Das Schönste, was ich sah - Asta Scheib - E-Book

Das Schönste, was ich sah E-Book

Asta Scheib

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Beschreibung

Giovanni Segantinis große Liebe Als Giovanni Segantini sich 1875 siebzehnjährig an der Akademie Brera einschreibt, hat er eine albtraumhafte Kindheit und Jugend hinter sich. Früh verwaist, lebt er erst bei der ungeliebten Halbschwester; später landet er in einer Besserungsanstalt, wo ein Geistlicher sein zeichnerisches Talent entdeckt. Auf der Akademie freundet er sich mit Carlo Bugatti an, einem reichen Mailänder Bürgersohn. Carlos schöne, verwöhnte Schwester Luigia verliebt sich in den scheuen Giovanni, der in der Akademie einen Preis nach dem anderen bekommt. Der Maler und Luigia werden ein Paar und haben zusammen vier Kinder. Es ist ein turbulentes Leben, aber Luigias Hingabe und Verständnis für Giovannis unkonventionelle Lebensweise und seine unerschütterliche Liebe zu ihr wappnen sie gegen alle Widrigkeiten.

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Seitenzahl: 612

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Asta Scheib

Das Schönste, was ich sah

Roman

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

»Die Kunst ist die Liebe, in Schönheit gehüllt.«

Giovanni Segantini

1

Faustschläge droschen gegen die hölzerne Haustür. Was sollte der Lärm!

Giovanni richtete sich auf in seinem Bett. Bice war natürlich auch erwacht. Sie fluchte leise und schlaftrunken: »Verdammt, die kommen wohl jedes Mal früher.« Giovanni warf den Schlafrock über. Fingal bellte und hatte sich schon an der Haustür postiert, als Giovanni herunterkam. Bewusst umständlich schob er den schweren Riegel zurück und öffnete die Tür erst einmal einen Spaltbreit. Wie erwartet, sah er einen Polizisten. Der zeigte einen Brief vor, den er vom Polizeikommissar aus Chur bekommen hatte. Giovannis Stimme war rau vor Wut, als er fragte, warum man dermaßen früh das Haus aufwecken und die Kinder ängstigen müsse. Absichtlich übersah er den Brief in der Hand des Landjägers. Er wusste ohnehin, was er enthielt, und er weigerte sich, ihn anzunehmen. Stattdessen sah er durch den Mann hindurch zum Gebüsch vor dem Haus, sah den Tau auf den Blättern, auf den dichten Ästen der kleinen Tanne. Er hörte das Vogelkonzert wie jeden Morgen. Ein leichter Wind berührte sein Haar. Hier bin ich zu Hause, dachte er, und dass er sich gegen jeden wehren würde, der ihm das streitig machen wollte. Giovanni spürte, dass sein Herz stark klopfte. Er blieb im Türrahmen stehen. Hinter sich hörte er Bice und die Baba in der Küche miteinander reden und mit dem Geschirr klappern. Das tat ihm gut.

Der Landjäger war ein drahtiger Mann mit sonnenverbranntem Gesicht. Er schaute Giovanni aus seinen tiefliegenden Augen mit schwer deutbarem Ausdruck an: »Man will Sie und Ihre Leute an die Grenze schicken, wenn Sie keine vorschriftsmäßigen Papiere herzeigen können.«

Seine Stimme war so voller Verachtung, dass sich in Giovanni langsam wieder die Wut aufbaute. Er müsse erst in seinem Gepäck suchen, brachte er mit mühsamer Höflichkeit heraus, er sei schließlich heute Nacht erst zurückgekommen aus Mailand.

Giovanni hatte sie so satt, diese Helfershelfer des Staates, die einfach nur taten, was ihnen aufgetragen wurde. Besonders diesem Kerl schien es Freude zu machen, ihn zu erniedrigen. Die Staatsdiener hatten keinerlei Risiko in ihrem Beruf, liefen herum wie Rösser mit Scheuklappen. Er hätte den Mann gern im Nacken gepackt und geschüttelt. Schon, um dessen dumpfe Selbstgewissheit ins Wanken zu bringen. Je sturer der Landjäger ins Leere starrte, desto aufgebrachter wurde Giovanni. Er glaubte, sein Kopf werde jeden Moment vor Wut platzen. »Wenn man uns ausweisen will«, brüllte er schließlich den Beamten an, »brauchen wir ausreichend Zeit, uns eine Wohnung zu beschaffen. Sagen Sie das Ihrem Vorgesetzten!«

Schließlich hatte der Landjäger seinen Blick erwidert. Desinteresse mischte sich darin mit Verachtung und Überlegenheit. Natürlich wusste er, dass Giovanni Segantini auch nach tagelangem Suchen keine gültigen Papiere finden würde. Er war schriftenlos, das war den Behörden längst bekannt. Man erzählte sich, dass er ein berühmter Maler sei. Und wenn schon. Er gehörte nicht hierher. Nirgends gehörte der hin. Weder in die Schweiz noch nach Italien oder nach Österreich. In beiden Ländern hatte der sich vor dem Kriegsdienst gedrückt. Er war sich wohl zu fein dafür. Oder er war zu feige. Man sagte, er habe Schulden, mache sich aber ein feines Leben. Wie der schon aussah. Er steckte in einem Anzug, wie niemand hier ihn trug. Haare hatte der ja wie ein Wald Bäume. Groß war er, anscheinend kräftig. Man sollte ihn wohl besser nicht noch wütender machen.

Signora Bice, Segantinis Hausfrau, ja – das war ganz etwas anderes. Sie war aus Mailand, sagte man, aus guter Familie. Manche Leute in der Gegend verehrten sie fast. Die schöne Blonde, wie sie genannt wurde, war zurückhaltend, aber hilfsbereit. Ihm tat sie leid. Überall verfolgt. Scheel angesehen. Ständig unterwegs von einer Bleibe zur nächsten. Und dabei hatte sie vier Kinder zu versorgen. Man sah, dass sie etwas Besseres war. Sie konnte Englisch sprechen, sogar Französisch. In ihrem Haus verkehrten berühmte Leute. Das bekamen die Bewohner von Maloja mit, wenn die feinen Herrschaften in ihren Kutschen anreisten. Darüber wurde gesprochen. Doch Signora Bice bat auch die Einheimischen höflich ins Haus, wenn jemand mit einem Anliegen kam. Die Kinder waren ebenso wohlerzogen und hilfsbereit wie die Mutter.

Da erschien sie auch schon hinter dem Maler. Signora Bice kam an die Tür. Sie grüßte freundlich, und der Beamte legte die Hand an die Mütze. Giovanni atmete auf. Der Druck, sich mit einem heftigen Streit zu wehren, verflog. Er schien ihm schon lächerlich. Er war froh, dass Bice ihn wieder einmal aus einer unangenehmen Situation erlöste. Er entschuldigte sich unter dem Vorwand, nach seinen Papieren suchen zu wollen. Dann ging er zurück ins Schlafzimmer, um sich anzukleiden. Er horchte ständig nach unten, fühlte sich wie ein Verbrecher.

Bice bot dem Landjäger an, sich doch auf ein Glas Wein in die Küche zu setzen. Nach kurzem Zögern kam er tatsächlich herein, begleitet von Fingal, der ein wenig knurrte. Der Beamte ging die vier Treppenstufen hinauf und blieb im Flur stehen, bis Bice ihm die Tür zur Küche öffnete. Verwundert sah sich der Mann in der Küche um, die über und über in einem strahlenden Blau gestrichen war. Regale mit Geschirr, Töpfen und Pfannen bedeckten die Wände, und die Hausfrau schrieb rasch etwas an ihrem Schreibpult und stellte dann ein Kristallglas mit einem leichten Landwein vor den Beamten. Der staunte. Noch nie hatte er eine Küche in derart grellem Blau gesehen und schon gar keine mit einem Schreibpult für die Hausfrau. Hier war scheinbar alles anders als sonst wo im Engadin.

Baba deckte geschickt Brot und Käse auf, und Bice berichtete, dass ihr Mann derzeit sehr überlastet sei, weil er für die Pariser Weltausstellung 1900 ein großes Triptychon malen müsse. Der Polizist nickte schweigend. Dieser undurchsichtige, wenig zivilisierte Maler hatte offenbar viel Glück. Er lebte im vornehmsten Haus von Maloja. Der Wein war gut und der Käse fast noch besser. Die Frauen waren gute Frauen. Die Kinder arglos und fröhlich. Sie waren es wert, dass er ihnen half. Der Landjäger schrieb etwas in einen kleinen Block, riss das Blatt ab und gab es Bice. Dann stand er auf, sagte im Hinausgehen, dass man möglichst rasch an den Herrn Präsidenten schreiben solle, die Anschrift stehe auf dem Zettel. Der Herr Präsident habe Einfluss bis ganz nach oben, er könne die ständige Drohung mit der Ausweisung sicher abwenden.

