Wenn deine Augen schweigen - Johanna Koers - E-Book

Wenn deine Augen schweigen E-Book

Johanna Koers

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Beschreibung

Eine einzige Unterschrift und nichts ist mehr, wie es war. Als neue Inhaberin des millionenschweren Unternehmens ihres Vaters kehrt Jette zurück in die Vergangenheit, vor der sie geflohen war. Und auch Janosch - ihr Janosch - ist plötzlich wieder Teil ihres Lebens. Fynn, Lea und Amelia können nur noch zusehen, wie das strahlende Leuchten ihrer grünen Augen einer kaum zu ertragenden Leere weicht. Und während Janosch die zunehmende Nähe zwischen ihnen genießt und Fynn völlig verzweifelt, droht Jette an ihrem inneren Kampf längst zu zerbrechen: Drogen, kindlicher Missbrauch und ganz viel Schmerz. Eine Fortsetzung des Debütromans "Das Schimmern deiner Augen". Ergreifend, tiefgehend und unbeschönigt ehrlich. Der Hilfeschrei einer gebrochenen Seele.

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Wenn deine Augen schweigen
Ein unmoralisches Angebot
Eine unerwartete Begegnung
Eine folgenschwere Entscheidung
Eine unerwartete Wendung
Lügenkonstrukt
Verschwunden und ganz weit weg
Ich, die Droge und das andere Ich
Das Kind in mir, es schreit
Ein Teil von vielen
Portugal
Tiefgrund
Fynn
Ein Schritt in deine Richtung
„Du bist perfekt für mich“
Ein Weg zurück
Ich bin stolz auf dich
Über die Autorin:

Wenn deine Augen schweigen

Johanna Koers

Eine Fortsetzung des Debütromans

„Das Schimmern deiner Augen“

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR

April 2022

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2022 Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Texte: © Copyright by Johanna Koers

Lektorat: Christiane Fichte

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Coverdesign: Valmont Coverdesign

Bildmaterial: Canva, Pixabay

Layout: Verena Valmont

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Mittelheide 23

49124 Georgsmarienhütte Deutschland

Besuchen Sie uns auf:

www.tribusverlag.com

Wenn deine Augen schweigen

„Wenn Augen aufhören

zu leuchten,

verlieren Worte ihren Wert“.

(Verfasser unbekannt)

Ein unmoralisches Angebot

„Guten Morgen.“ Jette kam gut gelaunt von ihrer morgendlichen Joggingrunde in die Küche, in der Fynn sich gerade schlaftrunken einen Kaffee zubereitete.

„Morgen, auch einen?“, fragte er mit einer Kopfbewegung in Richtung des Kaffeeautomaten. Er war müde.

„Lieber was Kaltes.“ Im Vorbeigehen gab sie ihm einen Kuss, holte sich Wasser aus dem Kühlschrank und setzte sich an den Esstisch. Fynn tat es ihr gleich.

„Und?“, fragte er, „Alles fertig für die Besprechung?“

„Selbstverständlich.“ Jette sah ihn gespielt beleidigt an. „Bin ich jemals unvorbereitet gewesen?“ Er betrachtete sie, während sie ihren Zopf löste und mit der linken Hand durch ihr langes schwarzes Haar fuhr. Über fünf Jahre waren sie mittlerweile verheiratet. Seit mehr als sieben Jahren war sie die Frau an seiner Seite. Unwillkürlich dachte er zurück an die ersten Monate, an ihr erstes Kennenlernen. Es war schwer gewesen, einen Zugang zu ihr zu finden. Sie war weggelaufen, hatte sich ihm gegenüber immer wieder verschlossen. Und heute? Fragend neigte sie den Kopf zur Seite „Alles gut?“

„Ja.“ Er streckte seine Hand nach ihrer aus. „Ich liebe dich.“

„Ich dich auch“, antwortete sie, ohne zu zögern, bevor sie aufstand, ins Badezimmer verschwand und sich für die Arbeit fertigmachte.

Er schaute ihr nach. Sie war wunderschön und unglaublich sexy, die attraktivste Frau, die er jemals kennen gelernt hatte. An ihrem Erscheinungsbild hatte sich nichts geändert. Immer noch legte sie viel Wert auf ihr Äußeres. Ihre Kleidung war teuer und chic und die Accessoires und ihr Make-up waren perfekt darauf abgestimmt. Aber sie selbst hatte eine Wandlung durchlebt, sie wirkte befreit. Ihr Lachen war echt, ihre Gefühle waren für die Menschen, die sie kannten, nicht mehr unbegreiflich. Sie redete und schwieg nicht. Ihr Misstrauen gegenüber fremden Menschen war weniger geworden. In ihren Augen lag ein Glanz, der ohne Zweifel zeigte, dass sie glücklich war. „Fertig“, sagte sie, als sie nach einer Weile bekleidet mit Jacke und Schuhen vor ihm stand.

„Na, dann los.“ Fynn nahm seine Tasche und folgte ihr in den Flur, die Treppe hinunter und durch die Haustür zu den Autos. „Bis heute Nachmittag.“ Er gab ihr einen schnellen Kuss, bevor er die Autotür hinter sich zuzog, den Motor anstellte und rückwärts aus der Hofeinfahrt fuhr. Jette schaute ihm nach. Sie hatten eine Routine entwickelt in ihrem gemeinsamen Alltag, ihrem Leben. In ihrer Jugend hätte sie sich so etwas nie träumen lassen, doch nun war es real. Sie war mittendrin. An der Seite dieses wundervollen Mannes, in diesem Haus, in dieser Stadt, verheiratet und glücklich.



„Erwartest du jemanden?“ Jette hatte die Tür zum Büro geöffnet und schaute Fynn fragend an. Sein Kopfschütteln wahrnehmend, folgte sie dem Türklingeln.

„Ja?“ Der Anzugträger auf der Schwelle war ihr unbekannt.

„Sind Sie Henriette Schreiber?“ Jette nickte. „Ich bin von ihrem Vater, Herrn von Hoogwitz, als Notar beauftragt worden.“ Er hielt ihr seine Visitenkarte hin. „Dürfte ich reinkommen?“ Ein Notar, hallte es in Jettes Kopf. Sicherlich würde ihr Vater sie nun endgültig enterben wollen. Wieder nickte sie stumm, trat einen Schritt zurück und gewährte dem Mittvierziger Eintritt.

„Nach Ihnen.“

Sie deutete die Treppe hoch und wies ihm anschließend den Weg in die Küche. „Einen Moment, bitte“, entschuldigte sie sich, bevor sie im Büro verschwand. „Da ist ein Notar, geschickt von meinem Vater.“ Fynn wandte sich ihr zu.

„Was will er?“

„Mich enterben? Das ist okay, ich unterschreibe das sofort, aber würdest du dazukommen?“ Ihr Blick ging verlegen zu Boden. Etwas, das nach ihrer Wandlung geblieben war: Es fiel ihr schwer, um Hilfe zu bitten.

„Natürlich.“ Ohne zu zögern erhob er sich, zog sie an sich und umarmte sie. Er musste nichts sagen. Die Geste allein zeigte ihr, dass er für sie da war.

„Frau Schreiber, ich weiß, dass das Verhältnis zu Ihrem Vater nicht gut ist.“ Jette unterdrückte ein höhnisches Lachen. Nicht gut, das war ziemlich untertrieben.

„Ihr Vater hat überlegt, selbst hierher zu kommen, doch in Anbetracht der Tatsache, dass es in den letzten Jahren keinen Kontakt gegeben hat, hat er diesen Weg vorgezogen. Herr von Hoogwitz…“

„Wir können uns das ganze Reden und Erklären sparen“, unterbrach Jette die scheinbar eingeübte Ansprache des Notars. „Geben Sie mir einfach die Unterlagen zur Enterbung und ich unterschreibe.“ Jette sah den Anzugträger erwartungsvoll an, dessen Blick sichtlich irritiert zwischen Fynn und ihr hin und her schweifte.

„Es geht hier nicht um eine Enterbung“, sagte er vorsichtig.

„Sondern?“ Was wollte ihr Vater von ihr? Seit Jahren hatte es keinen Kontakt gegeben. Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, hatte er sie - zur Wahrung des Scheins – zur Teilnahme an der Beerdigung ihrer Mutter drängen wollen. Ein heftiges Wortgefecht, eine Ohrfeige, tränenreiche Verzweiflung, Flashbacks und Albträume folgten.

„Vielleicht sollten Sie es selbst lesen.“ Er öffnete die Aktenmappe mit den Unterlagen und schob sie Jette hin. Es folgte eine Stille, die Fynn ewig vorkam. „Ihr Vater ist gesundheitlich angeschlagen. Es ist nichts Ernstes, aber er möchte sich zurückziehen. Er möchte Ihnen die Firma und das gesamte Firmenvermögen überschreiben.“ Nun hatte er ausgesprochen, was Jette nur kurz zuvor gelesen hatte. Die Firma und die Geldsumme auf dem Blatt vor ihr waren unvorstellbar. Ohne ein Wort schob sie Fynn die Unterlagen hin, der seinerseits mit offenem Mund den bereits von Herrn Hoogwitz und dem Anzugträger unterschriebenen und notariell beglaubigten Vertrag las.

„Sie müssen das nicht jetzt entscheiden. Ich lasse Ihnen die Unterlagen hier. Meine Visitenkarte haben Sie bereits. Sie…“

„Entschuldigen Sie…. Ich muss kurz … “, Jette stand auf und verließ fluchtartig den Raum. Fynn folgte ihr und wartete angespannt vor der Badezimmertür, hinter der Jette verschwunden war.

