Das Schneeflockenmädchen - Mara Andeck - E-Book

Das Schneeflockenmädchen E-Book

Mara Andeck

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Beschreibung

Die perfekte Lektüre für kalte Wintertage – so herzerwärmend und romantisch wie »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«

Rothenburg ob der Tauber, Dezember 1925. Marie zieht als Märchenerzählerin mit einem Pferdewagen von Weihnachtsmarkt zu Weihnachtsmarkt. Sie besitzt nur wenig, doch sie gibt viel: Den Bauersleuten, die ihr Kost und Logis gewähren, und den Kindern in den Dörfern schenkt sie mit ihren Geschichten Mut und Hoffnung. Ist das Zauberei? Haben die uralten Märchen heilende Kräfte? Der junge Zuckerwatteverkäufer Carl will mehr über Marie herausfinden. Er folgt ihr durch die tief verschneite Winterlandschaft – und verliert schon bald sein Herz an sie ...

Ein wunderbarer Wohlfühlroman über die Magie des gesprochenen Wortes und die Macht der Liebe

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Seitenzahl: 340

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Dezember 1925. An einem kalten Wintertag rumpelt ein Pferdewagen auf den verschneiten Marktplatz von Rothenburg ob der Tauber. Er ist mit geschnitzten Schneeflocken verziert und wird von einer braunen Kaltblutstute gezogen. Auf dem Kutschbock sitzt eine junge Frau mit einem großen Hund. Es ist die fahrende Märchenerzählerin Marie Steinhoff. Die Kinder, die bald aus allen Richtungen herbeiströmen, nennen sie das »Schneeflockenmädchen«.

Direkt neben Maries kleinem Märchentheater hat der junge Student Carl Winterhagen seinen Zuckerwattestand aufgebaut. Bald ist er ebenso fasziniert von seiner geheimnisvollen Standnachbarin wie die Kinder, denn Maries Worte sind voller Magie.

Am selben Abend trennen sich die Wege der Märchenerzählerin und des Zuckerwatteverkäufers wieder, doch es wird nicht ihre letzte Begegnung sein …

Weitere Informationen zu Mara Andeck

sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin

finden Sie am Ende des Buches.

MARA ANDECK

Das

SchneeflockenMädchen

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe September 2025

Copyright © 2025 by Mara Andeck

Copyright © dieser Ausgabe 2025 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotive: FinePic®, München; Sandra Cunningham / Trevillion Images

LS · Herstellung: ik

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-32779-8V001

www.goldmann-verlag.de

Für alle, die den märchenhaften Zauber von Weihnachten lieben, verschneite Winterwälder, Lichterfunkeln, Kaminfeuer, den Duft von Vanille und Zimt.

Und alte Märchenfilme wie Drei Haselnüsse für Aschenbrödel.

Und wie sie so stand und gar nichts mehr hatte, da fielen auf einmal die Sterne vom Himmel.

(Gebrüder Grimm, Sterntaler)

Prolog

Waldenburg, 3. Dezember 1905

1. Advent

Fedrige Schneeflocken sanken wie Daunen vom Himmel und verwandelten die Berge in eine glitzernde Wunderwelt. Die Äste der Fichten und Tannen bogen sich schwer unter der Last des Schnees. An den kahlen Zweigen der Buchen funkelten winzige Eiszapfen in der Nachmittagssonne. Die Luft war klar und frisch.

Hölzerne Schneepflüge, von Pferden gezogen, hatten die Hauptstraßen schon im Morgengrauen geräumt. Doch der schmale Weg, auf dem Marie an der Hand ihrer Mutter durch den Wald stapfte, war knöcheltief mit Schnee bedeckt.

»Hast du kalte Füße, mein Schatz?«

Marie schüttelte den Kopf. Um nichts in der Welt hätte sie zugegeben, dass die nagelneuen roten Lackstiefelchen, die sie sich so sehnlichst vom Nikolaus gewünscht hatte, längst durchweicht waren und ihre Füße sich wie Eisklötze anfühlten. Sonst durfte sie die Stiefel beim nächsten Spaziergang ganz bestimmt nicht mehr tragen. Und sie passten doch so wunderbar in den Wintermärchenwald.

Ihre Mutter schien die Wahrheit zu ahnen. »Wir haben es gleich geschafft«, sagte sie tröstend und fasste Maries Hand ein bisschen fester. »Dann setzen wir uns an den Kamin und trinken eine heiße Schokolade mit Zimt.«

Eine Viertelstunde später standen die Stiefelchen sorgfältig mit Zeitungspapier ausgestopft am Küchenofen. Die nassen Mäntel hingen zum Trocknen davor.

Marie saß, an ihre Mutter gelehnt, auf dem weinroten Samtsofa im Salon. Sie nippte an einer dickwandigen weißen Tasse mit würziger Trinkschokolade, eine weiche Wolldecke wärmte ihre Füße. Im Kamin knackte ein Holzscheit, aus dem Nebenzimmer hörte sie den leisen Klang einer Violine. Der Vater übte für sein nächstes Konzert.

Marie blendete die Musik aus und konzentrierte sich ganz auf die sanfte Stimme ihrer Mutter, die aus einem Buch ein Märchen vorlas. Es handelte von einem armen Waisenmädchen, das all sein Hab und Gut anderen Menschen gab, bis es selbst gar nichts mehr besaß. Da fiel auf einmal ein Sternenregen vom Himmel.

»Die Sterne fielen ihr auf den Kopf?«, wollte Marie wissen.

»Stell es dir so ähnlich vor wie die Schneeflocken eben im Wald. Als die funkelnden Sterne die Erde berührten, verwandelten sie sich in Goldtaler. Und obwohl das kleine Mädchen sein letztes Hemdlein weggegeben hatte, besaß es plötzlich ein neues aus allerfeinstem Leinen. Es sammelte die Taler auf und war von nun an reich.«

Marie richtete sich auf. »Reich? So richtig steinreich?«

Die Mutter strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Hand roch nach Vanille, sie hatte am Vormittag Plätzchen gebacken. »Ja, sie hatte bis an ihr Lebensende genug Gold. Was auch immer sie tat, die Taler gingen ihr nie aus.«

»Sie konnte sich also alles kaufen?«, hakte Marie nach. »Auch eine Puppe?«

»So viele Puppen, wie sie nur wollte.«

»War das Zauberei?«

»Nein, es war ein Wunder. Gott hat das Mädchen belohnt, weil es sogar in größter Armut nur an andere und nie an sich selbst gedacht hatte.«

Marie runzelte die Stirn. »Und ihre Eltern? Waren die nach dem Wunder auch wieder lebendig?«

Die Mutter schüttelte den Kopf. »Nein, kein Wunder kann Tote zum Leben erwecken. Das Mädchen war noch immer ein Waisenkind.«

Marie schmiegte sich enger an ihre Mutter. »Dann war das Mädchen bis an sein Lebensende reich, aber traurig«, sagte sie leise.