Bice und Baba begleiteten den Landjäger bis vors Haus. Giovanni sah von seinem Fenster aus, wie der Polizist die Hand an die Mütze hob, sich verabschiedete und sich noch mehrmals umwandte. Kein Zweifel, dieser Büttel war scharf auf die beiden Frauen. Giovanni registrierte es nicht ohne Stolz. Bice hatte ihr auffallendes Blondhaar in einem strengen Knoten im Nacken gebändigt. Sie trug ein schwarzes, enges Seidenkleid, dessen Stoff Giovanni in Mailand gekauft hatte. Baba hatte, wie meist, ihre Graubündner Tracht angelegt und das Haar zu einem Zopf geflochten. Der Anblick der beiden hübschen Frauen an der Treppe war für Giovanni auch deshalb eine Freude, weil er wusste, dass sie den Landjäger besänftigt hatten. Vor den Behörden, die ihn oftmals in Panik versetzten, hätten sie jetzt wieder für eine Weile Ruhe.

Giovanni sah die Frauen ins Haus zurückgehen. Bice hatte gestern erwähnt, dass sie mit Baba nähen wolle. Als er nach einer Weile behutsam die Tür zum Wohnraum öffnete, sah er Baba vor einem großen Spiegel stehen. Sie hatte den Kopf schief gelegt, schaute konzentriert in den Spiegel, während Bice, Stecknadeln im Mund, ihr ein blaugrünes Mieder eng am Körper absteckte. Die Frauen und die Mode. Das war ein Thema, bei dem sich Giovanni nicht einmischte. Es sei denn, es ging um Kostüme für seine Bilder. Denn auch da unterstützten ihn die Frauen. Giovanni schloss die Tür wieder ganz leise, weil er fürchtete, Bice könnte sich erschrecken, sich womöglich an einer Stecknadel verletzen. Bice durfte nichts geschehen. Manchmal kam es ihm vor, als wäre er auf sie angewiesen wie ein Kind. Wenn ja, war er von ihren Söhnen sicher der aufwendigste. Er wusste selbst, dass er nicht genug auf sich achtete. Dass er zu viel arbeitete. Jedoch – wie konnte er aufhören damit? Ohne aufsehenerregende Bilder kein Geld. Kein Ruhm. Keine Freunde.

Sobald er die größte Herausforderung seines Malerlebens bestanden hatte, seine Arbeit für die Pariser Weltausstellung, würde er mit Bice überall dorthin reisen, wo seine Bilder hingen. Bis nach Amerika wollte er. Aber zuerst nach Arco di Trento. Möglichst bald wollte er seine Heimat wiedersehen. Er war im unerlösten, unbefreiten Italien, in Italia irredenta, geboren, das damals zu Österreich gehörte. Er musste sein Land aber als Kind verlassen. Bis heute hatte er es niemals vergessen, war mit seinen Sehnsüchten und Vorstellungen ganz an Italien gebunden. Immer wieder passierte es, dass sich vor ein Bild, an dem er arbeitete, die Brücke von Arco schob, das eilig hüpfende Wasser der Sarca. Oder aber er schaute in Maloja aus dem Fenster und vermeinte hinter den Bäumen und Sträuchern die Straße seiner Kindheit zu sehen, die zu den Feldern mit Olivenanpflanzungen führte, zu den Mandelstauden, den Lorbeerbüschen und Maulbeerbäumen. Der intensive Duft der Feigenbäume, deren blaue Früchte oftmals seine einzige Nahrung gewesen waren, blieb lebendig in seiner Erinnerung. Aber er würde niemals vergessen, in welchem Elend er seine Kinderjahre und die Zeit der Jugend hatte verbringen müssen.

2

Bis auf wenige Möbel hatte man ihnen alles weggepfändet. In der Wohnung waren noch drei Betten, ein Tisch mit Stühlen, angeschlagenes Geschirr und billiges, verbogenes Besteck. Wenigstens brauchten sie ihr Haus nicht abzuschließen wie Umberto, der als reicher Geizkragen verschrien war und Türen und Fenster verrammelte, selbst wenn er nur in die Trattoria ging. Bei Giovannis Eltern gab es nichts zu stehlen. Gar nichts. In einer alten Tasche verwahrte die Mutter das Bild seines Bruders. Er hatte Vittore geheißen. Oder Ludovico? Die Mutter, von Weinen geschüttelt, drückte das Foto an sich, rief mal diesen, mal jenen Namen. Immer wieder sah sie vor sich, wie Vittore oder eben Ludovico verbrannte. »In diesem Zimmer ist er verbrannt!«, schrie sie verzweifelt, anklagend. Aber wieso? Woher kam das Feuer? Giovanni wollte den Arm um die Mutter legen, sie trösten, sich selbst trösten. Doch sie stieß ihn weg, sie war offensichtlich böse auf ihn. Was hatte er denn getan? Nie bekam er eine Antwort. Auch nicht vom Vater. Tauchte der überhaupt einmal wieder in Arco bei seiner Familie auf, knurrte er nur gereizt, wenn Giovanni fragte. Einmal deutete er mit der Flasche auf seine Frau. »Schön war sie, meine Margherita, als ich sie geheiratet habe. Nicht mal dreiundzwanzig.« Dann sah er Giovanni aus seinen geröteten Augen an. »Alle haben ihr hinterhergesehen. Diese Haarpracht – phantastisch. Aber seit sie dich geboren hat, ist es aus mit ihr. Aus.« Der Vater trank den Rest Wein aus der Flasche und stimmte eines seiner Lieder vom Wein und von der Liebe an. Seine Stimme klang rostig und brach vor Weinerlichkeit immer wieder ab. Giovanni konnte es nicht ertragen, wenn sein Vater sang. Da hörte er ja noch lieber dem Hund des Bäckers zu, der beim Mittagsläuten jaulte, als wäre er gerade von einer Wespe ins Maul gestochen worden.

Giovanni wusste auch nicht, was es bei ihnen zu besingen gab. Immer häufiger kam die Mutter ins Hospital, und Giovanni hatte manchmal das Gefühl, dass ihn etwas niederdrückte und lähmte. Hatte er Schuld daran, dass seine Mutter so elend war? Dass sie nicht sein konnte wie andere Mütter, gesund, laut und mit dem Geruch nach Küche in den Haaren? Oft sehnte er sich danach, so zu sein wie die anderen Jungen seines Alters. Sie bekamen morgens, mittags und abends zu essen. Ihre Kleidung war gewaschen, die Strümpfe gestopft, die Schuhe blank geputzt.

Wenn Giovanni durch die Gassen streifte, blickte er in Wohnungen – soweit sie im Parterre lagen – und sah Teppiche, Tische, Stühle mit Kissen, Lampen, Bilder der Vorfahren und jede Menge Topfpflanzen. In Giovannis Augen waren die Zimmer zum Ersticken überfüllt. Was taten die Leute mit all den Sachen? Die konnten sich ja kaum bewegen. Vielleicht waren diese Zimmer eine Art Ausstellung? Damit jeder sah, was man alles hatte. In der Kirche waren die Wände und die Decke auch überfüllt mit Teppichen, Statuen und Bildern. Das wusste Giovanni aus der Zeit, als er mit seiner Mutter oft die Kirche besucht hatte. Das war jetzt vorbei.

Stattdessen kam die Mutter immer wieder ins Hospital. Dann war ihr Bett mit den verschwitzten, schmuddeligen Laken leer. In der Wohnung stank es nach Tod. Giovanni sah ihn bei der Tür hocken, den Tod. Er war schwarz, unheimlich, still, und er wartete auf die Mutter. Wenn man sie aus dem Hospital zurückbrachte, bezog eine Schwester ihr Bett, und ein kräftiger Mann trug die Mutter auf ihr Lager. Sie war müde, fiel in einen Halbschlaf und sprach leise von ihrem Blumengarten am Schloss der Eltern. »Castel di Fiemme«, murmelte sie, und Giovanni wusste, dass sie von früheren, besseren Zeiten sprach. Dann aber redete sie von ihrer Wäsche, den Gläsern, dem schönen Geschirr, alles gepfändet, sie, eine de Girardi, musste den Offenbarungseid leisten. Sie weinte, sie rief nach Vittore oder Ludovico, sie sah Giovanni nicht an, der sich bemühte, ihr auf dem Löffel die Arznei einzugeben, wie es die Schwester ihm aufgetragen hatte.

Giovanni spürte nicht, dass seine Mutter schon längst in einer anderen Welt lebte, in der verlorenen Welt ihrer Kindheit. Er wusste nur, dass er nicht vorhanden war für sie. Dass nur sein Bruder, der Erstgeborene, ihr Herz und ihre Seele beschäftigte. Das verletzte ihn. Er hätte weinen können bei dem Gedanken. Aber das würde er nicht tun. Er schluckte es runter, das Weinen.

Schon als er auf die Welt gekommen war, sei er in einem schlechten Zustand gewesen, hatte ihm sein Vater einmal berichtet. Er habe nicht atmen und nicht schreien wollen. Ganz blau sei er gewesen. Morgens um acht Uhr sei er auf die Welt gekommen, und die Hebamme habe ihm sogleich die Nottaufe gegeben. Einen Tag später habe er vom Kaplan noch die ergänzenden kirchlichen Weiheakte empfangen. Sein Bruder Vittore Ludovico dagegen, der sei ein kräftiger Junge gewesen. Er habe seinen Eltern nie Sorgen gemacht, und seine Mutter habe fröhlich mit ihm getanzt und gelacht.

