Das Schimmern deiner Augen - Johanna Koers - E-Book

Das Schimmern deiner Augen E-Book

Johanna Koers

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Beschreibung

Jette, eine äußert attraktive, junge Frau, hat ihr Leben (und ihre Gefühle) fest unter Kontrolle. Für mehr als einen One-Night-Stand ist sie nicht zu haben. Bis Fynn in ihr Leben tritt: Der Mann, der sich nicht abwimmeln lässt. Der Mann, der mehr in ihr sieht: Das Schimmern ihrer Augen. Jette, die nichts anderes gelernt hat, als Gefühle zu verdrängen, gerät immer weiter in einen inneren Kampf: Mit den schönen Gefühlen, die Fynn in ihr hervorbringt, holen sie zunehmend auch die Emotionen der Vergangenheit wieder ein. Völlig überfordert will Jette nur noch fliehen, wäre da nicht die Liebe zu Fynn. Jette steht vor der wichtigsten Entscheidung ihres Lebens: Stellt sie sich ihrer Vergangenheit mit all den Schmerzen, der Angst und dem Hass, an dem sie zu zerbrechen droht? Oder läuft sie weg, um ihre Kindheit und Jugend für immer zu verdrängen?

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Das Schimmern deiner Augen

Johanna Koers

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Mai 2021

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2021 Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Texte: © Copyright by Johanna Koers

Lektorat: Lisa Gausmann

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Coverdesign: Verena Ebner

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Mittelheide 23

49124 Georgsmarienhütte

Deutschland

Das Schimmern deiner Augen

„Wir erleben, wie die Zeit unaufhaltsam dahinströmt- von der unabänderlichen Vergangenheit über die flüchtige Gegenwartzur unbekannten Zukunft“

(Paul Davies)

Ein schwerer Schritt

„Hast du nicht heute deinen Termin?“, bedacht und gleichzeitig bestimmt klang die Frage an ihre Schwägerin. Jette sah sie aus den Augenwinkeln an. Ein leises „Ja“ kam ihr über die Lippen. „Ich weiß, dass du Angst hast. Das ist ganz normal. Aber es ist wichtig. Du wirst gehen, ja?“ Jette wusste, dass sie gehen musste. Sie hatte keine andere Wahl. Aber Amelia hatte recht: Sie hatte Angst. Jahrelang hatte sie sich immer wieder eingeredet, dass sie es allein schaffen würde. Dass sie keine Hilfe brauchen würde. In der Vergangenheit war sie eine Meisterin des Verdrängens geworden. Würde die Therapie nicht alles wieder hochholen? Alles viel schlimmer machen? Würden nicht all die Bilder, all die Verluste, all die Schmerzen wieder da sein, wenn sie sich mit ihnen auseinandersetzen würde? Aber waren sie nicht schon ohnehin alle wieder da? Diese schrecklichen Albträume? So real. War nicht in letzter Zeit alles wieder hochgekommen? Die Türklingel holte sie aus ihren Gedanken zurück. Amelia öffnete die Tür.

„Hey, ich wollte zu Jette. Ist sie… ah, da bist du ja schon. Bist du fertig? Ich fahre dich.“ Jette sah ihre Schwester an. Sie war extra für sie heute hierhergekommen, als habe sie genau gewusst, dass sie allein nicht fahren würde. Ihre Schwester, neun Jahre älter, mit so viel Liebe zu sich und zur Welt. So lebensfroh, zufrieden. Hatte sie nicht fast dasselbe durchgemacht wie sie selbst? War es wirklich die Therapie, die sie zu diesem Menschen gemacht hatte, der nicht mehr mit der Vergangenheit haderte? Der mit sich selbst im Reinen war? War sie das lebendige Beispiel dafür, dass sie - Jette - nach einer erfolgreichen Therapie auch mit ihrer Vergangenheit zu leben lernen konnte?

„Jette?“, Alexandra schaute ihre Schwester liebevoll an. Erst jetzt registrierte sie, dass Amelia gar nicht mehr im Flur war. Alexandra hatte sich auf die Treppenstufen gesetzt und machte eine einladende Bewegung. Als sie nebeneinander auf der Treppe saßen, nahm Alexandra ihre Hand. „Ich musste kommen. Allein hättest du einen Grund gefunden, nicht zu gehen. Glaub mir, die Überwindung zum ersten Termin kostet am meisten Kraft. Du hast großen Respekt vor der Therapie, aber…“

„Ich habe keinen Respekt, ich habe panische Angst“, unterbrach Jette. „Ich habe Angst, dass alles nur noch schlimmer wird.“ Jette merkte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und senkte ihren Blick zum Boden.

„Das wird es Jette. Es wird schlimmer und es wird verdammt schwer und jeder, wirklich jeder, der etwas anderes behauptet, lügt. Ja, es wird verdammt hart werden. Aber… du bist nicht allein. Du kannst mich jederzeit anrufen: Ich bin für dich da. Du hast Fynn, du hast Amelia, du hast Lea und du hast eine wundervolle Schwiegermutter. Jeder von ihnen wird für dich da sein, wenn du es brauchst.“ Natürlich war sie nicht allein, aber sie hatte Angst. Und die Angst lähmte sie, sie konnte nicht sprechen. „Brauchst du noch deine Tasche, eine Jacke? Soll ich sie holen?“ Jette nickte und Alexandra stand auf, stieg die Treppe hoch und verschwand durch die Tür. Es war gut, dass sie da war, oder? Jette hatte Kopfschmerzen. Das fängt ja gut an, dachte sie, Kopfschmerzen, bevor ich überhaupt nur ein Wort mit der Therapeutin gewechselt habe. Sie stand auf und öffnete die Haustür. Die frische Luft tat ihr gut. Sie atmete tief ein. Es war ein schöner Herbsttag, später Nachmittag, die Sonnenstrahlen kämpften sich immer wieder durch die Wolken und wärmten ihr Gesicht. Die Wohnungstür fiel ins Schloss und Jette hörte, wie ihre Schwester die Treppe hinunterkam.

„So, eine Jacke und deine Tasche, wir können los.“ Alexandra legte ihre Hand auf Jettes Schulter und führte sie mit sanftem Druck Richtung Auto.

Praxis von Dr. Elisa Seifert – Psychotherapie

Sie standen vor der Tür im Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses. Überall waren Wohnungen, nur hinter diesem einen Eingang befand sich eine Praxis. Wie viel Leid sich wohl hinter dieser einen Tür schon offenbart hatte. Sicher mehr als in jeder dieser Wohnungen in diesem Haus zusammen. Jette fühlte sich tonnenschwer. Was würde sie hinter dieser Tür erwarten? Wer war Frau Dr. Seifert? Was würde sie von ihr wissen wollen? Welche Fragen würde sie stellen? Würde sie ihr überhaupt glauben? Jette hörte die Klingel, sie spürte, wie ihre Schwester ihre Hand nahm.

„Es wird alles gut, versprochen.“ Wie gerne würde sie ihr glauben.

„Hallo, schön, dass ihr da seid, kommt rein.“ Die Tür hatte sich geöffnet und eine braunhaarige, schlanke, freundlich lächelnde Frau Ende dreißig stand vor ihnen. „Ich bin Frau Dr. Seifert“, sie hielt ihnen ihre Hand hin. Alexandra erwiderte den Gruß.

„Hallo, Alexandra Böhming, noch mal vielen Dank, dass das mit dem Termin so schnell geklappt hat.“ Alexandra hatte den Termin für ihre Schwester gemacht. Sie selbst hätte es wohl bis heute nicht geschafft, hätte es vor sich hergeschoben, wie sie es schon immer tat. „Jette?“, Alexandra sah sie an und deutete mit ihren Augen auf Frau Dr. Seiferts Hand, die sie Jette lächelnd entgegenhielt. Jette atmete tief ein und aus, um sich zu sammeln.

