Nordgrenze zu berichten hatte. Die Gäste saßen ihm und Everard gegenüber. Nach kurzem Austausch von Höflichkeiten kamen sie direkt auf die gegenwärtigen Zustände zu sprechen. Die waren alles andere als erfreulich.

»… der letzte Kurier«, schimpfte Kreon. »Die Armee sollte übermorgen hier eintreffen.« Er war ein untersetzter, narbengesichtiger Mann. König Euthymedos hatte ihn zum Vizekommandanten der Garnison gemacht, als er auszog.

Hipponikos kniff ein Auge zusammen. »Die gesamte Expeditionsstreitmacht?«

»Minus die Toten«, antwortete Kreon grimmig.

»Aber was ist mit dem Rest des Landes?«, fragte Hipponikos erschüttert. Er hatte Landbesitz im Hinterland. »Wenn die meisten unserer Männer in dieser einen Stadt eingepfercht sitzen, können Antiochos' Truppen überall ungehindert plündern und alles niederbrennen.«

»Erst plündern, dann niederbrennen!«, fiel Everard ein. Dieser Witz aus dem zwanzigsten Jahrhundert war zweifellos schon seit Urzeiten beliebt; aber nicht besonders komisch, wenn die Wirklichkeit näherrückte; aber der Mensch griff immer nach einem Strohhalm Humor.

»Keine Angst«, sagte Zoilos beschwichtigend. Hipponikos hatte Everard erklärt, dass dieser als Schatzminister im ganzen Reich gute Verbindungen hatte. Unter der großen Nase verzog sich der Mund in dem hageren Gesicht zu einem verkniffenen Lächeln. »Unser König weiß genau, was er tut. Wenn er seine Kräfte hier konzentriert, muss der Feind in der Nähe bleiben. Dann können wir Abteilungen hinausschicken und ihn vom Rücken her angreifen, Stück für Stück. Das ist doch richtig, Kreon, oder?«

»Ganz so einfach ist es nicht, vor allem nicht über eine längere Zeitspanne.« Der Blick des Offiziers auf seinen Nachbarn sagte deutlich: Ihr Zivilisten haltet euch immer für Meisterstrategen! »Aber es stimmt, dass Antiochos es vorsichtig angeht. Das ist deutlich zu sehen. Und überhaupt ist unsere Armee noch in einsatzbereiter Ordnung, er aber weit entfernt von der Heimat.«

Everard hatte in der Gegenwart der Würdenträger respektvoll geschwiegen. Doch jetzt fand er, dass er eine Frage wagen könnte. »Verzeiht, was ist eigentlich geschehen? Könnt ihr das den eingegangenen Meldungen entnehmen?«

Kreons Antwort war leicht herablassend, aber freundlich, so von einem Soldaten zum anderen. »Die Syrer sind am Südufer des Arius entlangmarschiert.« Auf den Landkarten aus Everards Zeit war das der Hari Rud. »Anderenfalls hätten sie die Wüste durchqueren müssen. Natürlich wusste Euthydemos, dass Antiochos im Anmarsch war. Er erwartete ihn schon seit langem.«

Natürlich, dachte Everard. Dieser Krieg braut sich schon seit sechs Dekaden zusammen, seit der Satrap von Baktra sich gegen die Seleukidenmonarchie auflehnte, seine Provinz für unabhängig erklärte und sich zum König machte.

Die Parther hatten die Idee begeistert aufgenommen und gleichzeitig dasselbe getan. Sie waren beinahe ganz reine Iranier – Arier, in der wahren Bedeutung dieses Wortes – und hielten sich für die Erben des persischen Reiches, das Alexander erobert hatte und seine Generäle später unter sich aufgeteilt hatten. Zusätzlich zu den ewigen Machtkämpfen im Westen hatten die Nachkommen des General Seleukos plötzlich eine zusätzliche Bedrohung im Rücken.

Im Augenblick herrschten sie über Kilikien (in Everards Zeit Südzentraltürkei) und Latakia an der Mittelmeerküste. Von dort aus breitete sich ihr Herrschaftsbereich über den Hauptteil Syriens, Mesopotamiens (Irak) und Persien (Iran) aus, entweder direkt oder mittels Vasallen. Allgemein sprach man daher von ›Syrien‹, obwohl die Herrscher dort griechisch-mazedonisch mit nahöstlichem Einschlag und ihre Untertanen eine wilde Mischung aller möglicher Völker waren. König Antiochos III. hatte alles wieder vereint, nachdem Bürger- und andere Kriege es ziemlich zerrüttet hatten. Er rückte bis nach Parthien vor (Nordosten Irans) und schaffte dort wieder Ruhe – für den Augenblick. Jetzt war er gekommen, um Baktrien und Sogdiane zurückzufordern. Sein Ehrgeiz reichte noch weiter nach Süden, nach Indien …

»… und hielt seine Spione und Späher auf Trab. Er bezog an der Furt Stellung, die, wie er wusste, die Syrer benutzen würden.« Kreon seufzte. »Aber ich muss zugeben: Dieser Antiochos ist ein gerissener Hund, außerdem ebenso waghalsig wie zäh. Kurz vor Tagesanbruch schickte er eine Vorhut hinüber …«