Die Chroniken der Zeitpatrouille - Poul Anderson - E-Book

Die Chroniken der Zeitpatrouille E-Book

Poul Anderson

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Geschichte ist ein zerbrechliches Gebilde

Immer wieder gibt es Bestrebungen einzelner oder ganzer Gruppen, die Geschichte durch Eingriffe zu manipulieren, um sich Vorteile zu verschaffen. Deswegen wacht die Zeitpatrouille über das Muster des Zeitstroms und greift ein, wenn es zu verdächtigen Kräuselungen kommt, die auf Störungen hindeuten. Sie schickt ihre Spezialisten in die betroffenen Jahrhunderte, sorgfältig getarnt, die unauffällig und mit minimalstem Aufwand die Eingriffe rückgängig machen sollen. Doch oft ist das Aufspüren der Veränderungen gar nicht einfach, und immer wieder bedeutet die Arbeit der Zeitpatrouille, grausam in menschliche Schicksale einzugreifen und tragische Verluste hinzunehmen.

Die Chroniken der Zeitpatrouille“ versammelt neun längere Erzählungen von Poul Anderson.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1138

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



POUL ANDERSON

DIE CHRONIKEN

DER

ZEITPATROUILLE

Roman

INHALT

Zeitpatrouille

Der Mut, ein König zu sein

Die Gibraltar-Fälle

Ein unfaires Spiel

Delenda est

Elfenbein, Affen und Pfauen

Die Trauer Odins des Goten

Stern des Meeres

I

II

III

IV

Das Jahr der Erlösung

1

Männer zwischen 21 und 40 Jahren für gutbezahlte Reisetätigkeit gesucht. Gute Gesundheit Voraussetzung. Alleinstehende mit militärischen oder technischen Kenntnissen bevorzugt. Technische Studien-Gesellschaft

305 East 45

Bürozeiten von 9–12 Uhr und 14–18 Uhr

»Die Arbeit ist – sagen wir mal – ein wenig ungewöhnlich«, erklärte Mr. Gordon. »Und zudem streng vertraulich zu behandeln. Ich hoffe, Sie können ein Geheimnis für sich behalten?«

»Im allgemeinen schon«, antwortete Manse Everard. »Kommt ganz drauf an, um welches Geheimnis es sich handelt.«

Mr. Gordon lächelte. Es war ein seltsames Lächeln, ein kurzes Schürzen der Lippen, mit keinem Lächeln vergleichbar, das Everard bisher gesehen hatte. Er sprach das normale Umgangs-Amerikanisch und trug einen gewöhnlichen Geschäftsanzug – und doch hatte er etwas Fremdes an sich, das durchaus seinem dunklen Teint, den bartlosen Wangen und den mongolischen Augen entsprang, welche überhaupt nicht zu seiner kaukasischen Nase passen wollten. Eine Fremdheit, die schwer zu erklären war.

»Wir sind keine Spione – wenn es das ist, was Sie glauben«, sagte Mr. Gordon.

Everard grinste. »Tut mir leid. Bitte denken Sie nicht, ich sei so hysterisch wie der Rest des Landes. Ohnehin hatte ich nie Zugang zu vertraulichen Daten. Doch in Ihrer Anzeige erwähnten Sie Operationen in Übersee – und wie die Dinge liegen, würde ich ganz gern meinen Pass behalten. Sie verstehen?«

Everard war ein kräftiger Mann mit wuchtigen Schultern und einem etwas zu breiten Gesicht unter dem kurzgeschnitten braunen Haar. Seine Papiere lagen vor ihm: Armee-Entlassungsschein, die Zeugnisse von verschiedenen Arbeitsstellen als Maschinenbau-Ingenieur. Mr. Gordon schien gerade einen flüchtigen Blick dafür übrig zu haben.

Das Büro war normal eingerichtet – ein Schreibtisch mit ein paar Sesseln, ein Aktenschrank, und im Hintergrund eine Tür, die irgendwohin führte. Ein Fenster öffnete sich dem brausenden New Yorker Verkehr sechs Etagen tiefer.

»Sie haben einen Hang zur Unabhängigkeit, wie?«, meinte der Mann hinter dem Schreibtisch. »Gefällt mir. Hier kommen so viele Kriecher her, die sogar für einen Tritt in den Hintern noch dankbar sind. Mit einem solchen beruflichen Hintergrund brauchen Sie sich natürlich auch kaum Gedanken zu machen. Sie können immer Arbeit finden, selbst in einer – äh, wie sagt man heute? – ›gleitenden Sanierungsphase‹.«

»Ich bin jedenfalls interessiert«, erklärte Everard. »Ich habe im Ausland gearbeitet, wie Sie aus meinen Unterlagen ersehen können, und würde gern wieder reisen. Aber, offen gesagt, habe ich nicht den blassesten Schimmer, um welche Art Tätigkeit es hier geht.«

»Oh, wir haben mit vielen Dingen zu tun«, antwortete Mr. Gordon ausweichend. »Wollen wir mal sehen – Sie waren also an der Front. Frankreich und Deutschland.«

Everard blinzelte überrascht. Seine Papiere enthielten auch eine Aufzählung seiner Orden und Auszeichnungen, aber er hätte seinen Kopf darauf gesetzt, dass der Mann vor ihm keine Zeit gehabt hatte, sie durchzusehen.

»Hm … würden Sie freundlicherweise Ihre Hände um die Holzknäufe auf den Sessellehnen legen? Danke. Nun – wie reagieren Sie bei Lebensgefahr?«

Everard runzelte die Stirn. »Sehen Sie …«

Mr. Gordons Blick sprang zu einem Gerät auf seinem Schreibtisch – einem gewöhnlichen Metallkasten mit einer Anzeigennadel und einer Reihe von Knöpfen. »Macht nichts. Was sind Ihre Ansichten zum Internationalismus?«

»Nun, sagen wir …«

»Zum Kommunismus, Faschismus, zu Frauen? Welche persönlichen Ambitionen haben Sie? … Das war's schon. Sie brauchen nicht zu antworten.«

»Was, zum Teufel, soll das?«, fauchte Everard.

»Nur ein kleiner psychologischer Test. Vergessen Sie's. Mich interessieren Ihre Ansichten nicht – es sei denn, sie reflektieren die grundlegende gefühlsmäßige Orientierung.« Mr. Gordon lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Bis jetzt sieht alles sehr vielversprechend aus. Also schön, ich verrate Ihnen etwas. Unsere Arbeit ist, wie ich Ihnen schon andeutete, höchst vertraulich. Wir … äh … haben vor, unserer Konkurrenz eine gewaltige Überraschung zu bereiten.« Er kicherte. »Sie können ruhig zum FBI gehen und mich anzeigen, wenn Sie wollen. Man hat uns schon überprüft und festgestellt, dass wir sauber sind. Sie werden weiterhin feststellen, dass wir weltweit auf finanziellem und technischem Gebiet tätig sind. Aber der Job hat auch noch einen anderen Aspekt – und dafür suchen wir eben Leute. Ich zahle Ihnen hundert Dollar, wenn Sie ins Nebenzimmer gehen und eine Reihe von Tests über sich ergehen lassen.

Das wird ungefähr drei Stunden dauern. Wenn Sie durchfallen, reden wir nicht mehr darüber. Bestehen Sie, stellen wir Sie ein, nennen Ihnen die Fakten und beginnen mit Ihrer Ausbildung. Machen Sie mit?«

Everard zögerte. Er fühlte sich überrumpelt. Hinter diesem Unternehmen steckte mehr als nur ein Büro und dieser unverbindliche Fremde. Und trotzdem …

Er traf seine Entscheidung. »Ich werde unterschreiben, nachdem Sie mir gesagt haben, was das alles zu bedeuten hat.«

»In Ordnung.« Mr. Gordon zuckte die Achseln. »Wie Sie wünschen. Wissen Sie, die Tests werden zeigen, ob Sie bei uns anheuern oder nicht. Wir verwenden dabei einige sehr fortschrittliche Techniken.«

Das zumindest erwies als völlig richtig. Everard kannte sich ein wenig mit moderner Psychologie aus – mit Enzephalogrammen, Assoziationstests, mit dem Minnesota-Profil-Test. Doch die abgedeckten Geräte, die um ihn herum blinkten und summten, hatte er noch nie gesehen. Die Fragen, die der Assistent – ein blasshäutiger, völlig kahlköpfiger Mann unbestimmbaren Alters – mit einem starken Akzent und ausdrucksloser Miene auf ihn abfeuerte, erschienen ihm völlig irrelevant und ohne Bezug zu irgend etwas. Und was war das für eine Metallhaube, die er aufsetzen musste? Wohin führten ihre Kabel und Drähte?

Verstohlen musterte Everard die Anzeigen und Skalen der Geräte, aber solche Messblätter waren ihm zuvor noch nie begegnet. Sie waren weder in Englisch, Französisch, Russisch oder Griechisch noch in Chinesisch oder Japanisch angelegt – in keiner Sprache, die im Jahr des Herrn 1954 üblich war.

Vielleicht begann er da die Wahrheit schon zu ahnen – in diesem Moment.

Eine eigenartige Selbstbetrachtung erwachte mit dem Fortgang der Tests in ihm: Manson Emmert Everard, 30 Jahre, einstmals Lieutenant im Technischen Stab der U.S. Army; Entwicklungsaufgaben und Wirtschaftsprojekte in Amerika, Schweden, Arabien; trotz oder gerade wegen der wehmütigen Erinnerungen seiner verheirateten Freunde, die immer häufiger ihre Unterhaltungen dominierten, noch Junggeselle; kein festes Mädchen, keine engen Bindungen irgendwelcher Art; ein wenig bibliophil, ein durchtriebener Pokerspieler, mit einer Schwäche für Segelboote, Pferde und Gewehre; in seinen Urlauben ein begeisterter Camper und Angler. All das war ihm seit langem vertraut – aber nur als separate Fakten-Bruchstücke.