„Jette Schreiber“, stellte sie sich leise vor und erwiderte misstrauisch den Handgruß der Therapeutin. „Kommt rein“, mit einer in den Raum zeigenden Geste wurde ihnen Eintritt gewährt. „Hier ist mein Wartezimmer, dort ist der Gesprächsraum. Was haben Sie vor, Frau Schreiber? Möchten Sie allein mitkommen oder möchten Sie, dass Ihre Schwester uns begleitet?“ Jette entschied sich, Frau Seifert zu folgen, während Alexandra im Wartezimmer Platz nahm. Das Gesprächszimmer war sehr einladend eingerichtet: Es gab einen dunklen Holzboden, darauf war ein ovaler, roter Teppich ausgelegt, sorgsam mittig im Raum platziert. Auf dem Teppich befanden sich zwei beige Ohrensessel, dazwischen ein zierlicher Nierentisch – vermutlich aus den späten 50er Jahren – farblich perfekt auf den Holzboden abgestimmt. Auf dem linken Sessel war ein rotes Kissen, der rechte Sessel war leer. Den Tisch schmückten eine kleine Tischlampe, außerdem ein Knetball und eine Taschentuchbox. Unweigerlich dachte Jette an weinende Menschen, und der Drang, direkt umzudrehen, die Tür, die Praxis und das Haus zu verlassen, war kaum zu unterdrücken. „Setzen Sie sich doch“, Dr. Seifert wies auf den rechten Sessel. Jette nahm Platz. Der Raum hatte zwei Fenster. Eines davon hatte ein Rollo. Es war komplett runtergelassen, damit vom Nebengebäude aus niemand hineinsehen konnte. Das weite Fenster wies zum Hinterhof, man sah noch die Baumkrone und den Himmel. Zwei Vögel flogen gerade vom Baum Richtung Wolken. Wie oft hatte Jette sich als Kind gewünscht, wie ein junger Vogel die Flügel auszubreiten, das Nest zu verlassen und nicht mehr umzukehren. Wie viele Jahre hatte es gedauert, bis sie es endlich getan hatte. Wie viel mehr Jahre würde es dauern, bis sie ihr Nest, ihr zu Hause, auch gedanklich hinter sich lassen konnte. Würde sie das überhaupt irgendwann können? An der Wand neben der Tür war ein Regal mit etlichen Fachbüchern: „Wie mächtig das Unterbewusstsein wirklich ist“, „Zwangsstörungen bekämpfen“, „Gedankenwelten von Borderlinern verstehen“, „Kindliche Traumata überwinden“, das war dann wohl das Buch, was Frau Dr. Seifert für sie brauchte. Ihre Kindheit - da hatte alles angefangen. Sie war gerade erst drei Jahre alt gewesen. Drei Jahre - ein Kleinkind. Ihre Schwester war damals zwölf. Jette hatte immer bei ihr geschlafen. Obwohl die beiden einen sehr großen Altersunterschied hatten, hätte ihre Bindung nicht größer sein können. Sie vergötterte ihre Schwester, sie war ihr Vorbild, ihre Vertraute. „Frau Schreiber?“, Jette schreckte zusammen. So vertieft war sie in ihre Gedanken gewesen. Diese ganzen Gefühle und Gedanken waren ihr unheimlich. Wieso wurde sie nach so vielen Jahren von all dem wieder eingeholt? „Woran denken Sie gerade?“, Dr. Seifert sah Jette an. Analysierte sie sie gerade? Welche Schlüsse zog sie wohl aus ihrem Verhalten? Sicherlich hatte sie - durch ihr Verhalten animiert - schon ein halbes Profil von ihr erstellt. So wie die Verhaltensanalytiker beim FBI. Unter dem Fenster mit dem heruntergelassenen Rollo stand eine Kentiapalme, Howea forsteriana. Schlicht und elegant, dachte Jette, eine der häufigsten Zimmerpalmen, braucht zwar regelmäßig Feuchtigkeit, verträgt aber durchaus schlechtes Licht und Vernachlässigung. Jemand sagte mal zu ihr: Wäre sie eine Pflanze, so sei sie eine Rose. Zumindest war sie mal wie eine Rose. Sie war schön, ohne Zweifel. Die Männerwelt lag ihr zu Füßen. Wäre ihre Jugend überhaupt so verlaufen, wenn sie nicht so attraktiv gewesen wäre? War ihre Schönheit vielleicht sogar eher ein Fluch als ein Segen? Die Dornen, die alles und jeden um sie herum auf Distanz hielten. Niemand hatte sie wirklich gekannt. Niemand wusste, wer sie wirklich war, was sie erlebt hatte oder warum sie machte, was sie tat. Bis Fynn kam. Fynn. Der Mann, der so hartnäckig war. Der Mann, der nicht wieder ging - ihr Mann. Sie liebte ihn. „Frau Schreiber? Ich glaube, wir starten anders. Ich möchte Sie gerne kennenlernen. Was machen Sie so? Beruflich? Privat? Erzählen Sie mir von sich.“ Damit konnte Jette etwas anfangen. Das waren Fragen, die sie beantworten konnte. Sachlich, gefühlsfrei. „Ich bin Webdesignern und arbeite bei der Benzen GmbH“, Jette liebte ihren Job. Nachdem sie das Internat mit dem Abitur beendet hatte, war sie mit ihrer Freundin Lea hier nach Köln gezogen - man könnte auch sagen geflohen. Das Letzte, was sie wollte, war zurück in ihr Elternhaus. Leas Eltern kannte Jette gut, war sie doch schon in einigen vorangegangen Ferien dort gewesen. Als Einzelkind war Lea oft langweilig gewesen und sie freute sich über Jettes Gesellschaft, wo sie doch in Jette fast einen Schwesterersatz gefunden hatte. Jette ihrerseits war einfach nur froh, nicht nach Hause zu müssen. Als Jette mit Lea gemeinsam ihr neues Leben in Köln startete, boten ihre Eltern Jette an, während des Studiums in deren Firma zu arbeiten. So tat sie es Lea gleich und war fortan bei Herrn und Frau Benzen beschäftigt. Nach dem Studium hatte sie recht schnell die Leitung der Abteilung übernommen.

„Das klingt wirklich gut. Sie sind noch so jung, da haben Sie beruflich wirklich schon viel erreicht. Sie können stolz auf sich sein“, dieses Dauergrinsen in Frau Seiferts Gesicht war Jette ein wenig suspekt.

„Die Firma gehört den Eltern meiner besten Freundin.“ „Wo haben Sie ihre beste Freundin kennengelernt?“ „Wir sind zusammen aufs Internat gegangen. Wir haben uns ein Zimmer geteilt.“ Jette dachte an ihren ersten Tag im Internat. Ihr Vater hatte sie hingebracht. Es war mitten im Schuljahr, mitten in der Woche und er hatte es eilig gehabt, da er pünktlich zu einem Termin zurück sein musste. Er hatte sie beim Direktor mit den Worten „Treiben Sie ihr die Flausen aus dem Kopf, ich verlasse mich auf Sie.“ abgegeben, sich Richtung Jette gewandt und sich mit einem „Bring mir keine Schande mehr.“ von ihr verabschiedet. Fühlte sie sich alleingelassen? Welches Gefühl kam in ihr auf? Wut? Trauer? Irgendwie war sie erleichtert gewesen. Sie war viele Kilometer weit weg von zu Hause und das war befreiend. Der Direktor war ungemein freundlich. Er wirkte nicht so, als befürchtete er, dass Jette Probleme bringen könnte. War er naiv oder hatte er einfach so viel Erfahrung, dass er potenzielle Problemkinder auf den ersten Blick erkannte?