„Geht es wieder?“, fragte er liebevoll, als sie heraus kam. Sie sah blass aus und geschockt.

„Ja.“ Sie richtete sich vor ihm auf, ging zurück in die Küche, verabschiedete sich freundlich von dem Notar und schloss die Tür hinter ihm. „Warum tut er das?“ Fragend sah sie Fynn an, der nur ratlos die Achseln zuckte. „Es gibt bestimmt einen Haken. Er will mich über den Tisch ziehen. Vielleicht ist er pleite, oder…“ Sie seufzte und sah plötzlich vollkommen verloren aus.

„Was das angeht, können wir Selim anrufen. Er kann den Vertrag prüfen. Das ist doch sein Gebiet. Wenn du möchtest, rufe ich ihn an.“ Jette reagierte nicht. „Es muss ja nicht jetzt sofort sein.“ Fynn wusste nicht, was er sagen sollte. Mit so etwas hatte er niemals gerechnet. Die Firma von Hoogwitz und Graus. Ein millionenschweres Unternehmen und dieser Vertrag würde seine Frau zur Alleininhaberin und mit einer Unterschrift zur Millionärin machen. Niemals hatten sie über so etwas gesprochen. Er wusste nicht, was er Jette raten sollte.

„Ruf ihn an. Er soll sich den Vertrag ansehen“, sagte Jette, bevor sie in ihrem Zimmer verschwand, in Sportkleidung herauskam und zum Joggen aus der Enge der Wohnung flüchtete. Raus. Laufen. So schnell sie konnte… weglaufen.



„Und?“, Jette war nervös im Wohnzimmer auf und ab gelaufen, während Selim am Schreibtisch den Vertrag durchgelesen hatte. Er antwortete nicht sofort auf ihre Frage, was Jette nur noch nervöser machte. Fynn versuchte, sie in den Arm zu nehmen, doch sie war zu aufgewühlt, um seine Nähe zulassen und innehalten zu können.

„Ich würde gerne eine Kopie der Unterlagen mitnehmen, um alles nochmal ganz in Ruhe und im Detail zu lesen. Wenn es okay für dich ist, würde ich auch meinen Kollegen um seine Einschätzung bitten, aber so auf den ersten Blick sieht der Vertrag sauber aus. Dein Vater überschreibt dir alles: die Firma und das dazugehörige Vermögen. Er zieht sich komplett zurück. Die Ausdrucke hinter dem eigentlichen Vertrag zeigen detailliert die Einkünfte und Ausgaben des letzten Jahres, außerdem die Jahresabschlüsse der letzten fünf Jahre. Das Unternehmen läuft sehr gut.“ Selim hatte die Mappe zugeklappt und betrachtete die Freundin seiner Frau, die er seit Jahren kannte und in der er nie Henriette von Hoogwitz, eine reiche Firmenerbin, gesehen hatte.

„Er fordert nichts?“ Sie wirkte ungläubig.

„Soweit ich es jetzt auf die Schnelle beurteilen kann, nein.“

„Warum tut er das?“ Jette hatte sich Fynn zugewandt. Verzweiflung lag in ihren Augen.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht will er sich wirklich einfach zurückziehen.“ War das die richtige Antwort? Fynn hatte keine Ahnung.

„Die Firma war meinem Vater immer das Wichtigste. Sie war sein Leben. Sie und ihr Image waren der Mittelpunkt seines Handelns. Ich habe jahrelang deswegen die Hölle durchgemacht und es hat ihn nicht interessiert, weil…“, abrupt brach sie ab, als sie sich daran erinnerte, dass sie nicht allein waren. Auch in den vergangenen Jahren hatte sie keiner weiteren Person von dem Missbrauch und den Vergewaltigungen durch ihren Onkel erzählt. Sie atmete tief ein. „Ich kopiere dir alles. Danke, Selim.“

„Gerne.“ Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Als er durch die Tür verschwunden war, ließ sie sich endlich von Fynn in den Arm nehmen.

„Ich verstehe es nicht. Warum tut er das?“ Immer dieselbe Frage und Fynn hatte keine Antwort.



„Er will was?“ Lea war unabsichtlich lauter geworden und hatte damit einige Blicke auf sich gezogen. „Entschuldige“, sagte sie deutlich leiser. „Er will dir die Firma überschreiben? Einfach so?“

„Selim sagte, der Vertrag ist nur zu meinem Vorteil ausgestellt. Nichts Kleingedrucktes, keine Klausel, die mir am Ende schaden könnte. Wenn ich unterschreibe, gehört die Firma mir, er hat keinerlei Rechte und keinen Anspruch mehr.“

„Und warum?“

„Das steht dort nicht. Der Notar meinte, er sei gesundheitlich angeschlagen, aber nicht lebensbedrohlich. Es macht keinen Sinn. Die Firma ist immer alles für ihn gewesen. Wichtiger als die Familie, wichtiger als wir Kinder. Und jetzt will er sie mir einfach so überschreiben?“

„Und wenn du mit ihm redest?“

„Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, lief es nicht wirklich gut.“ Unwillkürlich schweiften Jettes Gedanken zu dem Tag zurück, an dem ihr Vater unangekündigt vor ihrer Haustür aufgetaucht war. Wie er sie hatte überreden wollen, zur Beerdigung ihrer Mutter zu kommen, um den Schein zu wahren. Wie er sie beleidigt hatte. Wie die Verletzung, die Wut und der Ekel so groß geworden waren, dass sie ihm vor die Füße gespuckt hatte. Wie er sie geschlagen hatte, vor den Augen ihres Ehemannes und ihrer Schwiegermutter. Diese Demütigung, dieser Hass, dieser Ekel. Alles war wieder da gewesen.

„Hmm.“ Jette hatte mit Lea sprechen müssen. Sie war die Einzige, außer ihrer Schwester, die ihren Vater, den geborenen Geschäftsmann, kannte. Eine Weile schwiegen die Freundinnen und Jette rührte gedankenversunken in ihrem Milchkaffee. „Mal ganz abgesehen von der Frage, warum er das tut, kannst du dir vorstellen, die Firma zu übernehmen?“ Jette kam aus ihren Gedanken zurück in die Realität. Konnte sie sich vorstellen, Firmeninhaberin von Hoogwitz und Graus zu werden? Zwei Tage war es her, dass der Notar an ihrer Haustür geklingelt hatte. Achtundvierzig Stunden, in denen Jette sich immer wieder gefragt hatte, warum ihr Vater das tun wollte und welchen Vorteil er davon haben könnte. Nicht ein einziges Mal hatte sie sich die wesentliche Frage gestellt: Wollte sie die Firma überhaupt haben?

„Ich habe noch nicht darüber nachgedacht“, antwortete sie ehrlich und wurde still. Hoogwitz und Graus. Ein bekanntes, erfolgreiches Unternehmen. Einnahmen in Millionenhöhe. Superreiche, wichtige Geschäftspartner.

Männer in Anzügen, die teuersten Whiskey tranken. Flanierende Frauen, mit extra für sie designten Kleidern. Charity-Veranstaltungen. Tanzen mit schmierigen Mittfünfzigern. Das war es, was Jette mit der Firma verband. Das und die Kaltherzigkeit ihrer Eltern, denen ihre Kinder nie wichtig gewesen waren. Bei denen Image und Prestige über allem standen, selbst über den eigenen Kindern. Eltern, die von Opfern redeten, die man eben bringen müsste, wenn man erfolgreich sein wollte. Opfer, die ihre Kinder bringen mussten: Selbstmord, Missbrauch und Vergewaltigung. Sie hatte den Tag nicht erwarten können, an dem sie sich endlich von ihren Eltern und all dem hatte befreien können. Eltern, die sie nie geliebt hatten. Eltern, die sie in den Abgrund getrieben hatten. Eltern, die niemals Eltern gewesen waren, obwohl sie sich nichts mehr gewünscht hatte.

„Alles okay?“ Jette spürte die Hand ihrer Freundin auf ihrer. Langsam schüttelte sie den Kopf.

„Nein. Ich kann seit Samstag nicht mehr schlafen, ich kann kaum einen klaren Gedanken fassen. Ich verstehe es nicht. Ich suche vergebens nach einer Erklärung, aber es scheint keine zu geben. Es macht mich wahnsinnig, Lea. Und jetzt erinnerst du mich daran, dass ich mir die wichtigste aller Fragen noch gar nicht gestellt habe.“ Ihr Blick war langsam von ihrem Milchkaffee hochgewandert, sodass Lea sehen konnte, wie Jettes Augen seltsam funkelten.



‚Ich muss mit dir reden‘, las Amelia, als sie die Nachrichten auf ihrem Handy öffnete.

‚Bin jetzt auf dem Weg zurück, soll ich vorbeikommen?´, tippte sie und stieg in die U-Bahn.

‚Ja, bitte.' Die Antwort kam binnen Sekunden. Es schien wirklich wichtig zu sein. Keine halbe Stunde später saß Amelia in Jettes Küche am Esstisch. Ihre Schwägerin versuchte vergebens, einen Kaffee zuzubereiten, doch die Maschine schien ihr nicht gehorchen zu wollen. Jette wirkte angespannt und nervös.

„Was ist los?“ Amelia hatte sich wieder erhoben und mit einer einfachen Handbewegung den Vollautomaten zum Laufen gebracht.

„Danke.“ Jette wandte sich ihr zu und lehnte sich an die Arbeitsplatte. „Mein Vater hat mir einen Notar geschickt“, begann sie nachdenklich.