Es war ein seltsames Gefühl, sich selbst plötzlich als einheitliches Ganzes, als integrierten Organismus zu empfinden – eine merkwürdige Erkenntnis, jedes Charakteristikum als ein unveränderliches Bruchstück eines Gesamtmusters anzusehen.

Völlig erschöpft und schweißgebadet verließ er den Raum. Mr. Gordon bot ihm eine Zigarette an und studierte rasch die verschlüsselten Angaben auf den Blättern, die der Assistent ihm brachte. Hier und dort murmelte er eine Zeile vor sich hin: »… Zeth 20 kortikal … undifferenzierte Auswertung bei … psychische Reaktion auf Antitoxine … Schwäche bei der zentralen Koordinierung …« Er verfiel dabei in einen Akzent, ein Singen und Dehnen der Vokale, wie es Everard noch nie gehört hatte – und das trotz seiner reichen Erfahrung, wie die Bewohner der verschiedensten Regionen der Welt die englische Sprache zu vergewaltigen pflegten.

Es dauerte ein halbe Stunde, ehe Mr. Gordon den Blick von den Aufzeichnungen hob. Everard wurde allmählich unruhig. Er spürte leichten Ärger in sich aufsteigen, ausgelöst durch Mr. Gordons Unhöflichkeit. Aber seine Neugier zwang ihn sitzenzubleiben.

Schließlich ließ Mr. Gordon mit einem breiten, zufriedenen Lächeln seine unnatürlich weißen Zähne aufschimmern. »Nun, immerhin. Wissen Sie, ich musste nämlich schon 24 Kandidaten abweisen. Aber Sie sind geeignet – definitiv.«

»Geeignet – wozu?« Everard beugte sich vor. Er merkte, wie sein Puls plötzlich rascher ging.

»Für die Patrouille. Sie werden eine Art Polizist werden.«

»So? Und wo?«

»Überall – und jederzeit. Halten Sie sich fest, denn es wird ein Schock für Sie sein. Sehen Sie, unsere Firma, ist – mit voller Legitimation – nur Fassade. Und eine Geldquelle. Unser wahres Geschäft sind Patrouillen durch die Zeit.«

2

Die Akademie befand sich im amerikanischen Westen – im Oligozän, der warmen Zeitperiode der Wälder und weiten Graslandschaften, in der die zotteligen Vorfahren des Menschen noch in heller Panik vor den riesigen Säugetieren davonliefen. Sie war vor tausend Jahren errichtet worden und sollte für eine halbe Million Jahre Bestand haben – so lange, um genügend Leute für die Zeitpatrouille auszubilden. Danach würde sie so sorgfältig demontiert werden, dass keinerlei Spuren zurückblieben. Später würden die Gletscher kommen, und es würde Menschen geben, und diese Menschen würden im Jahr des Herrn 1952 (dem 7841. Jahr nach dem Triumph der Moränen) einen Weg finden, durch die Zeit zu reisen, und ins Oligozän zurückkehren, um die Akademie einzurichten.

Sie bestand aus einem Komplex langgestreckter, niedriger Gebäude – sanfte Rundungen und unbestimmbare Farben, die sich in das Grün zwischen riesige, uralte Bäume schmiegten. Unterhalb dehnten sich die Hügel und Wälder hinab zu einem großen braunen Fluss. Bei Nacht konnte man manchmal das Bellen der Titanosauriden oder den entfernten Schrei des Säbelzahn-Tigers hören.

Everard stieg aus der Zeitfähre, einer großen, unförmigen Metallkiste. Seine Kehle war wie ausgetrocknet, genau wie an seinem ersten Tag in der Army vor zwölf Jahren – oder 15 bis 20 Millionen Jahre in der Zukunft, wenn Sie so wollen. Er fühlte sich einsam, hilflos, und suchte verzweifelt nach einem ehrenvollen Weg, nach Hause zurückkehren zu können. Der Anblick der anderen Fähren, die auf die Zahl genau 49 andere junge Frauen und Männer ausspien, war nur ein schwacher Trost. Die Rekruten versammelten sich langsam und zögernd zu einem ungeordneten Haufen. Zuerst sprachen sie kein Wort, sondern musterten sich nur gegenseitig verstohlen. Everard bemerkte einen Stehkragen und eine Melone – eine Kleidermode, wie man sie noch bis nach 1954 trug. Von wo mochte es wohl kommen, das Mädchen in dem irisierenden engen Hosenrock, mit dem grünen Lippenstift und dem phantastisch gelockten Blondhaar? Nein, nicht von wo – von wann?

Der Zufall hatte einen etwa fünfundzwanzigjährigen Mann an Everards Seite gespült – dem abgewetzten Tweedanzug und seinem langen, schmalen Gesicht zufolge offenbar ein Brite. Hinter seinem manirierten Äußeren schien er eine trotzige Bitterkeit verbergen zu wollen. »Hallo«, sprach Everard ihn an. »Wir sollten uns miteinander bekannt machen.« Er nannte Namen und Herkunft.

»Charles Whitcomb, London, 1947«, antwortete der andere scheu.

»Bin gerade demobilisiert worden – R.A.F. – und das hier schien mir eine gute Chance zu sein. Was ich inzwischen bezweifle.«

»Vielleicht ist es doch eine«, meinte Everard und dachte dabei an die Bezahlung. Für den Anfang 15 000 im Jahr! Aber was bezeichneten die hier als Jahr? Wahrscheinlich doch eine Zeiteinheit nach der aktuellen Zeitrechnung, oder?

Ein Mann schlenderte auf sie zu, ein schlanker junger Bursche in einer hautengen grauen Uniform und einem tiefblauen Umhang, der glitzerte, als hätte man Sterne auf ihm verstreut. Sein angenehmes Gesicht zeigte ein freundliches Lächeln, und er sprach klar und deutlich, ohne jeden Akzent: »Hallo Leute! Willkommen in der Akademie! Ich darf wohl annehmen, dass jeder Englisch versteht?« Everard bemerkte einen Mann in einer verschlissenen deutschen Uniform, einen Hindu und noch weitere, die offenbar aus verschiedenen anderen Ländern kamen.

»Wir werden Englisch sprechen, bis Sie alle Temporal, die Zeitsprache erlernt haben.« Lässig stand der Mann vor ihnen, die Hände in die Seiten gestemmt. »Mein Name ist Dard Kelm. Ich bin im Jahr – lassen Sie mich nachdenken – 9573 christlicher Zeitrechnung geboren, habe mich aber auf Ihre Ära spezialisiert. Die sich, nebenbei erwähnt, von 1850 bis zum Jahr 2000 erstreckt – auch wenn Sie, wie Sie ja selbst sicher schon bemerkten, aus verschiedenen Generationen in dieser Zeitspanne stammen. Ich bin Ihre offizielle Klagemauer für den Fall, dass etwas schiefgeht.

Nun, dieser Ort hier wird nach anderen Richtlinien geführt, als Sie es vielleicht erwarten. Wir bilden hier keine Menschen en masse aus, weshalb wir auf die strikte Disziplin einer Klasse oder einer Militäreinheit verzichten können. Jeder von Ihnen erhält individuelle wie auch generelle Instruktionen. Ein Versagen während des Studiums brauchen wir ebenfalls nicht zu ahnden, denn die Vortests haben uns garantiert, dass es keine diesbezüglichen Ausrutscher geben und die Fehlerquote bei der Ausübung des Jobs gering sein wird. Jeder von Ihnen hat nach dem Verständnis Ihrer verschiedenen Kulturen und Gesellschaftsformen einen hohen Reifegrad. Trotzdem macht Ihre unterschiedliche Begabung eine persönliche Betreuung unumgänglich, wenn wir jeden einzelnen zur vollen Entfaltung seiner Fähigkeiten bringen wollen.

Außer der normalen und gebotenen Höflichkeit gibt es hier kaum Formalitäten. Sie alle haben genug Zeit zur Entspannung wie zum Studium. Wir erwarten nie mehr von Ihnen, als Sie geben können. Ich möchte hinzufügen, dass die Nachbarschaft gute Möglichkeiten zum Jagen und Fischen bietet. Aber wenn Sie nur ein paar hundert Meilen fliegen, sind sie wirklich phantastisch.

Wenn Sie keine Fragen mehr an mich haben, folgen Sie mir bitte. Ich zeige Ihnen dann Ihre Unterkünfte.«

Dard Kelm erklärte die Geräte und Armaturen in einem typischen Zimmer. Die Einrichtung entsprach – sagen wir – dem Wohnstandard ums Jahr 2000: unauffällige Möbel, genau den Bedürfnissen und Maßen des Bewohners angepasst, ein Bad, und ein Bildschirm, der zur persönlichen Unterhaltung Zugriff auf einen riesigen Fundus von Aufzeichnungen in Bild und Ton erlaubte. Aber nichts war zu fortschrittlich, zu hoch entwickelt. Jeder Kadett hatte sein eigenes Zimmer im ›Bettenhaus‹. Die Mahlzeiten gab es in einer zentralen Mensa, doch waren auch spezielle Arrangements für Partys möglich. Everard spürte, wie seine innere Anspannung allmählich schwand.

Man inszenierte ein Willkommens-Bankett. Die Speisen bei den einzelnen Gängen waren den Neuankömmlingen vertraut, die lautlosen Maschinen, die sie servierten, dagegen nicht. Es gab Wein, Bier und Tabakwaren in ausreichenden Mengen. Möglicherweise hatte man etwas ins Essen gegeben, denn Everard war euphorisch und ausgelassen wie die anderen. Er fand sich schließlich am Piano wieder, wo er einen Boogie in die Tasten hieb. Schlager wurden gesungen. Alle waren in guter Stimmung. Nur Charles Whitcomb hielt sich zurück, hockte allein in einer Ecke und kippte ein Glas Bier nach dem anderen in sich hinein.

Dard Kelm zeigte Taktgefühl und forderte ihn nicht auf, sich zu den anderen zu gesellen.

Everard kam zu dem Schluss, dass ihm das alles gefiel. Aber die Arbeit, die Organisation und ihre Ziele blieben nebulös und verschwommen.