Jedes Wort des Vaters grub sich in Giovannis Seele ein. Sie hatten ihn nie geliebt. Beide nicht. Sollte sie doch tot sein, die Mutter. Sein Vater konnte gleich mitsterben. Was hatte er für Eltern? Kein Junge, kein Kind in Arco lebte wie er. Sich selbst überlassen, lief er meist ohne Ziel durch die Gassen, stand mit schmerzend leerem Magen auf der Brücke, während die anderen Kinder zum Abendessen gerufen wurden. Besonders wenn die Sonne schien, schämte er sich seines zerrissenen Hemdes, der blankgescheuerten, muffigen Hose, die er nicht waschen konnte, weil es seine einzige war.

Manchmal betrachtete er sich im Schaufenster eines Ladens. Er war ziemlich groß für sein Alter und dürr. Das sagte auch die alte Mossa. Seine Haare standen wie Spieße von seinem Kopf ab. Er hatte eine ziemlich große Nase, und die Augen glühten aus seinem blassen Gesicht heraus. »Schwarzer Rabe Giovanni«, hatte ihm einmal ein Mädchen nachgerufen. Giovanni gefiel sich auch nicht. Rasch machte er, dass er weiterkam, ehe ein Ladenbesitzer herausstürmte und ihn verjagte.

Als er eines Tages herumstreifte, ohne zu wissen, was er mit sich anfangen sollte, und mit einem dünnen Weidenstiel Halbkreise auf den staubigen Weg malte, sah er einen frischgeschlüpften Vogel am Rand eines Gebüschs liegen. Das Vogeljunge hatte noch keine Federn. Mit seinem winzigen Bauch, seltsam rötlich, sah es erbärmlich aus, schutzlos. Der Schnabel war weit offen, so als riefe das Junge laut um Hilfe. Mit der Spitze seines Steckens bewegte Giovanni vorsichtig den kleinen toten Körper. Anfassen mochte er das Junge nicht. Er schaute nach oben, suchte sorgfältig das Geäst über ihm ab, doch er konnte das Nest nicht entdecken. Dass der Vogel aus einem Nest gefallen war, schien Giovanni klar. Wo waren die Eltern? Sie mussten das Junge doch vermissen. Gab es unter den Vögeln auch Eltern wie seine, die ein Ei ins Nest legten, es ausbrüteten und dann sich selbst überließen?

Giovanni fühlte mit einem Mal ein brüderliches Mitleid mit dem Vogeljungen, und er begann mittels eines Steins, der ihm spitz genug erschien, ein Grab für das Vogeljunge zu graben. Ganz tief sollte es werden. So tief, dass kein Fuchs oder keine Katze das Vogeljunge fressen konnte. Dann polsterte er die Vertiefung sorgsam mit Gräsern aus, rollte das Junge behutsam in ein großes Blatt und legte es in sein Grab. Erst als er über den kleinen Kadaver noch eine Schicht Gräser gelegt hatte, schaufelte er die Erde behutsam wieder zurück, drückte sie fest und legte noch einen flachen Stein darauf, dass auch wirklich nichts und niemand mehr das Vogeljunge herausreißen konnte. Es hatte bestimmt den Schnabel deshalb so weit aufgerissen, weil es hungrig war, aufs Füttern gewartet hatte. Dabei war es zu weit über den Rand des Nestes geraten.

Wie gut Giovanni das Vogeljunge verstand. Hunger war in seinem Leben immer beherrschend gewesen. Schon wenn er als ganz kleines Kind die Mutter um Essen gebeten hatte, war meistens nichts da gewesen. Weinte er vor Hunger, weinte die Mutter mit ihm. »Dein Vater hatte nie Glück mit seinen Geschäften«, erklärte sie apathisch, als er schon etwas älter war und einiges begriff.

Giovanni war ihr dankbar, dass sie nicht über den Vater schimpfte oder ihn verachtete, wie viele andere Leute im Ort. Und doch begann er, seinen Vater zu hassen, weil er ihn und die kranke Mutter ständig verließ. Sie war so hinfällig, dass sie weder das Haus noch ihr Kind versorgen konnte. Seine stets vom Ersticken bedrohte Mutter. Giovanni saß bei ihr und vergaß oftmals selbst seinen Atem, so intensiv atmete er mit ihr.

 

Nur einmal hatte er erlebt, dass seine Eltern sich gemeinsam um ihn gekümmert hatten. Sie saßen jeder auf einer Seite seines Lagers, beugten sich besorgt über ihn, Kopf an Kopf. Und in dieser Stellung verharrten sie, bis er eingeschlafen war. Er musste damals etwa vier Jahre alt gewesen sein, als er unbemerkt in den Kanal Fitta gefallen war, der vor dem Haus der Eltern vorbeiführte. Der schmale Holzsteg über dem Kanal führte zu einer Färberei, auf deren Gelände sich Giovanni gern aufhielt, obwohl es ihm verboten worden war. Doch zog es ihn immer wieder dorthin, weil da ständig neue Farben die Wasserlachen zu schillernden Gebilden färbten, an denen er sich nicht sattsehen konnte. Besonders wenn die Sonne schien, füllten sich die farbigen Schlieren mit geheimnisvollem Glanz. Eigentlich fürchtete sich Giovanni jedes Mal, wenn er den wackligen Steg überquerte. Er wusste zum einen, dass es ihm verboten war, und außerdem grauste es ihn vor dem in den Kanal eingedämmten Gebirgsstrom, der so viel Kraft hatte, dass er ständig hoch aufschäumte und seine Wassermassen herumwirbelte, als würde unter der Oberfläche ein Riese in das Wasser treten.

Man hatte Giovanni gesagt, das Wasser könne mit seiner Kraft Mühlen antreiben, hauptsächlich Getreidemühlen, und es könne einen kleinen Jungen verschlingen wie eine Fliege. Er wollte nur rasch über die Brücke laufen, rutschte und wurde von dem tosenden Wasser sofort abgetrieben. Seltsam – ohne Angst hatte er die Augen geöffnet und gesehen, wie er unter einer steinernen Brücke dahinschoss. Flüchtig sah er am Ufer Wäscherinnen stehen, sie schrien wie närrisch, rannten am Ufer entlang, und Giovanni sah, wie er auf das große Rad der Zahnradmühle zutrieb. So viel Licht, grün- und goldfunkelndes Licht war um ihn gewesen. Dann war ein Schatten neben ihm aufgetaucht, hatte ihn gepackt und mit aller Kraft ans Ufer gezogen. Es war ein Soldat namens Domenico Morghen, der ihn gerettet hatte, und die österreichische Regierung bezahlte ihm für diese Heldentat 25Gulden. Seine Eltern sprachen noch oft davon. So viel Geld für das Leben ihres Kindes.

Giovanni wusste, wie bedürftig seine Eltern waren. Der Staat musste ihnen Geld geben. Nachbarn hatten ihm das berichtet und die alte Mossa. Giovanni spürte, dass es seinen Eltern unangenehm war, abhängig zu sein, und das tat ihm weh. Er schämte sich. Wie heruntergekommen sein Elternhaus war, sah er dagegen nicht. Es stand an der Brücke, die über die Sarca führte. Giovanni hatte das zweistöckige Haus mit den kahlen Stuben gern, er konnte dort tun und lassen, was er wollte. Sogar Feuer machen konnte er. Der Vater hatte ihm gezeigt, wie man das macht. Anders war es natürlich, wenn die in ihrer Krankheit eingeschlossene Mutter daheim war, bleich und apathisch auf ihrem Lager. Er wagte sich dann oftmals nicht in ihre Nähe, wartete auf den Vater, meist vergeblich. Rang die Mutter verzweifelt nach Luft, riss er die Fenster auf, holte in seiner Hilflosigkeit die Nachbarn. Sie gaben im Hospital Bescheid, worauf man die Mutter abholte, die dann wieder für Wochen weg war.

Wenn Giovanni Pech hatte und eine der frommen Schwestern feststellte, dass er ja auch noch vorhanden war, brachte man ihn zu der alten Signora Mossa, die auf der anderen Seite der Sarca wohnte. Er brauchte nur über die Brücke zu laufen. Signora Mossa bedauerte ihn jedes Mal wortreich, dass er mit einer ewig kranken Mutter geschlagen sei und der Vater auch nicht viel tauge. Sie machte ihm aber trotz der Redeflut Tee oder einen Becher warme Milch – was sie gerade für ihn übrig hatte. Das war nicht viel. Sie lebte ebenfalls von der Zuwendung der Behörden und entgalt das durch kleine Dienste wie eben die Betreuung des vernachlässigten Giovanni Segatini. Der arme Junge. Mit so einer Mutter musste das Kind ja trübsinnig werden. Immer nur Siechtum, Luftnot, Jammern. »Das ist kein Leben für dich, das muss man sich mal ansehen, nur noch Haut und Knochen, du brauchst eine gesunde Familie und kräftiges Essen! Deine Mutter kann wohl nicht leben und nicht sterben. Sie hat noch nie für ihre Kinder gesorgt. Für dich nicht und für deinen armen verbrannten Bruder wohl auch nicht, sonst hätte das Unglück ja nicht geschehen können! Oder?« Da Giovanni stumm blieb, schwieg sie ein bisschen beleidigt, doch am nächsten Tag machte sie Giovanni wieder klar, dass seine Mutter zu nichts nutze sei.