»Nein, das war sie nicht.« Die Mutter legte beide Arme um Marie. Ihre Stimme klang klar und bestimmt. »Ein paar der Sterne haben sich nämlich nicht in Taler, sondern in goldene Erinnerungen verwandelt. Sie haben für das Mädchen geleuchtet und es froh und glücklich gemacht.«

»Erinnerungen an ihre Eltern?«

»Ja. Und an viele, viele glückliche Stunden.«

Marie kuschelte sich tiefer in die Wolldecke. Sie überlegte, welche glücklichen Erinnerungen das wohl gewesen sein konnten. An Winterspaziergänge durch den weiß verschneiten Wald vielleicht? Oder an einen glitzernden Weihnachtsbaum?

Mit diesen Gedanken schlief sie warm und geborgen ein.

Kapitel 1

Rothenburg, 29. November 1925

1. Advent

Rosarote Wolken zogen über den Abendhimmel. Vor Maries Pferdegespann schlängelte sich eine schneebedeckte Straße in weiten Kurven sanft den Berg hinauf. Auf der Kuppe musste die kleine Stadt Rothenburg liegen, doch noch war sie nicht zu sehen. Sträucher mit blauen Schlehen und roten Hagebutten säumten den Straßenrand. Sie trugen Häubchen aus Schnee, die im Licht der untergehenden Sonne wie Zuckerguss aussahen. Maries weihnachtlich geschmückter Pferdewagen, der rundum mit geschnitzten Schneekristallen verziert war, passte perfekt in dieses glitzernde Winterwunderland. Als wäre er Teil eines Gemäldes aus längst vergangenen Zeiten.

In Ruhe betrachten konnte Marie dieses Bild allerdings nicht. Ein kalter Wind fegte über die Schneelandschaft hinweg und trieb eisige Körnchen in ihr Gesicht, die wie Nadelstiche schmerzten. Sie zog die Kapuze ihres Mantels tiefer in die Stirn, packte den Zügel der Stute fester und stapfte mit gesenktem Kopf durch den Schnee. Dabei dachte sie unwillkürlich an die roten Stiefelchen zurück, die sie als Fünfjährige besessen hatte. Wunderschön waren sie gewesen. Und die nassen, kalten Füße, die sie darin bekommen hatte, allemal wert. Die klobigen Treter hingegen, die heute an ihren Fersen scheuerten, waren die hässlichsten Schuhe, die sie je besessen hatte. Als Entschädigung dafür hätten sie wenigstens warm sein sollen – was sie aber leider nicht waren. Das alte braune Leder sog Schneewasser auf wie ein Schwamm, und Maries Zehen fühlten sich an wie Eisklumpen.

Sie seufzte. Am liebsten wäre sie auf den Kutschbock geklettert, hätte die nassen Schuhe gegen trockene Wollsocken eingetauscht und die Füße in ihrer wärmenden Wolldecke vergraben. Doch die Straße führte schon eine ganze Weile bergauf, und die Hufe des Pferdes hinterließen im frischen Schnee tiefe Abdrücke. Rosinante, genannt Rosi, war zwar eine junge, kräftige Kaltblutstute, die den kleinen Schäferwagen mit Leichtigkeit zog. Aber wenn sie jetzt ins Schwitzen kam, drohte sie sich nachher auf dem Weihnachtsmarkt zu erkälten, und das konnte gefährliche Folgen haben. Daher wollte Marie die Last des Wagens auf gar keinen Fall mit ihrem Gewicht erhöhen. Lektion eins für Pferdebesitzer, hallte die Stimme ihrer Lehrmeisterin durch ihre Gedanken: DasPferd geht vor. Immer.

Zum Glück konnte es jetzt wirklich nicht mehr weit sein. Sie hatte Steinsfeld schon vor mehr als einer Stunde verlassen. Es war mittlerweile fast dunkel. Da vorne, am Ende der Straße, war das nicht schon ein fernes Leuchten? Vielleicht die ersten Lichter der Stadt?

»Los, Rosi, Endspurt! Das schaffen wir«, spornte Marie die braune Stute an.

Wie zur Bestätigung schnaubte Rosi und beschleunigte den Schritt.

Am Wegesrand knackten Zweige, ein dunkler Schatten brach durchs Dickicht.

Marie erschrak, aber dann musste sie lachen. »Jaro! Da bist du ja, du alter Räuber«, begrüßte sie den zotteligen schwarzen Hund, der freudig auf sie zusprang. »Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Hoffentlich hast du dich wenigstens den Kaninchen gegenüber wie ein Kavalier verhalten.« Sie bedachte den großen Mischlingsrüden mit einem gespielt strengen Blick.

Doch der umtanzte seine Besitzerin völlig unbeeindruckt, jetzt bellte er sogar.

»Du willst mir sagen, dass wir kurz vor der Stadt sind, nicht wahr?« Marie wuschelte durch das schneebestäubte Hundefell. »Das weiß ich schon. Hopp, auf den Wagen mit dir! Nicht dass du mir noch die Leute erschreckst.«

Mit einem Satz sprang Jaro auf den Kutschbock des Pferdewagens. Er schüttelte sich, dass die Flocken nur so stoben, rollte sich zufrieden vor der Sitzbank zusammen und beobachtete mit wachem Blick seine Umgebung.

Tatsächlich tauchten kurz darauf rechts und links des Weges die ersten beleuchteten Höfe aus der Dämmerung auf, gefolgt von Straßenlaternen, in deren Lichtkegeln feine Schneeflocken wie Funken glitzerten.

Aus einer Seitenstraße näherten sich drei Kinder. Zwei Mädchen zogen einen Schlitten hinter sich her, auf dem ein großer Korb mit rotbackigen Äpfeln und ein kleinerer mit Maronen standen. Ein dick eingemummelter Dreikäsehoch, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, hinkte neben dem Schlitten her. Sie bogen vor Marie auf die Hauptstraße ein.

Die Häuser wurden größer und städtischer. Und dann tauchte schemenhaft eine mittelalterlich anmutende Stadtmauer mit schneebedeckten Türmen aus dem Flockengestöber auf. Marie trieb Rosi ein letztes Mal an und folgte den Kindern durch ein großes Tor.