„Ich bringe dich jetzt in dein Zimmer. Du teilst dir dein Zimmer mit Lea Benzen. Ihr werdet euch sicher gut verstehen. Sie wird dir dann auch alles andere zeigen.“ Jette folgte ihm durch den Flur, die Treppe hoch zu den Schlafzimmern der Mittelstufe. Auf dem Flur kamen ihr mehrmals andere Kinder und Jugendliche entgegen. Alle grüßten freundlich, erst den Schulleiter, dann sie. An der vorletzten Tür im Gang blieben sie stehen. Der Direktor klopfte und von drinnen hörte man ein „Herein“. Das Zimmer war geschmackvoll eingerichtet. Überhaupt nicht leer und funktional, wie Jette es erwartet hatte. Es gab zwei Betten, zwei Nachtschränke, für jeden einen Kleiderschrank und einen Schreibtisch. Außerdem ein eigenes Bad. Lea hatte das Zimmer zu einem Wohntraum gestaltet. Es gab viele Bilder aus der Natur und anderen Ländern. Ein Sonnenuntergang in Afrika, die Niagarafälle, der Li Jiang Fluss… Über Leas Bett hing ein wasserblauer, aber durchsichtiger Baldachin, der zur Bettkante hin offen war. Über beide Betten war ein Traumfänger befestigt. Auf dem Parkett zwischen den Betten lag ein flauschiger brauner Teppich und vor beiden Schränken je ein orangener kleiner Rundteppich, der ein wenig aussah, wie die untergehende Sonne auf dem Afrikabild. Auf der Fensterbank stand ein Elefant aus Holz. Lea saß auf ihrem Bett und hatte in ihrem Physikbuch gelesen, bevor sie durch das Anklopfen des Schulleiters unterbrochen wurde.

„Lea, das ist deine neue Zimmernachbarin Henriette. Zeigst du ihr alles und sorgst dafür, dass sie sich hier gut einlebt?“, Lea stand aus dem Bett auf und kam auf sie zu.

„Es wird schön sein, nicht mehr allein zu sein“, sie wandte sich dem Schulleiter zu. „Ich kümmere mich selbstverständlich um sie.“

„Danke Lea, ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann.“ Dann ging er und ließ die Mädchen allein.

„Henriette? Gewöhnungsbedürftig, der Name.“ Direkt. Authentisch. Keck - Lea. So war sie und genau das liebte Jette bis heute an ihr.

„Henriette Kassandra Anna Teresia, wenn ich bitten darf“, Jette bemühte sich, besonders eingebildet zu klingen. Lea prustete los.

„Das ist ein Scherz, oder?“ Ihr Lachen war ansteckend, Jette lachte mit. Wie befreiend das war! Sie konnte sich nicht erinnern, jemals zuvor so gelacht zu haben.

„Jette. Einfach nur Jette bitte“, brachte sie heraus, als sich beide einigermaßen gesammelt hatten. Sie mochte Lea. Das war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen.

„Was machen Sie, wenn Sie nicht arbeiten?“, wieder hatte Frau Dr. Seifert sie aus ihren Gedanken gerissen. Jette fragte sich kurz, wie diese Art von Fragen dazu beitragen sollten, ihr zu helfen. Da sie solche Fragen allerdings weitaus einfacher fand als alles, was sie erwartet hatte, verwarf sie den Gedanken wieder.

„Ich lese sehr gerne.“

„Was lesen Sie?“

„Alles außer Geschichtsromane. Ich lese Fantasy, Liebesromane, Dramen, gesellschaftskritische Bücher, eigentlich alles. Hauptsache, ich habe ein Buch in den Händen.“

„Bücher sind wundervoll, das stimmt. Man kann darin lesen und alles um sich herum vergessen“, Dr. Seifert hatte es verstanden. War sie so gut, dass sie genau wusste, dass Jette Bücher las, um in die Welt des Protagonisten einzutauchen und aus ihrer eigenen Welt zu fliehen? Oder war es einfach so daher gesagt? „Haben Sie schon immer gerne gelesen?“, Jette dachte an das erste Buch, das sie gelesen hatte. Sie war fünf Jahre alt, noch nicht eingeschult. Ihre Schwester hatte ihr das Lesen beigebracht. Pippi Langstrumpf. Alexandra hatte es ihr geliehen und Jette war auf der Stelle verliebt und ins Buch vertieft gewesen. Astrid Lindgren war bis heute ihre Lieblingsautorin, auch wenn sie schon lange nichts mehr von ihr gelesen hatte. Frau Lindgren hatte ihr ihre schrecklichsten Zeiten etwas erhellt. Jedes Mal, wenn Jette in einem ihrer Bücher las, versank sie in die wundervolle Welt der Pippi Langstrumpf, in die Idylle des Dorfes Bullerbü oder in die abenteuerlichen Erlebnisse der Ronja Räubertochter.

„Ich habe mit fünf angefangen zu lesen. Meine Schwester hat mir das Lesen beigebracht und mir ihre Bücher von Pippi Langstrumpf geliehen. Als ich diese durchhatte, bin ich mit unserer Haushälterin samstags in die Bibliothek gegangen und habe mir weitere Bücher von Astrid Lindgren holen dürfen.“

„Und gibt es noch was, was Sie gerne machen? Sport?“, Frau Dr. Seifert hatte immer noch dieses Lächeln im Gesicht und so langsam aber sicher war Jette zur Überzeugung gelangt, dass dies wohl ein Dauerzustand bei ihr war.

„Im Internat habe ich Volleyball gespielt, aber seitdem nicht mehr.“ Lea war damals im Volleyballteam der Schule und Jette wurde quasi von ihr genötigt, sie dorthin zu begleiten. So stand Jette damals nur drei Tage nach ihrem ersten Schultag auf dem Volleyballfeld und sollte dem gelben Team aushelfen. Nicht nur, dass das Laibchen nach Schweiß stank und sie sich deswegen fast übergeben musste, sie hasste auf sie zukommende Bälle und wollte am liebsten jedes Mal reflexartig zur Seite springen. Aber - animiert durch Lea - bewies sie Ehrgeiz und Durchhaltevermögen und war dem Team bis zum Abitur treu geblieben. Sie war gar nicht schlecht gewesen, es hatte ihr sogar Spaß gemacht. „Und ich tanze.“

„Welche Richtung tanzen Sie?“, Jette fragte sich, wie sie auf diese Frage antworten sollte. Sollte sie erzählen, dass sie im Alter von vier Jahren mit Ballett begonnen hatte und wirklich gut darin gewesen war? Oder dass sie mit elf Jahren die Straße mit ihrem Tanztalent aufgewühlt hatte? Vielleicht sollte sie aber auch einfach erzählen, dass sie, seitdem sie mit Fynn zusammen war, Paartanz machte. Keinen Walzer oder Swing, den konnten sie natürlich auch, aber ihre Welt waren die schnellen Tänze: Quickstepp, Jive, Salsa und sie liebte die zwar weniger schnellen, aber dafür mit so viel Gefühl und Erotik verbundene Rumba. Sie entschied sich für die letzte Variante:

„Ich tanze Paartanz mit meinem Mann. Vor allem die schnelleren Tänze.“

„Richtig professionell?“

„Ja, auch auf Wettbewerben. Beim letzten Wettbewerb haben wir auf Bundesländerebene den ersten Platz gemacht. Am Ende dieses Jahres steht die nächste Ebene an, wir üben gerade mehrmals wöchentlich.“

„Wie sind Sie denn an diese Tanzrichtung gekommen?“ Unweigerlich musste Jette an den Tag denken, an dem Fynn sie das erste Mal angesprochen hatte….

Wie alles begann

„Wer ist diese Frau mit den langen schwarzen Haaren auf der Tanzfläche neben Ayla?“, Fynn war gerade vor einer Woche, nach achtzehn Monaten in den USA, wieder nach Köln zurückgekehrt. Es war der einundzwanzigste Geburtstag seiner Schwester Amelia. Seit einer guten Stunde beobachtete er nun schon die attraktive, sexy gekleidete Frau auf der Tanzfläche, die sich so taktvoll und sinnlich im Rhythmus der Musik bewegte, dass er einfach nicht anders konnte, als sie zu beobachten. Vom Tanzen verstand Fynn viel. Seitdem er mit fünfzehn Jahren den standardmäßigen Tanzkurs gemacht hatte, war er – anders als die meisten Jugendlichen, die diesen einfach nur hinter sich bringen wollten – auf den Geschmack gekommen. Er hatte sich in der Tanzschule angemeldet und mit Paartanz begonnen. Selbst den Aufenthalt in den USA hatte er genutzt, um nebenbei die Tanzeigenarten der Amerikaner zu erlernen. Dieser Frau auf der Tanzfläche war das Taktgefühl in die Wiege gelegt worden, da war er sicher.