Trotzdem wollte Giovanni, dass die Mutter zurückkam. Er wollte auch wieder in die elterliche Wohnung, in der er allein war, aber frei. Er sehnte sich danach, für die Mutter Tee zu kochen, schweigend bei ihr zu hocken. Schlief sie, lief er im Ort herum, sah in unbestimmter Sehnsucht hinauf zum Schlosshügel. Er schien ihm schön und unheimlich zugleich. Seltsame Gebäude waren über den mächtigen, schroffen Felsen verstreut, hatten sich bis an den Rand des Abgrunds gewagt. Man hatte ihm gesagt, das seien Ruinen einer ehemals wunderbaren Burg. Jetzt weideten Ziegen und Schafe dort zwischen hohen Zypressen, die schwarz und melancholisch aussahen wie ein langer Trauerzug. Wohnte dort oben noch jemand? Vielleicht so ein Junge wie er? Bestimmt nicht. So arm, wie Giovanni war, das gab es nur einmal in Arco. Und wenn schon. Giovanni rannte über die Brücke und spuckte in die Sarca. Im Sommer brachte er sonnenwarme Feigen mit heim und Taschen voller Oliven. Auch Mandeln stahl er. Tomaten oder Obst. Aß alles gierig auf. Nicht selten bekam er Bauchweh davon. Das war rasch vergessen. Manchmal steckten ihm die Nachbarinnen Milch, Käse, Mohrrüben zu. Ein Stück Brot. Sie taten es nicht ohne Arg, waren neugierig, die kranke Mutter zu sehen, ihn nach dem Vater zu fragen. Da Giovanni schwieg, gaben sie ihm und sich selbst die Antwort, dass sein Vater ein Straßenhändler sei, ohne festen Wohnsitz. »Er hat doch Konkurs gemacht, wisst ihr das nicht, er hat betrogen, falsche Angaben gemacht, und jetzt darf er sich nicht mehr bei der Kammer eintragen! Er darf nicht mehr zurück nach Trient! Mit dem ist es aus und vorbei!«

»Aber er kann eigentlich nichts dafür«, meinte eine andere, offenbar gutmütigere Frau. »Er war der Sohn eines Hanfhändlers, die Familie war gut situiert, und er übernahm das Geschäft. Aber ihr wisst doch selbst, dass es mit der Hanfkultur plötzlich bergab ging, alle Hanfhändler arbeitslos wurden und umschulen mussten.«

Die Nachbarin Maria sagte aber wieder abschätzig, dass sie vor keinem Mann Achtung habe, der auf Kosten der Gemeinde lebe, wenn er zufällig mal vorbeikäme, und dass er ein Tunichtgut sei. Auch Frau und Kind lebten ja auf Kosten der Behörden von Trient. Sie fragte Giovanni scheinheilig, warum er nicht mit seiner Mutter in deren Heimat gehe, nach Castel di Fiemme.

»Ich hab gehört, sie ist von Adel«, rief eine dürre, knochige Frau, die Giovanni gar nicht kannte, »es hieß, sie käme aus einem Schloss. Ist denn da was dran?«

»Ich weiß es genau«, tat sich Maria wichtig. »In Ala haben sie geheiratet. Er war schon ein alter Esel von neunundvierzig Jahren und verwitwet. Zwei Kinder hatte der aus seiner ersten Ehe, das war zu viel für die neue Frau. Sie war dreiundzwanzig, wahrhaftig aus adliger Familie, glaubt mir.«

Bei diesen Worten lachten die Frauen, und eine rief, von dem Adel der Girardi könne man aber offensichtlich nichts abbeißen. Wieder kicherten die Frauen schadenfroh, und in Giovanni glühte der Hass. Hass. Er würde die Nachbarinnen am liebsten treten und anspucken. Das konnte er sich aber nicht leisten, denn wenn es der Mutter ganz schlechtging, brauchte er die Hilfe der Frauen, die dann ihre größeren Kinder zum Hospital um Hilfe schickten. War der Vater mal daheim, tuschelten und lachten sie verstohlen auch über ihn, wagten es aber nicht, ins Haus zu kommen.

 

Giovanni hörte gar nicht auf dieses Geschwätz. Er hatte zu Hause eine wichtige Aufgabe. Oftmals musste er die zitternde Hand seiner Mutter halten, damit sie überhaupt ihren Namen unter die Quittungen für ihre Arznei krakeln konnte. Manchmal wusste sie ihn vor Schwäche nicht mehr so genau und schrieb ihn ganz unleserlich. Sie musste auch einmal im Monat quittieren, dass sie drei Gulden in österreichischer Währung für sich und ihren Sohn erhalten hatte. Die Schwestern zahlten es mit wichtiger Miene, als verteilten sie Reichtümer, vor seiner Mutter auf die Bettdecke. Dann folgten die immer gleichen Ermahnungen: »Betet zu Gott. Seid dankbar, dass er uns seinen Sohn geschickt hat. Und du, Giovanni, vergiss nicht, zum Gottesdienst zu kommen. Es ist eine Sünde, wenn du die Messe versäumst!«

Waren sie endlich davongesegelt, rannte Giovanni los, kaufte Brot, Butter und Milch. Manchmal sogar ein wenig Rotwein, Zucker und einige Eier. Er verquirlte Rotwein und Ei mit etwas Zucker in einem Glas und brachte es der Mutter. Oder er machte Milch heiß und tat kleine Brocken Weißbrot hinein. Meist bekam die Mutter nichts herunter. »Iss du, Giovanni, bitte, iss es selber, ich kann nicht.« Das tat er dann auch, hungrig, wie er war. Er sagte sich, dass sie nichts wegwerfen durften, die drei Gulden reichten nie bis zum nächsten Monat.

Bald musste er wieder seine Streifzüge aufnehmen über den Markt, wo er Abfälle vom Obst und vom Gemüse bekam oder es sich unter den Ständen zusammensuchen durfte. Sah er den Pfarrer in ein Wohnhaus gehen, eilte er rasch zum Pfarrhof und sah nach, wo sich die Haushälterin aufhielt. Sie war noch nicht alt, aber stocktaub und hörte es nicht, wenn er in die Vorratskammer kletterte. Noch nie hatte sie ihn erwischt, wenn er Eier gestohlen hatte, Butter und zum Trocknen ausgelegte Nudeln. Giovanni fragte sich jedes Mal, wann die beiden, der Pfarrer und seine Köchin, all die Vorräte aufessen wollten, die da in den Regalen standen.

Es war im Winter gewesen. Ihm war eiskalt, und es gab kein Scheit Feuerholz in der Wohnung. Giovanni krümmte seine nackten Zehen auf den Fliesen und spürte den Schmutz, die kleinen Steine in den Ritzen. Er würde nachher wenigstens die Küche ausfegen, nahm er sich vor. Er horchte nach dem Schlafzimmer, hörte das langgezogene Pfeifen, das mühsame Atemholen der Mutter, dem oft ein Husten folgte, der die Mutter völlig kraftlos machte. Aber sie war nicht tot. Er musste wieder losziehen, etwas zum Essen besorgen. Er holte die Mütze, den alten Schal des Vaters. Da stand Maria, die lästigste und hartnäckigste von allen Nachbarinnen, ganz plötzlich vor ihm und begann sofort, ihn zu beschimpfen. Wie er denn seine todkranke Mutter ständig allein lassen könne. Mit ihr gehe es doch zu Ende, man höre ihren Atem bis auf die Straße rasseln. Und er treibe sich herum! Er sei wohl genau wie sein Vater. Bald werde er auch so einen schlechten Leumund haben.

Was für einen Mund? So einen wie Maria? Giovanni sah angewidert auf die dicken Lippen der Nachbarin, die aussahen, als säßen zwei Nacktschnecken zwischen Nase und Kinn. Obwohl Giovanni erst sieben Jahre alt war, wusste er genau, dass Maria nur zum Spionieren herkam. Dass sie sich sättigte am Elend seiner früher so hübschen jungen Mutter, an ihrer Luftnot, ihrem Verfall. Wortlos kehrte er der Nachbarin den Rücken zu, ging ins Schlafzimmer der Mutter, schloss hörbar die Tür und drehte krachend den Schlüssel im Schloss.

Seine Mutter fuhr hoch von ihrem Bett. »Was ist, was machst du?«, fragte sie kaum hörbar. Giovanni sagte nur: »Maria steht draußen.« Die Mutter schloss ermattet die Augen und ließ sich wieder aufs Bett zurückfallen.