Jenseits der Mauer begann eine andere Welt: Der hohe Steinwall schützte die Stadt so gut vor Kälte und Wind, dass dahinter, mitten im Schnee, eine letzte Rose blühte. Häuser in allen Pastellfarben säumten die Gasse. Sie drängten sich so dicht aneinander, als wollten sie nichts verpassen, was in ihrer Mitte geschah. Die Dächer trugen weiße Mützen aus Schnee. Hinter fast jedem Fenster brannten Kerzen. Zusammen mit den schmiedeeisernen Straßenlaternen tauchten sie die Gasse in goldenes Licht. Der Schnee dämpfte die Geräusche der Hufe und Räder auf dem Kopfsteinpflaster, und entfernte Posaunenklänge erfüllten die Luft.

Marie musste lächeln, als sie das Lied erkannte: Leise rieselt der Schnee. Wie passend. Hier in der Stadt gab es keine nadelspitzen Eiskristalle, hier rieselten die Flocken tatsächlich friedvoll und still vom Himmel.

Weiter vorn hob sich ein hoher Turm vom dunklen Nachthimmel ab, der Marie an Rapunzel erinnerte. Auf einem Steinpfosten davor saß eine schwarze Katze mit weiß gestiefelten Pfötchen und einer so wichtigen Miene, als gehöre ihr die ganze Stadt. Was für eine wundervolle Kulisse für die Märchen, die Marie gleich erzählen würde.

Die Kinder vor ihr liefen jetzt langsamer, weil sie sich immer wieder nach dem Pferdewagen umdrehten. Der hinkende Junge, der das Schlusslicht bildete, blieb schließlich stehen. Mit wachen blauen Augen musterte er erst Marie, dann Rosi und zuletzt Jaro auf dem schneeflockenverzierten Wagen. Von Nahem wirkte er älter, als Marie gedacht hatte, vermutlich war er klein für sein Alter.

»Guten Abend«, sagte sie freundlich. »Weißt du zufällig, wo der Marktmeister wohnt?« Sie griff in ihre Manteltasche und tastete nach dem Briefumschlag, den sie gleich benötigen würde. »Ich möchte mich bei ihm für den Weihnachtsmarkt anmelden. Man hat mir gesagt, sein Haus sei beim Seelbrunnen.«

Der Junge nickte eifrig. »Das ist gleich rechts hinter dem Weißen Turm. Ich muss auch in die Richtung. Ich komme mit.« Er trat neben Rosi und tätschelte ihren Hals. »Ich bin übrigens Gustav.« Ohne eine Antwort abzuwarten, rief er den beiden Mädchen mit dem Schlitten zu: »Geht schon mal voraus! Ich komme gleich nach, wenn ich dem Schneeflockenmädchen geholfen habe.«

Würzburg, im Winter 1925

Referenzschreiben

Fräulein Marie Steinhoff aus Würzburg ist eine junge Dame aus gutem Hause, die ich seit vielen Jahren persönlich kenne. Sie ist derzeit als fahrende Märchenerzählerin unterwegs.

In ihren Jugendjahren hat Fräulein Steinhoff umfangreiche Bibliotheksstudien betrieben und dabei uralte Fabeln und Sagen gesammelt. Nun reist sie mit einem Pferdewagen durch die Lande und bringt mit ihrem Erzählschatz Kinderaugen zum Leuchten.

Wir haben Fräulein Steinhoff in Würzburg ausnahmslos als kluge, freundliche, herzenswarme und äußerst tugendhafte junge Dame kennengelernt. Wo immer sie um eine Auftrittsmöglichkeit oder ein Quartier bittet, kann ihr dies unserem Urteil nach bedenkenlos gewährt werden. Ihr Besuch wird ganz sicher eine Bereicherung sein. Sie ist zudem fleißig und geschickt und wird sich Kost und Logis durch ehrliche Arbeit redlich verdienen.

Wir hoffen, Fräulein Steinhoff bald wieder in unserer Gemeinde begrüßen zu dürfen, und wünschen ihr für ihre Reise Gottes Segen und viel Glück.

Franz Werthmann

Stadtpfarrer der Gemeinde St. Gertraud

Würzburg

Kapitel 2

In Momenten wie diesem liebte Carl das Leben. Er hatte sein Motorrad neben dem Georgsbrunnen geparkt, die Verkaufstheke ausgeklappt und die Zuckerwattemaschine montiert. Nun wartete er auf die ersten Kunden.

Feine Schneeflocken rieselten wie Feenstaub vom Himmel herab. Die bunten Häuser rund um den Rothenburger Marktplatz erinnerten ihn an Miniaturhäuschen in einer Schneekugel, die gerade geschüttelt worden war. Und die steinernen Löwen, die den Brunnen am Rande des Platzes bewachten, wirkten wie mit Puderzucker bestäubt.

An den Verkaufsständen des Adventsmarktes, den die Rothenburger Reiterlesmarkt nannten, wurden alle nur erdenklichen Winter- und Weihnachtswaren angeboten: Krippenfiguren und Backformen aus Holz, weiche Handschuhe, Mützen und Schals, bunt verzierte Lebkuchen, heiße Maronen und dampfender Punsch. Unweit des Georgsbrunnens gab es sogar eine Bude mit glitzernden Christbaumkugeln und Engeln aus Glas. Inmitten all dieser Pracht stand eine reich geschmückte Tanne. Carl fühlte sich, als wäre er mit seinem Zuckerwattestand in ein weihnachtliches Märchenbild geraten.

Dazu passte auch der altertümliche Pferdewagen, der jetzt neben der Ratstrinkstube auftauchte und über das Kopfsteinpflaster des Platzes rumpelte. Es handelte sich um eine Art Schäfer- oder Zirkuswagen, gezogen von einem kräftigen braunen Pferd. Das hölzerne Gefährt hatte seitlich ein Fenster mit blauen Holzläden und vorn eine Veranda, auf der sich der Kutschbock befand. Von dort aus führte eine solide Tür ins Innere des Wagens. Aus dem Dach ragte ein dünner Schornstein empor. Am auffälligsten jedoch waren die geschnitzten Schneeflocken, die den Wagen rundum verzierten, alle weiß bemalt, und keine Flocke glich der anderen.

Auf dem Kutschbock saß eine Frau. Ob jung oder alt, konnte Carl nicht erkennen, denn sie war in einen Umhang aus blauer Wolle gehüllt, eine weite Kapuze verbarg ihr Gesicht. Neben ihr thronte ein zottiger schwarzer Hund, der seinen Blick wachsam über das Marktgeschehen schweifen ließ.

Ein kleiner Junge hinkte neben dem Gespann her und sprach auf das Pferd ein. Auch er wirkte in dem Glitzerschnee märchenhaft verwunschen. Was er dem Tier wohl gerade ins Ohr raunte? Einen Zauberspruch?