„Was will er von dir?“ Amelia wurde vorsichtig. Jette war auch nach all den Jahren nicht gut auf ihre Eltern zu sprechen. Sie wich dem Thema aus, also hatte sich jeder in ihrer Umgebung angewöhnt, es nicht zu erwähnen. Selbst nach der Therapie, die Jette soweit möglich erfolgreich beendet hatte, waren ihre Eltern nur sehr selten ein Thema gewesen. Jette hatte die Küche in Richtung des Wohnzimmers verlassen. Amelia beobachtete, wie Jette zu ihrem Schreibtisch ging und aus den Unterlagen etwas heraussuchte. Als sie zurückkam, hielt sie ihr eine Mappe entgegen, die Amelia wortlos entgegennahm. Jette schaute zu Boden, sie konnte die Reaktion ihrer Schwägerin nicht sehen. „Wow!“ Es hatte ihr die Sprache verschlagen. Sie legte die Mappe auf die Arbeitsfläche, nahm den Kaffee vom Vollautomaten und setzte sich damit an den Tisch. Jette tat es ihr gleich.

„Ich weiß nicht, was ich tun soll, Amelia.“

„Das weiß ich auch nicht“, antwortete Amelia ehrlich.

„Das hilft mir jetzt nicht.“ Jette wirkte enttäuscht.

„Was hast du erwartet?“ Amelia sah ihre Schwägerin nun direkt an, doch diese zuckte nur verunsichert mit den Schultern. „Wie fühlst du dich?“

„Ich kann nicht schlafen. Ich kann nicht aufhören, mich immer wieder zu fragen, WARUM er das tut.“ Sie sah verloren aus.

„Wie fühlst du dich?“, fragte Amelia erneut, ohne auf ihre Worte einzugehen. „Was löst dieses Angebot für Gefühle in dir aus?“ Natürlich, dachte Jette. Die Psychologen. Sie verdrehte die Augen.

„Keine Ahnung.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich bin verwirrt“, sagte sie, „und ich glaube, ich bin wütend“, schob sie nach einer Weile nach.

„Wütend auf deinen Vater?“

„Ja. Wieso besitzt er die Dreistigkeit, nach allem, was war, mir einfach so seine Firma anzubieten? Die Firma, die alles für ihn gewesen ist. Die wichtiger war als ich.“ Amelia nickte, schwieg aber. „Und anstatt selbst vorbei zu kommen, schickt er mir einen Notar. Keine Entschuldigung, keine Erklärung. Einfach nur dieser Vertrag. Ein Blatt Papier.“

„Du hättest dir gewünscht, dass er dich selbst fragt?“, versuchte Amelia, Jette zu verstehen.

„Vielleicht. Weißt du, ich frage mich seit Tagen: ‚Warum?' Die Firma hatte für ihn immer die oberste Priorität. Und nun will er sie mir einfach überschreiben? Ohne Gegenleistung? Das macht doch keinen Sinn.“ Sie konnte diese Frage nicht ignorieren.

Wie ein Hammer arbeitete sie in ihrem Kopf, immer und immer wieder. Diese Frage nach dem ‚Warum‘, war omnipräsent.

„Hast du dich mit der Frage auseinandergesetzt, ob du die Firma haben willst?“

„Ja. Nein. Ich…“ Jette seufzte. „Ich wollte nie zu dieser Gesellschaft gehören. Nach dem Internat, als ich dem Ganzen endlich den Rücken kehren konnte, habe ich mich freier gefühlt, als je zuvor. Ich habe niemals zurückgewollt. Aber ich habe auch niemals damit gerechnet, dass mein Vater mir die Firma überschreiben würde.“

„Also bist du dir nicht sicher?“ Jettes Worte waren wirr. Amelia war bewusst, dass Jette keinen klaren Gedanken fassen konnte. Wie zur Antwort schüttelte sie nun den Kopf.

„Ich sollte mir die Frage gar nicht stellen. Die Firma, mein Elternhaus, das alles hat mir so viel Leid zugefügt. Ich sollte überhaupt nicht darüber nachdenken.“

„Doch, solltest du. Du musst sogar. Denn das ist eine Entscheidung, die für dein Leben wichtig und richtungweisend ist. Jette, deine Vergangenheit ist ein Teil von dir. Ob du es hast kommen sehen oder nicht: Dein Vater hat dir dieses Angebot unterbreitet, folglich bleibt dir nun nichts anderes übrig als dich damit auseinanderzusetzen.“ Fynn war unbemerkt in die Küche gekommen. Er setzte sich neben seine Frau, die ihm so verloren vorkam wie schon lange nicht mehr. Er nahm ihre Hand und sie schenkte ihm ein Lächeln. „Du musst es nicht heute entscheiden. Lass dir Zeit damit. Und das Wichtigste ist: Achte auf deine Gefühle. Wie verändern sie sich, wenn du daran denkst, in dieser Firma zu arbeiten? Du weißt, was das Richtige für dich ist. Ganz sicher.“ Amelia lächelte Jette aufmunternd zu, die stumm nickte.

Als Jettes Handy klingelte und sie im Flur verschwand, rückte Fynn auf den frei gewordenen Platz neben seiner Schwester.

„Glaubst du, dass es gut für sie wäre, dort anzufangen? Das letzte Zusammentreffen mit ihrem Vater, mit ihrer Vergangenheit, hat ihr monatelange Albträume und Flashbacks bereitet.“ Er sah besorgt aus.

„Nein, Fynn. Ich glaube tatsächlich nicht, dass es gut für sie wäre. Aber es ist weder deine noch meine Aufgabe, ihr diese Entscheidung abzunehmen, oder sie in irgendeine Richtung zu drängen. Diese Frage muss sie sich ganz allein stellen. Es ist ihr Leben, ihre Familie, ihre Vergangenheit. Ihr Verstand, die Erfahrungen, die sie mit dieser Familie gemacht hat, schreien: ‚Nein‘, aber irgendein Teil von ihr denkt ernsthaft darüber nach, die Firma zu übernehmen. Und egal, wie sie sich entscheidet: Sie braucht deine Unterstützung. Sag ihr, dass du hinter ihr stehst. Egal, in welche Richtung die Reise gehen wird, okay?“

„Ja.“ Nachdenklich schaute er aus dem Fenster in den blauen Spätseptemberhimmel. Jette hatte es immer vermieden, ihre Vergangenheit zu erwähnen. Gesprächen darüber ging sie auch nach all der Zeit aus dem Weg. Er hatte ihre Mutter nie kennen gelernt und ihren Vater nur dieses eine Mal gesehen. Ein Kennenlernen, auf das er durchaus hätte verzichten können. Er kannte weder die Firma noch ihr Elternhaus. Das Fotoalbum mit den wenigen Fotos aus ihrer Kindheit hatte er nur ein einziges Mal gesehen. Doch nun lag er dort: der Vertrag, der alles ändern konnte.

Ein Schreiben, das seine Frau mit einer einzigen Unterschrift zur Firmeninhaberin eines millionenschweren Unternehmens machen würde. Eine Unterschrift, die ihre Vergangenheit in die Gegenwart holen würde. Unwillkürlich dachte er an den Rhein, den reißenden Fluss und an Jette. Jette, die neben ihm auf der Bank saß, das fließende Wasser beobachtete und Davies zitierte. Würde ihre Vergangenheit, die Gegenwart berührend, ihre ganze Zukunft ins Wanken bringen?



„Ist alles okay?“ Jette stand in Alexandras Küche und beobachtete verträumt, wie ihre Schwester an der Theke den Obstteller für ihre Kinder herrichtete. „Du bist so still heute.“

„Hmm“ Sie hob den Blick und schaute sich im Raum um. Ihre beiden Männer saßen draußen auf der Terrasse, Aurelia und Jonathan spielten im Garten. Sie waren allein. „Eigentlich wollte ich später mit dir reden. Aber da wir gerade unter uns sind… “ Alexandra betrachtete ihre kleine Schwester. Sie wirkte angespannt.

„Was ist denn los?“, fragte sie besorgt.

„Unser Vater hat mir einen Notar vorbeigeschickt“, sagte sie, während sie immer wieder verstohlen auf die Theke blickte.

„Warum?“, Alexandra hatte das Obst zur Seite geschoben und widmete sich nun voll und ganz ihrer kleinen Schwester. Was wollte ihr Vater von ihr? Das letzte Mal, als er in ihr Leben getreten war, hatte es ihre kleine Schwester vollkommen aus der Bahn geworfen.

„Ich dachte, er wollte mich enterben.“

„Aber das war es nicht?!“ Das war weder Frage noch Aussage. Jette schüttelte den Kopf.

„Er will mir die Firma überschreiben. Alles.“ Jette biss sich auf die Unterlippe, als sie das ungläubige Lachen ihrer Schwester vernahm.

„Bitte? Der denkt doch nicht ernsthaft, dass du sein Unternehmen haben willst? Was glaubt der eigentlich, wer er ist? Als wenn du auch nur ansatzweise darüber nachdenken würdest…“. Sie hielt abrupt inne, als sie in Jettes Gesicht sah. „…du denkst ernsthaft darüber nach?“ Sie sah ihre Schwester entgeistert an.

„Ich…“

„Der linkt dich. Der will was von dir. Er würde niemals…“

„Ich habe den Vertrag von zwei Anwälten gegenlesen lassen“, unterbrach sie Alexandra.

„Du hättest den Vertrag auf der Stelle zerreißen sollen. Du darfst nicht mal darüber nachdenken. Verdammt, Jette! Ich weiß, dass du immer eine andere Bindung zu unseren Eltern hattest als ich, aber…“

„Darum geht es doch gar nicht!“

„Doch genau darum geht es, um Anerkennung. Die wolltest du schon als Kind immer vonihnen“, Alexandra war unabsichtlich lauter geworden.