»Man entdeckte die Zeitreise in einer Zeit, als die Irrlehre der Choriten ihrem Untergang entgegenging«, erklärte Kelm im Vorlesungssaal. »Sie werden die Einzelheiten später genauer erfahren. Im Moment haben Sie mein Wort, dass es ein sehr turbulentes Zeitalter war, in dem die kommerzielle und genetische Rivalität zu einem Hauen und Stechen zwischen riesigen Kombinaten ausartete; alles ging zu Bruch, und die verschiedenen Regierungen waren nur noch Schachfiguren in einem galaktischen Spiel. Der Zeiteffekt war nur ein Nebenprodukt bei der Suche nach den Gesetzmäßigkeiten für den Moment-Transport, zu dessen mathematischer Erklärung es, wie einige von Ihnen sicherlich erkannt haben, unendlich vieler nicht kontinuierlicher Funktionsgleichungen bedürfte – ähnlich wie bei Reisen in die Vergangenheit. Ich möchte hier nicht tiefer in die Theorie einsteigen – Sie werden in den Physik-Vorlesungen mehr darüber erfahren –, sondern nur festhalten, dass diesem Konzept ein Geflecht von Gesetzmäßigkeiten in einem vierdimensionalen N-Kontinuum zugrunde liegt, wobei N für die komplette Anzahl aller Partikel im Universum steht.

Natürlich erfasste die Entdecker-Gruppe, die sogenannten Neun, die Tragweite ihrer Entdeckung. Nicht nur bezüglich der kommerziellen Nutzung im Handel, Bergbau und vielen anderen Bereichen, die Sie sich vorstellen können – sondern viel mehr bezüglich der Chance, die sich ihnen damit bot, gegen ihre Feinde zum tödlichen Schlag auszuholen. Sie wissen, die Zeit ist variabel, die Vergangenheit veränderbar …«

»Eine Frage!« Es war das Mädchen von 1972, Elizabeth Gray, in ihrer Zeit eine vielversprechende junge Physikerin.

»Ja, bitte?«, fragte Kelm höflich.

»Ich glaube, Sie reden da von einer logisch völlig unmöglichen Situation. Ich gebe die Möglichkeit einer Zeitreise ja zu, weil ich sehe, dass wir hier sind, aber ein Ereignis kann nicht gleichzeitig stattgefunden und nicht stattgefunden haben. Das ist ein Widerspruch in sich.«

»Nur, wenn Sie von einer Logik ausgehen, die nicht auf Aleph-sub-Aleph basiert«, erwiderte Kelm. »Was geschieht, ist doch dies: Nehmen wir an, ich würde in der Zeit zurückreisen und Ihren Vater daran hindern, Ihrer Mutter zu begegnen. Sie wären dann nie geboren worden. Dieser Teil der universellen Historie würde sich dann anders lesen; er wäre immer verschieden gewesen, obwohl ich die Erinnerung an den ›ursprünglichen‹ Stand der Dinge behalte.«

»Und was wäre, wenn Ihnen das gleiche geschähe?«, fragte Elizabeth. »Würden Sie dann aufhören zu existieren?«

»Nein, weil ich zu dem Teil der Historie gehören würde, die vor meiner Intervention stattfand. Übertragen wir es doch auf Sie. Wenn Sie – sagen wir mal – bis ins Jahr 1946 zurückgingen und es bewerkstelligen könnten, die Begegnung Ihrer Eltern im Jahr 1947 zu verhindern, hätte es Sie trotzdem in diesem Jahr gegeben. Sie würden nicht ihre Existenz verlieren, nur weil Sie die Ereignisse beeinflusst hätten. Der gleiche Effekt würde auftreten, wenn Sie auch nur eine Mikrosekunde lang im Jahr 1946 gewesen wären, ehe Sie den Mann erschossen, der andernfalls Ihr Vater geworden wäre.«

»Aber dann würde ich doch existieren ohne … ohne einen Ursprung!«, protestierte sie. »Ich hätte ein Leben, Erinnerungen und … alles andere …, obwohl nichts sie produziert hätte!«

Kelm zuckte die Achseln. »Und was wäre dann? Sie beharren darauf, dass das kausale Gesetz, oder genauer gesagt das Gesetz zur Umwandlung von Energie, nur auf kontinuierlichen Funktionen beruht. Tatsächlich ist Diskontinuität durchaus möglich.«

Lächelnd lehnte er sich gegen das Pult. »Natürlich gibt es auch dabei Dinge, die nicht möglich sind. So könnten Sie beispielsweise nicht Ihre eigene Mutter sein – rein aus genetischen Gründen. Wenn Sie zurückgingen und ihren späteren Vater heirateten, wären die Kinder anders. Keins von ihnen wären Sie, weil jedes nur die Hälfte Ihrer Chromosomen besäße.«

Er räusperte sich. »Aber wir sollten nicht abschweifen. Sie werden die Details in den anderen Klassen erfahren. Ich vermittle Ihnen hier nur die generellen Grundlagen. Um fortzufahren: die Neun erkannten die Möglichkeit, in der Zeit rückwärts zu reisen und ihre Feinde daran zu hindern, jemals den Zwist zu beginnen, ja, sogar ihre Geburt zu verhindern. Aber dann tauchten die Danellier auf.«

Zum ersten Mal verlor er seine lässige Haltung, seine lockere Redeweise, und vor ihnen stand ein Mensch im Angesicht des Unfassbaren. Leise fuhr er fort: »Die Danellier sind Bestandteil der Zukunft – unserer Zukunft, mir mehr als eine Million Jahre voraus. Die Menschheit hat sich zu etwas entwickelt … das sich unmöglich beschreiben lässt. Wahrscheinlich werden Sie nie einem Danellier begegnen. Wenn doch, wird es für Sie sein wie … ein Schock. Sie sind nicht bösartig, auch nicht gutmütig – sie sind so weit jenseits von allem, was wir begreifen oder empfinden können, wie wir jenseits der Insektenfresser sind, die unsere Vorfahren sein werden. Es ist wirklich nicht gut, einem solchen Wesen von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.

Jedenfalls waren sie nur daran interessiert, ihre eigene Existenz zu schützen. Zeitreisen waren schon uralt, als sie auftauchten, so dass sich für Dummköpfe, Gierige und Irre ungezählte Möglichkeiten auftaten, zurückzureisen und die Historie auf den Kopf zu stellen. Es konnte nicht ihr Wunsch sein, das Reisen zu verbieten – es war ja Teil des Komplexes, der zu ihrer Entstehung beigetragen hatte –, aber sie mussten sie regulieren. Man hinderte die Neun an der Verwirklichung ihrer Pläne und stellte die Patrouille auf, um die Zeitstraßen zu überwachen und zu schützen.

Sie alle hier werden hauptsächlich in Ihrer eigenen Ära arbeiten – es sei denn, Sie schaffen den Abschluss für den Ungebundenen-Status. Sie werden ein völlig normales Leben führen, mit Familie und Freunden wie üblich. Eine gute Bezahlung, Protektion, gelegentliche Ferien an einigen sehr interessanten Orten und eine höchst befriedigende Tätigkeit entschädigen Sie für den Teil Ihres Lebens, der geheim bleiben muss. Aber Sie müssen immer abrufbereit sein. Manchmal werden Sie auf die eine oder andere Art Zeitreisenden helfen, die in Schwierigkeiten geraten sind. Manchmal werden Sie an Operationen teilnehmen, wenn politische, militärische oder wirtschaftliche Übergriffe zu befürchten sind. Manchmal wird die Patrouille auch einen Schaden als angerichtet akzeptieren müssen und an Gegenmaßnahmen arbeiten, die in späteren Zeitperioden die Historie in die gewünschte Bahn zurückpendeln lässt.

Dazu wünsche ich jedem einzelnen von Ihnen viel Glück!«

Im ersten Teil des Unterrichts ging es um Körper und Psyche. Everard war nie bewusst gewesen, wie sein eigenes Leben ihn verkrüppelt hatte – körperlich und geistig. Er schien bisher nur halb der Mann gewesen zu sein, der er sein konnte. Es war hart, doch am Ende bereitete es Freude, seine Muskeln bis zum Äußersten kontrollieren zu können, zu spüren, wie sich die Gefühle während der Disziplinierungsphase vertieften, wie Schnelligkeit und Präzision durch bewusstes Denkens wuchsen.

Irgendwo auf dieser Schiene wurde er gründlichst darauf präpariert, gegenüber nicht autorisierten Personen jemals die Patrouille zu erwähnen, ja, sogar ihre Existenz zu verdrängen. Es wurde ihm einfach unmöglich, unter welchen Einflüssen auch immer. So unmöglich, wie mit einem Satz auf den Mond zu springen. Ebenso gründlich lernte er die inneren und äußeren Eigenschaften seiner von der Öffentlichkeit zugänglichen 20. Jahrhundert-Persönlichkeit kennen.

Temporal, die künstliche Sprache, in der die Streifenbeamten aller Zeitperioden miteinander kommunizieren konnten, ohne dass Fremde ein Wort verstanden, war ein Wunder logisch aufgebauter Ausdruckskraft.

Everard hatte immer geglaubt, er verstehe etwas vom Kämpfen, aber er musste jetzt lernen, die Tricks und Waffen einer Zeitperiode von rund 50 000 Jahren anzuwenden, angefangen vom Rapier aus der Bronzezeit bis zum zyklischen Strahler, mit dem man einen ganzen Kontinent ausradieren konnte. Bei der Rückkehr in seine eigene Ära würde man ihm ein begrenztes Waffenarsenal zur Verfügung stellen, doch konnte er jederzeit in andere Zeitperioden abberufen werden, und unverhohlener Anachronismus wäre dabei kaum erlaubt.