 

An einem kalten Nachmittag, es war noch März, kam er wieder von einer mühseligen Diebestour zurück. Seine Ohren unter der dünnen Mütze des Vaters brannten vor Kälte. Die Füße, die ohne Socken in den Schuhen steckten, fühlte er schon nicht mehr. Er hatte weit laufen müssen zu einem entlegenen Hof, wo, wie er ausgekundschaftet hatte, die Familie bei einer Hochzeit war und im Wirtshaus saß. In den Taschen hatte er zwei Eier, einen Kanten Brot und Speck. Er freute sich derart auf ein Rührei mit Speck, dass er vor Hunger und Glück zitterte und rasch heimlief. Vielleicht konnte er der Mutter von dem weichen Rührei vorsichtig etwas eingeben. Einen ganz kleinen Löffel wollte er nehmen, leicht darüberblasen, damit sich die Mutter nicht verbrannte.

Als er über die Brücke lief, spürte er schon, dass zu Hause etwas nicht stimmte. Beim Näherkommen sah er die Tür offen stehen, ein paar Nachbarsfrauen, Kinder und alte Männer, auf ihren Stock gestützt, standen beieinander und schauten verstohlen in den Flur. Da brachten sie auch schon den Sarg, und Giovanni wusste, sie trugen seine Mutter aus dem Haus. Er hatte schon Särge gesehen. Bei vielen Beerdigungen trugen Männer den Sarg auf der Schulter zum Friedhof. Oder er wurde in einer mit Blumen geschmückten Kutsche gefahren. Aber noch nie hatte seine Mutter in dem Sarg gelegen. Giovanni wusste nicht, wie sie Luft kriegen sollte in dem engen Gehäuse. Sie hatte in dem Schlafraum mit den hohen Wänden schon keine Luft gekriegt. Er lief los, rief den Männern zu, sie sollten den Sargdeckel aufmachen. Seine Mutter ersticke sonst. Die Männer schauten sich ratlos an. Dann zuckten sie mit den Schultern und gingen weiter, doch Giovanni stellte sich ihnen in den Weg, schrie, dass sie aufmachen sollten: »Aufmachen, aufmachen!«

Die Nachbarn riefen: »O mein Gott, o mein Gott, der Junge dreht ja durch!« Da ging die dicklippige Maria entschlossen zu den Sargträgern. Sagte ihnen, dass der Junge sich verabschieden müsse von seiner Mutter. Sonst hätte die Seele keine Ruhe.

Die Männer sahen einander an, dann stellten sie den Sarg wieder ab, einer holte Werkzeug aus seiner Jackentasche, und sie öffneten den Sarg. Giovanni sah seine Mutter weiß und still auf einem Kissen liegen. Ihre roten Haare hatte man um ihre Schultern drapiert, in den wächsernen Händen steckten ein paar Zweige. Nur schemenhaft nahm Giovanni wahr, dass sich die Nachbarn um den Sarg herum versammelten. Alle sahen gebannt auf seine Mutter, und in ihren Gesichtern war statt der früheren Bosheit einmütige Trauer, Mitleid und Respekt. »Sie ist schön tot«, stellte ein kleines Mädchen mit klarer Stimme fest und legte eine Stoffpuppe auf die Hände der Toten. Doch dann besann es sich, nahm die Puppe und drückte sie fest an sich.

Giovanni spürte, wie er fror. Wie sich jedes Haar in seinem Nacken aufzustellen schien. Das war die Strafe. Wie oft hatte er sich gewünscht, dass die Mutter sterben möge. Ja. Er hatte es sich gewünscht. Und nun liebte er sie und wünschte nichts sehnlicher, als sie wieder lebendig zu sehen.

Bei der Beerdigung, die wenige Tage später stattfand, stand Giovanni stumm neben dem Vater am Grab. Niemand außer dem Pfarrer war gekommen, und als Giovanni sich verstohlen umsah, flüsterte der Vater ihm ins Ohr, dass er den Nachbarn gesagt habe, die Beerdigung der Mutter sei erst am nächsten Tag. Dabei kicherte er leise, und Giovanni merkte, dass er getrunken hatte. In diesem Moment hasste er den Vater wieder. Warum konnte seine Mutter kein feines Begräbnis haben, mit den üppigsten Kränzen und Blumensträußen? Sie war schöner gewesen als alle Frauen im Trientinischen. Sie hätte Musik und Lieder an ihrem Grab haben sollen und Reden, wie andere vornehme Tote auch. Mitleid mit der toten Mutter erfüllte ihn. Sie war adlig gewesen, stammte von einem Schloss, und nun wurde sie eingegraben, und niemand trauerte um sie. Nur er und sein Vater. Das war nicht genug. Als sein Vater am Abend eine Flasche Wein vor sich stehen hatte und seine komischen Lieder sang, die Giovanni nicht leiden mochte, legte er sich ins Bett und presste den Kopf ganz fest in die Kissen.

3

Am nächsten Morgen reisten sie beide nach Mailand zu Irene, der Tochter des Vaters aus erster Ehe, Giovannis Halbschwester. Schon vor dem Begräbnis hatte der Vater die wenigen Möbel und den dürftigen Hausrat verramscht für das Reisegeld. Nun besaßen sie nichts mehr, schlüpften im Morgengrauen leise aus dem Haus, jeder mit einer kleinen Tasche, in der sich Brot, eine Flasche Wasser und hartgekochte Eier befanden. Es war für einen Märztag immer noch grausam kalt, und trotz der frühen Stunde war der Postwagen voll besetzt; die Menschen schliefen, obwohl sie kräftig durchgeschüttelt wurden, mal mehr, mal weniger, und auch Giovanni, der sich fest an den Vater drückte, hätte gern geschlafen. So müde er auch war, er hörte die Stimme seiner Mutter und dachte plötzlich mit so starker, unerwarteter Sehnsucht an sie, dass er Mühe hatte, seine Tränen herunterzuschlucken. Er bemerkte, dass der Vater schon schnarchte wie einige andere Fahrgäste auch, sein Kopf lag auf dem breiten Busen einer alten Bauersfrau, die ebenfalls tief zu schlafen schien, und aus ihrem Mund kamen immer wieder merkwürdige kleine Pfeiftöne, die auch nicht verstummten, wenn sie ihren Kopf von einer Seite auf die andere drehte.

Giovanni fühlte ein Ziehen in der Brust bis hinauf in die Kehle. Er dachte, dass nicht nur die Mutter, sondern auch sein vertrautes Arco für ihn verloren sei, vielleicht für immer und ewig. Er hatte gar nicht gewusst, dass er die Stadt so liebte, doch jetzt wuchs seine Sehnsucht nach ihr, je weiter sie sich entfernten. Schiere Panik ergriff ihn.

Sein Vater war inzwischen aufgewacht und besah sich recht unternehmungslustig seine Mitreisenden. Giovanni fürchtete, dass der Vater loslegen könnte mit seinen Liedern, die er jedes Mal sang, wenn er getrunken hatte. Ob in den Straßen von Arco, in einer Kneipe oder im Hausflur – man hörte ihn immer schon von weitem, und Giovanni kannte niemanden, dem Vaters Gesang gefallen hätte. Ihn selbst eingeschlossen. Daher, und um den Vater abzulenken, fragte ihn Giovanni rasch, ob seine Mutter tatsächlich adlig gewesen sei. Agostino Segatini sah seinen Jüngsten aus rotgeränderten Augen ärgerlich an. »Wieso fragst du? Natürlich war Margherita von Adel. Hast du es ihr denn nicht angesehen?« Der Vater wurde jetzt fast weinerlich, und Giovanni hörte, was er eigentlich schon gewusst hatte: dass seine Mutter viel größer und schlanker gewesen sei als die fetten Trampel in Arco. Sie habe einen wundervollen Hals gehabt, lang wie eine Blume. Allein das Haar. »Als ich sie kennenlernte, deine Mutter, da wogte ihr Haar um sie herum, ich sage dir, es wogte.« Der Vater hatte wohl vergessen, was er über den Adel und das Haar seiner Frau noch berichten wollte, denn er lehnte sich wieder zurück, und die Augen fielen ihm zu. Giovanni war froh, dass sein Vater wenigstens nicht sang, und er hoffte inständig, dass sie bald in Mailand wären.

 

Als sie nach langem Herumirren und oftmals vergeblichen Fragen an schlechtgelaunte Mailänder endlich in der Via San Simone angekommen waren, konnte Giovanni vor Schmerzen nicht mehr laufen. Seine alten Sonntagsschuhe hatten ihn schon bei der Beerdigung derart gedrückt, dass er notgedrungen hinten herausgetreten war und die Schuhe wie Pantoffel benutzt hatte. Das war eine Weile so halbwegs gutgegangen, verwöhnt war er ja nicht, doch in Mailand half nichts mehr – er musste diese Dinger ausziehen und auf Strümpfen laufen. Der Vater steckte die Schuhe murrend in seinen Rucksack. »So teure Schuhe, und du trittst sie herunter. Die sind jetzt natürlich nicht mehr brauchbar. Sobald wir bei Irene sind, schneide ich sie hinten ordentlich auf, und zwar so, dass du wenigstens ein Paar wunderbare Pantoffeln hast.«

Giovanni konnte sich nicht vorstellen, dass sein Vater etwas halbwegs Vernünftiges zustande bringen würde. Ihm war es egal.