„Meinst du die mit dem schwarzen, bauchfreien Shirt und den sichtbaren Schulterblättern?“, Amelias Gesichtsausdruck war weit entfernt von Begeisterung.

„Ja, genau die. Wer ist sie?“, das Gesicht seiner Schwester schien sich weiter zu verfinstern.

„Vergiss sie!“ Viel hielt sie wohl nicht von ihr. Fynn schätzte seine kleine Schwester sehr, aber ihre abwehrende Haltung dieser Frau gegenüber machte Fynn erst recht neugierig.

„Verrate mir, wie sie heißt. Ist sie vergeben? Wieso magst du sie nicht?“ Amelias Gesicht war immer noch finster.

„Weil sie eine Schlampe ist, ganz einfach. Und nein, sie hat keinen Freund. Ein einziger Mann wäre ihr viel zu langweilig, sie nimmt lieber alle. Lass die Finger von ihr, sie ist es definitiv nicht wert.“ Amelia sah ihren Bruder eindringlich an.

„Wie heißt sie?“, Fynn seinerseits hielt ihrem Blick eisern stand. „Komm schon Amelia, ich will wissen, wie sie heißt.“ Amelia wurde wütend.

„Hast du mir nicht zugehört? Jette ist nichts für dich.“ Jette - das war also ihr Name. Amelia verschwand in der Menge und Fynn bestellte sich ein weiteres Bier, während er auf eine Gelegenheit wartete, die junge Frau namens Jette anzusprechen.

„Hey, ich habe dich beim Tanzen beobachtet. Du hast Talent“, Fynn hatte seine Chance genutzt und Jette angesprochen, als sie sich an die Bar gesetzt hatte. Sie musterte ihn aus den Augenwinkeln. Er sah gut aus: Blonde, etwas längere Haare. Blaue Augen. Ein markantes Gesicht, sehr ausgeprägte Wangenknochen. Leichte Segelohren, die aber unter seinen Haaren kaum zu sehen waren. Ein freundliches Lächeln auf seinen schmalen Lippen. Eine Narbe auf der rechten Seite der Stirn an seinem Haaransatz.

„Mein Tanzstil hat dich beeindruckt, ja?“, Jette sah ihn nicht an, während sie sprach.

„Ja, das kann man so sagen“, Fynn war etwas irritiert, dass sie ihn beim Reden nicht ansah, aber gleichzeitig faszinierte ihn ihre Art. Jette hatte sich einen Tequila Sunrise bestellt und trank den ersten Schluck, während sie darüber nachdachte, in welche Kategorie sie den jungen, attraktiven Mann neben sich einordnen sollte. „Also“, unterbrach er ihre Überlegung, „verrätst du es mir?“

„Was?“

„Tanzt du?“

„Nicht mehr.“

„Und was hat du getanzt? Hip-Hop, Jazz?“

„Weder noch“, ihre Antworten waren knapp. Müsste eine Frau, die getreu den Worten seiner Schwester eine Schlampe sei, nicht ganz anders agieren? Fynn war nicht eingebildet, aber er hatte auch kein schlechtes Aussehen, das ihre augenscheinliche Abwehrhaltung ihm gegenüber erklären würde.

„Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich heiße Fynn. Darf ich deinen Namen wissen?“, vom Aufgeben war er meilenweit entfernt. Zu sehr faszinierte ihn genau diese Frau. Er sah, wie sie ihn von der Seite musterte.

„Jette.“ Immerhin hatte sie eine seiner Fragen beantwortet.

„Woher kennst du meine Schwester? Du bist keine Cousine. Ich würde dich auch als Arbeitskollegin ausschließen. Clique? Eigentlich kenne ich alle Freundinnen meiner Schwester, aber da ich jetzt achtzehn Monate in den USA war, habe ich nicht jede Fluktuation in der jungen Vergangenheit mitbekommen.“ Er war definitiv nicht Kategorie `One-Night-Stand´ und daher uninteressant für Jette. Zu allem Übel war er auch noch Amelias Bruder, was definitiv nichts Gutes verhieß. Bedauerlich, dachte sie bei sich. Er wäre ihr Typ gewesen. Jette atmete betont laut ein und aus und wandte sich dann Fynn zu. Nun konnte er direkt in ihre schimmernd grünen Augen sehen. „Zwei Prozent“, sagte er mehr zu sich als zu Jette, die sichtlich irritiert war.

„Bitte?“, fragte sie.

„Weniger als zwei Prozent der Bevölkerung haben grüne Augen. Du gehörst dieser geringen Menschenmenge an. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Menschen mit grünen Augen besser mit schlechten Erfahrungen und Schmerzen umgehen können als der Rest der Bevölkerung. Auf Männer wirken Frauen mit grünen Augen besonders sexy, sinnlich und gleichzeitig abenteuerlustig.“ Fynn hatte sich letzte Woche mit seiner Schwester über genau dieses Thema unterhalten. Amelia hatte sich während seiner Zeit im Ausland dazu entschlossen, Kontaktlinsen zu tragen, was Fynn eher argwöhnisch betrachtete, kannte er seine Schwester doch seit ihrem fünften Lebensjahr nur mit Brille. Um ihn zu überzeugen, hatte Amelia ihm die Vorteile von Kontaktlinsen erklärt, was unter anderem beinhaltete, dass sie selbst entscheiden könne, welche Augenfarbe sie hätte. Daraufhin folgte dann eine Aufklärung über die Wirkung aufs andere Geschlecht und die Charaktereigenschaften, die man aus der Augenfarbe ablesen könne. Jette war sichtlich verwirrt, gleichsam belustigt und nachdenklich über das, was der charmante Mann ihr gegenüber gerade beschrieben hatte. Es passte schon erstaunlich gut. Allerdings hatte sie die Fähigkeit, Schmerz, Verlust und schlimme Erfahrungen zu verarbeiten, nie ihrer Augenfarbe zugeschrieben. Sie hatte ja nie eine Wahl gehabt, oder? Auf Männer wirkte sie anziehend. Allerdings wagte Jette zu bezweifeln, dass dieses nur an ihren grünen Augen lag.

„Was willst du?“, fragte Jette ihn nun sicherer als zuvor, dass er kein Typ für eine Nacht war.

„Mit dir reden und dich kennenlernen“, genau die Antwort, die sie geahnt hatte. Sie atmete wieder deutlich hörbar ein und aus.

„Du willst mich nicht kennenlernen. Glaub mir. Ich bin nicht die Art Frau, die deine Mutter sich als Schwiegertochter wünscht. Ich war mit elf bereits betrunken und bekifft, mit zwölf habe ich die ersten Drogen genommen. Ich war regelmäßig in Clubs unterwegs, wo ich angefangen habe, ebenfalls mit zwölf, regelmäßig Sex mit viel älteren Männern zu haben. Du bist nett, ich will dich nicht verletzen, also kläre ich die Fronten: Ich steh auf Männer, absolut, ich liebe sie, aber nur für eine Nacht. Ich würde mit dir ins Bett gehen, du siehst gut aus, aber ich würde nach dem Sex verschwinden und du würdest nie wieder etwas von mir hören. Ich schlafe ständig mit Männern, ich habe keine Ahnung, wie viele es schon waren. Aber du bist kein Mann für eine Nacht. Also lassen wir das.“ Mit den Worten drehte sich Jette wieder weg und wandte sich ihrem Getränk zu.

„Woran machst du fest, dass ich nicht an einem One-Night-Stand interessiert bin?“, fragte Fynn. Er wirkte nicht erschrocken, wie man es im Anbetracht der Worte, die sie ihm gerade um die Ohren gehauen hatte, meinen müsste.