Beim Anblick des Kleinen spürte Carl einen schmerzhaften Stich in der Herzgegend. Eine Erinnerung wollte in ihm aufsteigen, doch er atmete tief ein und verdrängte sie. Es brachte nichts, an Dinge zu denken, die man nicht ändern konnte. Das hatte noch niemandem weitergeholfen.

Die Frau sprang jetzt vom Kutschbock, um die Verkäuferin eines Lebkuchenstandes anzusprechen. So leichtfüßig, wie sie sich bewegte, konnte sie noch nicht alt sein.

»Was kostet die Zuckerwatte?«

Die Stimme eines Kindes riss Carl aus seinen Beobachtungen. Beinahe widerwillig drehte er sich um.

Vor der Verkaufstheke stand ein etwa siebenjähriges Mädchen. Die Kleine trug einen zerschlissenen, viel zu großen Mantel und abgetragene Schuhe. Ihre Hände steckten in löchrigen Fäustlingen. Eine rote Pudelmütze rutschte ihr fast in die Augen, die in dem schmalen, blassen Gesicht auffallend groß und irritierend grün wirkten.

»Zwanzig Pfennige«, sagte Carl. »Aber für dich nur zehn. Weil …« Er zögerte. »Weil du noch kurz warten musst, bis der Apparat heiß genug ist. Für die Wartezeit bekommst du einen Preisnachlass.«

Das stimmte nicht ganz. Carl musste nur ein Streichholz an die Petroleumflamme halten, dann war seine Zuckerwattemaschine einsatzbereit, aber er wollte dem Kind entgegenkommen. Wohlhabend war es ganz offensichtlich nicht, und ebenso offensichtlich konnte es ein bisschen süßes Glück gerade sehr gut gebrauchen.

»So viel Geld habe ich nicht«, sagte das Mädchen. Es klang so sachlich und abgeklärt, als habe es nichts anderes erwartet.

»Wie viel hast du denn?«, hakte Carl behutsam nach.

»Gar keins«, antwortete das Mädchen, auch diesmal völlig ohne Bedauern. »Ich wollte auch nichts kaufen. Ich wollte nur wissen, wie teuer Zuckerwatte ist. Für nächstes Jahr. Bis dahin habe ich bestimmt Geld. Glaube ich. Vielleicht.«

Carl überlegte nicht lang. »Wenn du willst, schenke ich dir eine Portion.«

Die Kleine blickte auf und blinzelte dabei gegen den Schnee an. »Warum?«

»Ich verschenke jeden Tag eine«, improvisierte Carl rasch. Armut war wahrlich keine Schande. Aber selbst Kinder empfanden oft Scham, wenn man sie darauf ansprach.

»Aber warum?«, fragte die Kleine wieder.

»Also, es ist so …«, begann Carl, um Zeit zu gewinnen. Und dann kam ihm die rettende Idee. »Viele wissen es nicht, aber Zuckerwatte ist eigentlich essbare Feenseide. Man kann sie entweder kaufen, dann zaubert sie gute Laune. Oder man bekommt sie geschenkt, dann erlebt man einen anderen Zauber.«

Die grünen Augen des Mädchens weiteten sich vor Staunen. »Was für einen Zauber denn?«

»Man wird bald darauf etwas sehr Schönes erleben.«

»Wirklich?« Das Mädchen sah ihn noch immer staunend an.

»Ja, bei mir war es so.«

»Hat dir jemand Feenseide geschenkt?«, wollte das Kind wissen.

Carl nickte. »Ganz genau. Und so fing alles an.«

»Was?«

Carl wies auf sein Motorrad und die Zuckerwattemaschine. »Ich hatte plötzlich eine Eingebung und habe dann diese fantastische Maschine gebaut. Nun kann ich selbst Feenseide spinnen. Das ist immer noch wie ein Wunder für mich. Na, was sagst du? Willst du es auch probieren?«

Das Mädchen runzelte die Stirn. »Kriege ich dann auch eine Zuckerwattemaschine?«

Carl schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Jeder erlebt sein eigenes kleines Wunder.«

Die Kleine zog schniefend die Nase hoch. »Dann müsstest du deine Zuckerwatte eigentlich immer verschenken, oder?«, sagte sie nachdenklich. »Das wäre auf jeden Fall nett von dir.«

Carl nickte ernst. »Leider klappt es immer nur einmal am Tag. Heute habe ich noch keine Zauberwatte verschenkt. Wenn du magst, kannst du sie bekommen.«

»Ja!« Die grünen Augen des Mädchens leuchteten vor Freude auf.

Carl entzündete den Brenner und legte ein Zuckerstück auf den Spinnkopf in der Mitte der Stahlschüssel. Als es geschmolzen war, brachte er den Spinnkopf mit einer Handkurbel zum Rotieren, schneller und schneller. Nach kurzer Zeit bildeten sich feine Fäden, die er mit einem Holzstäbchen auffing, bis er eine große Zuckerwattewolke beisammen hatte, die er dem Kind reichte. »Hier, bitte schön! Ich wünsche dir ganz viel Glück.«

»Danke!« Die Kleine zog einen der Fäustlinge aus und nahm die Wattewolke so behutsam entgegen, als bestünde sie aus gesponnenem Glas.

Carl lächelte. Dieses Geschenk befand sich eindeutig in den richtigen Händen.

Der Glockenschlag einer Uhr ließ Carl zum Giebel der Ratstrinkstube aufblicken. Wie immer zur vollen Stunde öffneten sich die beiden Fenster rechts und links der Uhr, und zwei Holzfiguren wurden sichtbar. Sie stellten eine historische Szene der Stadtgeschichte nach, den viel gefeierten Meistertrunk. Auf der einen Seite erschien der Feldherr Graf Tilly, auf der anderen der Rothenburger Bürgermeister, der einen riesigen Humpen Wein leerte. Damit gewann er eine Wette und rettete seine Stadt vor der Zerstörung.

An der Reaktion auf dieses Glockenspiel konnte man die Einheimischen von den Zugereisten unterscheiden. Alteingesessene sahen nicht einmal auf. Wer das Geschehen dagegen aufmerksam beobachtete, war ganz bestimmt noch nicht lange in der Stadt.

Carl stellte fest, dass die Frau mit dem Pferdewagen offenbar zur zweiten Gruppe gehörte. Sie legte den Kopf in den Nacken und bestaunte das Schauspiel. Erst als sich die Fensterläden wieder geschlossen hatten, kletterte sie zurück auf den Kutschbock, wo der Hund sie schwanzwedelnd begrüßte.