Es folgten Lehrgänge in Geschichte, Wissenschaft, Kunst und Philosophie, der Feinschliff bei Dialekten und im Verhalten. Diese letzten Vorlesungen betrafen nur die Periode zwischen 1850 und 1975. Sollte er die Gelegenheit bekommen, sonst wo hingehen zu müssen, würde er spezielle Instruktionen über einen Hypnose-Programmierer beziehen. Es waren auch diese Maschinen, die es ihm ermöglichten, seine Ausbildung innerhalb von drei Monaten zu absolvieren.

Er lernte außerdem die Organisation der Patrouille kennen. Weit ›voraus‹ lag dieses Mysterium, das als die Danellier-Zivilisation bezeichnet wurde, aber es gab nur wenige direkte Kontakte dorthin.

Die Patrouille war auf paramilitärische Art strukturiert. Es gab Dienstgrade, aber keine speziellen Formalitäten. Die Historie war in Milieus gegliedert, mit einem Hauptbüro, das jeweils für eine Periode von zwanzig Jahren in einer der größeren Städte eingerichtet wurde (getarnt durch angebliche Aktivitäten wie Handel oder Bankgeschäfte), und verschiedenen Zweigbüros. In Everards Zeitabschnitt gab es drei Milieus: die westliche Welt mit Hauptbüro in London, Russland mit dem Büro in Moskau und Asien mit dem Büro in Peiping – und alle Büros waren in den entspannten Jahren von 1890 bis 1910 eingerichtet, in denen eine Tarnung leichter aufrechtzuerhalten war als in späteren Jahrzehnten, in denen es dann kleinere Büros wie das von Mr. Gordon gab. Ein normal eingesetzter Agent lebte gewöhnlich in seiner Zeit und ging meist einem authentischen Beruf nach. Die Kommunikation zwischen den Jahren erfolgte durch kleine Robotfähren oder durch Kuriere mit automatischer Steuerung, damit solche Botschaften sich nicht an einem Zeitknoten stauten.

Die gesamte Organisation war so weit verzweigt, dass Everard ihr Ausmaß kaum abzuschätzen wusste. Die Schichten seines Bewusstseins vermochten lediglich zu erfassen, dass er da in etwas ganz Neues und Aufregendes hineingeraten war … bisher jedenfalls.

Die Instruktoren empfand er als freundlich und immer bereit zu einem Plausch. Der ergraute Veteran, der ihn in der Handhabung von Raumschiffen unterwies, hatte im Marskrieg von 3890 gekämpft. »Ihr Jungs begreift ziemlich schnell«, meinte er. »Trotzdem ist es die Hölle, Leute aus der Zeit vor der industriellen Revolution zu unterrichten. Wir haben schon jeden Versuch aufgegeben, ihnen mehr als die Grundlagen mitzugeben. Ich hatte mal 'nen Römer hier, aus Cäsars Zeiten. War eigentlich 'n ziemlich heller Knabe. Aber es ging einfach nicht in seinen Schädel, dass man 'ne Maschine nicht wie 'n Pferd behandeln kann. Und was die Babylonier angeht, so passten Zeitreisen einfach nicht in ihr Weltbild. Mussten sie mit 'ner Krieg-Zwischen-den-Göttern-Routine ausstatten.«

»Welche Routine werden Sie uns geben?«, fragte Whitcomb.

Der Raumfahrer sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. »Die Wahrheit«, meinte er schließlich. »Und davon so viel, wie ihr vertragen könnt.«

»Wie sind Sie zu diesem Job gekommen?«

»Ach … ich wurde beim Jupiter abgeschossen. War nicht mehr viel von mir übrig. Sie sammelten meine Reste ein, bauten mir 'nen neuen Körper … und da keiner von meinen Leuten mehr am Leben war und ich offiziell als tot galt, hatte es nicht viel Sinn, nach Hause zurückzukehren. Macht ja auch nicht besonders Spaß, unter der Kontrolle des Besatzungskorps zu leben. Also übernahm ich den Job hier. Nette Gesellschaft, 'n leichtes Leben, und Urlaube in 'ner Menge Äras.« Der Raumfahrer grinste. »Wartet, bis ihr mal in der Zeit des Dritten Matriarchats gewesen seid! Ihr wisst noch nicht, was Spaß ist.«

Everard sagte nichts. Er war zu sehr gefangen von dem Anblick der Erde, die wie ein enormer Ball auf die Sterne zurollte.

Er schloss Freundschaft mit seinen Kadetten-Kameraden. Sie waren ein sympathischer Haufen – kein Wunder bei solch gleichgesinnten Typen, die man als Streifengänger ausgewählt hatte – alles verwegene, intelligente Köpfe. Es gab eine Reihe Liebschaften und Affären. Ehen waren durchaus möglich und erlaubt. Everard selbst mochte die Mädchen, hielt sich aber den Kopf frei.

Seltsamerweise war es der stille, verdrießliche Whitcomb, mit dem ihn schließlich die engste Freundschaft verband. Der Engländer hatte irgend etwas an sich, das ihn anzog. Er war kultiviert, ein von Grund auf anständiger Bursche, wirkte aber trotzdem immer irgendwie verloren.

Eines Tages ritten sie zusammen aus, auf Pferden, deren entfernte Vorfahren noch vor ihren gigantischen Abkömmlingen die Flucht ergriffen hatten. Everard hatte ein Gewehr bei sich und hoffte, einen Elefantenbullen zu erlegen, den er kürzlich gesehen hatte. Beide trugen die Uniform der Akademie, leichtes Grau, das kühl und seidig in der heißen gelben Sonne schimmerte.

»Ich wundere mich, dass man uns die Jagd erlaubt«, sagte der Amerikaner. »Nimm mal an, ich würde einen Säbelzahn schießen – sagen wir, in Asien –, der ursprünglich dazu vorgesehen war, einen von diesen vormenschlichen Insektenfressern zu reißen. Würde das nicht die ganze Zukunft verändern?«

»Nein«, meinte Whitcomb. Er hatte schnellere Fortschritte im Studium der Theorie von Zeitreisen gemacht. »Du musst das so sehen, als sei das Kontinuum ein Geflecht aus starken Gummibändern. Es ist nicht leicht zu zerreißen, weil es immer dazu tendiert, in seine … äh … ursprüngliche Form zurückzuschnellen. Ein einzelner Insektenfresser zählt da nicht, sondern nur der komplette genetische Pool seiner Spezies hat zum Menschen geführt. Ebensowenig würde ich, wenn ich ein Schaf im Mittelalter töte, all seine Abkömmlinge auslöschen, sagen wir, all die Schafe, die es im Jahr 1940 gibt. Die würde es immer noch geben, unverändert bis hin zu den Genen – trotz eines anderen Vorfahren. Und warum? Weil nach einem so langen Zeitabschnitt alle Schafe – oder alle Menschen – Abkömmlinge von allen früheren Schafen oder Menschen sind. Das nennt man Kompensation; irgendwo in der Linie ergänzt ein anderer Vorfahre die Gene, die du ausgelöscht zu haben glaubtest. Ähnlich ist es … ach, nimm nur mal einfach an, ich ginge in der Zeit zurück und würde Booth daran hindern, Lincoln zu töten. Würde ich nicht aufs sorgfältigste meine Vorkehrungen treffen, könnte es doch passieren, dass irgendein anderer den Schuss abgibt und Booth trotzdem für die Tat verantwortlich gemacht wird. Dieses Zurückfedern der Zeit ist ja erst der Grund, der Zeitreisen überhaupt ermöglicht. Wenn man Dinge ändern will, muss man sie sofort angehen und gewöhnlich hart daran arbeiten.« Er verzog die Lippen. »Indoktrination! Immer wieder hat man uns eingebläut, dass, wenn wir uns einmischen, wir dafür bestraft werden. Mir ist es nicht gestattet, zurückzugehen und diesen räudigen Hund Hitler in seiner Wiege zu erschießen. Ich muss es zulassen, dass er, wie gehabt, aufwächst und den Krieg anzettelt, der mein Mädchen umbringt.«

Eine ganze Zeitlang ritt Everard schweigend neben ihm her. Die einzigen Geräusche waren das Knarren des Sattelleders und das Rascheln des Grases. »Tut mir leid«, meinte er schließlich. »Möchtest du darüber reden?«

»Ja, das möchte ich. Sie war in der W.A.A.F. – Mary Nelson –, und wir wollten nach dem Krieg heiraten. Am 17. November '44 war sie in London. Das Datum werde ich nie vergessen. Eine V2-Rakete erwischte sie. Sie war zum Haus eines Nachbarn in Streatham hinübergegangen – während eines Urlaubs, den sie bei ihrer Mutter verbrachte. Das ganze Haus flog in die Luft. Ihr eigenes Haus gegenüber bekam keinen Kratzer ab.«

Alles Blut war aus Whitcombs Wangen gewichen. Mit leerem Blick starrte er vor sich hin. »Es ist verdammt schwer, nicht … nicht zurückzugehen, nur ein paar Jahre, und ihr noch einmal zu begegnen. Nur, um sie noch einmal wiederzusehen … Nein, ich wage es nicht!«

Verlegen legte Everard dem Mann die Hand auf die Schulter, und schweigend ritten sie weiter.

Die Klasse schritt in ihren Studien voran, jeder mit individuellem Tempo, wobei jedoch genügend Spielraum zum Ausgleich blieb, so dass alle zusammen ihren Abschluss machten: mit einer kurzen Feier, gefolgt von einer riesigen Party und vielen gefühlsseligen Versprechungen für ein späteres Wiedersehen. Dann kehrte jeder in dasselbe Jahr zurück, aus dem er gekommen war – in dieselbe Stunde.

Everard nahm Mr. Gordons Glückwünsche und eine Liste der zeitgenössischen Agenten entgegen (ein paar von ihnen hatten beispielsweise Jobs im militärischen Geheimdienst) und kehrte in sein Apartment zurück. Später sollte er auf einem sensiblen Lauschposten Dienst tun, doch im Moment hatte er – bei der Steuerbehörde als Inhaber eines ›Beratungsbüros für Technische Studien‹ angemeldet – täglich, wie man es ihm beigebracht hatte, ein Dutzend Zeitungen auf Anzeichen für Zeitreisen durchzuforsten und sich für den ersten Anruf bereitzuhalten.