„Bist du? Dann nehme ich alles zurück und wir können gerne in dein Elternhaus verschwinden.“

Auf einmal wirkte sie ganz anders. Sie sah ihn an, lächelte keck und ihre grünen Augen funkelten auffordernd. Er überlegte kurz, ob er tatsächlich mit ihr nach oben gehen sollte. Sie war heiß, ihr Blick verführerisch. Er war eben ein Mann und sie eine Frau, die genau wusste, wie sie ihre Reize einzusetzen hatte, um einem Mann den Kopf zu verdrehen. Aber da war mehr: Sie war nicht nur heiß und sexy; sie war wunderschön. Ihr Blick war nicht nur verführerisch, er war geheimnisvoll. Ihre Augen funkelten, aber dahinter lag ein Schimmer, den er nicht zuordnen konnte. Sie hatte ihm ohne Umschweife ihre schlechten Seiten aufgelistet, doch er war sich sicher, dass es viel mehr gute und liebenswerte Seiten an ihr geben musste. Er wollte sie kennenlernen. Die Chancen standen sichtlich schlecht, aber würde er jetzt mit ihr schlafen, hätte er verloren. Er wäre wie jeder andere Mann, mit dem sie Sex gehabt hatte. Wenn es auch nur eine klitzekleine Möglichkeit gäbe, sie kennenzulernen, dann nur, wenn er ihr jetzt widerstand. „Nein, ich möchte keinen One-Night-Stand. Aber ich möchte den Abend bzw. die Nacht mit dir verbringen.“ Das Funkeln in ihren Augen verschwand. „Ich mache dir einen Vorschlag“, er wollte auf keinen Fall, dass sie sich wieder abwandte. „Du sagst, du würdest mit mir schlafen, aber danach würdest du gehen und dich nicht mehr bei mir melden. Ich möchte die Zeit, die du heute Nacht hier bist, mit dir verbringen. Ich will mich mit dir unterhalten. Danach gehst du und meldest dich nie wieder. Es ist vielleicht nicht ganz das, was du sonst tust, aber das Endergebnis ist dasselbe:

Du gehst und meldest dich nicht. Was meinst du?“

„Wozu willst du mit mir reden, wenn ich mich sowieso nicht bei dir melden werde? Wozu der Aufwand?“, Jette verstand nicht, was dieser Mann von ihr wollte.

„Du bist verwirrt. Du bist es nicht gewohnt, dass dich jemand kennenlernen will, weil du jeden, der es wollen würde, mit deinem Vortrag über deine schlechten Eigenschaften direkt vergraulst, richtig?“ Jette wusste nicht, was sie sagen oder wie sie agieren sollte. Sie fühlte sich auf einmal vollkommen hilflos. Alles, was er sagte, stimmte: Noch bevor ein Mann sie näher kennenlernen könnte, hatte sie ihn entweder nach dem Sex zurückgelassen, oder direkt nach dem ersten Ansprechen abblitzen lassen. Dieser Mann hier war anders. Er war hartnäckig und sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Am liebsten würde sie aufstehen und einfach gehen, aber ihre Beine hörten nicht auf sie.

„Bist du etwa auch ein Psychodoc wie deine Schwester eine wird?“, fragte sie stattdessen gehässiger als sie es beabsichtigt hatte und setzte schnell ein leichtes Lächeln auf. Fynn sah in ihre schimmernden Augen. Er hatte das dringende Bedürfnis, dieser Frau zu sagen, wie wundervoll und liebenswert sie sei. Wie bezaubernd sie war. Er wollte sie in den Arm nehmen und sie küssen. Er wollte ihr zeigen, dass er mehr in ihr sah. Sie wirkte in ihrer Verwirrtheit plötzlich so unglaublich zerbrechlich.

„Weil du es wert bist, auch wenn es nur dieser eine Abend ist“, sagte er stattdessen und wartete auf ihre Antwort. Es folgte eine Stille, die Fynn ewig vorkam.

„Ok“, mehr sagte sie nicht, während sie das Geschehen auf der Tanzfläche betrachtete. „Aber du verpasst was“, sie hatte ihre Beherrschung wieder und setzte ein verführerisches Lächeln auf.

„Ich gewinne“, entgegnete Fynn. „Also, du gehörst zu Amelias Clique, richtig?“

„Ja, ich war mit Lea zusammen auf dem Internat.“

„Und danach hat sie dich hierher gezwungen?“, Fynn lächelte, um zu verdeutlichen, dass dies eher ein Scherz war.

„Ich bin freiwillig mitgekommen“, Jette lächelte ebenfalls. „Die Entscheidung fiel mir nicht schwer. Ich habe einen tollen Job hier und Lea ist meine beste Freundin.“

„Und, magst du Köln?“

„Ich liebe Köln. Für mich die schönste Stadt Deutschlands. Ich liebe den Rhein, ich könnte stundenlang am Ufer sitzen und nichts tun. Und du? Köln oder doch lieber die USA?“

„Auf jeden Fall Köln. Aber ich bin hier geboren. Ich bin nicht objektiv. Woher kommst du?“

„Ist irrelevant!“, Jette drehte sich mit dem Stuhl zurück an die Theke und nahm ihren Cocktail.

„Was machst du beruflich?“, Fynn musste das Gespräch unbedingt wieder in eine andere Richtung lenken. Er wartete, doch Jette reagierte nicht. „Du hast gesagt, du liebst deinen Job, das hat mich neugierig gemacht. Soll ich raten? Irgendwas mit Mode? Oder du bist Tanzlehrerin. Das würde deine tänzerischen Fähigkeiten erklären.“ Jette musste schmunzeln.

„Weder noch“, sagte sie und wandte sich ihm langsam aber sicher wieder zu. „Ich habe schon immer gerne getanzt. Mit vier Jahren bin ich ganz girlslike zum Ballett gegangen. Mit neun Jahren habe ich aufgehört. Nicht, weil ich das Tanzen nicht mehr mochte. Im Gegenteil. Aber meine Eltern liebten es auch. Und ich hasste sie. Also hörte ich auf. Mit zehn habe ich in der Stadt Jugendliche beim Tanzen beobachtet. Einer von ihnen sprach mich an, ich tanzte mit und fand meine Leidenschaft für Streetdance. Jeden Tag, nach der Schule und am Wochenende, war ich dort. Ich war mit Abstand die Jüngste. Aber sie nahmen mich überall mit hin. Es war wie eine Familie und sie achteten auf mich wie große Geschwister, nur eben auf ihre Art. Und dazu gehörten Partys, Alkohol und eben leider auch Drogen. Mit fünfzehn bin ich ins Internat gekommen. Kein Streetdance mehr für Jette.“ Sie lachte, aber ihr Lachen schien nicht echt. „So viel zur Frage in welcher Tanzrichtung ich mich zu Hause fühle. Ballett und Streetdance passt eigentlich gar nicht zusammen. Ich tanze seit Jahren nicht mehr, aber es fasziniert mich noch immer. Auf dem Internat gab es keine Möglichkeit, professionell zu tanzen. Seitdem tanze ich also nur noch auf Partys - und im Badezimmer.“ Sie lachte wieder. Warum erzählte sie ihm all das? Jette war überrascht über ihre Offenheit und wurde schlagartig verlegen. Sie wandte sich ab und beschäftigte sich mit dem Fähnchen in ihrem Getränk. Fynn betrachtete ihre zarten Finger, die aufwändig gemachten Nägel. Sie trug einen Platinring. In der Mitte ein schneeflockenförmiger Diamant, rechts und links diamantbesetzte Schultern. Ein teurer Ring, vorausgesetzt er war echt.

„Es liegen tatsächlich Welten zwischen Ballett und Streetdance, wobei man sicher einige Schritte aus dem Ballett ins Streetdance einfließen lassen kann. Sofern man die Geschwindigkeit erhöht.“ Er lachte und hoffte, sie würde einstimmen, doch bis auf ein „mhm“ bekam er keine Rückmeldung. „Interessiert es dich, was ich tanze?“

„Ja“, immerhin antwortete sie, auch wenn sie ihn weiterhin nicht ansah, sondern angestrengt ihren Cocktail fixierte.