Das Gefährt setzte sich wieder in Bewegung und kam direkt auf Carl zu. Der kleine Junge hinkte noch immer neben dem Pferd her. Und nicht nur er hatte einen seltsamen Gang, auch das Pferd lahmte. Oder täuschte Carl sich?

Er kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Nein, jeder Irrtum war ausgeschlossen. Das Pferd ging nicht im Takt, es entlastete beim Auftreten das rechte Vorderbein. Einem spontanen Impuls folgend, trat Carl hinter der Theke hervor und ging dem Gespann entgegen.

»Ich glaube, das Pferd hat sich verletzt«, sagte er statt einer Begrüßung. »Es hinkt.«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich bin es, der hinkt.« Sein Gesicht färbte sich dunkelrot vor Scham.

Plötzlich stand das kleine Mädchen mit den grünen Augen neben Carl. Die Zuckerwatte hatte sie bereits verzehrt, das Holzstäbchen hielt sie noch in der Hand. Sie hob es wie einen mahnenden Zeigefinger. »Ja, das stimmt, du hinkst auch«, sagte sie zu dem Jungen. »Aber auf eine gesunde Art. Einfach, weil das dein Gang ist.« Jetzt wies sie mit dem Stäbchen auf die braune Stute. »Das Pferd dagegen lahmt. Und das ist etwas anderes. Es will nicht auf seinen rechten Huf treten, weil der wehtut, verstehst du? Deswegen läuft es ungleichmäßig.«

Die Kleine wirkte bei diesen Worten so selbstbewusst, dass der Junge sie aufmerksam ansah. Seine Gesichtsfarbe normalisierte sich wieder. »Wirklich?«, fragte er. »Woher weißt du das?«

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Wir haben Schafe. Da muss man immer sofort erkennen, wenn eins lahmt. Denn wenn es nicht gleich Medizin bekommt, wird es nie wieder gesund.«

Die Frau sprang vom Wagen. Als sie die Kapuze zurückschlug, hielt Carl unwillkürlich den Atem an. Sie war jünger, als er gedacht hatte, Mitte zwanzig vielleicht. Und wunderschön. Ihr Gesicht war schmal, ihre nussbraunen Augen groß und ausdrucksvoll. Auch das dichte Haar hatte die Farbe reifer Haselnüsse, sie hatte es zu einem dicken Zopf geflochten. Ihr Blick streifte Carl, dann trat sie neben das Pferd, hob dessen rechten Vorderhuf an und stieß einen leisen Fluch aus. Behutsam setzte sie das Pferdebein wieder ab.

»Das Eisen hat sich gelockert«, sagte sie zu dem Jungen. »Das ist nicht schlimm. Aber weitergehen kann Rosi so natürlich nicht.«

Sie richtete sich auf, ihr Blick traf den von Carl, und er erschrak über die Zerbrechlichkeit, die er darin sah. Urplötzlich verspürte er den Impuls, diese fremde junge Frau zu beschützen, vielleicht auch, weil sie so zierlich war. Neben ihr kam er sich wie ein Riese vor.

Er räusperte sich, dann wies er mit dem Kinn auf seinen Verkaufsstand. »Ich habe Würfelzucker dabei. Sie könnten das Pferd festhalten und mit ein paar Stückchen ablenken, während ich mich um den Huf kümmere.«

»Sie?« Die Frau lächelte spöttisch. Ihr Blick wanderte von Carls Schiebermütze über seinen wetterfesten Mantel bis zu seinen maßgeschneiderten Lederstiefeln und zuletzt zu seinem Motorradgespann.

Er konnte sich denken, wofür sie ihn hielt: für einen feinen Schnösel, der so etwas nicht konnte. Nun, er würde ihr das Gegenteil beweisen. »So schwer kann das ja nicht sein. Ich ziehe einfach alle Nägel heraus und löse das Eisen. Bis zum nächsten Hufschmied schaffen Sie es dann ganz bestimmt. Sie müssten das Pferd nur ablenken, damit es mich nicht beißt.«

Die junge Frau sah ihn mit ihren seelenvollen braunen Augen prüfend an. »Sie wollen mir helfen?«, fragte sie. »Wer sind Sie überhaupt?«

Die Frage war zwar äußerst direkt, aber durchaus berechtigt. »Verzeihen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Carl Winterhagen, Student der Geschichte und Philosophie. Ich verkaufe in der Weihnachtszeit Zuckerwatte, um mein Salär aufzubessern. Und ich helfe Ihnen wirklich gern. Ich bin technisch begabt. Meine Zuckerwattemaschine habe ich selbst konstruiert.«

»Aha. Ein Philosoph also.« Amüsiert hob sie eine Augenbraue.

»Nein«, sagte Carl gelassen. Sie wollte ihn ganz offensichtlich provozieren, aber das würde ihr nicht gelingen. »Ein angehender Journalist. Philosophie studiere ich nur, um die Welt besser zu verstehen.«

Doch die junge Frau hörte ihm schon nicht mehr zu. Statt auf den Zucker zu warten, trat sie zum Kutschbock, zog eine Holzkiste unter dem Sitz hervor und entnahm ihr mehrere Werkzeuge, die sie neben sich auf den Boden legte. Sie hob den Huf des Pferdes erneut an und stützte ihn mit dem Knie, um dann mit geübten Bewegungen die noch vorhandenen Hufnägel gerade zu hämmern. Anschließend zog sie einen nach dem anderen mit einer Spezialzange heraus. Das Hufeisen ließ sich jetzt leicht lösen, und sie nahm es ab.

Als sie fertig war, richtete sie sich auf, tätschelte den Hals der Stute und lobte sie. »Braves Mädchen! Jetzt musst du ganz schnell zum Schmied, meine Liebe.« Sie wandte sich an Carl. »Aber vorher kann Rosi bestimmt etwas Zucker gebrauchen. Und vielleicht sogar ein bisschen Philosophie.« Mit einem feinen Lächeln setzte sie hinzu: »Ich bin übrigens Marie.«

Kapitel 3

Der Mann war ein Städter, das hatte Marie auf den ersten Blick erkannt. Und er war reich. Sein eisblaues Motorrad der Marke Victoria war neu und der Beiwagen eindeutig eine Spezialanfertigung. Statt des üblichen Sitzes für Frau und Kind kutschierte Carl Winterhagen eine geräumige Transportbox durch die Landschaft, die in derselben Farbe lackiert war wie das Motorrad. Zuckerwatte 20 Pfennige stand in silbernen Buchstaben darauf.