Aber wie es der Zufall wollte, verschaffte er sich den ersten Job selbst.

3

Es war schon ein seltsames Gefühl, die Überschriften zu lesen und mehr oder weniger genau zu wissen, was als nächstes kommen würde. Zwar minderte es die Anspannung, erzeugte aber dafür eine gewisse Traurigkeit, denn dies war eine tragische Ära. Everard hatte vollstes Verständnis für Whitcombs Wunsch, in der Zeit rückwärts zu reisen und den Lauf der Geschichte zu ändern.

Natürlich waren dazu die Fähigkeiten eines Mannes allein viel zu begrenzt. Er würde nichts zum Besseren wenden können, wenn er nicht gerade ein Freak war. Eher würde er alles verpfuschen. Geh zurück und töte Hitler, die japanischen oder russischen Führer – wahrscheinlich würden noch Schlimmere ihre Plätze einnehmen. Vielleicht läge die Atomenergie dann am Boden, und das glorreiche Erblühen der Venusianischen Renaissance hätte nie stattgefunden. Den Teufel wissen wir …

Everard sah aus dem Fenster. Lichter erhellten einen hektischen Himmel, auf der Straße drängten Autos und eine eilige, gesichtslose Menge voran. Von hier aus konnte er die Häusertürme von Manhattan nicht sehen, aber er wusste, dass sie sich anmaßend den Wolken entgegenreckten. Und es war nur ein Wirbel in einem Fluss, der einen aus der friedlichen vormenschlichen Landschaft, in der er gewesen war, in die unvorstellbare danellische Zukunft schleuderte. Wie viele Milliarden und Billionen menschliche Wesen lebten, lachten, weinten, arbeiteten, hofften und starben in seinen Fluten!

Nun … Er seufzte, zündete seine Pfeife an und wandte sich ab. Sein langer Spaziergang hatte seine Rastlosigkeit kaum dämpfen können, Geist und Körper warteten ungeduldig darauf, etwas zu tun. Aber es war schon spät und …

Er ging zum Regal hinüber, nahm mehr oder weniger zufällig ein Buch heraus und begann zu lesen. Es war ein Sammelband mit Berichten aus der Zeit von Königin Victoria und König Edward.

Ein unbedeutender Artikel machte ihn stutzig. Etwas über eine Tragödie in Addleton und besondere Funde in einem alten britischen Hügelgrab. Mehr nicht. Hm. – Zeitreise? Er musste über sich selbst lächeln.

Und trotzdem …

Nein, dachte er. Das ist verrückt.

Doch es konnte nicht schaden, der Sache nachzugehen. Dem Artikel zufolge sollte sich die Sache im Jahr 1894 in England ereignet haben. Er könnte sich mal die Akten und den Jahresband der London Times vornehmen, er hatte ja sonst nichts zu tun …

Vielleicht war das der Grund, dass er mit der stumpfsinnigen Durchsicht seiner Zeitungen nicht weiterkam – damit sein Verstand, vor Langeweile schon ganz nervös, jeden nur erreichbaren Winkel durchleuchtete.

Als die öffentliche Bibliothek die Türen öffnete, wartete er schon ungeduldig auf den Stufen.

Der Bericht war vorhanden, datiert auf den 25. Juni 1894 und die folgenden Tage. Addleton war ein Dorf in Kent, das sich nur durch einen Landsitz aus der Zeit König Jakobs I., der Lord Wyndham gehörte, und ein Hügelgrab unbekannten Alters von den umliegenden Dörfern unterschied. Der Adlige, ein begeisterter Amateur-Archäologe, hatte es zusammen mit einem gewissen James Rotherhithe, einem Experten des Britischen Museums, der zufällig ein Verwandter von ihm war, ausgegraben. Lord Wyndham hatte eine ziemlich dürftig ausgestattete Grabkammer freigelegt: einige wenige Artefakte, die schon fast völlig verrottet und verrostet waren, und Knochen von Menschen und Pferden. Das Grab enthielt auch eine Kiste in überraschend gutem Zustand mit Barren aus einem unbekannten Metall, wahrscheinlich aus einer Blei- oder Silberlegierung. Der Lord wurde nach dem Fund sterbenskrank und zeigte alle Symptome einer seltsamen tödlichen Vergiftung; Rotherhithe dagegen, der kaum einen Blick in die Kiste geworfen hatte, wurde nicht von der Krankheit befallen, und die nähere Untersuchung der Umstände ließ den Verdacht aufkommen, dass er dem Adligen eine Dosis irgendeines obskuren asiatischen Zaubergebräus eingeflößt hatte. Scotland Yard verhaftete den Mann am 25. Juni, genau an dem Tag, an dem Lord Wyndham starb. Rotherhithes Familie sicherte sich die Dienste eines sehr bekannten Privatdetektivs, der durch geniale Argumentation und nachfolgende Test an Tieren nachweisen konnte, dass der Angeklagte unschuldig, dafür aber eine ›tödliche Strahlung‹ aus der Kiste schuld am Tod des Lords sei. Die Kiste samt Inhalt wurde in den Englischen Kanal geworfen. Schulterklopfen auf allen Seiten, Ausklang zu einem Happy End.

Regungslos saß Everard in den langen, stillen Raum. Der Bericht ließ vieles im Dunkeln. Aber er war, gelinde gesagt, äußerst suggestiv.

Aber wieso hatte das viktorianischen Büro der Patrouille die Sache nicht untersucht? Oder hatten sie es getan? Wahrscheinlich. Natürlich würden sie ihre Resultate nicht an die große Glocke hängen.

Trotzdem, er schickte besser ein Memorandum.

Everard kehrte in sein Apartment zurück, nahm eine der kleinen Nachrichten-Fähren, die man ihm mitgegeben hatte, deponierte seinen Report darin und programmierte die Kontrollen auf das Londoner Büro, Datum 25. Juni 1894. Als er den letzen Knopf drückte, verschwand der kleine Behälter, und mit leisem Zischen strömte Luft in das Vakuum der Stelle, wo er eben noch gewesen war.

Nach wenigen Minuten tauchte die Fähre wieder auf. Everard öffnete sie und entnahm ihr einen Bogen Kanzleipapier, der mit sauberen Lettern beschriftet war – schließlich war die Schreibmaschine zu dieser Zeit schon erfunden. Mit der Schnelligkeit, die man ihm beigebracht hatte, überflog er die Botschaft:

Lieber Herr,

in Beantwortung Ihres Schreibens vom 6. September 1954 erlaube ich mir, den Erhalt zu bestätigen und bedanke mich für Ihren Eifer. Die Affäre hat an unserem Ende hier gerade erst begonnen, und wir sind im Moment sehr beschäftigt, einen Anschlag auf Ihre Majestät zu verhindern, eine Lösung für die Balkan-Frage zu finden, den bedauerlichen Opium-Handel mit China zu unterbinden etc. etc. Wir werden versuchen, die laufenden Angelegenheiten so rasch wie möglich zu erledigen, und uns dann Ihrer Sache widmen. Leider müssen wir auf diese Weise verfahren, um Kuriosa zu vermeiden – wie beispielsweise an zwei Orten gleichzeitig tätig zu werden, was bemerkt werden könnte. Wir wären daher sehr dankbar, wenn Sie und ein qualifizierter britischer Agent zu unserer Unterstützung herüberkommen würden. Sollten wir nichts Gegenteiliges hören, erwarten wir Sie zu Mitternacht am 26. Juni 1894 in 14 B, Old Osborne Road.

Jederzeit zu Ihren Diensten, Sir.

Ergebenst Ihr

J. Mainwethering

Es folgten Angaben zu den räumlich-zeitlichen Koordinaten, die irgendwie so gar nicht zu dem schwülstigen Brieftext passen mochten.

Everard rief Gordon an, erhielt sein Okay und bestellte sich einen Zeitspringer zum Lagerhaus der ›Company‹. Danach setzte er eine Nachricht an Charlie Whitcomb in das Jahr 1947 ab, erhielt ein »Na klar!« als Antwort und begab sich auf schnellstem Weg zu seiner Maschine.

Sie bestand aus einem Motorradrahmen ohne Räder und Kippedale, hatte zwei Sättel und eine Antigrav-Antriebseinheit. Everard gab die Daten für Whitcombs Ära ein, berührte den Hauptschalter – und fand sich in einem anderen Lagerhaus wieder.

London, 1947. Er blieb einen Moment lang sitzen und überlegte, dass er, jetzt sieben Jahre jünger, in diesem Moment drüben in den Staaten das College besuchte. Doch schon drängte Whitcomb sich an einem Wachmann vorbei und gab ihm die Hand. »Schön, dich wiederzusehen, altes Haus«, sagte er. Das seltsam charmante Lächeln, das Everard so vertraut geworden war, erhellte sein Gesicht. »Und auch die alte Victoria, stimmt's?«

»Vermutlich. Steig auf.« Everard gab die neuen Daten ein. Diesmal landeten sie in einem Büro – einem sehr privat eingerichteten Büro.

Es platzte ringsum aus dem Nichts: schwere alte Eichenmöbel, ein dicker weicher Teppich, flackernde Gaslampen. Zwar gab es schon elektrisches Licht, doch Dalhousie & Roberts war eine solide konservative Importfirma. Mainwethering persönlich erhob sich aus einem Sessel und trat auf sie zu, um sie zu begrüßen – ein großer, pompöser Mann mit dichten Koteletten und einem Monokel. Eine Aura von Kraft strahlte von ihm aus, und er sprach mit einem sehr kultivierten Oxford-Akzent, so dass Everard ihn kaum verstand.