4

War es seine grenzenlose Müdigkeit, sein Hunger, der quälende Durst? Als er mit seinem Vater im Hof des Hauses stand und zu der Dachwohnung Irenes hinaufschaute, als er den Verfall sah und den Schmutz, da kam sein ganzes Elend wie eine jäh aufsteigende schmutzige Flutwelle in Giovannis Gemüt gestürzt. Er wusste instinktiv, dass hier alles noch einmal zurückkommen würde, was ihn auch in Arco gepeinigt hatte: die immer gleichbleibende grausame Einsamkeit, wenn die Mutter im Spital gewesen war. Noch schlimmer waren die ewigen sittlichen Ermahnungen der Barmherzigen Schwestern gewesen, die nach der Intervention des Erzpriesters von Arco die Medikamente und den Hospitalaufenthalt seiner Mutter bezahlten. Sie sagten, seine Mutter und er müssten dem Erzpriester dankbar sein, dass er für sie sorge. »Warst du heute Morgen in der heiligen Messe, mein Junge?« »Natürlich«, log Giovanni, und die Schwester fragte weiter, ob er die heilige Kommunion empfangen habe. »O ja«, log er wieder, und die andere Schwester sagte mit verhaltener Wut, dass er nicht im Stande der heiligen Gnade sei. Da machte er ein kummervolles Gesicht, trat ratlos von einem Bein auf das andere – darin war er geübt –, und dann ließen ihn die Schwestern in Ruhe, und die jüngere sagte, dass sie trotz allem an das Gute in ihm glaube.

Diese Gedanken kamen Giovanni, als sie die endlosen Treppen zu Irenes Wohnung hinaufstiegen.

»Ach, ihr seid das?«, sagte die Frau an der Tür, und Giovanni schrak richtiggehend auf aus seinen Träumen von Arco. Es schien ihm eine Ewigkeit, dass sie von dort aufgebrochen waren. Jetzt war er in diesem fremden Mailand, und er hatte Angst vor dem, was hier auf ihn wartete.

Er konnte die Frau im Dunkel des Flurs nicht richtig sehen, aber sie musste Irene sein. Seine Halbschwester. Dass sie sich nicht freute, ihn und den Vater vor sich zu haben, war leicht zu erkennen. »Was gibt es, was wollt ihr?«, sagte Irene hastig. »Ich muss zur Arbeit, ich bin heute ohnehin schon zu spät.«

»Lass uns nur hinein, ich erkläre dir alles später«, sagte der Vater.

Giovanni fiel auf, dass die beiden sich überhaupt nicht begrüßten. Und ihn nahm die Schwester, von der ihm der Vater auf der Reise viel erzählt hatte, anscheinend erst gar nicht wahr. Als wäre er Luft. Giovanni wollte sie auch nicht ansehen. Er würde zu gern abhauen hier, aus diesem finsteren Loch. Da konnte nichts Gutes auf ihn warten.

»Ihr dürft aber nur einen Tag bleiben«, sagte die Schwester nervös, »ich habe kein Bett für euch, und ich kann euch auch nicht durchfüttern.«

Der Vater versicherte, dass er ihr alles erklären könne, alles werde sich zu ihrem Wohl entwickeln.

Giovanni hatte den Eindruck, dass seine Halbschwester eine junge Frau war, hager und dunkelhaarig. Es gehörte nicht viel dazu, sich ihrem Blick zu entziehen, so rasch, wie sie sich entfernte. Giovanni hörte ihre Schritte noch lange auf der Treppe, bis ganz unten im Haus eine Tür zuschlug. Der Vater bat Giovanni mit einer Geste der Großzügigkeit hinein in die Wohnung, und Giovanni fand das lächerlich, denn es war klar, dass der Vater seiner Tochter auf der Tasche liegen würde. Davor graute ihm. Wann würde das endlich einmal aufhören, dass er dauernd von anderen abhängig war? Früher vom Erzpriester von Arco, von frommen Schwestern, bösartigen Nachbarinnen und jetzt von seiner Halbschwester Irene, die ihn und seinen Vater offensichtlich zum Teufel wünschte.

»Vater, können wir uns nicht irgendwo eine andere Wohnung nehmen? Irene will doch nicht, dass wir bei ihr wohnen«, sagte er verzweifelt. Der Vater hatte sich auf einem viel zu kleinen Sofa ausgestreckt, nachdem er vergeblich in der Wohnung nach Trinkbarem gesucht hatte. Es gab nur Milch, die bitter schmeckte, und ein Stück altes Brot. In einem Topf war ein Rest Polenta eingetrocknet, und der Vater aß ihn bis zum letzten Krümel auf. Giovanni konnte nichts essen, obwohl er hungrig war. Vor allem plagte ihn großer Durst. Der Vater streckte sich wieder auf dem Sofa aus, soweit das eben ging, und nach wenigen Minuten hörte man ihn schnarchen, wobei ihm oft die Luft wegblieb. Nach einer beunruhigend langen Pause fiel er dann mit abgehacktem Japsen mühsam wieder in seinen Schnarchrhythmus zurück. Giovanni sah seinen Vater an, wie er da auf dem Rücken lag, die Beine aufgestellt, den Mund halb geöffnet. Er mochte diesen Vater nicht, aber er hatte keinen anderen.

Am Abend hörte er mit, wie der Vater Irene seine weiteren Pläne auseinandersetzte. Die beiden hatten ihm eine Decke auf eine Matratze gelegt, und sofort nach der Milchsuppe wurde ihm befohlen, schlafen zu gehen. Giovanni hörte den Regen mit großer Kraft auf das Dach prasseln. Dazu war es stürmisch, es zog durch die beiden kleinen Dachfenster, obwohl Irene sie geschlossen hatte. Als sie von ihrer Arbeit zurückgekommen war, frische Milch und Brot in ihrer Tasche, hatte Giovanni sie zum ersten Mal richtig ansehen können. Ihr Haar war wohl das Schönste an ihr, schwarz und lockig umrahmte es ein schmales, gelbliches Gesicht. Die dunklen, ziemlich kleinen Augen sahen Giovanni auch jetzt nicht an. Sie sprach nicht mit ihm. Sie mochte ihn nicht, und Giovanni konnte sie ebenso wenig leiden. Das war also schon mal geklärt. Doch dann baute sich seine Halbschwester dicht vor dem Vater auf und holte tief Luft:

»Wieso unterstehst du dich eigentlich, hierherzukommen und um Quartier zu betteln? Du hast es gerade nötig. Und dann bringst du auch noch den Jungen mit! Das ist doch Erpressung! Miese Erpressung!«

»Irene, bitte«, versuchte der Vater zu schmeicheln, »du bist doch meine einzige Tochter –«

»Na und?«, fuhr Irene ihn an. »Was hab ich denn davon gehabt? Du hast mich und Napoleone abgeschoben, als unsere Mutter starb. Kaum war sie in der Erde, hast du uns der Tante mitgegeben, obwohl die uns auch nicht wollte. Ich weiß noch heute, wie wir im Flur standen, Napoleone und ich. Wie ich mich an ihn geklammert habe und er sich an mich. Wir mochten die Tante nicht, wir spürten ihren Widerwillen, wir sind bald gestorben vor Angst.«

»Aber was sollte ich denn tun?«, verteidigte sich der Vater. »Ich musste doch sehen, wie ich zu Geld komme. Ich war Hanfhändler. Damit kannte ich mich aus, aber plötzlich war ich überflüssig. Auch meine Geschäftskollegen standen vor dem Ruin.« Giovanni befürchtete, der Vater würde in Tränen ausbrechen, so weinerlich sprach er.

Da hörte Giovanni auch schon wieder Irene fauchen: »Ach was. Du hattest nie wirklich Lust zum Arbeiten. Und schon gar nicht hast du dich für uns verantwortlich gefühlt. Deine Schwester hat uns nur angeschnauzt, Napoleone und mich. Überall standen wir ihr im Weg. Wir mussten das Haus putzen, durften nichts Essbares anrühren, nichts. Nach einer endlosen Zeit hat sie uns gesagt, dass wir wieder zu dir dürfen. Du hättest wieder geheiratet. Vielleicht ein Glück für uns, so hofften wir. Aber nein, wir waren wieder die Dummen – deine Frau war ja schon schwanger, sie lag krank im Bett, hat uns aber freundlich begrüßt. Sie wäre bestimmt lieb zu uns gewesen, aber wir mussten dann doch wieder zu deiner Schwester.«

Der Vater hatte ständig versucht, Irene ins Wort zu fallen. Als sie wieder einmal Luft holte, sagte er rasch. »Ich will dir doch gar nicht zur Last fallen, Irene! Ich will mit Napoleone nach Amerika auswandern. Napoleone kommt morgen her! Wir haben bereits alles geplant.« Offenbar stimmte die Erwähnung Napoleones Irene weicher, denn sie schwieg für einen Moment nachdenklich. Rasch nutzte der Vater die Chance, sie umzustimmen. »Hier finde ich keine Arbeit mehr, Irene. In Amerika bekommt jeder eine Chance. Ich verdiene reichlich Geld, und du kannst mit Giovanni nachkommen. Dann haben wir alle ein gutes Leben.«

»Du?«, fragte Irene höhnisch. »Du? Was willst du denn in Amerika? Du bist doch ständig betrunken! Wenn du ein paar Dollar hättest, würdest du dir doch sofort Wein und Schnaps kaufen. Was sollen die Amerikaner denn mit einem alten Säufer anfangen? Die lassen dich doch gar nicht erst rein ins Land!«

Gegen Irenes Verachtung waren die Bemerkungen der Leute von Arco nur harmlose Mückenstiche gewesen. Jetzt fiel Giovannis Name, er versuchte, unauffällig zu lauschen, doch die beiden waren so intensiv in ihrem Streit verhaftet, dass sie sowieso nicht auf ihn achteten.