So ein Schnösel. Für wie dumm hielt er sie? Seine Süßwaren verkaufte er garantiert nicht, um sein Salär aufzubessern. Die Victoria war mehr wert, als er damit je verdienen konnte. Bestimmt stammte er aus reichem Hause und seine Eltern hatten das Motorrad bezahlt. Auch der teure Mantel, die maßgefertigten Stiefel, die Körperhaltung und das Benehmen des Studenten ließen auf wohlhabende Eltern schließen. Und seine Selbstüberschätzung ebenfalls. Marie schmunzelte amüsiert. Nur weil er es geschafft hatte, eine Maschine für Zuckerwatte zu konstruieren, hielt er sich offenbar für ein Universalgenie. Vermutlich war ihm auch bewusst, wie gut er aussah: groß und dunkelhaarig, breitschultrig und muskulös, mit beinahe schwarzen Augen und einem Lächeln, das genau im richtigen Maße unperfekt war. Etwas schief, mit einem Hauch Ironie und einer großen Portion Gelassenheit. Es war schwer, seine fein geschwungenen Lippen nicht anzustarren, wenn er auf diese Art lächelte.

Aber ein schlechter Kerl war Carl Winterhagen gewiss nicht, auch das verriet Marie ihre Intuition. In seinem Blick lag echte Herzenswärme, selbst jetzt, nach ihrer gezielten Provokation. Er trat zu Rosi, als wäre nichts gewesen, tätschelte ihren Hals und hielt ihr einen Zuckerwürfel vor die Nüstern.

»Philosophie ist für jeden nützlich, auch für ein Pferd«, sagte er in Maries Richtung, während Rosi den Zucker krachend zerbiss. Dann wandte er sich an die Stute. »Was interessiert dich denn auf diesem Gebiet, meine Liebe? Antike Philosophie und Geschichte? Du ziehst ja immerhin einen mit Sternen verzierten Wagen. Soll ich dir von den Pferden des Sonnengottes Helios erzählen, die der Sage nach in einem Himmelswagen die Sonne über das Firmament ziehen? Oder lieber von den Rössern der Mondgöttin Selene, die auf diese Weise den Mond transportieren?« Er machte eine Pause, als wolle er Rosi die Gelegenheit zu einer Antwort geben. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich glaube, die Vergangenheit interessiert dich nicht. Du beschäftigst dich lieber mit den philosophischen Fragen der Gegenwart. Warum das Gras auf der anderen Seite des Zauns immer grüner wirkt. Oder warum keiner einem geschenkten Gaul ins Maul schauen will, nicht wahr? Dabei haben die meist genauso gute Zähne wie jedes andere Pferd.«

Marie musste lachen, als Rosi wie zur Bestätigung heftig nickte. Das tat sie zwar nur, um ein weiteres Zuckerstück zu erbetteln, aber es wirkte, als stimme sie dem Philosophiestudenten temperamentvoll zu.

An einem anderen Tag hätte Marie sich bestimmt eine Weile mit diesem eigenwilligen Zeitgenossen unterhalten, um zu erfahren, was er über die Welt und das Leben dachte. Aber im Moment hatte sie Wichtigeres zu tun. Noch immer schmunzelnd wandte sie sich ab.

Als Erstes musste sie Rosi neu beschlagen lassen, dann rasch Geld für den Schmied sowie die kommenden Tage verdienen, denn der Marktmeister hatte ihr wie allen fahrenden Händlern nur einen Standplatz für einen einzigen Tag zugestanden. Und anschließend musste sie auch noch ein Quartier für die Nacht finden. Im Wagen konnte sie bei der klirrenden Kälte nicht übernachten, und auch die Stute brauchte bei zweistelligen Minusgraden unbedingt einen Stall.

Marie seufzte. Sie war jetzt schon müde, und ihre eiskalten Füße waren inzwischen fast taub.

»Darf ich Rosi zum Schmied bringen?«, unterbrach Gustav ihre Gedanken. »Seine Werkstatt ist gleich um die Ecke. Dann kannst du hier schon alles aufbauen.« Er hatte jedes Wort aufgesogen, das Marie mit dem Marktmeister gewechselt hatte, und wusste, was sie vorhatte.

»Ich komme mit«, verkündete das kleine Mädchen mit den grünen Augen, das immer noch neben dem Zuckerwattemann stand. Ihr alter Mantel war viel zu dünn für diese Kälte, ein bisschen Bewegung tat ihr bestimmt gut.

Dankend nahm Marie das Angebot der beiden Kinder an. Sie wandte sich an das Pferd. »So, genug philosophiert, Rosinante. Du musst jetzt zur Fußpflege.«

Carl Winterhagen schob der Stute ein letztes Zuckerstückchen ins Maul. »Wir waren mit unseren Überlegungen ohnehin an einem Punkt, an dem wir beide über das Gesagte nachdenken wollten. Daher empfehle ich mich.« Er deutete zum Abschied eine kleine Verbeugung an und wandte sich zum Gehen.

»Warten Sie!«, rief Marie ihm nach.

Er stoppte und drehte sich um. »Nicht Sie«, korrigierte er sie. »Unter Marktleuten oder Fieranten, wie man uns hier nennt, sagt man Du. Ich bin Carl.«

Marie wies mit dem Kinn in Richtung seines Motorradgespanns. Zwischen seinem Zuckerwattestand und dem Brunnen waren noch ein paar Meter ungenutzt. »Stört es Sie … äh, dich, wenn ich meinen Wagen dort parke und mein Märchentheater neben deinem Stand aufbaue?«

Auf dem Gesicht des Studenten breitete sich wieder ein zauberhaft schiefes, warmherziges Lächeln aus. Eine Schneeflocke verfing sich in seinen Wimpern, er pustete sie weg.

»Warum sollte mich das stören?«, fragte er zurück. »Wir haben dieselbe Kundschaft. Kinder und auch Erwachsene, die im Herzen Kinder geblieben sind. Das passt doch wunderbar. Aber beeil dich, gleich endet das Adventssingen in der Jakobskirche. Dann wird es hier voll.«

Marie nickte knapp. »Danke!«

»Nichts zu danken.« Carl zog sich hinter seine Theke zurück.

Marie führte Rosi zu der freien Stelle, schirrte sie ab und reichte Gustav die Zügel. »Ich bezahle beim Abholen, sag das dem Schmied. Und ich komme in etwa zwei Stunden. Falls er heute keine Zeit mehr hat, bring sie am besten gleich wieder mit, dann muss ich mir etwas anderes ausdenken.« Sie hielt inne und musterte den Jungen freundlich. »Kannst du dir das alles merken?«

»Natürlich«, sagte Gustav mit wichtiger Miene. Er schnalzte mit der Zunge, und Rosi setzte sich in Bewegung.