„Warum schreist du mich an?“

„Weil du naiv bist. Das ist doch krank. Du darfst nicht dorthin zurück. Du kannst doch nicht einfach verdrängen, was sie uns angetan haben.“ Sie sprach immer noch laut. Aus den Augenwinkeln konnte Jette Fynn und Jan an der Terrassentür sehen.

„Ich verdränge überhaupt nichts.“

„Du hast den Missbrauch noch gar nicht verarbeitet und jetzt willst du zurück? Das…“

„Es ist vertraglich festgeschrieben, dass sowohl unser Vater als auch Michael sich…“, nun hatte auch sie die Stimme erhoben. Alexandras Worte prasselten auf sie ein, ohne auch nur ein einziges Mal zu fragen, was sie wollte oder wie sie sich fühlte.

„Wag es nicht, den Namen dieses Vergewaltigers in meinem Haus auszusprechen!“ Der Blick ihrer großen Schwester hatte sich verfinstert. Hass lag in ihrem Blick, Hass und Abscheu. Jette lachte auf, ging um die Theke herum und stand nun direkt vor ihr.

„DU hältst mir vor, dass ICH mit dem Missbrauch nicht klarkommen würde. Aber DU kannst selbst nicht mal seinen Namen aussprechen, geschweige denn hören? Wer kommt denn hier nicht damit zurecht?“

„Sowas kann man nicht einfach hinter sich lassen!“

„Du kannst nicht von dir auf mich schließen. Ich habe die Therapie gemacht und ich habe das verarbeitet. ICH kann seinen Namen sagen: Michael, Michael, Michael!“ Sie sah ihre Schwester mit provokativ funkelnden Augen an.

„Du verstehst es nicht. DU kannst nicht dahin zurück. Du darfst das nicht tun, Jette!“, schrie Alexandra sie an.

„Das ist nicht deine Entscheidung!“, Jette hielt Alexandras Blick stand. „Ich habe dich nicht nach deiner Meinung gefragt.“

„Ich mache mir Sorgen. Du läufst in dein Unglück und ich soll dabei zusehen? Ich bin deine große Schwester!“

„Ach ja? Ich bin jahrelang ohne große Schwester zurechtgekommen! Du machst dir Sorgen? Wo warst du, als ich dich wirklich gebraucht hätte? Ich habe gedacht, du lebst irgendwo unter einer Brücke und sammelst Pfandflaschen, um zu überleben. Aber du hast in einem Haus gelebt bei jemandem, der sich um dich gekümmert hat. Du hast dein Abi gemacht und geheiratet, während ich die Hölle durchmachen musste! Ich hätte dich gebraucht. Wo war deine Sorge da?“ Jette merkte, wie sich heiße Tränen in ihren Augen bildeten, Tränen der Wut.

„Du weißt ganz genau, dass ich nichts hätte tun können. Wer hätte uns geglaubt?“, versuchte Alexandra sich zu verteidigen. Jettes Vorwürfe waren nicht fair, dennoch fühlte sie Schuld in sich aufsteigen.

„Es hätte Möglichkeiten gegeben. Du hättest mich rausholen können, in ein Krankenhaus bringen, sie hätten mich untersuchen können und…“, die Tränen liefen nun vereinzelt über ihre Wangen. Fynn verspürte den Drang, zu ihr zu gehen und sie in den Arm zu nehmen, doch er blieb wie Jan stumm an der Terrassentür stehen und beobachtete die Szene.

„Und was?“ Alexandra hob die Hände und zuckte mit den Achseln. „Was hätten sie bei dir gefunden? Drogen im Blut und Sperma von hunderten Männern aus Essen, von denen du dich hast flachlegen lassen?“ In dem Moment, in dem sie es ausgesprochen hatte, bereute sie ihre Worte. Wie versteinert stand ihre kleine Schwester vor ihr. Ihre ganze Mimik hatte sich binnen Sekunden von Wut zu Schock verwandelt. Entgeistert sah sie ihre Schwester an.

„Ich…“ startete Alexandra einen Versuch, es wieder gut zu machen, doch Jette wandte sich von ihr ab, ging an ihr vorbei und direkt durch die Terrassentür ins Freie.

„Wir gehen“, sagte sie zu Fynn gewandt, ohne ihn anzusehen, und machte sich auf den Weg zum Auto. Fynn folgte ihr wortlos.

„Jette“, Alexandra war ihr gefolgt. „Bitte“, sie versuchte, sie am Arm festzuhalten, aber ihre kleine Schwester entzog sich ihrem Griff.

„Fass mich nicht an!“ Ihr Ton war bissig und distanziert.

„Ich habe es nicht so gemeint…“, versuchte Alexandra erneut eine Entschuldigung. Tränen standen in ihren Augen.

„Du hast doch Recht“, Jette wirkte völlig kühl. Die Tränen, die noch vor wenigen Minuten in ihren Augen gestanden hatten, waren verschwunden. Ihr Blick war vollkommen emotionslos. „Wer hätte schon einer drogenabhängigen Schlampe geglaubt?!“ Ohne eine Reaktion ihrer Schwester abzuwarten, drehte sie sich um und verschwand durch die Pforte in den Vorgarten und zum Auto. Alexandra blieb im Garten zurück. Verzweifelt schüttelte sie den Kopf, als sie Jans Arm um ihre Schultern fühlte.

Fynn hatte sich neben seine Frau ans Steuer des Autos gesetzt. Vorsichtig legte er eine Hand auf ihr Knie, doch Jette entzog sich sofort seiner Berührung.

„Fahr!“, hörte er Jettes Befehl, die ihn nicht ansah, sondern aus ihrem Fenster schaute. Er wagte nicht, zu widersprechen. Die vierstündige Fahrt nach Köln schwiegen sie. Eine Fahrt, die ihm endlos vorkam.

„Cari?“ Erst spät am Abend im Bett traute Fynn sich, Jette anzusprechen.

„Mhm?“ Immerhin reagierte sie.

„Ich möchte, dass du weißt, wie auch immer du dich entscheidest: Ich unterstütze dich. Ob du den Vertrag unterschreibst oder nicht, es ist okay.“ Langsam drehte sie sich auf die Seite, sodass sie ihn ansehen konnte. „Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“ Ihre Augen waren nicht mehr so leer, so emotionslos wie vorhin bei ihrer Schwester. Fynn schenkte ihr ein Lächeln, in der Hoffnung, sie würde es erwidern. Tatsächlich kräuselten sich ihre Lippen ein wenig, bevor sie sich zu ihm neigte und mit ihren zarten Lippen die seinen berührte, ihre Hand unter der Decke in seine Boxershorts wanderte und Fynn keine andere Wahl blieb, als sie zu wollen, auf der Stelle.

Eine unerwartete Begegnung

Seit einer halben Stunde saß sie regungslos im Auto und starrte auf die Straße, auf der im Sekundentakt Fahrzeuge an ihr vorbeifuhren. In dem Café auf der anderen Straßenseite verschwanden immer wieder Menschen und kamen mit einem Heißgetränk in der Hand wieder heraus. Es war Dienstag. Sechs Tage waren vergangen, seit der Notar vor ihrer Haustür erschienen war und mit einem einzigen Schreiben ihr ganzes Denken ins Wanken gebracht hatte. Der Streit mit ihrer Schwester vor zwei Tagen hing ihr nach. Ihre Anrufe und Nachrichten hatte Jette ignoriert. Sie betrachtete die kleinen Bäume, die den Stadtgarten zierten. Die ersten Blätter hatten sich bunt gefärbt. Zarte Gelb- und Rottöne taumelten sachte im leichten Wind. Der Herbst löste langsam den Sommer ab. Unweigerlich dachte Jette an den Garten ihrer Schwiegereltern und an ihre Joggingstrecke. Die Allee, durch die sie fast jeden Tag lief, war im bunten Oktober so wunderschön, dass es Jette jedes Mal aufs Neue verzauberte. Das Hupen eines Autos ließ sie aus den Gedanken schrecken. Sie war nicht hier, um zu träumen. Seufzend nahm sie die Handtasche vom Beifahrersitz, wartete, bis die Straße frei war und stieg aus dem Auto. Auf dem Gehweg blieb sie stehen. Das Gebäude neben ihr ragte mächtig in den Himmel auf, gewaltig und erdrückend.

Am liebsten wäre sie sofort losgelaufen, nur weg. Der Stadtgarten erschien ihr plötzlich so unglaublich einladend. Jette schüttelte den Kopf. Nein, reiß dich zusammen, Jette, mahnte sie sich. Bevor sie die Gebäudetür öffnete, atmete sie noch einmal tief ein: Also los.

Das große Foyer war kaum wiederzuerkennen. Schon von Weitem erkannte sie die Infotafel neben dem Fahrstuhl. 2. Stock: Hoogwitz & Grauß, Leitungsbereich. Als sich die schwere Aufzugtür schloss, genoss sie den kurzen Moment des Unsichtbar seins - hier war sie allein. Wie von selbst hatte ihr Finger die Zwei betätigt. Als der Ton im Lift die Ankunft angekündigt und der Boden unter ihr nach einem kurzen Beben zum Stillstand gekommen war, merkte sie, wie das Adrenalin durch ihre Adern schoss. Die beiden schweren Türen des Fahrstuhls glitten auseinander und das helle Licht der bodentiefen Fenster des Empfangsbereichs verscheuchte den Anschein eines Escape-Rooms. Jette hob den Blick und atmete ein letztes Mal tief ein: Sie würde es schaffen. Und sie würde stark sein.

„Hallo, Maria.“ Das vertraute Gesicht hinter dem Empfangstresen half ihr, ihre Unsicherheit ein wenig runterzufahren.