»Hab ich das gerade richtig gehört?«, fragte Irene giftig. »Ich soll zusammen mit dem da nach Amerika kommen? Heißt das etwa, dass du ihn bei mir lassen willst? Das eine sage ich dir, Signore Amerika, du hast den in die Welt gesetzt, und du sorgst auch für ihn. Was habe ich denn mit dem zu schaffen? Ich habe gesagt, bis morgen könnt ihr bleiben, keinen Tag länger. Morgen früh haut ihr ab, noch ehe ich zur Arbeit gehe. Kapiert?«

Giovanni stellte sich vor, wie der Vater ergeben nickte, sehen konnte er das nicht. Er war froh, dass diese schreckliche Irene mit den Vogelaugen ihn nicht bei sich haben wollte. Allein der Gedanke, in dieser Bude zu leben, hoch oben unter dem Dach, wo er nur ein Stück Himmel sah, wenn er sich auf den Tisch stellte, nein – das mochte er sich nicht vorstellen. Lieber mit dem Vater irgendwohin gehen, irgendetwas würde sich doch finden lassen. Er wollte frei sein wie in Arco. Jederzeit zur Tür hinaus auf die Straße, über die Brücke, unter dem blauen Himmel rennen, wohin er wollte. Im Regen tanzen, sich wohlig in Hütten unterstellen, auf dem Heimweg über Pfützen springen.

Plötzlich erschien ihm Arco in einem hellen Licht. Ihm war, als hätte er dort nicht allzu sehr unter Einsamkeit gelitten. Auch wenn er oft allein im Haus gewesen war – es gab ja die Leute von Arco in den Häusern um ihn herum. Hatten die Nachbarinnen nicht immer nach dem Arzt geschickt, wenn die Mutter elend war? Vielleicht waren sie gar nicht so böse gewesen, wie er das empfunden hatte.

Er wollte überall mit dem Vater hingehen, nur nicht hierbleiben, wo er nie den Himmel sah und wo er unter den schrecklichen Rabenaugen seiner Halbschwester an jedem Löffel Suppe schier erstickte.

Giovanni hörte, wie Irene hart ihren Stuhl zurückschob, aufstand. »Zum letzten Mal: Morgen früh seid ihr weg. Ich geh jetzt schlafen.«

Als Giovanni sich zusammenrollte unter seiner dünnen Decke, sah er das Bild der beiden kleinen Halbgeschwister vor sich, wie sie, fest aneinandergeklammert, in der dunklen Diele standen. Sie taten ihm eigentlich leid. Hätte er sich vielleicht auch an seinen großen Bruder Vittore Ludovico geklammert, wenn der nicht verbrannt wäre? Er seufzte. Wie sollte er das wissen? Er hatte nie jemanden gehabt, an den er sich hätte klammern können. Und dann dachte er an seine Mutter. Sie war jetzt im Totenreich. Das hatte der Pfarrer gesagt. Giovanni stellte sich das Totenreich sehr groß vor, sehr weiß, so weiß wie seine Mutter im Sarg, und er glaubte, dass seine Mutter jetzt dort spazieren ging in der weiten, hohen Landschaft, wo alles weiß war wie Schnee, und ihre roten Haare leuchteten in der kalten Sonne.

Am Morgen erwachte Giovanni, weil ihn sein Vater leicht in die Wange kniff und ihm verschwörerisch Zeichen machte, leise zu sein. Giovanni begriff sofort, dass sie gehen würden, sein Vater und er, und er stand leise auf. Sie tranken beide ein wenig Milch, nahmen ihre Taschen und verließen die Wohnung. Giovanni war selig. Er musste doch nicht bei seiner Halbschwester bleiben, sein Vater nahm ihn mit. Plötzlich fand er es schön, mit seinem Vater durch die engen, schmutzigen Straßen zu gehen. Im Morgenlicht schien es ihm, als wären die Häuser aus altem Packpapier gemacht, und aus einem Bäckerladen strömte ein so herrlicher Geruch nach Brot und Oregano, dass Giovanni fast schwindlig wurde, so hungrig war er. Aber er sagte nichts. Er war stumm vor Seligkeit, dass sein Vater ihn an der Hand hielt und mit ihm durch diese große Stadt ging. Dann geschah ein Wunder. Der Vater steuerte mit ihm die Bäckerei an. Er bekam einen fettglänzenden Fladen, der mit Kräutern bestreut war, und der Vater ließ sich noch Panini einpacken. »Der Tag wird lang«, sagte er geheimnisvoll zu Giovanni, und als sie an einen kleinen Platz kamen, setzten sie sich auf die Treppenstufen zu einer Kirche. Der Vater holte aus einer Trattoria Limonade für Giovanni und für sich ein Glas Wasser. Giovanni staunte. Sein Vater trank Wasser. Doch dann existierte für ihn nur noch das duftende Brot in seiner Hand und die hellgrüne Limonade in dem schlanken Glas, von dem kleine Perlen herabrollten. In diesem Moment war Mailand Giovannis Paradies.

Der Vater zeigte Giovanni die Stadt, auch das Tor, durch das der große Feldherr Napoleon Bonaparte, Kaiser von Frankreich, mit seinen siegreichen Truppen in Mailand eingezogen war. Giovanni wunderte sich. War das noch der ewig betrunkene Vater, der ihn und die Mutter immer wieder allein in Arco sitzengelassen, der nie Geld für die Familie verdient hatte? Der von den Nachbarn verlacht wurde? Sogar die Mutter hatte sich damit abgefunden gehabt, dass ihr Mann nicht in der Lage war, eine Familie zu ernähren und zu beschützen. Und hier, in Mailand, bekam Giovanni das wunderbarste Essen, hier erzählte ihm der Vater von der Geschichte des Landes und vom Haus Savoyen, dem Königshaus. Das Wissen floss nur so aus dem Vater heraus, er beschrieb alles mit großen Gesten, und die Passanten schauten freundlich auf Vater und Sohn. Bald war Giovanni völlig konfus. In seinem Kopf begannen die Namen und Begriffe herumzuwirbeln, er konnte nichts mehr festhalten, nichts mehr begreifen. Trotzdem gab er sich Mühe, zuzuhören. Nun, wo ihm der Vater endlich einmal Aufmerksamkeit schenkte, wollte er ihm seine Freude über das Gehörte zeigen.

Erst später, als Giovanni wieder allein in Irenes Dachkammer hockte, begriff er. Der Vater hatte von Anfang an gewusst, dass er Giovanni bei Irene zurücklassen würde, um mit seinem ältesten Sohn Napoleone Mailand zu verlassen. Deshalb hatte der Vater Giovanni halb zu Tode geredet, damit der nicht fragen und vielleicht sogar ein Theater veranstalten konnte. Früher, in Arco, waren Giovanni und seine Mutter auch immer vom Vater alleingelassen worden. Vielleicht hatte sein Vater durch den Tod der Mutter doch Skrupel bekommen, und er wollte Giovanni wenigstens eine Bleibe verschaffen, egal wie.

Als Giovanni müde war, als ihn die Füße derart schmerzten, dass er keinen Schritt mehr tun wollte, waren sie plötzlich wieder in der Via San Simone gewesen. Sein Vater befahl ihm, bei Irene zu warten, bis er Napoleone mit seinem Gepäck abgeholt habe. »Wir kommen und holen dich, so rasch es geht. Ich bin eilig, verstehst du, ich hab den ganzen Tag mit dir verbracht, und Napoleone wartet und wird schon nervös. Das begreifst du doch, oder? Ruh dich inzwischen aus, ich werde bald mit Napoleone zurück sein.«

Natürlich war sein Vater nicht wiedergekommen. Abends lag Giovanni unter seiner dünnen Decke und wusste nicht, welches seiner Gefühle stärker war: der Hass auf den Vater oder die Furcht vor dieser Irene. Dann wieder fühlte er gar nichts, wollte nur schlafen, einfach weg sein. Weg von Mailand, weg von dieser gemeinen Welt. Nicht mehr an den Vater denken, diesen verdammten Mistkerl. Seine Wut, seine Enttäuschung, seine Verzweiflung und Angst ließen ihm keine Ruhe. Giovanni wusste durchaus, dass er in seinem kurzen Leben oft unglücklich gewesen war. Aber er konnte sich nicht erinnern, dass es jemals eine Zeit gegeben hätte, wo ihm der nächste Tag so schwarz und wie ein tiefes Loch erschienen wäre.