»Ich bin Vera«, hörte Marie das kleine Mädchen sagen. »Und ich habe mir auch alles gemerkt.« Sie stapfte neben Gustav durch den Schnee und griff nach dem Zügelende, das lose herabhing.

Gustav lächelte die Kleine an. »Gut« war alles, was er sagte, aber seine Augen leuchteten.

Kurz darauf waren die drei außer Sichtweite, das Klappern von Rosis Hufen verhallte.

Marie warf einen raschen Blick zu Carl Winterhagen, der gerade voll und ganz von seiner Zuckerwattemaschine beansprucht wurde. Irgendetwas schien damit nicht zu stimmen. Sie überlegte kurz, ob sie ihm ihr Werkzeug oder gar ihre Hilfe anbieten sollte, verwarf diesen Gedanken aber rasch wieder. Um nichts in der Welt wollte sie ihm die Gelegenheit zu einer billigen Retourkutsche liefern, bei der er seinerseits ihre Hilfe ausschlagen konnte. Er hatte dieses Gerät höchstpersönlich gebaut, er würde schon wissen, was ihm fehlte.

Statt sich weiter mit Carl und seiner Maschine zu beschäftigen, zog Marie drei lange Bretter unter ihrem Wagen hervor und verwandelte sie mit wenigen Handgriffen in niedrige Bänke. Sie platzierte sie im Halbkreis vor dem Gespann und verteilte bunte Sitzkissen aus Filz darauf.

Anschließend entzündete sie zwei Fackeln und schob sie in die schmiedeeisernen Halterungen an der Seite des Wagens. Der Platz zwischen diesen Flammen würde ihr nachher als Bühne dienen. Zuletzt zog sie eine blau bemalte Holztafel mit langen Beinen hinter dem Kutschbock hervor und stellte sie vor das Gefährt. Märchen, die Herz und Seele wärmen stand in bunten Buchstaben darauf. Und darunter: Eintritt 20 Pfennige.

An der Kupferkette zwischen den beiden Pfosten des Schildes befestigte Marie einen kleinen Kessel, in den die Kinder ihre Münzen werfen konnten. Sie zählte nie nach, ob der Betrag stimmte. Wer weniger gab, hatte vermutlich nicht genug.

Nun war sie mit ihren Vorbereitungen fertig. Gerade rechtzeitig, denn der Markt füllte sich. Das Adventssingen war offenbar beendet.

Carl Winterhagen hatte seinen Ofen inzwischen repariert. Süß und verführerisch zog der Duft von karamellisiertem Zucker durch die schneekalte Luft und lockte Kinder und ihre Eltern in diese Ecke des Marktplatzes. Vor Carls Stand bildete sich eine Schlange, und es dauerte nicht lang, da klirrten auch erste Münzen in Maries Kupferkesselchen.

Wenig später drängten sich Kinder jeden Alters auf den Sitzreihen ihres provisorischen Märchentheaters. Als wirklich kein Platz mehr frei war, zog Marie eine hölzerne Flöte aus der Tasche ihres blauen Wollumhangs und stimmte eine mittelalterlich klingende Melodie an. Sofort wurden die Kinder still.

Und nicht nur sie. Carl Winterhagen gab den Wartenden an seinem Stand ein Handzeichen und stellte den Zuckerwatteverkauf vorübergehend ein. Alle Gesichter in der Umgebung wandten sich jetzt Marie zu. Auch Carls Blick ruhte nachdenklich auf ihr.

Marie schluckte. Sie spürte plötzlich ein nervöses Flattern in der Magengegend. Zum Glück verschwand es nach einem tiefen Atemzug wieder, und sie konnte sich ganz auf die Kinder konzentrieren, die sie mit erwartungsvollen Augen ansahen.

Gleich war es so weit. Gleich würde sie die Fantasie ihres Publikums mit uralten Wortbildern anregen und ihre Zuhörer auf eine Reise ins eigene Unterbewusstsein mitnehmen, so wie es nur Märchen konnten.

»Guten Tag!«, begrüßte sie die Kinder. »Ich bin Marie, manche nennen mich auch das Schneeflockenmädchen. Ich kenne viele Märchen und Geschichten aus aller Welt. Einige habe ich gelesen, andere habe ich gehört, wieder andere habe ich mir selbst ausgedacht. Zuerst erzähle ich euch heute eins meiner eigenen Märchen.« Sie holte tief Luft und sagte ihre drei magischen Wörter: »Passt gut auf!«

Immer wenn Marie diese Zauberformel aussprach, war es, als wüchsen ihr magische Kräfte. Sie vergaß Zeit und Raum, wusste nicht mehr, wer und wo sie war. Stattdessen tauchte sie in die Welt der Geschichten ab und konzentrierte sich ganz darauf, mit bildhaften Worten die Herzen der Kinder zu erreichen. Bis zu diesem Moment wusste sie selbst nicht, wovon sie gleich erzählen würde. Doch sobald sie ihre Zauberformel aussprach, stiegen erste Wörter in ihr auf und fügten sich beim Sprechen wie von selbst zu einer Geschichte zusammen.

»Meine heutige Erzählung heißt Die gefrorene Rose«, sagte sie mit ihrer sanften, weichen Märchenstimme.

Die gefrorene Rose

Es war einmal ein Mädchen, das durch einen bitterkalten Winterwald wanderte. Der Frost hatte die Bäume in starre silberne Gespenster verwandelt, die schweigend am Wegesrand standen, und der Wind sang Lieder aus der Vergangenheit, die der Wald längst vergessen hatte. Die Füße des Mädchens versanken tief im Schnee und waren vor Kälte beinahe starr gefroren.

Sie war allein, ganz allein. Niemand wusste, wie sie in den Wald gekommen war, wohin sie ging oder woher sie kam. Sie hatte alles verloren – ihre Familie, ihr Zuhause und alles, was sie je besessen hatte. Und so lief sie, Tag für Tag, ohne Ziel, ohne Hoffnung, ohne den Glauben daran, dass irgendwo in dieser Welt etwas Gutes auf sie wartete.

Eines Tages, als der Schnee immer tiefer und der Wind immer kälter wurde, gelangte sie auf eine kleine Lichtung inmitten des Waldes. Und dort stand ein Baum, der sich von allen anderen unterschied.

An einem seiner schneebedeckten Zweige, die in den frostigen Himmel hinaufragten, wuchs wie durch ein Wunder eine einzelne Rose. Ihre Knospe war von glitzerndem Eis überzogen, doch sie leuchtete dennoch in einem magischen Dunkelrot, das die Umgebung in sanftes Licht tauchte. Es war, als ob der Baum und die Rose ein Geheimnis aus einer anderen Welt und einer anderen Zeit bewahrten.