„Ich tanze Paartanz. Nicht ganz deine Richtung, was?“ Jette hob den Blick und sah ihn prüfend an.

„Du verarschst mich?“

„Nein. Das ist mein voller Ernst. Ich mache seit neun Jahren Paartanz.“

„Wiener Walzer, oder was?“ Jette war sichtlich amüsiert. Sie war sich immer noch nicht sicher, ob er sie nicht vielleicht doch auf den Arm nehmen wollte.

„Selbstverständlich kann ich einen Wiener Walzer tanzen, klassischer Standardtanz gehört zwischendurch immer mal wieder dazu. Aber eigentlich tanze ich lieber Richtung Jive, Tango…“

„Du meinst das echt ernst, oder?“

„Natürlich. Ist absolut nicht dein Tanzstil, was?“

„Na, einen Wiener Walzer kann ich auch.“

„Tatsächlich?“

„Privatinternat, vergessen?“

„Und dann sagst du mir, dass es auf dem Internat keinen professionellen Tanz gab.“ Er lachte. Sein Lachen steckte an.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Lea die beiden beobachtete.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie seine Schwester ihnen bitterböse Blicke zu warf. Sie redeten noch stundenlang und je mehr Zeit verging, desto faszinierter war er von dieser Frau, vor der seine Schwester ihn eindringlich gewarnt hatte. Es war fast 4:00 Uhr, als Lea auf die beiden zukam.

„Ich unterbreche euch ungern, aber wir wollen jetzt nach Hause. Kommst du mit oder bleibst du hier?“, Lea lächelte. Es hätte sie nicht gewundert, wenn Jette entschieden hätte, zu bleiben. Sie kannte ihre beste Freundin. Jette kam oft später nach Hause als sie. Jette verschwand auch oft auf Partys und tauchte nach einiger Zeit wieder auf. So war sie. Sie hatte sie so kennengelernt. Mit fünfzehn war sie erst erschrocken darüber gewesen, wie Jette ständig mit irgendwelchen Jungen aus den höheren Stufen oder mit Männern aus der Umgebung Sex hatte. Aber sie gewöhnte sich daran. Es gehörte zu ihrer Freundin dazu.

„Deine letzte Chance.“ Jette hatte sich zu Fynn vorgebeugt und flüsterte ihm ins Ohr. Ihre Stimme klang so noch verführerischer und während sie sprach kitzelte ihr Atem sein Ohr. Fynn bekam eine Gänsehaut, aber er wollte auf gar keinen Fall schwach werden. Sie sah ihm tief in die Augen. Er würde sie so gerne küssen. Ihre Lippen waren seinen so nah. Aber er gab dem Drang nicht nach. Stattdessen nahm er ihre Hand, fragte seinen Kumpel hinter der Theke nach einem Kugelschreiber und schrieb seine Handynummer in ihre Handinnenfläche. Dann schloss er ihre Hand und lächelte sie an:

„Falls du es dir anders überlegst.“ Jette ihrerseits lächelte zurück:

„Du weißt, dass das nicht passieren wird.“

„Sehr schade“, sagte er, „aber der Abend war dennoch wunderschön.“

„Es war ganz nett“, Jette spielte herunter, dass auch ihr die letzten Stunden sehr gut gefallen hatten. Sie stand auf und Fynn nahm ihre Hand.

„Machs gut“, sagte er zum Abschied.

„Du auch“, antwortete sie und ging. Fynn schaute ihr nach bis sie aus der Tür verschwunden war. Dann nahm er den letzten Schluck seines Biers und erhob sich.

„Was war das denn?“, Lea hatte sich extra zu Jette hinten auf die Rückbank gesetzt, während Marc – ihr Freund – die beiden nach Hause fuhr.

„Was war was?“, Jette tat, als wisse sie nicht, wovon Lea redete.

„Du und Amelias Bruder? Ihr habt den ganzen Abend nur geredet.“ Lea verdrehte die Augen. Natürlich wusste Jette ganz genau, worüber sie sprach.

„Ja und? Was ist schon dabei?“

„Es sieht dir nicht ähnlich.“

„Ausnahmen bestätigen die Regel.“

„Wirst du ihm schreiben?“ Lea deutete mit einer Kopfbewegung auf Jettes Hand, die sie immer noch geschlossen hielt.

„Natürlich nicht.“

„Schade, er ist ein Guter.“ Natürlich war er gut. Jette zweifelte keine Sekunde daran. Aber sie würde sich nicht melden. Das tat sie nie. Auch wenn dieser Mann irgendwie anders war. Lea wusste, dass das Gespräch hier zu nichts führte. Ihre Freundin redete nicht über ihre Gefühle. Selbst ihre Gedanken gab sie selten preis. Sie waren beste Freundinnen. Aber Jette war auch nach mehr als sechs Jahren immer noch oft wie ein verschlossenes Buch. Jette lag in der Nacht noch lange wach. Wäre es Sommer, wäre es längst hell gewesen und die ersten Vögel würden den Morgen mit ihrem Gezwitscher begrüßen. Immer, wenn sie ihre Augen schloss, sah sie sein Gesicht vor sich: Seine ausgeprägten Wangenknochen, seine schmalen Lippen, seine blauen Augen. Er hatte ein wunderschönes Lächeln. Seine Hand, die ihre berührt hatte, war warm und weich. Je mehr sie versuchte nicht an ihn zu denken, desto mehr Details fielen ihr auf: Er war athletisch gebaut, hatte breite Schultern. Nicht zu breit, genau passend. Man sah ihm an, dass er sich mehrmals die Woche sportlich betätigte. Paartanz. Noch immer musste Jette schmunzeln, wenn sie daran dachte. Sie hatte verschwiegen, dass sie selbst so einige Standardtänze beherrschte. Neben dem Wiener Walzer konnte sie den Langsamen Walzer, Swing, Foxtrott, Boogie-Woogie und sogar ein wenig Quickstepp und Rumba. Es war nicht das Internat, welches sie dies lehrte, wie sie es Fynn erzählt hatte. Ihr Elternhaus verlangte das Erlernen dieser klassischen Gesellschaftstänze. Es gehörte sich, auf den vielen Tanzbällen, Maskenbällen und Charity-Veranstaltungen mit Talent zu glänzen. Mehr Schein als Sein. Das Tanzen an sich war nur vordergründig Kern der Veranstaltung. Eigentlich ging es bei all diesen Abenden viel mehr ums Flanieren, Sehen und Gesehenwerden. Ihre Eltern waren oft Gastgeber solcher Tanzbälle gewesen. Nicht selten musste Jette diese Bälle eröffnen und sich stundenlang aus Höflichkeit von wechselnden Tanzpartnern immer wiederkehrend passend zur gespielten Musik über die Tanzfläche führen lassen. Akribisch wurde sie während des Erlernens der Tänze wieder und wieder von ihrer Mutter ermahnt, auf die korrekte Tanzhaltung zu achten. Dann die Garderobe: Lange elegante Kleider. Der Saum darf erst am Boden enden. Obschon der Dresscode es erlauben würde, den Kleidsaum knapp über dem Schuh enden zu lassen, kam dieses ihrer Mutter nie in den Sinn. Es war eine Frage der Trittsicherheit während des Tanzes. Ein knapp oberhalb des Schuhs endender Saum würde wirken, als wäre man nicht geschickt und trittsicher genug. So viel zum Thema „Gesehenwerden“.

Die Sonne ging tatsächlich schon am Winterhimmel auf, als sie endlich in den Schlaf fand.

„Bist du neuerdings Masochist?“, Amelia hatte nur darauf gewartet, dass ihr Bruder aus seinem Zimmer kam und sie sich ihn vorknöpfen konnte: „Ich habe dir doch gesagt, dass sie nichts für dich ist. Kannst du nicht ein einziges verdammtes Mal auf deine kleine Schwester hören? Warum hast du mich überhaupt gefragt, wenn du sowieso nichts auf meine Worte gibst?“ Sie war wütend. Jette war definitiv keine Frau, an die ihr Bruder auch nur einen Abend verschwenden sollte.