„Henriette!“ Maria strahlte sie freudig an. Sie war alt geworden. Jette überlegte, wann sie das letzte Mal hier gewesen war. Sie musste siebzehn gewesen sein. Zwölf Jahre. „Wie schön, dich mal wieder zu sehen.“ Ihr Lächeln war ehrlich. Maria war immer freundlich zu ihr gewesen. Sie hatte keine Ahnung von den Geheimnissen und Lügen der Familie, für die sie arbeitete. Niemand hatte das.

„Ist mein Vater hier?“ Jette versuchte, sich auf ihr angenehmes, warmes Lächeln zu konzentrieren.

„Ja, er ist in seinem Büro.“ Sie machte eine Handbewegung den hellen Flur hinunter. „Immer noch die letzte Tür links. Geh ruhig zu ihm.“ Jette folgte ihrem Blick. Sie nickte.

„Danke“, mehr bekam sie nicht heraus. Langsam ging sie den Flur hinunter. Eine junge Mitarbeiterin kam ihr entgegen und grüßte sie freundlich. Jette kannte sie nicht. Vor der Bürotür ihres Vaters blieb sie stehen. Der Drang, umzukehren, in den Fahrstuhl zu steigen, die Tür hinter sich zu schließen und wieder unsichtbar zu werden, wuchs ins Unermessliche. Was tat sie hier? Warum hatte sie es ihrem Vater nicht gleichgetan und ihm ihre Antwort ebenfalls per Notar überbringen lassen? Warum war sie hier? Zögerlich hob sie die rechte Hand und klopfte an die Tür.

„Ja, bitte!“ Die Stimme ihres Vaters klang freundlich, distanziert, professionell, seine Bürostimme. Wenn Jette als Kind in der Firma angerufen hatte, war er genau mit dieser Stimme ans Telefon gegangen. Später, als Jugendliche, waren die seltenen Anrufe direkt auf sein Handy eingegangen, die eigentlich vertraute, freundlich-professionelle Stimme hatte sie dann nie gehört. Langsam drückte sie die Türklinke nach unten und öffnete die Tür. Als sie über die Schwelle trat, sah sie ihrem Vater direkt in die Augen. Das letzte Zusammentreffen war Jahre her. Ohne es steuern zu können, dachte sie an den Schlag ins Gesicht, seine verletzenden Worte, sein Desinteresse an ihr. Wut stieg in ihr hoch.

„Henriette!“ Erwartungsvoll sah er sie an. Jette schloss die Tür hinter sich. „Ich… wie geht es dir?“ Hatte er gerade wirklich gefragt, wie es ihr ging?

„Warum?“, fragte Jette stattdessen und entschied sich, die Frage zu ignorieren. Ihr Vater sah sie fragend an. „Die Firma war dir immer das Allerwichtigste. Warum willst du sie mir überschreiben?“ Sie musste es wissen. Seit der Notar bei ihr gewesen war, ging ihr diese Frage nicht mehr aus dem Kopf. Benjamin von Hoogwitz nickte langsam.

„Nachdem deine Mutter gestorben war, hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich bin gesundheitlich etwas angeschlagen, es ist nichts Dramatisches, aber ich möchte mich zurückziehen und nach all den Jahren im Business mehr an mich denken.“

„Warum ich?“ Jette kaute auf ihrer Unterlippe, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Sie war unsicher.

„Du bist die perfekte Nachfolgerin. Du bist die geborene Firmenchefin. Du wirst das Unternehmen noch erfolgreicher machen. Du weißt, wie man mit den Männern und Frauen aus unseren Gesellschaftskreisen umgehen muss. Du kannst deine eigenen Gefühle dem Wohl der Firma unterordnen. Du kannst Menschen überzeugen und ziehst alle Männer, also potenzielle Geschäftspartner, in deinen Bann.“

„Ja.“ Ihr Blick füllte sich mit Hass. Ihr Aussehen? Die Männer, die auf sie ‚abfahren‘ würden? Ihre Fähigkeit zu funktionieren? Das waren also seine Gründe, sie hier in die Firma holen zu wollen. Jette spürte, wie der Hass zur Enttäuschung wurde. Sie ärgerte sich über sich selbst. Was hatte sie erwartet? Hatte Alexandra Recht gehabt?

Hatte sie wirklich gehofft, Anerkennung zu erfahren? Sie öffnete ihre Handtasche und holte die Mappe des Notars heraus. „Ich kann die Firma nicht übernehmen.“ Sie ging die wenigen Schritte zum Schreibtisch und legte die Unterlagen darauf.

„Wenn es an dem Vertrag liegt, können wir ihn ändern.“

„Nein. Vielleicht sollte ich sagen „Ich WILL die Firma nicht.“ Sie schaute ihn direkt an. Während sie Wut fühlte, konnte sie sehen, wie sich seine Mimik ins Traurige veränderte. Hatte sie ihn mit ihrer Entscheidung getroffen? War er verletzt? Damals, als sie nach der Überdosis Drogen im Krankenhaus erwacht war und er an ihrem Bett gestanden hatte, hatte er ihr gesagt, wie enttäuscht er von ihr war, doch sein Blick hatte nur Verachtung und Desinteresse gezeigt.

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„Scheiße, das ist Jet!“ Mel lehnte sich mit aller Kraft gegen die Tür der Discotoilette, um sie trotz der regungslosen Person, die sie von innen versperrte, öffnen zu können. „Jet!“ Leichte Panik lag in ihrer Stimme, als sie sich endlich einen Weg zu ihr bahnen konnte und nun neben ihr auf dem Boden saß.

„Wir müssen einen Krankenwagen rufen!“ Mel sah zu Sabso hinter sich.

„Und dann? Sie ist im Drogenrausch, du weißt, wie die uns behandeln. Jet würde das nicht wollen.“

„Und was ist, wenn sie stirbt?“

„Keine Ahnung.“

„Also, ruf den Krankenwagen.“ Sabso gehorchte. Ohne ein weiteres Wort zog sie ihr Handy heraus und betätigte den Notruf.

„Wie lange ist sie schon ohnmächtig?“ Die Sanitäter waren nur kurze Zeit später eingetroffen. Der Teenager vor ihnen war nicht ansprechbar.

„Wissen wir nicht, wir haben sie hier gefunden.“ Der Sanitäter verdrehte die Augen. Immer diese typischen, drogenabhängigen Straßenkinder. Die Einsätze hatten sich in den letzten Jahren gehäuft. Informierte Eltern nahmen meist selbst Drogen oder hockten saufend in ihren kleinen Buden vor dem Fernseher, vollkommen desinteressiert am Leben ihrer Kinder.

„Was hat sie genommen?“ Mel und Sabso wechselten Blicke.

„Kommt Leute, das ist hier kein Spaß. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für Lügengeschichten.“

„Eigentlich nimmt sie nur Ecstasy.“ Wieder verdrehte die Sanitäterin die Augen. Während sie einen Zugang legte und weiter versuchte, das Mädchen vor sich anzusprechen.

„Wie alt ist sie?“

„Keine Ahnung“, sagte Mel, „wir kennen sie kaum.“ Der Blick des Sanitäters war eindringlich. „Fünfzehn“, verstohlen ging ihr Blick zu Boden, sie fühlte sich wie eine Verräterin.

„Und ihr?“

„Achtzehn“, antworteten sie beide wie aus einem Mund. Die Reaktion des Sanitäters war eindeutig. Er glaubte ihnen kein Wort, doch er beließ es dabei. Dafür war er nicht hier.

„Wie heißt sie?“ Die Sanitäterin hatte sich ihnen kurz zugewandt.

„Jet.“

„Und richtig?“

„Weiß ich nicht.“ Mel schaute zu Sabso.

„Keine Ahnung, Jet, Jet… Jette. Sie heißt Jette.“

„Wenigstens etwas“, raunte die Sanitäterin. „Jette? Kannst du mich hören?“ Ihre Stimme wirkte nun etwas sanfter. Jette reagierte nicht.

„Gabi?“ Der zweite Sanitäter hatte sich Jettes Handtasche genommen und darin ihren Personalausweis gefunden. Er hielt ihn seiner Partnerin hin. „Sie heißt Henriette. Henriette von Hoogwitz.“ Sein Blick war fast beschwörend.

„Was?“ Gabi nahm den Personalausweis entgegen, sie konnte es kaum glauben. Doch nun, wo sie es las, das Foto sah und auf das Mädchen vor sich blickte, war es ihr klar. Sie hatte sie schon einige Male in der Zeitung gesehen. Gabi schüttelte den Kopf. „Das darf doch nicht wahr sein.“ Sie gab den Ausweis zurück. „Henriette, hörst du mich? Hey, Liebes.“ Wie sehr sich ihre Stimme binnen Sekunden verändert hatte, fiel wohl nur Mel und Sabso auf. Sie klang nun liebevoll, besorgt, fast ängstlich. „Hey, wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus, alles wird gut.“ Sie streichelte ihr sanft über die Wange und das Haar.

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„Überdosis?“ Die diensthabende Ärztin und zwei Schwestern kamen ihnen im Flur der Notaufnahme entgegen. „Wissen wir, wer sie ist?“ Es wäre nichts Neues für sie, keinen Namen zu haben. Es würde laufen wie immer: Sie würde sie versorgen, aufpäppeln, sie würde versuchen, sie zu Hilfsangeboten zu überreden, aber am Ende würde sie vermutlich wie immer nichts machen können. Es tat ihr jedes Mal in der Seele weh.