Das Mädchen trat näher, und obwohl der Wind ihr die Tränen in die Augen trieb, fühlte sie plötzlich eine Wärme, die sie lange nicht gespürt hatte. Ihre kleinen Händchen, die vor Kälte marmorweiß gewesen waren, röteten sich und wurden wieder warm. Und in ihrem Herzen begann ein Gefühl der Hoffnung zu wachsen. Langsam hob sie eine Hand und strich sanft über die Rosenknospe.

Da geschah etwas Unglaubliches: Die Eisschicht begann zu schmelzen, und die Knospe öffnete sich. Langsam entfaltete sich die Blüte, und in ihrem Inneren entdeckte das Mädchen einen kleinen goldenen Schlüssel, von dem ein magisches Leuchten ausging.

Das Mädchen nahm ihn in die Hand. Und als sie ihn berührte, spürte sie, dass er sie zu einem Ort führen würde, den sie noch nicht kannte, den sie aber tief in ihrem Herzen schon immer gesucht hatte.

Kaum hatte sie den Schlüssel an sich genommen, verblasste der Baum, und auch der Winterwald um sie herum löste sich auf. Das Mädchen stand plötzlich vor einem schneeweißen Schloss. Sie überlegte noch, ob der winzige goldene Schlüssel zu dem großen Schlosstor aus schwerem Holz passen konnte, als sich das Tor wie von selbst für sie öffnete.

Zögernd betrat das Mädchen das Schloss. In der hell erleuchteten Eingangshalle war niemand zu sehen. Doch von fern hörte sie eine zauberhafte Melodie. Sie folgte der Musik und gelangte in einen großen Saal. An der Wand gegenüber der Tür flackerte ein behagliches Kaminfeuer. An den anderen Wänden standen hohe Regale, die bis zur Decke mit Büchern gefüllt waren. Doch die Bücher waren nicht braun oder schwarz, wie das Mädchen es kannte. Jedes hatte eine andere Farbe, und sie funkelten wie Edelsteine.

Das Mädchen trat näher und zog ein blaues Buch aus einem der Regale. Sie wollte es aufschlagen, aber es war abgeschlossen. Sie holte den goldenen Schlüssel hervor und versuchte, ihn in das goldene Schloss am Einband zu stecken. Doch er passte nicht.

Das Mädchen wiederholte den Versuch mit einem grünen Buch und danach mit einem gelben. Doch ihr Schlüssel konnte keines davon öffnen.

Da entdeckte sie ein Buch, das dieselbe Farbe hatte wie die Rose im Wald. Ein tiefes Dunkelrot. Und genau wie die Rosenblüte schien auch das rote Buch von innen heraus zu leuchten. Das Mädchen zog es behutsam aus dem Regal. Es war sehr schwer.

Zu ihrer Überraschung las sie auf dem Einband ihren eigenen Namen. Sie steckte den Schlüssel in das kleine Schloss, das sogleich aufsprang. Behutsam schlug sie das Buch auf. Seltsam: Die erste Hälfte der hauchdünnen Seiten war beschrieben, die zweite Hälfte war es nicht.

Das Mädchen begann zu lesen. Die erste Seite erzählte von ihrer Geburt. Auf den folgenden Seiten erfuhr sie, wie ihre frühe Kindheit verlaufen war. An manches erinnerte sie sich, an das meiste nicht. Sie blätterte weiter. Nun wurde die Schulzeit beschrieben. Das Heranwachsen. Freude und Kummer, Glück und Leid. Alles, was sie jemals erlebt, gefühlt und gedacht hatte, fand sich in diesem Buch. Sie blätterte bis zur letzten beschriebenen Seite. Dort stand, dass sie in der Bibliothek eines Zauberschlosses stand und im Buch ihres Lebens las.

Das Mädchen schloss das Buch. Und öffnete es erneut. Zu ihrem Erstaunen war auf der letzten Seite ein neuer Satz erschienen: Das Mädchen schloss das Buch und öffnete es dann erneut, um darin zu lesen.

»Was bist du für ein Buch, und woher kennst du meine Geschichte?«, fragte das Mädchen in die Stille der Bibliothek.

Im selben Moment erschien ihre Frage auf der Buchseite vor ihr.

Und gleich darauf konnte das Mädchen dort die Antwort des Buches lesen: Ich erzähle die Geschichte deines Lebens. Aber das weißt du ja schon. Manche Seiten in mir kannst du selbst bestimmen, andere nicht. Und gerade in deinem Leben ist sehr viel Unglück passiert, das du nicht aufhalten konntest und nun Tag für Tag aushalten musst. Auch das weißt du bereits, nicht wahr?

Das Mädchen nickte und las währenddessen in dem Buch, dass sie das tat.

Sei deswegen nicht mehr traurig, fuhr das Buch fort. Ich verrate dir jetzt ein Geheimnis, das nur die wenigsten Menschen kennen.

»Was für ein Geheimnis?«, fragte das Mädchen leise und wartete gespannt, was das Buch als Nächstes schreiben würde.

Und tatsächlich erschienen nach kurzer Zeit neue Buchstaben auf dem Papier: Kein Mensch kann sein Glück erzwingen oder jedes Unglück verhindern. Aber jeder Mensch kann einen besonderen Zauber bewirken. Auch du. Das Buch machte eine kurze Pause, um umzublättern, dann fuhr es fort: An jedem Tag deines Lebens, an dem es dir siebenmal gelingt, einen Menschen oder ein Tier zum Lächeln zu bringen, wird dir etwas Gutes widerfahren. Immer!

»Das ist der Zauber?«, fragte das Mädchen ungläubig.

Ja.

»Tiere können lächeln?«, hakte das Mädchen nach.

Natürlich. Sie lächeln mit den Augen. Sieh genau hinein, dann erkennst du es.

»Siebenmal pro Tag«, wiederholte das Mädchen nachdenklich die Worte des Buchs. »Das müsste zu schaffen sein.«

Ist es, antwortete das Buch.

»Stimmt das denn wirklich?«, wollte das Mädchen wissen. »Passiert mir nach jedem siebten Lächeln etwas Gutes? Immer?«

Sehe ich aus wie ein Buch, das lügt? Die Buchseiten bebten vor Entrüstung.

Das Mädchen lächelte. Und in diesem Moment löste sich erst das Buch in ihren Händen in Nebel auf, dann die Bibliothek mit den vielen Büchern und zuletzt das ganze weiße Schloss.

Das Mädchen stand wieder im eisigen Winterwald. Aber nun fror sie nicht mehr. In ihr war es ganz warm.