»Guten Abend, Gentlemen. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise? Aber, ja … Verzeihung … die Herren sind ja neu in unserem Geschäft, nicht wahr? Zuerst ist das alles ein wenig beunruhigend. Ich weiß noch, wie schockiert ich bei meinem Besuch im 21. Jahrhundert war. Da war überhaupt nichts mehr britisch … Alles nur eine res naturae … eine weitere Facette in einem immer wieder überraschenden Universums, nicht wahr? Sie müssen meinen Mangel an Gastfreundschaft entschuldigen, aber wir haben schrecklich viel zu tun. Ein fanatischer Deutscher hat im Jahr 1917 das Geheimnis der Zeitreise von einem unachtsamen Anthropologen erfahren, eine Maschine gestohlen und ist nach London gekommen, um auf Ihre Majestät ein Attentat zu verüben. Wir stehen teuflisch unter Druck, ihn zu finden.«

»Werden Sie's schaffen?«, fragte Whitcomb.

»Selbstverständlich, aber es ist eine höllisch harte Arbeit, Gentlemen, besonders, da wir im geheimen operieren müssen. Ich würde ja gern einen Agenten mit privaten Nachforschungen beauftragen, doch der einzig Brauchbare für diesen Fall ist viel zu klug. Er arbeitet nach dem Prinzip, dass das, was immer übrigbleibt, wenn man das Unmögliche eliminiert hat, nur die Wahrheit sein kann – mag sie auch noch so unwahrscheinlich anmuten. Und in der Zeit herumzureisen könnte ihm möglicherweise nicht so unwahrscheinlich erscheinen.«

»Ich wette, es ist derselbe Mann, der auch an dem Addleton-Fall arbeitet – oder von morgen an arbeiten wird«, meinte Everard. »Aber das ist nicht wichtig, denn wir wissen ja, dass er Rotherhithes Unschuld beweisen wird. Von viel größerer Bedeutung für uns ist der Verdacht, dass da offenbar in alter britischer Vorzeit kräftig gemauschelt wurde.«

»In sächsischer Vorzeit, wolltest du sicher sagen«, korrigierte ihn Whitcomb, der seinerseits die Daten überprüft hatte. »Ziemlich viele Leute werfen Briten und Sachsen durcheinander.«

»Fast so viele, wie auch Sachsen und Jütländer verwechseln«, bemerkte Mainwethering mit ausdruckslosem Gesicht. »Kent wurde von den Bewohnern von Jütland überfallen, wie mir beigebracht wurde … Nun gut. Hier, Gentlemen, Kleider, Geld und Papiere, alles liegt für Sie bereit. Manchmal glaube ich, ihr Feldagenten berücksichtigt nie, wie viel Arbeit uns in den Büros die kleinste Operation beschert. Ach … Verzeihung! Haben Sie einen Plan für die Aktion?«

»Ja.« Everard schlüpfte aus seinen 20. Jahrhundert-Kleidern. »Ich denke schon. Wir beide wissen genug über die viktorianische Zeit, um zurechtzukommen. Ich werde aber Amerikaner bleiben müssen – doch ich sehe, Sie haben das in meinen Papieren schon berücksichtigt.«

Mainwethering machte ein besorgtes Gesicht. »Wenn die Sache mit dem Hügelgrab in der Literatur einen so hohen Stellenwert bekommen hat, wie Sie andeuten, werden wir an die hundert Memoranden dazu bekommen. Ihres war nur zufällig das erste. Seitdem sind schon zwei weitere eingegangen, aus den Jahren 1923 und 1960. Bei Gott, ich wäre dankbar, wenn man mir eine Robot-Sekretärin zuteilen würde.«

Everard kämpfte mit dem unbequemen Anzug. Er passte ziemlich genau, denn seine Maße waren in diesem Büro aktenkundig. Ihm war die verhältnismäßige Bequemlichkeit seiner normalen Kleider vorher kaum aufgefallen. Zur Hölle mit dieser Weste!

»Hört mal«, sagte er, »vielleicht ist diese Angelegenheit wirklich ziemlich harmlos. Sie muss doch harmlos gewesen sein, weil wir nun mal hier sind, stimmt's?«

»Nur vom momentanen Zeitpunkt aus betrachtet«, widersprach Mainwethering. »Überlegen Sie doch mal. Sie beide, Gentlemen, gehen in die jütländische Zeit zurück und stoßen auf den Eindringling. Aber Sie versagen. Vielleicht erschießt er Sie, ehe Sie ihn erschießen können, vielleicht überfällt er die, die wir nach Ihnen ausschicken. Dann etabliert er eine industrielle Revolution, oder was sonst er immer im Sinn hat. Die Historie ändert sich. Sie, die Sie vor dem Zeitpunkt des Wechsels dort angekommen sind, existieren immer noch – wenn auch nur als Leichname – aber wir hier oben sind niemals gewesen. Diese Unterhaltung hier hat dann nie stattgefunden. Horaz würde dazu sagen …«

»Keine Sorge!« Whitcomb lachte. »Zuerst untersuchen wir das Grab – jetzt, in diesem Jahr. Dann springen wir hierher zurück und entscheiden den nächsten Schritt.« Er beugte sich vor und begann Ausrüstungsgegenstände aus einem 20. Jahrhundert-Koffer in eine Gladstone'sche Monstrosität aus geblümtem Stoff zu packen: ein paar Pistolen, einige physikalische und chemische Apparate, die in seinem eigenen Zeitalter noch nicht erfunden worden waren, ein winziges Funkgerät, um bei Ärger das Office anrufen zu können.

Mainwethering konsultierte seinen Bradshaw. »Sie können morgen früh den 8.23 Uhr-Zug von Charing Cross nehmen. Nehmen Sie sich eine halbe Stunde zusätzlich, um von hier zum Bahnhof zu kommen.«

»In Ordnung.« Everard und Whitcomb stiegen auf ihren Zeitspringer und verschwanden. Mainwethering seufzte, gähnte ausgiebig, hinterließ ein paar Anweisungen für seinen Angestellten und ging nach Hause. Als um 7.45 Uhr der Springer wieder materialisierte, war der Angestellte schon da.

4

Es war das erste Mal, dass Everard die Realität von Zeitreisen richtig bewusst wurde. Mit dem Verstand hatte er zwar die Tatsache akzeptiert und war auch entsprechend beeindruckt, doch für seine Gefühle war diese Tatsache ausgesprochen exotisch geblieben. Aber jetzt, während er hier in einer Zweirad-Droschke (kein als Touristenfalle getarnter Anachronismus, sondern eine wirklich funktionierende Maschine, verbeult und staubig) durch ein London ratterte, das er nicht kannte, dabei die Luft einatmete, die zwar keine Auto-Abgase, dafür aber mehr Rauch enthielt als die Luft einer Großstadt im 20. Jahrhundert, die Leute betrachtete, die sich vorbeidrängten – die Männer mit Melonen und Zylindern auf dem Kopf, rußverschmierte Arbeiter, Frauen in langen Kleidern, keine Schauspieler, sondern echte redende, schwitzende, lachende und ernste menschliche Wesen, die ihren Geschäften nachgingen – traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag, dass er wirklich hier war. Zu diesem Zeitpunkt war seine Mutter noch nicht geboren, und seine Großeltern machten sich als junges Paar gerade daran, sich niederzulassen. Grover Cleveland war Präsident der Vereinigten Staaten, Victoria die Queen von England, Kipling schrieb seine Kurzgeschichten, und die letzten Indianeraufstände in Amerika standen noch bevor … Es war wie ein Schlag auf den Kopf.

Whitcomb nahm die Sache gelassener, doch seine Augen blickten hierhin und dorthin, während er das Treiben dieses einen Tages in Englands Glorie beobachtete. »Allmählich beginne ich zu verstehen«, murmelte er. »Man hat sich nie einigen können, ob dies nun eine Periode unnatürlicher, steifer Konventionen und schlecht verhohlener Brutalität war oder die letzte Blütezeit westlicher Zivilisation, ehe sie zerfiel. Aber wenn ich diese Leute sehe, wird mir klar, dass diese Zeit war, was man von ihr behauptet: gut und schlecht. Nicht nur eine einfache Angelegenheit, die jeden betraf, sondern eine Sache, die auf Millionen individueller Leben Einfluss nahm.«

»Sicher.« Everard nickte. »Aber das gilt für jede Epoche.«

Der Zug wirkte beinahe vertraut, die Waggons unterschieden sich nicht sonderlich von denen der British Rail im Jahr 1954, was Whitcomb zu sardonischen Bemerkungen über die Unverletzbarkeit von Traditionen veranlasste. Nach ein paar Stunden Fahrt entstiegen sie ihm auf einem verschlafenen Dorfbahnhof zwischen liebevoll gepflegten Blumengärten. Sie nahmen einen Buggy und ließen sich zum Wyndham-Landsitz fahren.

Ein höflicher Konstabler ließ sie ein, nachdem er ein paar Fragen gestellt hatte. Sie gaben sich als Archäologen aus. Everard aus Amerika, Whitcomb aus Australien. Er habe sich sehr darauf gefreut, Lord Wyndham zu treffen, und dessen tragisches Ende sei ein schwerer Schock für ihn. Mainwethering, der nach allen Seiten Kontakte wie Tentakel zu entwickeln schien, hatte ihnen Empfehlungsschreiben einer bekannten Autorität des Britischen Museums mitgegeben. Der Inspektor von Scotland Yard gestattete ihnen, sich das Hügelgrab anzusehen. »Der Fall ist gelöst, Gentlemen, es gibt keine weiteren Spuren mehr, selbst wenn mein Kollege hier mir in diesem Punkt nicht beipflichtet, ha, ha!« Der Privatagent lächelte säuerlich und verfolgte mit zusammengekniffenen Augen, wie sie sich dem ausgehobenen Loch näherte. Er war groß und schlank, hatte ein Adlergesicht und wurde von einem kräftigen Burschen mit Schnauzbart und Hinkefuß begleitet, der sein Famulus zu sein schien.

Das längliche Grab war ziemlich hoch und überall von Gras bedeckt, mit Ausnahme der groben Narbe, die die Ausgrabungsarbeiten in die Oberfläche gerissen hatten. Die Grabkammer war ursprünglich mit groben Balken abgestützt worden, aber schon vor langer Zeit eingestürzt. Fragmente der Balken lagen noch auf dem Boden.