„Ja.“ Gabi wartete, bis die Ärztin neben ihr aufgetaucht war. „Henriette von Hoogwitz.“ Ihr Blick war nicht weniger eindringlich, als der ihres Kollegen vorhin und die Mimik der Ärztin nicht weniger überrascht, als es ihre zuvor gewesen war.

„Wissen wir, was sie genommen hat?“

„Laut der Aussage ihrer Freundenimmt sie Ecstasy.“

„Okay. Danke. Ich übernehme.“

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„Na du.“ Langsam erwachte Jette aus ihrem Delirium. Das Licht in ihrem Einzelzimmer war gedämmt, eine Frau in weißem Kittel saß an ihrem Bett. Jette schaute sich verwirrt um. Panik kam in ihr hoch. Wo war sie? „Ganz ruhig.“ Jette spürte eine zärtliche Hand auf ihrer. „Du bist im Krankenhaus. Ich musste dir den Magen auspumpen.“ Der Blick der Ärztin war liebevoll. „Ich bin Anne, eine Ärztin hier. Du bist Henriette, richtig?“ Jette nickte stumm. „Wie fühlst du dich?“ Jette zuckte mit den Schultern. Sie fühlte sich grauenvoll. Ihr war schlecht, sie hatte Kopfschmerzen, ihr Hals tat weh.

„Haben Sie meine Eltern informiert?“

„Noch nicht.“ Jette war minderjährig, Anne war verpflichtet, Herrn und Frau von Hoogwitz über den Aufenthaltsort und den Zustand ihrer Tochter in Kenntnis zu setzen, aber irgendeine innere Stimme hatte sie zunächst davon abgehalten – man könnte es Intuition nennen, sie hatte zunächst mit Jette sprechen wollen.

„Aber Sie müssen!“ Jette registrierte ihr Nicken. Sie atmete schwer und wandte den Blick zur Seite.

„Henriette, seit wann nimmst du Drogen?“ Jette zuckte nur mit den Schultern.

„Ich kenne viele Mädchen, die zu Drogen greifen. Alle haben Probleme. Oft liegen sie im Elternhaus.“

„Wissen Sie, wer meine Eltern sind? Das sind die, die hier regelmäßige Charity-Veranstaltungen für die Kinderstation und die Herzabteilung abhalten und große Spenden bringen.“

„Ja, ich weiß.“ Wieder zuckte Jette mit den Schultern und drehte sich erneut weg.

„Henriette, als ich dich vorhin untersucht habe, warst du kurz wach, aber nicht ansprechbar. Du hast mich weggeschubst, ich sollte dich nicht anfassen. Du hast Nein gesagt und geweint. Geh weg und fass mich nicht an hast du mehrmals wiederholt. Dann hast du Hilf mir von dir gegeben. Du hast auf meine Fragen nicht geantwortet.“ Jette hatte sich ihr nicht wieder zugewandt, aber Anne konnte die Anspannung sehen, die auf ihrem Körper lag. „Henriette.“ Sie legte die Hand auf ihre Seite und Jette schreckte zusammen. Den leisen Seufzer, den sie von Anne vernahm, konnte sie nicht überhören. „Möchtest du mit mir reden? Ich bin Ärztin, ich habe eine Schweigepflicht.“

„Lassen Sie mich in Ruhe, okay?“ Jette hatte sich nun zu ihr gedreht und sah sie an. Ihre Augen funkelten voller Entschlossenheit. „Es geht mir gut. Und jetzt tun Sie Ihre Pflicht und rufen Sie an!“

„Henriette…“, versuchte Anne es erneut und sah sie verständnisvoll an. Sie war sich ihrer Intuition sicherer als je zuvor. „Ich weiß, dass…“

„Sie wissen gar nichts.“ Die Ärztin nickte.

„Das stimmt. Aber ich höre dir zu.“ Ihr Blick war freundlich, einladend. Nicht auffordernd. Jette hielt ihm stand. Sollte sie es ihr sagen? Was würde passieren? Ihre Eltern würden alles in ein anderes Licht rücken, sie als drogenabhängige Lügnerin darstellen, sie verbannen wie ihre Schwester. Nein, sie konnte nicht reden. Anne konnte sehen, wie das junge, verletzte Mädchen vor ihr nachdachte.

„Ich bin müde“, war das Einzige, was Jette sagte, bevor sie sich umdrehte und die Augen schloss. Anne stand auf.

„Okay.“ Noch einmal tätschelte sie ihr sanft die Hand, bevor sie Jette allein ließ. Die Tür war gerade hinter ihr ins Schloss gefallen, als die ersten Tränen über Jettes Wange liefen. Sie schlief erschöpft ein.

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„Henriette?“ Sie hörte die ihr bereits vertraute Stimme der Ärztin. Als sie die Augen öffnete, saß Anne wieder neben ihr. Die Frühjahrssonne warf ihre Strahlen durch das Fenster. „Hast du dich ein wenig ausruhen können?“ Jette nickte. „Deine Eltern sind informiert worden.“ Sie wirkte fast unangenehm berührt. „Dein Vater ist hier, er hat gefragt, ob er zu dir kann.“ Sie beobachtete Jette genau, wollte ihre Mimik lesen. „Du musst mir nur einen Grund nennen, ihn nicht zu dir zu lassen, und er bleibt draußen“. Anne wollte nicht aufgeben. Dieses junge Mädchen vor ihr hatte ein dunkles Geheimnis, da war sie sich sicher. Wieder sah Jette sie an – es kam ihr vor wie eine Ewigkeit.

„Mein Vater ist der größte Sponsor ihres Krankenhauses. Wollen Sie ihn wirklich verärgern?“ Sie sagte es ohne jegliche Regung.

„Das ist mir ziemlich egal. Hier geht es nur um dich.“ Jette spürte, wie Anne ihre Hand nahm. Aber sie hatte sich entschieden, kein Wort zu niemandem zu sagen.

„Lassen Sie ihn zu mir.“ Anne gab resigniert nach. Das Mädchen vor ihr würde nicht reden.

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Er stand am Fußende ihres Bettes. Groß und mächtig. Jette sah ihn an. Sein Blick war voller Verachtung. Hatte sie etwas anderes erwartet?

„Ich bin unglaublich enttäuscht von dir, Henriette von Hoogwitz.“ Seine Stimme war missbilligend und abwertend. Sie fühlte sich erniedrigt und verachtet. Sie war zu einer Schande geworden. Intuitiv dachte sie daran, sich zu entschuldigen, aber wofür? Sie schwieg. Sie hielt den Blick aus. Drei Minuten später verließ er den Raum. Er besuchte sie nicht wieder bis zu dem Tag, an dem sie entlassen wurde und er sie ohne ein weiteres Wort ins Internat gebracht hatte.

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Das hier war anders. Dieses Mal wirkte er ehrlich betroffen.

„Okay. Verstehe.“ Er lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Jette nickte, kehrte ihm den Rücken zu, öffnete die Tür und verließ sein Büro. Nur schnell weg hier, dachte sie, bog gedankenverloren nach links, bemerkte ihren Fehler, drehte sich um und stieß mit jemandem zusammen.

„Entschuldigen Sie, ich…“ Sie hob den Kopf und wollte sich gerade erklären, als sie in vertraute Augen blickte. „Janosch?“ Ungläubig stand sie vor ihm. „Was machst du hier?“

„Was machst du hier?“, fragte er gleichzeitig.

„Die Firma gehört meinem Vater“, antwortete Jette, obwohl Janosch ihren Vater selbstverständlich kannte. „Aber du?“

„Ich arbeite hier“, sagte er langsam und bedächtig. Jettes schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern war ihm durchaus bekannt. „Das Angebot war unschlagbar und als Chef ist er nicht verkehrt“, schob er hinterher, wusste aber nicht, ob es das wirklich besser machte. Fühlte sie sich nun von ihm verraten?

Er war ihr Freund gewesen und nun arbeitete er für ihren Vater, den sie so verachtete. Er betrachtete ihr zartes, wunderschönes Gesicht. Sie wirkte überrascht, aber nicht wütend. „Ich habe dich hier in den letzten drei Jahren nicht einmal gesehen. Ich wusste nicht, dass ihr wieder Kontakt habt.“

„Haben wir auch nicht.“ Sie sprach leise. „Mein Vater möchte mir die Firma überschreiben.“

„Oh, er hat gar nicht erwähnt, dass er aufhören will.“ Seine Mimik änderte sich abrupt. „Dann wirst du jetzt meine Chefin?“ Seine Stimme klang erfreut.

„Ich habe es abgelehnt.“ Drei Worte, die die kleine, in ihm emporkriechende Freude, wieder erlöschen ließen.

„Verstehe.“ Jette nickte. Sie fühlte sich immer noch unwohl in diesem Gebäude. Sie musste raus. Sie brauchte Luft.

„Es war schön, dich wieder zu sehen.“ Das war ehrlich gemeint. Sie freute sich wirklich.

„Ja …“ Janosch lächelte sie vorsichtig an. „Hast du vielleicht Zeit, mit mir noch einen Kaffee trinken zu gehen? Ich habe jetzt Mittagspause.“ Hoffnungsvoll sah er sie an.

„Ja, gerne“, sagte sie und lächelte ebenfalls.

Hauptsache raus hier.

Jette konnte die Freude über ihre Zusage in seinem Gesicht sehen. Als sie neben ihm am Empfang vorbeiging, sich von Maria verabschiedete und sich die Fahrstuhltür hinter ihr schloss, spürte sie Erleichterung. Von der Seite betrachtete sie Janoschs Profil. Er sah immer noch unverschämt gut aus: dunkle Haare, Dreitagebart, dunkle Augen.