„Ich habe dich nicht nach deiner Meinung gefragt. Meine Frage war, wer sie ist und wie sie heißt.“ Fynn war vom Wutanfall seiner Schwester unangetan. Sie war ein sehr aufbrausender und gefühlsstarker Mensch. Das war sie schon als Kleinkind gewesen. Und erst recht in der Pubertät: Türen knallen - schreien - Tränen. Sie war sehr leidenschaftlich was das anging.

„Ich wiederhole: `Wieso magst du sie nicht? ´, ist das keine Frage nach meiner Meinung?“

„Du hast deine Abneigung ihr gegenüber schon vorher ungefragt kundgetan. Du weißt, dass ich dich sehr schätze. Aber tatsächlich wollte ich mir ein eigenes Bild machen. Und wenn sie mich lässt, möchte ich sie gerne näher kennenlernen.“ Fynn war ganz ruhig. Er hatte nicht das Bedürfnis, sich der Wut seiner Schwester hinzugeben.

„Du machst einen Fehler. Früher oder später wirst du vor mir stehen und jammern. Dann soll ich dich aufbauen, weil sie dich verletzt hat. Aber du brauchst nicht ankommen, wenn es dazu kommt. Ich werde nur ein `Ich hab’s dir gesagt´ für dich übrighaben. So blind kann man nämlich gar nicht sein.“

„Ok, ist angekommen“, Fynn lächelte seine Schwester sanftmütig an. Er wusste, egal wie das mit Jette laufen würde, er könnte immer zu ihr kommen und sie wäre für ihn da. So wie er immer und jederzeit für sie da war, wenn sie es brauchte.

„Ich hoffe wirklich für dich, dass sie sich nicht bei dir meldet und dich abblitzen lässt, wenn du es noch mal versuchst.“ Mit den Worten drehte sie sich weg und verschwand auf der Treppe. Immerhin stampfte und schrie sie nicht.

Dreizehn Tage waren seit Amelias Geburtstag vergangen. Jette hatte sich nicht bei ihm gemeldet, aber er dachte nach wie vor ständig an sie. Heute Abend würde sich die Clique bei Craig`s treffen. Das taten sie jeden Freitag. Es war zu einem festen Ritual geworden. Vor dem Abi waren sie oft spontan dort gewesen. Hatten nach schweren Prüfungen gefeiert oder sich über gute Noten gefreut. Nach dem Abitur war ein fester Tag eingeführt worden, um sich nicht aus den Augen zu verlieren. Seit zwei Jahren trafen sie sich regelmäßig und hatten immer sehr viel Spaß. Früher, bevor er in die USA reiste, war Fynn oft dabei gewesen. Seine damalige Freundin – Maresa - war in Amelias Alter gewesen und somit bei vielen gemeinsamen Abenden dabei. Er hatte sie gerne begleitet. Nun war Maresa nicht mehr da. Aber er war zurück. Sollte er heute Abend dorthin gehen? Fynn dachte darüber nach, ob Jette ihn überhaupt beachten würde. Laut Amelias Aussagen müsste sie ihn ignorieren. Sein eigenes Empfinden sagte ihm etwas anderes. Aber konnte er auf sein Bauchgefühl vertrauen? Oder war er tatsächlich so fasziniert von ihr, dass er sich einredete, mehr in ihren Augen gesehen zu haben, als dort tatsächlich war? Was war die richtige Entscheidung? Was, wenn Amelia recht hatte und Jette ihn wirklich unbeachtet links liegen lassen würde? Müsste er es denn aber nicht wenigstens versuchen? Seine Gedanken gingen hin und her. Er wusste nicht, welche Entscheidung die Richtige war. Eigentlich wusste er nur eins: Er wollte sie unbedingt wiedersehen. Als er den Pub betrat, atmete er den vertraut penetranten Geruch nach Bier, Whiskey und Schnaps ein. Wie ich das vermisst habe, dachte er bei sich und verschaffte sich kurz einen Überblick. Amelia war noch nicht da. Sie machte jeden Freitagabend Sport und kam immer erst nach dem Training dazu. Aber er konnte auch Jette nicht sehen. Vielleicht kam sie gar nicht hierher? Warum war er überhaupt davon ausgegangen, dass sie an dieser Tradition teilnahm? Es war ja schließlich nicht ihre Abiklasse gewesen. Lea war da. Ayla auch. Steffi, Katja, Hanna, ihre Partner. Aber Jette nicht. Er bemerkte, dass sich eine Enttäuschung in ihm ausbreitete. Diese Frau hatte es ihm angetan. Fynn entschied sich, an der Theke ein Bier zu bestellen und genau dreißig Minuten zu warten. Würde sie bis dahin nicht da sein, würde er gehen. Fünfundvierzig Minuten und drei Bier später saß er immer noch an der Theke. Jette war nicht gekommen. Gerade dachte er darüber nach, ein viertes Bier zu bestellen. Seinen „Nach dreißig Minuten gehe ich Vorsatz“, hatte er bereits hinter sich gelassen.

„Auf wen wartest du denn?“, Steffi hatte sich auf den Barhocker neben ihn gesetzt und lächelte ihm freundlich zu.

„Auf niemanden“, log er und bestellte sein viertes Guinness.

„Dann schwelgst du in Erinnerungen?“, eigentlich war Fynn froh, ein wenig Gesellschaft zu haben. Steffi war eine gute Freundin von Amelia, außerdem war sie eine Freundin von Maresa gewesen.

„Nein. Auch das nicht. Ich musste einfach mal raus. Und jemand hat mir mal gesagt, dass das hier die beste Bar der Gegend sei.“ Er grinste. Vor guten fünf Jahren, als er gerade mit Maresa zusammengekommen war, hatte er sie, seine Schwester und Steffi von einem Geburtstag abgeholt. Auf dem Rückweg hatte Steffi darauf bestanden, dass sie unbedingt noch in der „besten Bar von ganz Köln“ ein Guinness trinken müssten. Diese Nacht war der Anfang einer Pub-Dauerliebe, zunächst für sie vier, ganz bald für die ganze Clique, gewesen. „Seid ihr heute vollzählig?“, Fynn versuchte, betont locker zu klingen und hoffte über diese Frage herauszufinden, ob Jette nur heute oder nie hier war.

„Ich glaube, wir sind selten komplett. Selim fehlt. Wie du siehst, ist Amelia noch nicht da. Soweit ich weiß, ist sie heute auch nicht sicher, ob sie es noch schafft, weil sie eine Doppelstunde machen“, sie machte eine Pause und sah ihn direkt an. „Ach, und Jette ist auch nicht da, falls dich DAS interessiert.“ Wie konnte er nur davon ausgegangen sein, dass seine Schwester nicht mit Steffi über ihn und Jette geredet hatte. Vermutlich hatte Amelia Steffi nun sogar auf ihn angesetzt, um rauszubekom-men, wieso er hier war. Er nickte und trank sein Bier aus. „Was willst du von der, Fynn?“, Steffi hatte genau denselben Blick wie seine Schwester vor zwei Wochen. „Du hast wirklich was Besseres verdient als die.“

„Danke“, erwiderte Fynn jetzt recht kühl, „Ich werde dann mal gehen. Man sieht sich.“ Er stand auf, nahm seine Jacke, legte Craig – dem Besitzer und Barkeeper – zwanzig Euro hin, nickte ihm ein „Stimmt so“ zu und ging Richtung Ausgang.

„Fynn“, hörte er Steffi noch mal sagen „Amelia meint es doch nur gut.“ Natürlich hatte sie ihre Freundin gebeten, mit Fynn zu reden. Sie konnte es nicht lassen.