»Die Zeitungen schreiben etwas von einer Metallkiste«, sagte Everard. »Es wäre schön, wenn wir auch darauf einen Blick werfen könnten.«

Der Inspektor nickte zustimmend und führte sie zu einer Scheune, in der die größeren Funde auf einem Tisch ausgebreitet lagen. Außer der Kiste waren es nur Bruchstücke korrodierten Metalls und Fragmente zerfallender Knochen.

»Hm«, brummte Whitcomb. Sein Blick ruhte nachdenklich auf der schmalen, glatten Oberfläche der kleinen Kiste. Sie schimmerte bläulich in einer der Zeit trotzenden Legierung, die erst noch entdeckt werden musste. »Höchst ungewöhnlich. In keiner Weise primitiv. Man könnte denken, sie sei maschinell angefertigt worden, nicht wahr?«

Vorsichtig näherte Everard sich dem Behälter. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was er enthielt, und übte auch dementsprechend die gleiche Vorsicht, mit der jeder Bürger des noch fernen Atomzeitalters einem solchen Behälter begegnete. Er zog ein Messgerät aus der Tasche und richtete es auf die Kiste. Die Nadel schwang aus, nicht viel, aber …

»Interessantes Gerät«, meinte der Inspektor. »Darf ich fragen, was das ist?«

»Ein Versuchs-Elektroskop«, log Everard. Vorsichtig hob er den Deckel und hielt das Gerät über die Kiste.

Großer Gott! Die Kiste enthielt genügend Radioaktivität, um einen Menschen innerhalb eines Tages zu töten. Everard konnte gerade noch einen Blick auf die schweren, stumpf schimmernden Barren werfen, ehe er den Deckel wieder zufallen ließ. »Seien Sie vorsichtig mit dem Zeug«, sagte er bebend. Gott sei's gepriesen – wer immer diesen Teufelsstoff hierher transportiert hatte, war aus einer Zeit gekommen, in der die Menschen wussten, wie man Strahlung eindämmen konnte!

Lautlos war der Privatdetektiv hinter sie getreten. Sein schmales Gesicht zeigte den Ausdruck eines Jägers. »Sie haben also den Inhalt erkannt, Sir?«, fragte er ruhig.

»Ja. Ich denke schon.« Everard fiel noch rechtzeitig ein, dass Becquerel die Radioaktivität erst in knapp zwei Jahren entdecken würde, selbst die Entdeckung der Röntgenstrahlen lag noch mehr als ein Jahr in der Zukunft. Er musste vorsichtig sein. »Es ist … Im Indianer-Territorium hörte ich Geschichten von einem Erz, das giftig ist …«

»Höchst interessant.« Der Detektiv zog eine Pfeife hervor und stopfte umständlich ihren großen Kopf. »Etwa wie Quecksilber-Dampf?«

»Also hat Rotherhithe die Kiste in das Grab gelegt, nicht wahr?«, murmelte der Inspektor.

»Seien Sie nicht albern!«, knurrte der Detektiv. »Ich habe drei schlüssige Beweise, dass Rotherhithe völlig unschuldig ist. Was mir Kopfzerbrechen bereitete, war die aktuelle Ursache für den Tod seiner Lordschaft. Aber wenn tatsächlich, wie es dieser Gentleman behauptet, ein tödliches Gift in dem Grab verbuddelt war … vielleicht um Grabräuber abzuschrecken? Trotzdem … ich frage mich, wie die alten Sachsen an ein amerikanisches Erz gekommen sein sollen. Vielleicht ist doch etwas Wahres an den verstaubten Geschichten von frühen Fahrten der alten Phönizier über den Atlantik. Ich war immer davon überzeugt, dass die kyrillische Sprache chaldäische Elemente enthält, und habe in dieser Richtung einige Forschungen betrieben. Dies hier scheint meine Theorie zu bestätigen.«

Everard fühlte sich leicht unbehaglich bei der Vorstellung, was er der archäologischen Wissenschaft antat. Nun, diese Kiste würde in den Kanal geworfen und vergessen werden. Whitcomb und er entschuldigten sich und verabschiedeten sich hastig.

Auf dem Rückweg, in der Sicherheit ihres Abteils, zog der Engländer ein Stück vermodertes Holz aus seiner Tasche. »Habe das aus dem Hügelgrab mitgenommen«, brummte er. »Wird uns sicher dabei helfen, das Ding zu datieren. Gib mir mal den Radiokarbon-Zähler.« Er steckte das Holzstück in das Gerät, drehte an einigen Knöpfen und las laut das Ergebnis ab. »1430 Jahre – plus oder minus zehn Jahre. Das Grab muss dann … im Jahr 464 errichtet worden sein. Um die Zeit etablierten sich die Jütländer gerade in Kent.«

»Wenn diese Barren nach so langer Zeit noch ein solches Teufelszeug sind«, murmelte Everard, »frage ich mich, wie sie im Originalzustand gewesen sein mögen. Schwer zu verstehen, wie man so viel Aktivität bei einer solch langen Halbzeitwert erreichen kann. Doch schließlich können die Leute in der Zukunft Dinge mit dem Atom anstellen, von denen meine Epoche nicht zu träumen wagte.«

Sie gaben Mainwethering ihren Bericht und verbrachten einen Tag mit Besichtigungen, während er Botschaften durch die Zeiten sandte und die große Maschinerie der Patrouille in Gang setzte. Everard interessierte sich sehr für das viktorianische London. Er war von der Stadt trotz des Schmutzes und der großen Armut fasziniert. Whitcombs Augen bekamen einen sehnsüchtigen Ausdruck. »Ich hätte sehr gern hier gelebt«, meinte er.

»Tatsächlich? Trotz dieser unzureichenden Arzneimittel und der miserablen Zahntechnik?«

»Und ohne fallende Bomben.« Whitcombs Antwort klang trotzig.

Als sie ins Büro zurückkehrten, hatte Mainwethering schon alles Nötige veranlasst. Während er mit auf dem Rücken verschränkten Händen im Raum auf und ab lief und dabei von seiner Zigarre dicke Qualmwolken aufwallten, ratterte er seine Story herunter.

»Das Metall ist mit hoher Wahrscheinlichkeit identifiziert worden. Atomarer Brennstoff etwa aus dem 30. Jahrhundert. Die Überprüfung ergab, dass ein Kaufmann aus dem Ing-Imperium in das Jahr 2987 reiste, um seine Rohstoffe gegen deren Synthrop zu tauschen, einem Geheimnis, das im Interregnum verlorenging. Natürlich traf er Vorsichtsmaßnahmen und versuchte, sich als Händler aus dem Saturn-System auszugeben, verschwand aber trotzdem spurlos. Ebenso wie seine Zeitfähre. Wahrscheinlich hat jemand 2987 herausgefunden, was er wirklich war, und ihn wegen seiner Maschine ermordet. Die Patrouille wurde benachrichtigt, doch von der Maschine keine Spur! Schließlich wurde sie von zwei Patrouillen-Gängern mit den Namen – ha! Everard und Whitcomb im England des 5. Jahrhunderts entdeckt.«

»Warum sich dann weiter sorgen, wenn wir doch schon erfolgreich waren!« Der Amerikaner grinste.

Mainwethering sah ihn schockiert an. »Aber mein lieber Freund! Sie hatten noch keinen Erfolg! Die Arbeit ist noch nicht getan – nach Ihrem und meinem Zeitverständnis. Und betrachten Sie bitte nicht einen Erfolg als garantiert, nur weil die Historie ihn überliefert. Zeit ist nicht starr, und der Mensch hat einen freien Willen. Wenn Sie versagen, wird sich die Historie ändern und nie Ihren Erfolg überliefert haben – und ich werde Ihnen nichts davon erzählt haben. So ist es zweifellos in den wenigen Fällen, in denen die Patrouille eine Niederlage hinnehmen musste, geschehen – wenn ich den Ausdruck ›geschehen‹ in diesem Zusammenhang gebrauchen darf. An diesen Fällen wird immer noch gearbeitet, und wenn sie schließlich erfolgreich abgeschlossen werden, wird die Geschichte einen anderen Lauf nehmen, und somit wird es letztendlich immer ein Erfolg werden. Tempus non nascitur, fit – Zeit wird nicht geboren, sondern gemacht, wenn Sie mir eine freie Deutung dieses Zitats gestatten!«

»Schon gut, in Ordnung, ich habe nur einen Scherz gemacht«, beruhigte ihn Everard. »Machen wir weiter. Tempus fugit – die Zeit verrinnt.« Absichtlich fügte er ein zweites ›g‹ hinzu, und Mainwethering wand sich.

Es stellte sich heraus, dass sogar die Patrouille nur wenig über die dunkle Epoche wusste, in der die Römer Britannien verließen, die römisch-britannische Zivilisation zerfiel und die Engländer ins Land kamen. Offenbar war diese Epoche nie von Bedeutung gewesen. Das Büro im Jahr 1000 in London schickte alles Material, das es besaß, herauf, zusammen mit den passenden Kleidern dieser Zeit. Everard und Whitcomb verbrachten eine Stunde bewusstlos unter den Hypnose-Programmierern. Danach sprachen sie fließend Latein und mehrere sächsische und jütländische Dialekte und verfügten über ausreichende Kenntnisse der damaligen Sitten und Gebräuche.