Seine dichten Augenbrauen ließen seinen Blick immer etwas ernst wirken, doch seine schmalen Lippen lächelten und bildeten ein Grübchen auf der linken Seite. Auf seiner hohen Stirn bildeten sich langsam Geheimratsecken, die sein Gesicht noch markanter machten. Ein spitzes Kinn und enganliegende Ohren rundeten das Bild perfekt ab. Er war unglaublich attraktiv. Der Boden unter ihren Füßen ruckelte und die sich öffnende Fahrstuhltür wies ihnen den Weg ins Freie. Sie folgte ihm schweigend, bis sie den leichten Oktoberwind in ihren Haaren spürte.

„Was hältst du davon?“ Mit einer Kopfbewegung deutete er in Richtung des Cafés auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

„Ja, es ist neu, oder?“ Früher, vor vielen Jahren, als sie das letzte Mal hier gewesen war, hatte man in dem heutigen Café Bücher und Schreibwaren kaufen können. Janosch nickte.

„Auf jeden Fall ist es gemütlich und es gibt super Churros!“ Sein Lächeln kam ihr so vertraut vor. Auf dem Weg zur Ampel, über die Straße und bis an ihren Platz im Café schwiegen sie. Es war keine peinliche Stille. Jette genoss einfach den Augenblick, obwohl sie ihm eigentlich so viel zu sagen hätte. Als sie am Tisch saßen, beobachtete sie, wie Janosch sie unverblümt musterte. Er bemühte sich erst gar nicht, seine Blicke zu verstecken. Ihre enganliegende schwarze Lederhose betonte ihre langen, schlanken Beine. Das beige Top mit dem schwarzen Rand oberhalb der Brust trug sie unter einem weißen Blazer. Elegant wie sexy.

Die schwarzen Ohrringe und High Heels in Kreuzschnallen-Optik harmonierten wie immer perfekt mit dem Rest des Outfits. Ihre schwarzen Haare trug sie offen.

„Du bist immer noch die schönste Frau, die ich je gesehen habe“, sagte er aufrichtig und fasziniert. Jette lächelte. „Wie geht es dir?“ Janosch hatte sich gesammelt. „Ist Köln so, wie du es dir erträumt hast?“

„Mir geht’s gut.“ Sie lächelte. „Und ja, Köln ist wundervoll. Wie geht’s dir?“

„Auch gut. Wie geht’s Lea und Marc? Arbeitest du noch bei Benzens?“

„Ja, ich leite die Marketingabteilung. Ich liebe meinen Job.“ Er konnte die Euphorie in ihren Augen sehen. „Und Lea und Marc sind verliebt wie eh und je.“ Sie verdrehte theatralisch die Augen. Früher, im Internat, hatten sich Janosch und sie immer darüber lustig gemacht, wie unzertrennlich Lea und Marc gewesen waren.

„Ich habe nichts anderes erwartet“, erwiderte Janosch, als würde er ihre Gedanken erraten. „Und du, du hast auch jemanden gefunden?“ Jette folgte seinem Blick, der zu ihrer Hand, ihrem Ringfinger wanderte, zu ihrem Ehering.

„Ja. Tatsächlich.“ Das Strahlen in ihren Augen und auf ihren Lippen, als sie an ihren Mann dachte, war nicht zu übersehen.

„Du siehst glücklich aus. Du strahlst“, sagte Janosch, dem bei ihrem Lachen ganz warm ums Herz wurde. Er konnte sich diesem wundervollen Leuchten nicht entziehen.

„Ich bin auch glücklich!“ Jette sah ihm in die Augen.

„Fynn, richtig?“

„Stalkst du mich?“ Sie sah ihn gespielt misstrauisch an, doch ihr Lachen verriet sie.

„Vielleicht … Ich schaue ab und an bei Facebook oder Instagram, was du so machst. DAS hast du mir nicht verboten.“ Er lachte, doch Jette fühlte Schuldgefühle in sich aufsteigen. Ihr Strahlen verschwand.

„Janosch, ich…“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich konnte es damals nicht. Weißt du…“

„Du brauchst es nicht zu erklären.“ Er unterbrach sie lächelnd. „Das war kein Vorwurf.“ Seine Worte waren ehrlich, er warf ihr nichts vor. Das hatte er nie getan. Er hatte immer akzeptiert, dass sie nicht mehr von ihm wollte als Sex und eine gewisse Art von Freundschaft. Er hatte sie nie zu mehr gedrängt, obwohl er sie geliebt hatte.

„Ich weiß. Aber ich möchte es, bitte.“ Sie sah ihm tief in die Augen. Sie hatte ihm so viel zu sagen. Vermutlich mehr, als sie bereit war, auszusprechen. Er wusste so vieles von ihr nicht.

„Okay.“ Janosch lehnte sich nickend vor und stützte den Kopf auf die Handrücken. Er wartete. Er würde ihr zuhören. Auch Jette nickte leicht. Auf ihre Lippen legte sich ein Lächeln, aber sie war nervös.

„Du hast mir gesagt, dass du mich liebst. Du hast mich gebeten, dich Teil meines Lebens sein zu lassen, aber ich konnte es nicht. Du hattest Recht, Janosch. Ich hatte Gefühle für dich. Die ganzen Jahre über. Aber ich hatte wahnsinnige Angst. Ich konnte diese Gefühle nicht zulassen. Ich habe sie mir selbst verboten, sie verdrängt und mir eingeredet, dass da nichts ist. Das musste ich tun. Ich hatte solche Angst, verletzt zu werden.“

Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre Augen schienen zu funkeln, doch sie wich seinem Blick nicht aus.

„Ich hätte dich nie verletzt, Jette!“, Janoschs Hand zuckte, als würde er nach der ihren greifen wollen, doch er tat es nicht.

„Doch, hättest du“, sagte sie ohne Wertung oder Vorwurf in der Stimme. „Und ich hätte dich verletzt. In der Liebe passiert das. Es gehört dazu.“ Sie bemerkte seine kaum sichtbare Zustimmung. „Aber damals wäre ich damit nicht klargekommen. Es hätte mich zerbrochen. Und das konnte ich nicht riskieren.“

„Verstehe.“ Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte. Auch, wenn er sie eigentlich nicht verstand. Er wusste, dass sie Angst hatte. Das hatte er schon damals gewusst. Aber er hatte nie wirklich verstanden, wovor.

„Ich bin weggelaufen. Ich habe dir weh getan und das tut mir wahnsinnig leid“, Reue lag in ihrem Blick und Schuldgefühle.

„Es ist viele Jahre her, Jette. Es ist okay.“ Er lächelte.

„Ja, es ist lange her. Aber das ändert nichts daran, dass ich dich jahrelang hingehalten habe.“

„Das hast du nicht. Du hast immer deutlich gemacht, dass es nicht mehr sein wird.“

„Lea wollte immer, dass du mein Prinz auf dem Pferd wirst.“ Sie lachte.

„Na, der Prinz ist ja gekommen. Und da warst du bereit, die Angst hinter dir zu lassen.“ Jette konnte den Schmerz hinter seinen Worten nicht überhören.

„Nein, ich war auch da nicht bereit“, erwiderte sie wahrheitsgetreu. „Aber Fynn hat nicht lockergelassen.“

Beim Gedanken an seine Hartnäckigkeit musste sie grinsen.

„Dann habe ich wohl zu früh aufgegeben, was?“ Jette schüttelte energisch den Kopf. SO hatte sie das nicht gemeint.

„Du hast akzeptiert, worum ich dich gebeten habe. Und das war genau richtig. Janosch, ehrlich. Ich konnte es dir damals nicht sagen, ich konnte es mir nicht eingestehen. Aber ich habe Gefühle für dich gehabt. Ich war verliebt. Du hast gewusst, dass da immer mehr zwischen uns gewesen ist. Was meinst du, warum ich dir damals am See so plötzlich gesagt habe, dass ich nicht mehr mit dir schlafen werde? Weil meine Gefühle mich an diesem Abend am Feuer, meine Hand in deiner, übermannt haben. Ich habe Panik bekommen.“ In seinen Augen konnte sie sehen, wie seine Gedanken von der Gegenwart in die Vergangenheit wanderten. Am nahegelegenen See des Internats hatten sie nebeneinander auf dem Baumstamm am Lagerfeuer gesessen. Es war später Abend gewesen, die Sterne hatten am Himmel gefunkelt. Sie war ihm ganz nah gewesen, er hatte ihren Oberschenkel an seinem gespürt. Er hatte ihre Hand gehalten und ihren Handrücken gestreichelt. Bis sie sich plötzlich entschuldigt hatte, aufgestanden und gegangen war. Als sie ihm geschrieben hatte, hatte er gedacht, sie hätte mit ihm schlafen wollen, doch im Gegenteil. Sie hatte ihm mitgeteilt, dass sie nie wieder diese Art von Nähe haben würde. Freundschaft ja, Sex nein. Sie hätte es schon viel zu lange zugelassen. Er hatte es ohne Widerworte akzeptiert. Was sonst hätte er tun sollen?

„Danke für deine Worte.“ Jette hatte seinen Gedankengang nicht unterbrochen. „Ich habe immer nur gewollt, dass du glücklich bist. Und das bist du. Das ist wundervoll, zu sehen.“ Sein Lächeln und sein Blick waren ehrlich. Jette fühlte, wie ihr das Herz leichter wurde. Sie hatte ihm noch so viel mehr zu sagen. Aber für heute konnte sie nicht mehr loswerden. Es war genug. „Es ist schade, dass du das Angebot deines Vaters ausgeschlagen hast“, sagte er für Jette zu plötzlich. Sie war noch zu sehr mit dem Thema der Vergangenheit beschäftigt.