Der Schnee, der noch bis heute Morgen die ganze Stadt in ein schönes Weiß getaucht hatte, war zum Abend hin in eine einzige graue und düstere Matsche verwandelt worden. Es war ein Samstagabend. Jette hatte gestern Abend bis spät in die Nacht gelernt und an ihrer Studienarbeit gesessen. Sie war fast fertig und hatte eigentlich geplant, weiter zu arbeiten, aber Lea bestand darauf, dass sie eine Pause machte und heute mit zu Aylas und Selims Verlobungsfeier käme. Jette zögerte, aber Lea war sehr hartnäckig gewesen, sodass sie schlussendlich nachgegeben hatte. Schon als sie die Haustür geöffnet hatte, bereute sie ihre Entscheidung. Es war eiskalt, matschig, dreckig. Schneeregen kam vom Himmel. Sie zog den Kragen ihres olivfarbenen Mantels höher in ihr Gesicht. Ihre auffällig roten Stiefel mit den zwei großen silbernen Schnallen waren zwar hübsch anzusehen und in Kombination mit dem Mantel und der schwarzen Feinstrumpfhose perfekt kombiniert, aber sie waren ungefüttert und nicht wasserdicht.

„Holst du mich mit dem Auto vor der Haustür ab, bitte?“, sie sah ihre Freundin flehend an. Lea schmunzelte. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Nicht um ihr damit ein Nein zu signalisieren. Es war eher ein liebevolles „Es ist immer dasselbe. Dass du nicht daraus lernst und dich wettergerecht anziehst“- Kopfschütteln. Als sie ihren Mantel an der Garderobe abgegeben hatte und sie die große, stilvoll dekorierte Location betrat, erhellte sich ihr Blick. Es gab einige gutaussehende Männer hier. Der Abend könnte also doch ganz vielversprechend werden.

„Den da“, sagte Jette und machte eine leichte Kopfbewegung, um Lea die Richtung zu zeigen.

„Da sind sechs Typen auf einem Haufen. Welcher von denen solls sein?“

„Der Hübscheste, welcher sonst?“ Jette lachte keck.

„Die sehen alle nicht schlecht aus“, stellte Lea entschlossen fest und musterte die Männer der Reihe nach. „Ich wüsste nicht, für welchen ich mich entscheiden sollte.“

„Du brauchst dich ja auch nicht entscheiden. Deine Entscheidung hast du schon vor einigen Jahren getroffen und seitdem nie verworfen. Aber ich erkläre es dir: Der mit dem rosa Hemd, der ist mit seiner Partnerin hier. Der fällt raus. Der mit der Brille ist ein Langweiler, ein äußert korrekter Mann, keine One-Night-Stands. Der in der Mitte ist vom anderen Ufer. Keine Ahnung, ob er das selbst schon weiß. Der mit den roten Sneakern ist ein Draufgänger, total von sich überzeugt. Nicht mein Typ. Und der da, mit der trendy Chinohose. Der steht leider ziemlich eindeutig auf die angehende Braut, also…“

„Wie kommst du darauf?“, wurde sie von Lea unterbrochen.

„Ich bin nicht blind. Der schaut sie die ganze Zeit an. Sein Blick sagt mehr als tausend Worte. Von fünfen bleibt also nur noch der eine: dunkelblaue Jeans, braune Boots, lässiges Shirt, grauer Cardigan, etwas verschmitztes Lächeln… DEN nehme ich.“

„Ok, einverstanden“, Lea nickte: „Wie immer?“

„Wie immer“, bestätigte Jette, „wenn wir gehen und ich in drei Stunden nicht wieder da bin, rufst du mich an. Gehe ich nach dem dritten Mal nicht ran, darfst du Panik bekommen. Ich hab dich lieb“, Jette drückte ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange.

„Ich dich auch, du Verrückte.“ Schon war Jette verschwunden, um sich an ihren Auserkorenen ranzumachen. Lea wusste, dass sie Erfolg haben würde. Das hatte sie immer.

Selim und Ayla waren vier Jahre zusammen gewesen, bevor er ihr die Frage aller Fragen gestellt und sie mit ihrem „Ja“ eingewilligt hatte, seine Frau zu werden. Als Ayla ihn das erste Mal mit zu Craig`s brachte, waren Fynn und Maresa schon ein Paar. Selim war Fynn auf Anhieb sympathisch gewesen. Die meisten Partner der Freundinnen seiner Freundin waren jünger als er. Drei Jahre Altersunterschied waren damals viel gewesen. Mit Selim war Fynn nun nicht mehr der Älteste. Aylas Partner war noch ein Jahr älter als er. Fynn und er wurden über ihre Freundinnen selbst zu guten Kumpels. Für Selim war es selbstverständlich, dass auch sein Freund zu seiner Verlobungsfeier eingeladen wurde. Als Fynn bei der Feiergemeinschaft eintraf, war die Party schon in vollem Gange. Er war bis heute noch auf einem Seminar gewesen und hatte es nicht eher geschafft. Nachdem er dem frisch verlobten Paar seine Glückwünsche ausgesprochen hatte, wollte er sich als erstes etwas zu trinken besorgen. Da entdeckte er sie. Sie war nicht allein. Direkt neben ihr war dieser Typ: grauer Cardigan, dunkle Jeans, ein Schönling. Immer wieder berührte er Jette, sein Blick war eindeutig und Jette schien es zu gefallen. Gerade als er sich wegdrehen wollte, damit sie ihn nicht sah, drehte sie sich in seine Richtung und sah ihn direkt an. Ihr Blick wirkte kurz wie erstarrt. Fynn überlegte sie anzusprechen, aber er verwarf den Gedanken wieder. Sie war gerade mit einem anderen Mann zusammen. Er kannte sie nicht lange, aber er war sich sicher, dass sie es nicht begrüßen würde, wenn er sie nun ansprechen und ihr somit möglicherweise diesen One-Night-Stand verderben würde. Fynn hatte ihrem Blick standgehalten und lächelte sie kurz an. Jettes Mundwinkel gingen ein wenig nach oben. Dann nahm der Mann neben ihr ihre Hand, ihr Blick wandte sich von Fynn ab. Der Fremde flüsterte ihr etwas ins Ohr, sie lachte laut, nickte und verschwand mit ihm in der Menge Richtung Ausgang. Fynn sah ihr nach.

„Hey“, wie jedes Mal, wenn sie mit einem Mann eine Party verlassen hatte, gab sie als erstes Lea Bescheid, sobald sie wieder zurück war. Lea war zu Beginn äußerst ängstlich gewesen, wenn ihre beste Freundin mit Fremden mitging. Sie malte sich die schlimmsten Szenarien aus, von Entführung mit Lösegeld-erpressung über Körperverletzung usw. Jette ihrerseits konnte die Sorgen und Nöte ihrer Freundin nicht verstehen, war sie doch schon seit ihrem dreizehnten Lebensjahr oft mit Männern mitgegangen. Bis auf hin und wieder schlechten Sex war ihr noch nicht mehr passiert. Sie hatte keine Angst. Sie ging ja nicht mit jedem x-beliebigen Mann mit. In den letzten Jahren hatte sie ihre ohnehin gute Menschenkenntnis durch Beobachtungen geschult und konnte heute die Männer recht gut einschätzen. Ein Fehlgriff passierte ihr äußerst selten. Da Leas Angst aber echt war und Jette nicht wollte, dass ihre Freundin jedes Mal in Panik verfiel, hatten sie eine Abmachung getroffen, mit der beide leben konnten: Sollte Jette nach drei Stunden mit einem Mann nicht wieder aufgetaucht sein, dürfte Lea sie anrufen. Würde Jette auch beim dritten Mal nicht ans Handy gehen, wäre es Lea erlaubt, Panik zu bekommen und sie mithilfe von Marc oder jemand anderem zu suchen bzw. ihr Handy zu orten, wofür sie extra eine App eingerichtet hatten. Sollte beides scheitern, dürfte Lea die Polizei einschalten. Obschon Jette die Sorgen ihrer Freundin nach wie vor übertrieben fand, rührte es sie, dass es einen Menschen gab, der sich um sie sorgte. In ihrer Kindheit hatte sie so eine Art von Fürsorge vergeblich gesucht.

„Hey, alles gut?“, immer dieselbe Frage. Jedes Mal vergewisserte sich Lea als erstes, dass es ihrer Freundin nach ihrem Männertrip gut ging.