Die Kleider waren schrecklich: die Hosen, Hemden und Mäntel hatte man aus grober Wolle gefertigt, dazu gab es lederne Umhänge mit einer unbestimmbaren Zahl von Riemen und Litzen. Lange geflochtene Perücken verbargen den modernen Haarschnitt, und eine saubere Rasur würde selbst im 5. Jahrhundert kaum auffallen. Whitcomb bekam eine Axt, Everard ein Schwert, beides maßgerecht aus unlegiertem Eisen geschmiedet, vertrauten aber doch mehr auf die kleinen Schallschock-Pistolen aus dem 26. Jahrhundert unter ihren Mänteln. Rüstungen befanden sich nicht bei den Sachen, doch in einer Satteltasche des Zeitspringers fanden sie zwei Motorrad-Sturzhelme. Sie würden in einer Zeit, in der alles noch von Hand gefertigt wurde, kaum große Aufmerksamkeit erregen und waren zudem wesentlich sicherer und bequemer als Metallhelme. Zusätzlich verstauten die beiden Patrouillengänger noch ein Lunchpaket und ein paar irdene Kannen mit gutem viktorianischen Bier.

»Ausgezeichnet.« Mainwethering zog eine Uhr aus seiner Tasche und warf einen Blick darauf. »Ich darf Sie dann gegen … sagen wir … vier Uhr wieder hier erwarten? Ich werde für ein paar bewaffnete Posten sorgen für den Fall, dass Sie einen Gefangenen mitbringen. Und danach können wir irgendwo einen Tee trinken gehen.« Er schüttelte ihnen die Hand. »Eine gute Jagd!«

Everard schwang sich auf den Zeitspringer, gab die Daten für eine Sommernacht in Addleton Barrow im Jahr 464 ein und drehte den Schalter.

5

Es war Vollmond. Unter seinem bleichen Licht dehnte sich das Land weit und leer. In der Ferne verdeckte die dunkle Linie eines Waldes den Horizont. Irgendwo heulte ein Wolf. Das Grab war schon vorhanden; sie waren zu spät gekommen.

Sie reckten die Oberkörper auf der Antigrav-Einheit und spähten über einen dichten Wald voller Schatten. Etwa eine Meile von dem Hügelgrab entfernt lag ein Weiler, mit einem Haupthaus aus grob behauenen Balken in der Mitte, umgeben von einer Reihe kleinerer Gebäude, friedlich und still im Mondschein.

»Bestellte Felder«, berichtete Whitcomb. Seine Stimme war nur ein Wispern in der Stille. »Die Jütländer und Sachsen war hauptsächlich Freibauern, die auf der Suche nach Land hierher kamen. Man darf nicht vergessen, dass die Britannier wenige Jahre zuvor aus dieser Gegend hier vertrieben worden sind.«

»Wir müssen herausfinden, was es mit der Grabstätte auf sich hat«, meinte Everard. »Sollen wir zu dem Zeitpunkt zurückspringen, in dem das Grab errichtet wurde? Nein, vielleicht ist es besser, die Sache zu einem späteren Zeitpunkt zu untersuchen, wenn sich die Aufregung darüber, was es auch gewesen sein mag, gelegt hat. Sagen wir – am Morgen danach.«

Whitcomb nickte. Everard schob den Springer in den Schutz eines Dickichts und stellte die Daten auf fünf Stunden später ein …

Von Nordosten blendete die Sonne, auf den langen Grashalmen glitzerte der Tau, und die Vögel lärmten. Die beiden Agenten stiegen ab und schickten den Springer auf eine Warteposition in zehn Meilen Höhe. Sie konnten ihn jederzeit mit dem winzigen Funkgerät in ihren Helmen zurückbeordern. Er verschwand mit unglaublicher Geschwindigkeit.

Ganz offen näherten sie sich dem Dorf und vertrieben die Hunde, die auf sie losstürmten, mit den flachen Seiten der Axt und des Schwertes. Sie traten in das Rund der Häuser und fanden den ungepflasterten Innenhof, den sie bildeten, voller Schlamm und Dung. Ein paar nackte, schmutzige Kinder starrten ihnen aus dem Eingang einer Hütte aus Erde und geflochtenen Zweigen entgegen. Ein Mädchen, das davor eine struppige kleine Kuh molk, stieß einen leisen Schrei aus. Ein kräftig gebauter Bursche, der eine Horde grunzender und quiekender Schweine hütete, griff nach seinem Speer. Everard zog die Nase kraus und wünschte, ein paar der Enthusiasten aus seinem Jahrhundert, die immer von den heldenhaften Nordmännern schwärmten, könnten diesen Weiler hier einmal besuchen. Ein graubärtiger Mann mit einer Axt in der Hand trat in den Eingang des Haupthauses. Wie alle anderen seiner Epoche war auch er ein paar Inches kleiner als die Nachkommen aus dem 20. Jahrhundert. Er musterte die Fremden misstrauisch, ehe er ihnen einen guten Morgen wünschte.

BILD 01

Everard lächelte höflich. »Ich heiße Uffa Hundingsson, und das hier ist mein Bruder Knubbi«, sagte er. »Wir sind Kaufleute aus Jütland, und hierhergekommen, um in Canterbury Handel zu treiben.« (Er nannte die Stadt bei ihrem gegenwärtigen Namen Cant-wara-byrig). »Bei unserer Wanderung von der Bucht, in der unser Schiff liegt, haben wir uns verlaufen und sind die ganze Nacht durch die Gegend geirrt, bis wir auf Euren Weiler stießen.«

»Ich bin Wulfnoth, Sohn des Aelfred«, antwortete der Freibauer. »Tretet näher und brecht Euer Fasten mit uns.«

Im dämmrigen, raucherfüllten Innern des großen Haupthauses hatte sich die ganze Sippschaft versammelt: Wulfnoths Kinder, ihre Ehepartner und Kinder, die jungen Burschen des Weilers und deren Frauen, Kinder und Enkel. Das Frühstück wurde auf hölzernen Schneidebrettern serviert: große Stücke gesottenen Schweinefleischs, die mit dünnem Sauerbier aus Hörnern hinuntergespült wurden. Es fiel nicht schwer, eine Unterhaltung in Gang zu setzen, denn diese Leute waren ebenso neugierig und auf Gerüchte versessen wie alle Bauerntölpel in den einsamen Weilern. Doch wurde das Gespräch problematisch, wenn es um aktuelle Vorgänge in Jütland ging. Ein paar Mal ertappte Wulfnoth, der durchaus kein Dummkopf war, sie bei einem Fehler. Everard rettete jedes Mal die Situation: »Ihr habt da etwas Unwahres gehört. Nachrichten nehmen manchmal bei ihrer Verbreitung über das Meer hinweg seltsame Formen an«, beharrte er fest. Doch überraschte es ihn, wie stark die Kontakte und Bindungen an die alte Heimat immer noch waren. Die Gespräche über die Ernte und das Wetter dagegen unterschieden sich kaum von Gesprächen im 20. Jahrhundert, denen er im Mittelwesten gelauscht hatte.

Erst viel später war es Everard möglich, eine Frage über das Hügelgrab in die Unterhaltung einzuflechten. Wulfnoth runzelte die Stirn, und sein plumpes, zahnloses Weib machte hastig ein Handzeichen vor einem grobgeschnitzten hölzernen Götzenbild. »Es ist nicht gut, über solche Dinge zu reden«, murmelte der Jütländer. »Ich wünschte, der Zauberer wäre nicht auf meinem Land begraben worden. Aber er war ein enger Freund meines Vaters, den wir im letzten Jahr zu Grabe getragen haben. Er wollte nicht auf meine Einwände hören.«

»Ein Zauberer?«, fragte Whitcomb. »Was ist das für eine Geschichte?«

»Nun, Ihr sollt sie hören«, brummte Wulfnoth. »Ein Fremder namens Stane tauchte vor ungefähr sechs Jahren in Canterbury auf. Er musste von sehr weit hergekommen sein, denn er sprach weder die englische noch sonst eine der britannischen Sprachen.

Aber König Hengist gewährte ihm Gastfreundschaft, und er erlernte bald unsere Sprache. Er machte dem König seltsame, aber ansehnliche Geschenke und war ein wortgewaltiger Redner, dem der König mehr und mehr vertraute. Niemand wagte sich ihm entgegenzustellen, denn er hatte einen Zauberstab, der Blitze schleuderte. Viele berichteten, sie hätten gesehen, wie er damit Felsen spaltete. Einmal soll er sogar in einem Scharmützel damit Männer niedergebrannt haben. Es gab viele, die ihn für Odin hielten, aber das kann nicht stimmen, denn er starb.«

»Ach ja?« Everard beugte sich eifrig vor. »Und was tat er, als er noch lebte?«

»Oh … er gab dem König weise Ratschläge, wie ich schon sagte. Er machte auch den Vorschlag, wir Bewohner von Kent sollten aufhören, die Britannier zu verdrängen und weiterhin unsere Landsleute aus der alten Heimat herüberzuholen. Vielmehr sollten wir mit den Einheimischen Frieden schließen. Er glaubte, dass wir gemeinsam mit unserer Kraft und ihrem Wissen über die Römer ein mächtiges Reich erschaffen könnten. Vielleicht hatte er ja recht, wenn ich selbst auch keinen großen Nutzen in all den Büchern und Bädern der Römer sehe, ganz zu schweigen von diesem seltsamen Gott am Kreuz, den sie verehren … Nun, er wurde vor etwa drei Jahren von Unbekannten erschlagen und hier mit Opfergaben und den Besitztümern begraben, die seine Meuchelmörder ihm nicht geraubt haben. Wir bringen ihm zweimal im Jahr ein Opfer, und ich muss sagen, dass sein Geist uns bis jetzt in Ruhe gelassen hat. Trotzdem bereitet mir die Geschichte Unbehagen.«

»Drei Jahre also.« Whitcomb atmete tief ein. »Ich verstehe …«

Noch gut eine Stunde verging, ehe sie aufbrechen konnten. Wulfnoth beharrte darauf, sie von einem Jungen bis zum Fluss begleiten zu lassen. Everard, der überhaupt nicht daran dachte, so weit zu laufen, grinste und rief den Springer herbei. Während er und Whitcomb aufstiegen, sagte er mit Grabesstimme zu dem Mann, dem fast die Augen aus dem Kopf fielen: »Wisse, dass du gerade Odin und Thor zu Gast hattest, die deine Leute in Zukunft vor Kummer schützen werden.« Dann sprangen sie in der Zeit drei Jahre zurück.