Der Schlaf wollte nicht kommen. Dann eben nicht. Giovanni war zornig. Voll Wut und Schmerz. Wenn seine Halbschwester kommen und schimpfen würde, dass er wieder da war, sollte sie was erleben. Ab sofort würde Giovanni sich nichts mehr gefallen lassen. Er war kein Kind mehr, das man an der Nase herumführte. Er würde sich in Zukunft wehren. Zu verlieren hatte er ja nichts. Und dann hörte er Irenes Schritte auf der Treppe. Er rollte sich zusammen, kniff die Augen zu und zog sich die Decke über den Kopf. Irene blieb bei ihm stehen und fluchte leise, sagte aber kein Wort zu Giovanni. Sie stieß ihn mit dem Fuß an, doch er rührte sich nicht, noch nicht, fluchte aber lautlos zurück. Getreten hatte ihn bisher noch niemand. Jedenfalls kein Erwachsener. Hier und da einer der Jungen in Arco, mit denen er sich manchmal ein bisschen geprügelt hatte. Mehr nicht. Er hatte ja nicht dazugehört. Nicht gezählt. So wie er auch hier nicht zählte. Als Irene zu Bett ging, schwor Giovanni sich, dass er es ihr heimzahlen werde. Er überlegte, wie er das anstellen wollte. Über diesen wohltuenden Gedanken schlief er ein.

Dass seine neue Schwester nicht gern mit ihm sprach, war Giovanni schon bekannt. Sie hatte ihn nicht einmal gefragt, wieso er wieder bei ihr aufgetaucht sei. Aber Irene kannte schließlich den Alten. Immerhin ließ sie ihre Wut nicht noch einmal an ihm aus. Sie zeigte Giovanni, in welchem Schrank sie Brot und Milch verwahrte, etwas anderes gab es nicht. Dann schlug sie die Wohnungstür zu und rannte rasch die Treppe hinunter. Dass das Brot hart war und die Milch nicht unbedingt frisch, konnte Giovanni nicht erschüttern. In Arco hatte er oft rein gar nichts gehabt. Dafür aber gelernt, niemals aufzugeben. Immer gründlich nachzuschauen. Und als er alle Schränke und Kästen richtig durchgefilzt hatte, entdeckte er zwischen der Wäsche noch eine kleine Tüte mit Zucker und eine hölzerne Dose mit getrockneten Tomaten. Giovanni beschloss, die alte Milch mit Zucker zu verjüngen. Es schmeckte nicht schlecht, und danach kaute er das Brot mit den Tomaten. Er wusste, es war ihm nicht gegönnt, aber er war auch nicht hier, um sich beliebt zu machen.

Giovanni hatte inzwischen begriffen, dass die Segatinis Leute waren, die ihre eigenen Kinder belogen, sie unversorgt zurückließen, und dass es unter ihnen welche gab, die kleine Jungen mit Füßen traten. Da wollte er seinerseits nicht zurückstehen. Er sah sich noch intensiver um in den beiden Kammern. Die Fenster waren tatsächlich so hoch, dass er sich auf den Tisch stellen musste, um rauszuschauen. Es war aber nur ein kleines Stück vom Himmel, das er sehen konnte. Und das geschah ihm, der in Arco nur die Haustür hatte öffnen müssen, um über sich den höchsten Himmel zu sehen und vor sich die hüpfenden Wellen der Sarca. Er hatte bloß über die Brücke zu rennen brauchen, und ganz Arco gehörte ihm. Das schöne Arco. Seine schöne Mutter. Aus und vorbei. Amen.

Mal sehen, was er hier in diesem Kabuff tun konnte. Schließlich wusste er nicht, ob er sein künftiges Leben hier verbringen würde oder ob er morgen in ein Waisenhaus kam. Damit hatte ihm Irene schon gedroht. Plötzlich hörte er Glocken, einen richtig kräftigen Glockenton wie von einer großen Kirche. Im ersten Moment spürte Giovanni wieder würgendes Heimweh, doch dann dachte er an den Erzpriester und an die frommen Schwestern in Arco, und sein Heimweh verflog. Er mochte die Kirchenleute nicht. Auch hatte Giovanni gehört, dass der Erzpriester reich sein sollte, sehr reich. Und dann gab er nur drei Gulden her, von denen zwei Menschen einen Monat lang leben sollten! Manchmal sogar noch der Vater. Ach ja, sein Vater. Ob er wohl zurückkommen würde? Giovanni glaubte nicht daran. Er wünschte es sich auch nicht. Dann wiederum hoffte er inständig, der wunderbare Vater, der ihm Mailand gezeigt hatte, möge doch wiederkommen. Doch den gab es nicht.

Giovanni suchte in der Wohnung weiter nach Interessantem. In einer Truhe fand er bloß Firlefanz. Tücher, Masken, musste wohl Kram fürs Theater sein. Am Boden der Truhe lag eine Sammlung loser Blätter. Die waren beschrieben, doch das war ihm egal. Giovanni riss nun von den Blättern kleine Fetzen, und wenn er eine Handvoll zusammenhatte, warf er sie aus dem Dachfenster, das er geöffnet hatte. Er stellte sich vor, dass seine Papierfetzen tanzen würden wie die Schneeflocken. Schnee statt Dauerregen, da würden sich die Leute vielleicht freuen. Und wenn nicht, sollte es ihm auch recht sein. Hauptsache, er hatte Spaß. Nachdem er etliche Hände voll Schnipsel nach unten expediert hatte, hörte er Stimmen aus dem Hof. Schimpfte da ein Mann? Das war ja wunderbar. Giovanni hatte Publikum. Er riss noch eifriger an seinen Papierseiten, es ging ihm gut von der Hand, und bis auf drei Seiten war das ganze Papier in Schnee verwandelt.

Plötzlich erschrak Giovanni. Er hatte in seinem Eifer nicht bemerkt, dass das Schimpfen im Hof verstummt war. Auf einmal fühlte er sich umfasst, heruntergerissen vom Tisch. Eine grobe Hand hielt ihn fest, die andere drosch auf ihn ein. Giovanni begann, mit aller Kraft nach dem Mann zu treten, zu beißen und ihn zu kneifen, so lange, bis der ihn schließlich losließ. Es war der Hausmeister, und der brüllte, dass Giovanni ihn noch kennenlernen werde. »Du bist ja ein ganz unverschämter Bengel! Wer bist du eigentlich? Was hast du im Haus zu suchen?«

Giovanni schwieg. Sollte der Kerl doch selbst herausfinden, wer er war. Nun hatte er schon zwei Feinde in Mailand, an denen er sich rächen musste. Mailand war eine anstrengende Stadt.

Am Abend, als Irene heimkam, wusste sie schon alles. »Du hast mir noch gefehlt! Weißt du, dass du mir wichtige Papiere zerrissen hast? Zeugnisse, meine sämtlichen Zeugnisse sind weg! Du Idiot kannst ja nicht mal lesen! Ich bringe dich ins Waisenhaus, wenn du noch einmal Sachen von mir anrührst! Zur Strafe wirst du morgen eingesperrt. Den Schlüssel nehme ich mit.«

Giovanni wurde erst jetzt klar, dass Irene bislang immer die Tür unverschlossen gelassen hatte. Darüber hatte er sich nicht gewundert, denn das war in seinem Elternhaus in Arco auch immer so gewesen.

Leider fiel Giovanni rein gar nichts ein, was er wegen der Papierschnipsel zu seiner Verteidigung hätte sagen können. Außerdem hatte er entdeckt, dass erwachsene Leute immer hilflos wurden, wenn er schwieg. In diesem Fall bewirkte es, dass Irene plötzlich mit ihm sprach. Das immerhin hatte sein Papierschnee erreicht. Wenn er geahnt hätte, dass es wichtige Papiere waren, hätte er sie nicht angerührt.

Jetzt machte Irene sich an den Schränken zu schaffen, und Giovanni wusste, dass sein letzter Abend in der Via San Simone angebrochen war. Morgen kam er ins Waisenhaus. Da fing Irene auch schon an zu toben. »Ein verdammter Dieb bist du also auch noch! Schnüffelst in meinen Sachen herum und bestiehlst die eigene Schwester!«

»Halbschwester«, sagte Giovanni, denn das war ihm wichtig. Er wollte mit Irene nicht voll und ganz verwandt sein.

Ins Waisenhaus musste Giovanni nicht, aber Irene ignorierte ihn weitgehend und verließ jeden Morgen schnellstmöglich das Haus. Giovanni war das sehr recht. Er konnte dann noch unter seiner Decke bleiben, so lange er wollte. Warum hätte er aufstehen sollen? Das Stück Brot, das ihm für den Morgen zustand, holte er sich ins Bett. Er kaute und überlegte, was er anfangen könnte in diesem Mailand.