„Was?“ Sie wirkte irritiert.

„Ich hätte dich gerne als meine Chefin gehabt.“

„Als Chef soll Benjamin von Hoogwitz doch viel bessere Qualitäten haben, denn als Vater.“ Ihre Stimme hatte sich verändert. Eine Eigenschaft, die Janosch noch sehr vertraut war. Ihre Eltern waren das schwarze Tuch in ihrem Leben, das No-Go-Thema.

„Er ist absolut in Ordnung, aber du wärst unschlagbar.“

„Du weißt, wie das Verhältnis zu meinen Eltern ist. Auch wenn mein Vater die Firma verlassen würde, könnte ich nicht in seine Fußstapfen treten.“

„Aber es geht doch gar nicht darum, in seine Fußstapfen zu treten.“ Janosch sah sie ernst an. „Du würdest es nicht wie er machen. Du würdest es wie Jette machen. Alles, was du an der Firma, deinen Eltern, dem Führungsstil, ihrem Auftreten kritisiert hast, würdest DU besser machen. Du hast die einmalige Möglichkeit, es zu ändern. Du kannst die Firma authentisch machen, ohne gespieltes Image, sondern echt. All das, was du immer verabscheut hast, könntest du ändern. DU könntest Hoogwitz & Grauß ganz neu definieren mit deinem Gesicht, deinen Entscheidungen und deinem Handeln.“ Er wirkte fast euphorisch. Jette konnte nichts sagen. Seine Worte brannten sich in ihr Hirn, in ihr Herz, kreisten durch ihre Gedanken und nahmen sie komplett ein. Es war eine ganz neue Sichtweise. Ein ganz neuer Gedankengang. „Tut mir leid.“ Janosch berührte kurz, kaum merkbar, ihre Hand. Jette schüttelte den Kopf und drängte diese Gedanken zurück. „Es ist natürlich absolut okay. Es ist deine Entscheidung. Dein Leben. Ich habe nicht das Recht, mich da einzumischen.“

„Schon gut.“ Sie versuchte ein Lachen. „Ich habe mich dagegen entschieden. Ich habe einen Job, den ich liebe, und mein Leben in Köln. Genauso, wie ich es wollte.“

„Und das ist toll, Jette. Wirklich. Es wäre nur schön, dich öfter sehen zu können“, sagte er ehrlich. Jette grinste.

„Darf ich?“ Sie deutete auf sein Handy.

„Ja.“ Er nahm sein Mobiltelefon, öffnete es per Face-ID und hielt es ihr hier hin. Jette speicherte ihre Nummer ein und gab es ihm zurück.

„Du hast die offizielle Erlaubnis, mir zu schreiben.“ Sie lächelte keck. Das war eine Anspielung auf ihr Kontaktverbot vor über zehn Jahren. Janosch konnte sich ihrem Lachen wieder einmal nicht entziehen. Sie hatte eine magische Wirkung auf ihn, damals wie heute. Jette warf einen Blick auf das Display ihres Handys. „Ich muss langsam los. Ich muss noch arbeiten“, sagte sie entschuldigend.

„Ja, ich auch. Meine Mittagspause ist gleich zu Ende.“ Er spürte Wehmut in sich aufkommen.

Sie in seiner Nähe zu haben, war ein Gefühl, dass er vermisst hatte. Jette hob die Hand und winkte der Kellnerin.

„Getrennt oder zusammen?“, fragte diese mit einem freundlichen Lächeln. Janoschs Blick ging zu Jette. Fragend. Sie wusste genau, was er wollte. Sie nickte.

„Zusammen“, antwortete er und bezahlte. „Das war das erste Mal, dass ich dich habe einladen dürfen“, stellte er fest, als sie wieder allein waren.

„Ja, das ist etwas, das ich in den letzten Jahren gelernt habe.“ Ihre Lippen umspielte ein leichtes Lächeln. Während sie das Café verließen und die Straße überquerten, schwiegen sie. Wieder war es eine angenehme Stille. Sie genossen einfach nur den Augenblick. „Da ist mein Auto.“ Jette blieb auf dem Gehweg stehen.

„Okay.“ Janosch wirkte traurig. „Pass auf dich auf.“ Er sah ihr tief in die Augen und fühlte sich plötzlich zurückversetzt an ihren letzten Tag im Internat. Sie war einfach in das Auto gestiegen und er hatte über ein Jahrzehnt nichts mehr von ihr gesehen oder gehört.

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„Du fährst, ohne dich zu verabschieden?“ Janosch war verletzt, doch das wollte er sich nicht anmerken lassen. Jahrelang hatte er gehofft, jahrelang hatte er sie geliebt, ohne es je ausgesprochen zu haben. Er hatte immer gewusst, dass er nicht mehr von ihr erwarten konnte. Nie hatte sie ihm Hoffnungen gemacht, bis zur letzten Nacht. Sie war bei ihm geblieben, hatte in seinen Armen geschlafen, hatte ein Gefühl geäußert. Und da war sie gewesen, die Hoffnung, sie für sich gewinnen zu können.

„Tschüss“, sagte sie und ein atemberaubendes Lächeln legte sich über ihr Gesicht. Er musste es ihr sagen, er musste es aussprechen. Auch wenn er wusste, dass sie es nicht hören wollte. Es war seine einzige Chance.

„Du weißt, dass ich dich liebe.“ In dem Moment, in dem er es ausgesprochen hatte, verschwand ihr Lachen. Er konnte die Panik in ihren Augen sehen. Janosch hatte nichts anderes erwartet, doch er sprach weiter. „Und ich weiß, dass du auch etwas für mich empfindest.“ Er hielt ihren Blick.

„Janosch, lass uns dieses Gespräch nicht führen. Bitte!“ Ihre Stimme war flehend, aber er war nicht gewillt, diese Unterhaltung abzubrechen.

„Wenn nicht jetzt, wann dann? Das hier ist wahrscheinlich meine letzte Gelegenheit. Ich hätte dieses Gespräch schon viel eher führen müssen. Das zwischen uns geht jetzt seit dreieinhalb Jahren. Da ist so viel, so viel mehr, Jette.“ Er war sich sicher, dass sie Gefühle für ihn hatte.

„Ich kann nicht.“ Sie wirkte plötzlich unglaublich verunsichert und verletzlich. So hatte er sie noch nie gesehen. Warum konnte sie sich ihre Gefühle nicht eingestehen? Wovor rannte sie weg?

„Warum nicht?“

„Ich will nach Köln!“ Keine Begründung.

„Das eine schließt das andere nicht aus.“

„Ich brauche einen Neuanfang.“ Ihre Aussagen stellten ihn nicht zufrieden. Sie durfte nicht aus seinem Leben verschwinden.

„Lass mich Teil deines Neuanfangs sein.“ Er versuchte, ihre Hand zu ergreifen, doch sie ließ seine Nähe nicht zu.

„Janosch…“ Verstohlen und verloren schaute sie zu Boden. Einige Sekunden lang war es still. Noch einmal griff er vorsichtig nach ihrer Hand. Sie ließ es geschehen.

„Lass es uns versuchen.“ Die Hoffnung in ihm wuchs. Diese Nähe, die sich gerade zwischen ihnen ergab, war größer, war inniger als die vielen Male, in denen er mit ihr geschlafen hatte. Sie war echt. Doch als sie den Blick hob und ihm wieder in die Augen sah, erlosch die Hoffnung.

„Es tut mir leid“, sagte sie und entzog sich seiner zärtlichen Berührung. Seine Hand sank herab, er hatte es nicht geschafft.

„Ich werde nichts mehr von dir hören, oder?“ Er rechnete nicht mehr mit einer positiven Antwort. Sie beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. Eine sanfte Berührung ihrer Lippen. Er schloss die Augen. Jette biss sich auf die Unterlippe, während sie leicht den Kopf schüttelte.

„Und ich bitte dich, es auch nicht zu versuchen.“ Ein Verbot. Sie erwartete von ihm, sie nicht zu kontaktieren. Sie würde einfach aus seinem Leben verschwinden. Und Janosch wusste, dass er ihren Wunsch akzeptieren würde. Wie er es immer getan hatte.

„Jette?“ Sie hatte sich bereits abgewandt. „Pass auf dich auf!“, sagte er, als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte, bevor sie ihn für immer den Rücken zukehrte.

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„Du hast jetzt meine Nummer“, sagte Jette lächelnd und holte ihn aus seinen Gedanken zurück. „Ich habe das Kontaktverbot aufgehoben, schon vergessen?“

„Für einen Moment, ja.“

„Ich verschwinde nicht einfach wieder, Janosch. Du kannst uns besuchen kommen. Lea und Marc freuen sich bestimmt auch.“

„Bestimmt. Marc hat mich oft nach Köln eingeladen.“

„Du hast Kontakt zu ihm?“ Jette wirkte fast geschockt.

„Kaum noch. Am Anfang ja, aber es hat sich verlaufen. Wir gratulieren uns nur noch zu Geburtstagen.“ Er beobachtete ihre Reaktion genau. „Ich musste doch wissen, wie es dir geht.“ Er grinste und ließ es so aussehen, als solle sie diese Worte nicht ernst nehmen. Doch eigentlich war das genau der Grund gewesen. Er hatte wissen müssen, wie es ihr ging.

„Dieser Verräter.“ Auch sie setzte ein Lächeln auf. Dennoch dachte sie an ihre erste Zeit in Köln. Wie viel hatten Marc und Janosch über sie geschrieben? Was hatte er ihm erzählt? Janoschs Lachen holte sie aus ihren Gedanken.

„Ich komme euch gerne mal besuchen.“